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Große Gesellschaft

Von der Gesellschaft bei Stopps redete nicht Kasperle allein, noch viele andere sprachen davon. In einem uralten Haus am Kirchplatz redeten zwei Kinder von der Gesellschaft. Es waren Liebetraut und Rosemarie Severin. Liebetraut Severin probierte ein neues Kleid an, das heißt, es war eigentlich ein ganz altes Kleid, das die Urgroßmutter Marlene schon getragen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Nun sollte es Liebetraut zu dem Fest bei Stopps anziehen. Herr Stopps hatte neulich gesagt, es sollte ein Fest aus der Biedermeierzeit sein. »Dazu paßt das alte Kleid«, sagte Rosemarie, »du siehst aus wie deine Urgroßmutter Liebetraut.«

»Ich wollte lieber, ich sähe aus wie Marlene.«

»Warum, die Urgroßmutter Liebetraut war doch sehr schön?«

»Aber sie war keine Prinzessin, nur eines armen Puppenschnitzers Pflegetochter.«

»Möchtest du so gerne eine Prinzessin sein?« fragte Rosemarie.

»Ja, sehr gerne.«

»Wie Base Marlene?«

»Die ist arm.«

»Wir sind auch arm.«

»Ich möchte eine Prinzessin sein und reich. Es ist zu schade, daß unsere Großmutter einen einfachen Herrn Severin geheiratet hat.«

»Was redest du da?« sagte eine liebe Stimme. Die Mutter war in das Zimmer getreten. Sie sah ihre Töchter traurig an. »Seid ihr schon wieder unzufrieden?«

»Wenn wir schon arm sind, dann möchten wir wenigstens Prinzessinnen sein.«

»Ich möchte Klassenerste sein,« rief Rosemarie, »das wäre mir lieber.«

»Ihr müßt euch aber sputen, damit ihr zur rechten Zeit hinkommt,« mahnte die Mutter.

»Ach, so eine dumme Kindergesellschaft,« sagte Rosemarie aufgeblasen, »ich habe keine Lust.«

»Doch, es gibt dort immer viel Kuchen,« meinte Liebetraut.

»Und man muß die Bissen zählen, so geizig ist Herr Stopps.«

»Der ist nicht geizig.« Frau Severin sprach gerne zum Guten. Sie war eine sanfte, stille Frau, und es tat ihr leid, daß ihre beiden Töchter so unzufrieden waren. Die Mutter von Herrn Severin war eine Prinzessin gewesen, und die beiden Töchter waren stolz auf diese Verwandtschaft, so stolz, daß sie immer bedauerten, nur Severin zu heißen. Viele unzufriedene Gedanken gingen in den hübschen Köpfen herum. Sie dachten dabei wenig an das Unglück ihres Vaters, der ein berühmter Maler gewesen, aber im Kriege durch einen Schuß schwer verwundet worden war und fast die Sehkraft eingebüßt hatte. Dazu hatten die Severins noch in der schlimmen Zeit beinahe ihr ganzes Vermögen verloren, so daß sie in den allerbescheidensten Verhältnissen lebten. Zu dem Fest hätten sie heute gar keine Kleider gehabt, wenn sie nicht im Biedermeieranzug erscheinen könnten. So gingen sie in Kleidern von Urgroßmutter Marlenchen und ahnten alle beide nicht, wen sie heute treffen würden. Das ahnte überhaupt niemand. Wohl wußte eine Anzahl Kinder, daß ein Kasperle wieder aufgetaucht war, sie dachten aber alle, das wäre auf dem Jahrmarkt. Als darum Kasperle mit Bimlim ankam, kannte niemand die beiden. Selbst Henry Stopps nicht. Der lief zu seinem Vater und rief: »Sieh nur die beiden häßlichen Jungens, die da gekommen sind, und wie sie angezogen sind, ganz billiges Zeug haben sie an.«

Herr Stopps wollte den Kindern eine Überraschung bereiten, darum sagte er nur: »Es sind Kinder von einem Geschäftsfreund, sei recht freundlich. Da kommt Prinzeß Marlene.«

Ein zierliches, feines Mädelchen kam in den Saal und Herr Stopps ging ihr mit Henry entgegen. Marlenchen war zwar seine Nichte, er behandelte sie aber doch ein bißchen hochachtungsvoller als die andern Kinder, weil sie eine Prinzessin war. Auch Prinz August kam in den Saal, er war Marlenes Vetter, und da gleichzeitig die Severins eintraten, gab es eine große Begrüßung zwischen den Verwandten. Andre drängten sich herzu, und niemand achtete auf die beiden Kasperles.

Auf einmal gab es puff, puff, ein heftiges Gedränge, Kasperle teilte ein Rippenstößlein nach dem andern aus, und Bimlim puffte mit, und als die Kinder gerade höchlichst entrüstet schrien: »Was will denn der häßliche fremde Junge?« fiel er dem Prinzeßchen um den Hals, küßte es und schrie: »Marlenchen, du lebst ja noch!« Aber das Marlenchen wehrte sich, es schrie laut um Hilfe, und Prinz August und Henry Stopps sprangen herzu, um den frechen Jungen zu verwichsen.

Der nicht faul, teilte kräftige Stöße aus, Bimlim half, und ehe Herr Stopps noch eingreifen konnte, war die schönste Prügelei im Gange. Kasperle und Bimlim droschen auf die fremden Buben ein, als hätten sie sich durch ihren langen Schlaf extra dafür gestärkt. Dann aber kamen andere zu Hilfe und Kasperle dachte, hauen allein hilft nichts, ich muß auch mal schreien. Da schrie er aus vollem Halse und die andern Buben blieben nicht stumm, die schrien auch.

»Kasperle, aber Kasperle!« rief Herr Stopps entsetzt.

»Da hast du eine!« Prinz August bekam eine Ohrfeige wie noch nie in seinem Leben.

»Warte du!« Herr Stopps gab Kasperle einen Nasenstüber, der kräftig war.

»Der freche Junge hat angefangen,« schrie Kasperle, wie eben nur ein Kasperle schreien kann, und Bimlim schrie nicht minder laut: »Der auch!« und schwupp, schwupp, kriegte Henry Stopps etwas ab.

»Stille!« schrie Herr Stopps so laut er konnte. Er mußte aber eine ganze Weile warten, ehe sich der Sturm etwas legte. Als es endlich still geworden war, schrie Kasperle: »Marlenchen weint.«

»Ja, weil du sie geküßt hast, du frecher Junge,« schrie Henry Stopps.

»Und mich hat er geschlagen, ich gehe nach Hause.« Das Prinzlein war auch beleidigt, und Herr Stopps mußte noch einmal »Stille« rufen. Endlich, als er sagte: »Ich will euch sagen, wer die Fremden sind,« schwiegen die Kinder.

»Kasperles sind’s.«

»Aber sie leben doch.«

»Nun ja, lebendige Kasperles.«

»Ach, ich weiß, wie mein Urgroßvater eins hatte.«

»Aber zuletzt war ich bei Marlenchen,« schrie Kasperle. »Marlenchen, kennst du mich denn nicht mehr?«

Da mußte Herr Stopps erst Kasperle klar machen, daß die Kleine nicht sein Marlenchen, sondern die Urgroßnichte vom alten Herzog August Erasmus sei.

Kasperle senkte die Nase. Das war traurig, sehr traurig, und auf einmal fing Kasperle zu weinen an. Bimlim fiel ein. Es war aber kein lautes, ungezogenes Gebrüll wie am Morgen, sondern ein bitterliches, ganz trauriges Herzweinen. Es machte alle, die es hörten, so traurig, wie das Kasperle war, und Prinzeß Marlenchen trat auf einmal auf Kasperle zu, legte beide Arme um ihn und sagte: »Armes Kasperle du. Ich will deine Freundin sein.«

»Meine auch,« schrie Bimlim, »ich bin ein Prinz und passe besser für eine Prinzessin.«

»Halt den Schnabel,« schrie Kasperle erbost, »Marlenchen ist meine Freundin.«

»Aber Kasperle,« sagte die Prinzessin sanft, »du mußt doch nicht so grob sein.«

»Du darfst nicht schimpfen,« sagte Kasperle, während ihm die Tränen kamen. Marlenchen mußte lachen, und Kasperle fing zu lachen an, wie nur ein Kasperle lachen kann. Das steckte an, und selbst Henry Stopps und Prinz August lachten mit. Da sagte auf einmal eine helle Stimme in das Lachen hinein: »Es ist dumm, mit einem Kasperle Freundschaft zu schließen. Ein Kasperle ist ein dummes Ding.«

»Marlenchen, noch ein Marlenchen!« schrie Kasperle.

Es war aber Liebetraut Severin. Als Kasperle den Namen hörte, schrie er: »Die kenne ich auch, die hat den Herrn Severin geheiratet und ist die Tochter vom Kasperleschnitzer.«

Darüber ärgerte sich Liebetraut, und sie sagte spöttisch: »Du bist doch ein dummer Kasper, du meinst meine Urgroßeltern.«

»Marlenchen hat auch nicht so böse Augen gemacht,« rief Kasperle und sah selbst bitterböse auf das kleine Mädchen, das so vertraute Namen trug.

»Jetzt muß er kaspern,« rief Prinz August, dem das Gestreite langweilig wurde.

»Ja, kaspern, wir wollen was sehen,« riefen die andern Kinder, nur Liebetraut zuckte die Achseln: »Was wird er können?«

Das ärgerte Kasperle wieder ganz gewaltig. Er dachte, nun zeige ich aber, was ich kann, und flüsterte Bimlim zu: »Mach’ mir alles nach.«

»Uah, ich mag nicht, ich bin so müde.«

»Ich denke, du hast so lange geschlafen,« sagte Rosemarie Severin, die neben Bimlim stand.

»Uah, nicht genug, nur hundertfünfzig Jahre vielleicht.«

Alle lachten, und weil Kasperle sich ärgerte, daß die Kinder über Bimlim lachten, nicht über ihn, fing er an zu kaspern.

»Was macht der denn?« rief Liebetraut, »das soll wohl rhythmische Gymnastik sein?«

»Er tanzt Tango,« rief ein kleines Mädchen.

»Nein, Schuhplattler«, schrie ein Junge.

Da merkte Kasperle, daß er mit seinem Kasperlegehopse keinen Beifall erzielte, und so fing er heftig an, Gesichter zu schneiden. Das konnte er, und darüber fingen die Kinder zu lachen an, selbst Liebetraut lächelte ein wenig.

Kasperle schnitt alle Gesichter, die er kannte, längst vergessene fielen ihm wieder ein, und als er kein altes Gesicht mehr wußte, sah er wie der Polizeirat aus, wie der Schutzmann Müller, wie Meister Hirsebrei und Meister Drillhose.

»Er kann etwas,« sagte Henry Stopps ein bißchen von oben herab.

»Er paßt gut für’s Kino,« sagte Liebetraut spöttisch.

Das ärgerte Kasperle, und weil es dachte, Kino wäre etwas zum Essen, sagte er protzig: »Ich esse kein Kino.«

Darüber lachten die Kinder mehr als über seine Gesichter, und weil Lachen ansteckt, lachte Kasperle mit. Und wie lachte Kasperle! Die Gesichter hatten den verwöhnten Kindern zwar gefallen, aber das echte Kasperlelachen gefiel ihnen am allerbesten. So hatten sie noch nie jemand lachen hören, und sie wurden alle angesteckt, selbst Liebetraut konnte nicht widerstehen, sie mußte mitlachen. Und weil Kasperle, der Schelm, wohl merkte, wie die Sache stand, lachte er immer mehr, und wer weiß, wie viele Hosenknöpfe noch abgeplatzt wären, wenn nicht ein Diener gemeldet hätte, der Kaffee wäre angerichtet. Da gab es Kaffee und Kuchen, und Kasperle fragte ängstlich: »Muß man zählen?«

»Heute nicht.« Herr Stopps lachte immer noch. Auf einmal sagte er: »Kasperle, zähle doch mal bis drei.«

»Eins, zwei, drei,« schrie Kasperle und steckte drei Pfannkuchen nacheinander in den Mund. Darüber bekam Prinzessin Marlene große Augen vor Schreck, und sie hätte wohl etwas gesagt, wenn nicht auf einmal der Lautsprecher vom Rundfunk angefangen hätte. Man hörte gerade eine Kasperlegeschichte, und Kasperle schrie ganz aufgeregt: »Wer spricht denn da von mir?«

»Dort, der Rundfunk,« antwortete Marlene.

»Wo ist denn der Herr Rundfunk?«

Die Kinder lachten alle, sie nahmen es anfangs für einen Scherz, erst als Kasperle laut in den Lautsprecher hineinrief: »Herr Rundfunk, wo bist du denn?« da merkten sie, daß das Kasperle nicht wußte, was ein Rundfunk war.

Auf einmal schrie Bimlim, der halb geschlafen hatte: »Kasperle, sei doch mal still!«

»Ich bin doch still!«

»Du redest immerzu.«

»Das ist der Herr Rundfunk.«

»Das bist du.«

»Nein, das bin ich nicht.«

»Doch.«

»Nein.«

»Der ist’s,« sagte Henry Stopps und deutete auf den Lautsprecher.

»Ist das ein Tier?«

»Ja, ein Esel,« riefen die Kinder.

Bimlim machte ein nachdenkliches Gesicht: »In meiner Zeit hatten die Esel vier Beine,« sagte er nachdenklich.

Darüber lachten die Kinder alle so, daß selbst Liebetraut nicht zum Essen kam vor Lachen. Nur Kasperle und Bimlim ließen sich nicht stören, die aßen und aßen. Kasperle aß dreizehn Pfannkuchen, sechs Windbeutel und sieben Mohrenköpfe und noch etliche Stücke Kuchen, und Bimlim machte ihm wieder alles nach.

»Wie viel er ißt!« rief Liebetraut. »Jetzt hat er schon den zehnten Pfannkuchen!«

»Ich kann nicht zählen.«

»Du kannst nicht zählen?« riefen alle.

»Bis drei,« schrie Kasperle und wollte es wieder mit Pfannkuchen machen.

»Er muß aber in die Schule gehen,« riefen alle, »er muß etwas lernen.«

»Nä.« Kasperle schüttelte den Kopf.

»Doch ja, warum denn nicht?«

»Wenn ich wieder einschlafe, vergesse ich es doch wieder.«

»Du kannst wohl auch nicht lesen?« fragte Henry.

»Nä,« rief Kasperle.

»Und nicht Lateinisch?« Rosemarie war sehr stolz auf ihr Wissen.

»Nä.« Kasperle schüttelte sich ordentlich.

»Bist du denn nicht in die Schule gegangen?«

»Doch!« schrie Peringel, als wären alle taub.

»Wo denn? Erzähle mal.«

Da erzählte Kasperle: »Ich gingte zu einem, der so aussah,« und er machte ein Gesicht wie der Schulmeister in Waldrast, »und dann kam eine, die so aussah,« nun machte er ein Gesicht wie die Base Mummeline, . . . »und da reißte ich aus und da war’s aus.«

»Wenn die Schule doch auch so kurz wäre!« rief Henry.

»Bimlim muß auch erzählen,« rief Kasperle, »ob er auch in die Schule gegangen ist.«

»Nä,« rief Bimlim, »bin ich nicht, ich hatte einen Hofmeister.«

»Oh, wie fein! Was hast du denn bei dem gelernt?«

Bimlim sann eine Weile nach, dann sagte er langsam: »Nichts.«

»Warum denn nichts?«

»Weil ich’s verschlafen habe.«

Auf einmal fing der Lautsprecher wieder ein Musikstück an, und die Kinder sprangen auf und sagten, sie wollten nun tanzen.

»Kannst du tanzen, Kasperle?«

»Ja!« schrie der, denn er nannte sein Kasperlegehopse auch Tanz.

Die Kinder nannten das aber anders. Die lachten, als Kasperle mitten im Saal mit Prinzeß Marlene zu hopsen anfing, als wären sie auf einer Kuhweide. Wie ein Kälbchen sprang Kasperle herum, und Bimlim machte lauter feine zierliche Schritte, die er früher einmal gelernt hatte. Prinzeß Marlene war außer sich und zum Überfluß kam auch noch Liebetraut und sagte: »Das sieht wundervoll aus, wenn Kasperle tanzt.«

»Nicht wahr?« rief der stolz.

Er merkte aber dann am Lachen der andern, daß Liebetraut ihn verspottete. Da sagte er: »Du bist eine Gans.«

Das war grob, und es gab eine große Aufregung. Kasperle sollte abbitten, aber er tat’s und tat’s nicht. Ja, als Marlenchen zuredete, schrie er: »Ich geh’ in meine Kiste und schlaf ein.«

»Uah, ich auch,« schrie Bimlim.

»So geht, ihr dummen Kasperles!« schrie Henry Stopps.

Und die beiden gingen, und auf einmal merkten die Kinder, wie lustig es mit den Kasperles gewesen war, und es dauerte nicht lange, da liefen sie auch alle heim. Herr Stopps aber sagte: »Ja, mit Kasperles umgehen, ist nicht leicht.«


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