Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die ›Antient Orpheus Society‹ veranstaltete alljährlich eine Art Soiree, zu der alle berühmten Persönlichkeiten, deren Kommen man erwarten durfte, geladen wurden. Diese Veranstaltungen fanden in einem Hause in Harley Street statt. Umfangreiche, goldgeränderte, von drei Komiteemitgliedern unterzeichnete Einlaßkarten gelangten an jeden gerade in London anwesenden ausländischen Komponisten von Ruf, an den Präsidenten der Royal Academy, an den musikalisch veranlagten Kabinettminister – falls ein solcher vorhanden war –, an den populären Modetragöden und noch einige wenige vom Schicksal bevorzugte Persönlichkeiten. Die übrige Menschheit erhielt von den Mitgliedern kleine Einladungskarten, die zur Einführung einiger Gäste berechtigten.
Zu der dem Fantasiekonzert folgenden Abendunterhaltung erschien eine Horde von Musikamateuren und eine auserlesene Schar von Pianisten, Sängern, Geigenspielern, Malern, Bühnenmitgliedern und Journalisten. Der edle Vizepräsident der Society empfing, von zwei Komiteemitgliedern unterstützt, die Gäste in einem breiten Vorraum, dem man das Aussehen einer Miniaturbildergalerie zu verleihen bemüht gewesen war. Die Namensankündigung geschah durch zwei Schweizer Kellner, von denen man annahm, sie könnten ausländische Namen richtig aussprechen, da sie hierzu mit englischen nicht imstande waren. Bei dem auf einer goldumränderten Karte verzeichneten Namen einer jungen Dame aber versagte auch ihre Kunst; und so trat sie denn an der Seite ihrer Mutter unangemeldet ein. Ihr folgte ein Mitglied der Gesellschaft mit vier Gästen: Mr. und Mrs. Phipson, Mr. Charles Sutherland, Miß Sutherland und Mr. Adrian Herbert. Dann weitere Mitglieder mit ihren Gästen. Schließlich – als letzter der mit einer goldumränderten Karte Bevorzugten – Herr Owen Jack, dessen Abendtoilette durch ein um den Hals gewundenes schwarzes Seidentaschentuch, dessen Knoten unterm rechten Ohre saß, eine Neurung aufwies.
Die Versammlung drängte sich in zwei geräumige Zimmer zusammen. Es waren viel mehr Gäste als Sitze vorhanden. Die schwächlicher Veranlagten oder bereits Ermüdeten stützten sich gegen die Wand oder auf den Flügel und suchten sich durch solche Anlehnung einigen Halt zu verschaffen. Mary Sutherland hockte am Rande eines Divans, der jetzt vier Personen trug und sonst zweien bequem Platz geboten hätte.
»Nun?« fragte Jack, indem er hinter den Divan trat.
»Nun?« wiederholte Mary. »Warum kommen Sie so spät?«
»Aus dem bekannten Grunde – weil Weiber ihre Nase in alles stecken müssen. Ich konnte weder meine Kleider finden, noch meine Hemdknöpfe, noch sonst etwas. Von Mutter Simpson habe ich jetzt genug! Nächste Woche schnüre ich mein Bündel!«
»Damit drohen Sie nun schon zwei Jahre. Sie sollten wirklich aus Church Street fortziehen.«
»Das predigen Sie nun schon seit fünfzig Jahren. Aber ich glaube, Sie haben wirklich recht! Die Person ist nicht mehr auszuhalten. Da ist ja auch Charlie. Mit seinen Schwalbenschwänzen sieht er ebenso erwachsen aus wie wir anderen.«
»Er sieht widerlich eingebildet aus und ist es auch. Wie voll die Zimmer sind! Man sollte die Conversazione auch in St. James's Hall geben – ebenso wie die Konzerte.«
»Man hat niemals etwas so gemacht, wie es gemacht werden sollte – und man wird es niemals tun. Wo steckt Ihr geistiger Führer, Philosoph und Freund?«
»Wen meinen Sie damit, Mr. Jack?«
»Was für eine Farbe hat Ihr Kleid?«
»Meergrün. Wieso?«
»Gar nichts! Es gefällt mir sehr gut.«
»Mein geistiger Führer, Philosoph und so weiter – soll das Mr. Herbert sein?«
»Jawohl – das wissen Sie ganz gut. Sie sind also auch noch nicht darüber hinaus, zeitweilig Komödie zu spielen! Wo steckt er? Warum weilt er nicht an Ihrer Seite?«
»Ich weiß es leider selbst nicht. Er ist mit uns gekommen. Charlie!«
»Bitte?« meinte dieser, dem man das einstweilige Zögern seines Entwicklungsganges an der Schwelle des Mannesalters deutlich ansah. »Wozu schreist du hier so laut meinen Namen? Oh – Mr. Jack! Wie geht es Ihnen, Mr. Jack?«
»Wo ist Adrian?« fragte Mary.
»Nebenan – wo denn sonst?«
»Warum, wo denn sonst?« warf Jack ein.
»Weil Fräulein Spitzniznkopf – oder wie ihr unaussprechlicher Name sonst lauten mag – weil die nebenan ist. Wenn ich du wäre, Mary – ich würde Freund Adrian bei seinen Aufmerksamkeiten für die schöne Polackin etwas genauer auf die Finger sehen.«
»Scht! Sprich doch nicht so laut, Charlie!«
Charlie drehte sich um seine Achse und schritt von dannen, wobei er sich mit gemächlicher Grandezza seinen weißen Handschuh zuknöpfte.
»Wir wollen ins nächste Zimmer gehen,« sagte Jack.
»Danke! Ich bleibe lieber hier.«
»So kommen Sie doch, Fräulein Trotzkopf! Ich möchte auch etwas von der schönen Polackin haben – ich liebe sie bis zur Raserei. Sie sollen es mit eigenen Augen ansehen, wie Mr. Herbert mich bei ihr aus dem Felde schlägt.«
»Ich bleibe bei Mrs. Phipson. Lassen Sie sich aber durch mich nicht abhalten.«
»Sie wollen wohl kratzbürstig werden und uns den Abend verderben?«
Mary unterdrückte einen Ausruf des Unwillens und erhob sich. »Wenn Sie es also durchaus wünschen, so gehe ich meinetwegen mit. Mrs. Phipson, ich werde mit Mr. Jack einen Rundgang machen.«
Mrs. Phipson setzte aus reiner Gewohnheit mit Bezugnahme auf die Zulässigkeit dieses Rundganges eine etwas zweifelnde Miene auf. Jack aber schritt, ehe von ihr ein Einwand erhoben werden konnte, mit Mary davon. Im anstoßenden Zimmer war das Gedränge noch größer und die Luft noch heißer. Ein Geiger stand neben dem Flügel, an dem die junge Polin Platz genommen hatte, und stimmte sein Instrument. Adrian Herbert hielt sich in allernächster Nähe und ließ sie nicht aus den Augen.
»Aha,« meinte Jack, der den Blicken seiner Begleiterin nachsah. »Herrn Adrians wandernde Gedanken haben offenbar endlich einen Ankerplatz gefunden.«
Gleich darauf setzte die Musik ein.
»Was spielen sie?« fragte Mary mit gekünstelter Gleichgültigkeit.
»Die Kreutzer-Sonate.«
»Oh – das freut mich!«
»Nicht möglich! Es geht doch nichts über die Liebe zur Kunst! Sind Sie sich auch darüber klar, daß wir jetzt zwanzig Minuten lang wie die Ölgötzen da stehen und zuhören müssen?«
»Wenn ich an der Kreutzer-Sonate Gefallen finde – dann können Sie es sicherlich auch.«
»Ich wollte, sie hätten sich etwas kürzeres ausgesucht. Da wir nun aber einmal hier sind, so können wir auch ebenso gut den Mund halten und zuhören.«
Die Sonate nahm ihren Fortgang. Adrian lauschte hingerissen. Er beteiligte sich nicht an dem Beifall zwischen den einzelnen Sätzen. Das zerstörte ihm die Stimmung.
»Warum lernen Sie nicht auch so spielen?« fragte Jack.
»Wahrscheinlich, weil ich kein Talent dazu habe,« entgegnete Mary, von seiner Frage nicht angenehm berührt.
»Talent! Unsinn! Wozu applaudieren Sie jetzt?«
»Sie scheinen heute abend besondere Lust zu unnötigen Fragen zu haben, Mr. Jack. Ich applaudiere, weil ich Herrn Josefs Spiel sehr schön finde.«
»Und Mademoiselle? Wie gefällt Ihnen die?«
»Sie kann offenbar sehr viel. Aber ich finde wirklich nicht, daß sie so hoch über anderen Pianisten steht – wie das Ihre Meinung zu sein scheint. Mir gefällt Josefs Spiel besser.«
»Nicht möglich!« meinte Jack. »Sehen Sie den grauhaarigen Kerl da drüben, der zu uns herüberguckt? Das ist der Mann, der gegen meine Fantasie als ein Werk des Satans protestiert hat. Jetzt wird er mich zum Spielen auffordern.«
»Und werden Sie spielen?«
»Jawohl. Ich habe es Fräulein Szczympliça versprochen.«
»Dann bringen Sie mich lieber zunächst zu Mrs. Phipson zurück.«
»Was? Sie wollen nicht zuhören?«
»Das kann Ihnen doch ganz gleichgültig sein. Jedenfalls aber will ich hier nicht allein herumstehen.«
»Gut. Dann gehen wir also zu Mrs. Phipson zurück. Ich werde nicht spielen.«
»Ich bitte Sie, Herr Jack, werden Sie nicht ungemütlich. Ich gehe ins Nebenzimmer, weil ich hier überflüssig bin.«
»Sie bleiben – oder ich spiele nicht.«
»Ich werde tun, was mir paßt: Sie haben hier Mademoiselle Szczympliça, für die Sie spielen können. Ich bleibe hier nicht allein!«
»Herbert wird sich Ihrer annehmen.«
»Ich denke gar nicht daran, Mr. Herbert zu stören.«
»Herr des Himmels – Ihr Bruder ist ja auch noch da! Vorsicht! Wenn man ihn hier laut beim Vornamen ruft, wird er böse. Herr Sutherland!«
»Sie wünschen?« fragte Charlie sichtlich befriedigt. Jack vertraute ihm Mary an und begab sich alsbald auf das Ersuchen des von ihm bezeichnten Herrn, der als einer der Leiter der Veranstaltung ein Goldabzeichen auf seinem Frack trug, an den Flügel. Im Verlauf des letzten Jahres hatte der Herr für den ›Antient Orpheus‹ eine Symphonie – seine zweite – komponiert: es war eine arbeitsreiche, gewissenhafte, unendlich kraft- und saftlose Symphonie, die mit pedantischer Strenge in die steifsten akademischen Formen gezwängt und unbewußt aus Mendelssohn, dem Lieblingsmeister des Verfassers, zusammengestohlen und nachempfunden war.
Ein Thema aus dieser Symphonie tippte Jack jetzt mit einem Finger auf dem Flügel nach.
»Nicht gerade sehr höflich,« meinte Phipson mit einigen erklärenden Worten zu der jungen Polin. »Der arme Maclagan! Es wird ihm wohl nicht viel Freude machen, wenn man so mit seinem Thema umgeht.«
»Wenn das ein Spaß von Jack sein soll,« bemerkte Adrian voll Empörung, »dann ist er sicherlich sehr geschmacklos. Maclagan sollte augenblicklich das Zimmer verlassen.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Monsieur Herbert,« entgegnete die Polin. »Man kann Monsieur Jack ja alles verzeihen – aber er sollte die Leute, die weniger begabt sind als er, nicht vor den Kopf stoßen. Außerdem handelt es sich um einen alten Herrn.«
Jack begann nunmehr einige grillenhafte Improvisationen über das Thema, deren Humor für die Mehrzahl der Anwesenden verloren ging. Zuerst gab er eine exzentrische Spielart, die seinen eigenen Stil ins Lächerliche ziehen sollte, dann eine pedantische als Parodie des Komponisten. Als er dann seiner Ironie in einer Art jammervoll schwächlicher Fuge die Zügel hatte schießen lassen, leitete er seine musikalischen Einfälle auf ein ernsteres Gebiet, und zwar gelang ihm dies so gut, daß Maclagan nicht übel Lust verspürte, den Satz, dem das Thema entnommen war, noch einmal umzuschreiben. Die Zuhörer gaben lautes Entzücken kund und waren tatsächlich wie geblendet, als Jack mit der allgemein üblichen Variationsmanier – einem ausgiebigen, mit der linken Hand verursachten Lärm, der von Schauern zierlich träufelnder Arpeggios begleitet war – den Abschluß machte.
»Großartig!« rief Mr. Phipson, in die Hände klatschend. »Einfach großartig!«
»Ach, wenn ich doch nur die Kraft hätte,« meinte Mademoiselle Szczympliça seufzend, »dann könnte ich es mit jedem aufnehmen!«
»Wie ist das nur möglich?« warf Herbert ein. »Sie spielen so schön – und beneiden diesen Menschen? Ich höre Sie lieber eine Minute spielen, als ihn eine Stunde.«
Sie zuckte die Achseln: »Sie wissen genau, was ich kann, und Sie sagen mir aus Liebenswürdigkeit Schmeichelhaftes darüber. Ich aber – ich weiß, was ich nicht kann.«
»Wie geht es Ihnen, Mademoiselle?« erkundigte sich Jack, der jetzt an sie herantrat, ohne sich um die verschiedenen Komplimente der Umstehenden zu kümmern. »Guten Abend, Mr. Herbert. Sieh da, Mr. Phipson!«
»Mademoiselle Szczympliça hat Ihnen ein hohes Lob erteilt – und ich bin ganz Herberts Meinung, der es für übertrieben hält,« entgegnete Phipson. »Sie möchte so spielen können wie Sie!«
»Und Mr. Herbert meint, da sei Gott vor – nicht wahr? Er hat auch ganz recht. Wozu wollen Sie wie ich auf dem Klavier herumpauken, Fräulein, wo Sie doch so viel mehr können. Was würden Sie von einem Rennboot auf dem Wasser halten, das die Schwimmversuche eines Kavalleriepferdes beneidet?«
»Aus Ihrem Spiel, Monsieur Jack, ersehe ich, wie wenig ich dem letzten Satz Ihrer Fantasie gewachsen bin. Meine Kraft reicht nicht aus, um ihn so zu spielen, wie Sie ihn gespielt haben möchten. Doch, doch, doch – ich weiß es! Ich weiß es!«
»Nein. Mademoiselle. Sie besitzen auch nicht die Kraft, einen Indianertanz so auszuführen, wie ihn ein richtiger Indianer getanzt sehen möchte. Was meinen Sie dazu, Mr. Herbert?«
»Ich bin kein Musiker,« entgegnete dieser. »Meine Bestätigung Ihrer Ansicht würde deren Wert nur wenig hinzufügen.«
»Ich gebe nicht viel auf sogenannte fachmännische Urteile,« erwiderte Jack. »Ihrer Meinung nach kenne ich nicht einmal die Grundzüge der Musik. Wen würden Sie also lieber spielen hören – das Fräulein oder mich?«
»Wenn ich schon die Wahrheit sagen soll – lieber Mademoiselle Szczympliça.«
»Das dachte ich mir,« entgegnete Jack vergnügt. »Jetzt muß ich aber zu Miß Sutherland zurück. Während meines Spiels war sie ganz sich selbst überlassen.«
Herbert errötete. Jack nickte verständnisvoll und entfernte sich.
»Miß – Miß – ich kann Ihren Namen nicht aussprechen – das ist doch die junge Dame, mit der Sie beim Konzert waren, und die uns Herr Phipson vorgestellt hat. Sie ist brünett und trägt einen Kneifer, nicht wahr?«
»Jawohl, Mademoiselle.«
»Sie ist nicht so steif wie viele andere englische Damen. Sind Sie sehr gut mit ihr befreundet?«
»Sie – ihr älterer Bruder, der mit Mrs. Phipsons Tochter verheiratet ist, ging mit mir zur Schule. Mit dem bin ich sehr gut befreundet.«
»Ach, ich hätte wohl nicht fragen sollen! Ich fürchte, ich verstoße oft gegen die englischen Begriffe von Zurückhaltung. Ich bitte sehr um Entschuldigung.«
»Sie haben nicht den geringsten Grund,« erwiderte Herbert, der sich über seine eigene Unbeholfenheit ärgerte. »Lassen Sie sich bitte nicht durch irgendwelche Furcht vor unserer nationalen Schüchternheit – es ist nämlich keine Zugeknöpftheit – davon abhalten, Fragen an mich zu richten – falls irgend etwas an meiner Person Sie interessieren sollte. Wenn Sie wüßten, wie viel mir an diesem Interesse liegt – –«
Sie wich unwillkürlich etwas zurück. Und er stockte, da er ohne eine Ermutigung von ihr nicht weiter zu gehen wagte. In der Hoffnung, irgendeine Aufforderung diesen Sinnes in ihren Zügen zu lesen, sah er ihr forschend ins Gesicht.
»Wie heißt die Dame, die jetzt singen wird?« erkundigte sie sich, da sie einer nebensächlichen Frage vor einem verschämten Niederschlagen der Augen den Vorzug gab. Gleichzeitig hörten sie in allernächster Nähe Jacks Stimme.
»Josef kann ich zuhören,« sagte er zu Mary, »weil er zu geigen weiß – und Mademoiselle Szczympliça, weil sie ihr Klavierspiel versteht. Und der da würde ich zuhören –« er deutete auf die Dame am Klavier – »wenn sie singen könnte. Sie ist höchstens vier Jahr älter als Sie – und schon wagt sie sich nur an das, was lediglich mit voller Kraft herausgeschrien werden kann. Sie ist zu dem geworden, was man eine dramatische Sängerin nennt – das heißt eine Sängerin mit einer abgesungenen Stimme. Beeilen Sie sich – sie fängt schon an!«
»Vielleicht nimmt sie es übel, wenn Sie aus dem Zimmer gehen. Jetzt, wo Sie berühmt sind, können Sie nicht mehr unbemerkt kommen und gehen – wie ich.«
»Desto schlimmer für die, die mich bemerken! Ich kann Sänger nicht leiden – eine elende Bande von Menschen, die sich einbilden, daß nur in ihren Kehlen Musik steckt. Da legt sie schon los mit ihren ›Göttern der Unterwelt‹. Um des Himmels willen, machen wir, daß wir fortkommen!«
»Mir gefällt es aber in diesem Zimmer besser – nein, es gefällt mir nicht besser. Gehen wir!«
Marys sonst schon ernste Gesichtszüge hatten sich zu einem Stirnrunzeln verdüstert. Sie schritten zu dem jetzt leeren Divan zurück. Mrs. Phipson und die Umsitzenden hatten sich alle ins Nebenzimmer begeben, um dem Gesang zu lauschen.
»Ich gäbe was darum, wenn ich Ihre Gedanken wüßte,« meinte Jack, indem er sich neben Mary niederließ. »Sind Sie eifersüchtig?«
Sie fuhr ärgerlich auf. »Was soll das heißen?« Dann bezwang sie sich. »Eifersüchtig auf wen – und warum?«
»Eifersüchtig auf die Szczympliça – eifersüchtig, weil Mister Herbert heute abend zu vergessen scheint, daß es auch noch andere Menschen auf der Welt gibt.«
»Ich habe davon nichts bemerkt. Aber ich lege ihr auch nicht das Geringste in den Weg. Nachgerade muß er wohl meiner müde geworden sein.«
»Sie glauben wohl, mich hinters Licht führen zu können? Ich habe es ja gesehen, wie Sie ihn während ihres Spiels anstarrten. Ich wollte, Sie zankten sich mit ihm.«
»Warum?«
»Weil er mir auf die Nerven geht. Wenn Sie den Kerl los wären, könnten Sie sich ordentlich hinter Ihre Musik setzen, Ihre elende Ölmalerei an den Nagel hängen und mit mir liebenswürdig sein, ohne sich wegen Verrats an ihm Vorwürfe zu machen. Er ist der unangenehmste Patron, den ich kenne – und der Mensch, der am allerwenigsten zu Ihnen paßt. Abgesehen davon kann er auch nicht malen. Ich selbst könnte ja besser malen, wenn ich's versuchte.«
»Andere Leute sind nicht der Ansicht. Gleich beim erstenmal, als ich Sie in seinem Atelier kennen lernte, hielten Sie nicht viel von seiner Kunst.«
»Das war auch Ihre Ansicht – sonst hätten Sie sie bei mir nie entdeckt. Ich bin kein Mann des Pinsels – aber ich erkenne Unfähigkeit instinktiv. Sie fühlen durch, daß er ein Stümper ist. Ich fühle es ebenfalls.«
»Wenn er ein Stümper wäre – meinen Sie, sein Bild vom letzten Jahr hätte bei der Academy in die engere Wahl kommen können oder die ›Art Union‹ hätte es zu Vervielfältigungszwecken angekauft – oder der Präsident hätte sich Adrian selbst gegenüber so lobend geäußert?«
»Unsinn! Das muß alljährlich mit mindestens zweihundert Bildern so gemacht werden. Haben Sie aber oder sonst jemand jemals eine Academy-Ausstellung mit zehn Bildern gesehen, die zwanzig Jahre Lebensfähigkeit in sich gehabt hätten? Hat der Präsident der Musikakademie jemals ein gutes Wort über mich gesagt – oder glauben Sie, ich würde mich geehrt fühlen, wenn er's getan hätte? Das ist auch so eine von den extrafeinen Stümpereigenschaften an Ihrem Adrian. Er trieft nur so von Ehrfurcht. Er vergeht vor Bescheidenheit und spricht mit verhaltenem Atem von jedem Maler, über den einmal eine Notiz in der Zeitung gestanden hat. Er kriecht vor seiner Kunst im Staube, weil er sich einbildet, daß ihm das Kriechen gut zu Gesicht steht.«
»Ich bin der Meinung, daß seine Bescheidenheit sich tatsächlich sehr gut für ihn eignet.«
»Wahrscheinlich, weil er nichts hat, worauf er sich etwas zugute tun könnte. Das ist aber nicht das Holz, aus dem man schöpferische Künstler schnitzt. Ha! Ha!«
Mary öffnete ihren Fächer und begann sich mit abgewandtem Gesicht zu fächeln.
»Sind Sie jetzt böse?« fragte er.
»Nein. Wenn Sie aber Adrian herunterreißen wollen – warum tun Sie es dann gerade mir gegenüber? Sie wissen doch, wie wir zueinander stehen.«
»Ich reiße ihn herunter, weil ich ihn für einen Humbug halte. Wenn er Ihnen den ganzen Tag lang auseinandersetzt, was ein Mensch von Talent ist und fühlt, und dabei weder das eine noch das andere weiß, so sehe ich gar nicht ein, warum ich meine Ansicht über diesen Gegenstand nicht zu Ihnen äußern sollte, da ich ja nun einmal auf meine Art – auf eine keineswegs bescheidene Art – ein Mann von Talent bin.«
»Leider hat Adrian nicht denselben Glauben an sich selbst.«
»Weil er nicht so guten Grund dazu hat. Das eigene Ich glaubt immer zuletzt an sich selbst, und es ist viel schwerer hinters Licht zu führen als der Rest der Welt. Manchmal frage ich mich selber, ob ich nicht ein Schwindler bin. Auch der alte gute Beethoven fragte eines Tages einen seiner Schüler, ob er ihn für einen guten Komponisten hielte. Und, soviel ich weiß, hat Shakespeare mit seinen dramatischen Versuchen nur ein halbes Dutzend Mal einen rechten Erfolg gehabt. Meinen Sie, er hat das selber nicht gewußt?«
»Warum werfen Sie Adrian dann seinen Mangel an Selbstvertrauen vor?«
»Oh, das steht auf einem andern Brett! Er schätzt sich geringer als andere Menschen, die doch auch nur bloße Sterbliche sind wie er. Ich halte mich zeitweilig für einen Hanswurst, weil ich das Musikkomponieren an sich zuweilen für etwas Lächerliches halte. Warum sollte ein vernünftiger Mensch sein Leben darauf verwenden, mit zwölf Noten ein klingendes Geräusch hervorzubringen? In solchen Fällen aber scheint mir Bach ein ebenso großer Hanswurst wie ich mir selbst. Sie können mich, so oft Sie wollen, fragen, ob ich nicht gerade so gute oder bessere Musik komponieren kann wie irgendein Hinz oder Kunz, der auf zwei Beinen in England herumläuft – ich werde Ihnen aber niemals solches Gewäsch von Bescheidenheit oder Unfähigkeit auftischen!«
»Komponieren Sie bessere Musik als Mozart? Ich glaube, Sie prahlen jetzt aus reiner Antipathie gegen den guten Adrian.«
»Bringt Mozarts Musik meine Empfindungsweise zum Ausdruck? Wenn nicht, kann es mir doch ganz gleichgültig sein, ob sie besser ist oder schlechter. Ich muß meine eigene Musik machen, so wie sie ist oder wie ich bin – und ich bin lieber ich selbst als Mozart oder Beethoven oder sonst einer. Wenn man Ihren Adrian reden hört, so glaubt man, er wäre lieber alles andere als er selbst. Vielleicht hat er hiermit auch gar nicht so unrecht.«
»Lassen wir es also dabei beruhen, Mr. Jack, daß Sie keine sonderlich hohe Meinung von Adrian haben – und lassen Sie uns nicht mehr darüber reden.«
»Wie Sie wünschen. Wollen wir jetzt ins Nebenzimmer gehen? Für ein ruhiges Plauderstündchen sind Sie heute abend doch nicht in der Stimmung, Miß Mary.«
»Dann gehen Sie fort und lassen Sie mich hier. Ich bleibe ganz gern allein. Ich weiß, daß ich heute nicht sehr vergnügt bin – vielleicht verderbe ich Ihnen Ihren Abend.«
»Für mich sind Sie vergnügt genug. Ewig grinsende Weiber kann ich nicht leiden. Und außerdem, Miß Mary – ich habe Sie gern und finde Sie in jeder Stimmung anziehend.«
»Jawohl – ich bin fest davon überzeugt, daß Sie mich gern haben,« entgegnete Mary mit zerstreuter Ironie, als sie zusammen ins Nebenzimmer gingen. Hier stießen sie auf Herbert, der im Gedränge an der Tür, wo die zum Aufbruch rüstenden Gäste sich sammelten, eifrig nach jemand zu suchen schien. Mary bemühte sich, ihn nicht zu stören. Gleich darauf erblickte er sie und ging, da er sie allein stehen sah, auf sie zu. Jack war von Phipson aufgehalten worden und zurückgeblieben.
»Wo ist Mrs. Phipson, Mary? Bist du ganz allein?«
»Ich habe sie schon seit einiger Zeit nicht gesehen.« Beinahe hätte sie noch hinzugefügt, sie hoffe, ihn durch ihre Anwesenheit nicht zu behindern. Doch beherrschte sie sich, da sie gehässige Redensarten seiner und ihrer für unwürdig erachtete.
»Wo bist du denn die ganze Zeit über gewesen?« fragte er. »Den ganzen Abend habe ich dich nicht zu Gesicht bekommen.«
»Hast du dich nach mir umgesehen?«
Er vermied ihren Blick und trat beiseite, um einer vorbeigehenden Dame Platz zu machen.
»Soll ich dir etwas Eis holen?« erkundigte er sich nach dieser ihm nicht unliebsamen Unterbrechung. »Es ist sehr warm hier.«
»Nein, danke. Du weißt doch, daß ich nie Eis esse.«
»Ich dachte, die Backofenhitze könnte vielleicht den Sieg über deine hygienischen Prinzipien davontragen. Hast du dich gut unterhalten?«
»Ich habe mich weder übermäßig gut unterhalten noch allzusehr gelangweilt. Die Musik hat mir sehr gut gefallen.«
»O ja. Findest du nicht, daß Mademoiselle Szczympliça wundervoll spielt?«
»Diese deine Meinung habe ich dir längst angesehen. Das Fräulein versteht es, einen Ausdruck auf deinem Gesicht hervorzuzaubern, den ich an dir bis jetzt noch nicht bemerkt habe.«
Herbert sah schnell zu ihr auf; er wurde über und über rot. »Ja,« meinte er. »Sie hat sicherlich ein eigenartiges, poetisches Spiel. Übrigens finde ich, daß sich Mr. Jack mit seiner Lustigmacherei über Maclagan unerhört benommen hat. Jedermann im Zimmer war empört.«
Mary hatte schon eine Verteidigung Jacks auf den Lippen; ehe sie sie aber aussprechen konnte, kam Mrs. Phipson übellaunig auf sie zu und sprach etwas lauter, als es unbedingt nötig gewesen wäre. »Na, Herr Herbert,« begann sie, »Sie haben sich ja heute abend mit uns allen geradezu reizend benommen. Ich glaube, wir können jetzt gehen, Mary. Josef ist schon fort – die Szczympliça geht gleich – und so hat unser längeres Bleiben wohl keinen Zweck. Adrian ist ja schon wieder fort! Das ist doch mehr als sonderbar!«
»Er holt Mademoiselle Szczympliça einen Wagen,« entgegnete Mary ruhig. »Vorsicht! Sie ist knapp hinter uns!«
»Nicht möglich! Und wer holt uns unsern Wagen?« meinte Mrs. Phipson ärgerlich, ohne irgend ihre Stimme im geringsten zu dämpfen. »Nein, weißt du, Mary – darüber mußt du mit ihm ein Wörtchen reden! Was hat denn das für einen Sinn, mit ihm verlobt zu sein – wenn er sich überhaupt nicht um dich kümmert? Mein Mann läuft hinter der Französin her, die vorhin gesungen hat. Er ist immer überglücklich, wenn er Berühmtheiten Handlangerdienste leisten kann. Mir scheint, wir müssen selbst für uns sorgen oder warten, bis Adrian gütigst an uns denkt.«
»Wir wollen lieber nicht warten. Ich sehe Charlie im Nebenzimmer – er wird sich schon um uns kümmern. Kommen Sie!«
Die junge Polin ging an ihnen vorüber und folgte ihrer Mutter die Treppe hinunter.
Die Garderobe war überfüllt. Madame Szczympliça aber bahnte sich ihren Weg und kehrte alsbald mit einer Ladung Pelze zurück. Ihre Tochter half ihr in einige dieser Umhüllungen und war gerade im Begriff, selbst ihren Mantel anzulegen, als Herbert ihr ihn abnahm.
»Sie gestatten wohl,« bat er, indem er ihr den Mantel um die Schultern legte. »Ich darf Sie zwar nicht länger aufhalten – Ihr Wagen ist schon vorgefahren – aber – nur – –«
»Komm schnell, mein Kind!« unterbrach Madame Szczympliça. »Man ruft ja schon wie verrückt nach uns. Au revoir, Monsieur Herbert. Komm Aurélie!«
»Adieu,« sagte Aurélie und schritt eilig davon. Er blieb, bis sie den Wagen bestieg, an ihrer Seite.
»Adieu auf keinen Fall!« widersprach er eifrig. »Darf ich Sie nicht – wie besprochen – besuchen?«
»Nein,« entgegnete sie. »Ihr Platz ist bei Miß Sutherland, Ihrer Fiancée. Adieu!«
Der Wagen fuhr davon. Er blieb mit offenem Munde stehen, bis ein Diener ihn darauf aufmerksam machte, daß er den nachfolgenden Gästen im Wege stand. Er kehrte in die Vorhalle zurück, woselbst Mrs. Phipson ihm mit sichtlicher Kühle ihr Bedauern ankündigte, ihm in ihrem Wagen, da dieser schon besetzt sei, keinen Platz anbieten zu können. So verabschiedete er sich denn und begab sich zu Fuß auf den Heimweg.