Walther Siegfried
Tino Moralt
Walther Siegfried

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Es war wie das Erwachen aus einem wirren Traum, als er ein paar Tage später nach der beendeten nötigsten Einrichtung zum erstenmal in seinem Berghäuschen aufwachte, und er mußte, während er zu der rohen Kalkdecke seines Schlafzimmers aufsah und draußen das kleine Bergwasser durch die Stille des Morgens murmeln und plätschern hörte, das hinter dem Hause den Hang herniederkam, sich erst in seinen Gedanken zurechtlegen, wo er eigentlich sei.

Also wirklich hinter ihm die Stadt und die Menschen? hinter ihm der Sturm all der ermüdenden Besorgungen, die notwendig gewesen waren, bevor er hatte entfliehen können? hinter ihm die umständliche Reise in das abgelegene Bergdorf, – glücklich gelungen der gefährliche Transport und die Aufstellung seines Flügels, des einzigen Vertrauten, den er mit sich in seine Einsamkeit geschleppt? Ja – Alles hinter ihm, und er da, endlich ungestört und einsam, in einem siebenfach versteckten Winkel der Bergwelt. Züge und Züge von Höhen trennten ihn jetzt schützend von dem, was er geflohen. 161

Er stand auf mit einem ihm ganz neuen Gefühl, einem Gemisch von Zufriedenheit und wohliger Neugier, und schritt dann, wie um sich zu überzeugen, daß er nicht träume, daß Alles wirklich sei, durch sein kleines Haus.

Neben seinem Schlafzimmer lag der mäßig große Wohnraum, in dessen Mitte das Instrument stand. Ein breites, dreiteiliges Fenster bot vollen Blick über das tiefer gelegene Dorf, in den Talgrund hinaus und über den stolzen Halbkreis des Gebirges, während eine Türe auf eine hölzerne Laube hinausführte, die der ganzen Vorderseite des Häuschens entlang lief und vor dem Wohnzimmer ein Stück weit überdacht und mit Holzsäulen zu einem traulichen Aufenthaltsort abgeteilt war. Au den rankenden Büscheln von wildem Wein hingen zwischen den letzten tiefroten Blättern die blauen Beeren. Die paar kleinen obern Räume des Hauses ließ Moralt unbenützt; diese untern zwei Zimmer genügten ihm. In einer kleinen Küche hing das nötigste Geschirr; den schmalen Gang, welcher von der Haustüre herführte, schmückten ein paar große Hirschgeweihe.

Es war Moralt gleichgültig, daß der Zustand dieses Gebäudes etwas verlottert war, daß die beiden Räume, die er bewohnte, mit unschönen Tapeten verunziert waren. Es war ihm gleichgültig, daß er keinen 162 ständigen Dienstboten gefunden, der zugleich hätte kochen können, sondern nur ein altes Nachbarweiblein aus der nächstliegenden Gasse, die Waber-Nandl, um die nötige Bedienung zu besorgen, und einen Bauernburschen, den Martl, der das Wasser, das Holz, die Gänge in's Dorf übernahm und zweimal des Tages das Essen von der Lammwirtin herauftrug. Das Eine war ja doch gewonnen, unentreißbar gewonnen: Freiheit. Und so war es in diesen ersten Tagen das einzige, große, weite Gefühl seiner Freiheit, was ihn erfüllte und dem er sich völlig, und vorerst weiter wunschlos, überließ. Ach, das nun einen ganzen, stillen Winter hindurch zu genießen! Hier – in dieser großen Natur! Mußte es da nicht endlich besser mit ihm werden?

Seine Zeit verbrachte er vorderhand damit, von seinen Schriften, seinen Büchern, seiner Musik, die noch in Kisten verpackt in den obern Räumen standen, das was er zunächst zu benützen gedachte, herunterzuholen, zu ordnen, sein Wohnzimmer vollends zum Arbeiten herzurichten. Die vorhandene Möblierung war spärlich, nur auf's Nötigste beschränkt. Ein brauner, dünner Teppich bedeckte den Boden, und weiße, zunderweiche, schon fast zur Charpie verwaschene Vorhänge, über welche er sofort die mitgebrachten dunkeln seiner Stadtwohnung hängte, 163 steckten an schmucklosen Stangen über Fenster und Laubentüre. Der Flügel stand wie verirrt in dieser dürftigen Umgebung, und das lange Kanapee von veralteter, steifer Form, mit dem nüchtern braunen Ripsüberzug und den langweiligen, milchweißen Beschlagnägeln schien sich unbehaglich zu fühlen neben dem vornehmen neuen Nachbar. Eine Uhr in großem, viereckigem Holzgehäuse mit prunkvoll ornamentiertem, aber falschvergoldetem Messingüberzug war das einzige Zierstück der einen Wand. Als Moralt sie aufzog, gab sie sechs tiefe, melancholische Schläge.

Er fügte wenig Schmuck zum Vorhandenen. Ein kleines Ölporträt, das ihn selber mit zweiundzwanzig Jahren darstellte und den vollen Ausdruck seines damaligen Wesens trug, hängte er, da er es als Andenken an einen befreundeten Maler in Paris von je in seiner Nähe behielt und zudem für seine Rückversetzung in jene Zeit von diesem Bilde manche Anregung empfing, dem Arbeitstisch gegenüber. Auf dem hohen Schrank standen etliche zwanzig seiner Bücher, auf einem niederen Kommödchen zwischen Fenster und Tür ein paar Skizzen und Photographieen. Wenn er auf dem Ruhebett lag, erblickte er vor sich eine originalgroße, farbige Nachbildung des einen kleinen Engels von der sixtinischen Madonna, desjenigen, welcher mit dem Köpfchen auf den 164 beiden übereinander gelegten Ärmchen ruht. Er entfernte sie nicht, so gründlich er auch Ölfarbendrucke haßte. Gerade in der Naivität seiner äußersten Wohlfeilheit lag bei diesem Bildchen für Moralt ein Reiz; war doch der Zauber der Raphael'schen Empfindung selbst hier, in solcher Verpfuschung, nicht umzubringen.

Seltsam genug aber nahm sich inmitten dieser mageren Ausstattung des Häuschens, welches eben nur zum wechselnden Vermietetwerden während der kurzen Sommermonate berechnet war, das Vorhandensein eines Kamins aus. Das mußte wohl ein Mieter auf eigene Kosten einst gebaut haben. Ein kleines Kamin mit braunglasierten Tonkacheln und einem schmalen Sims. Daneben in der Ecke der Ofen, vom Bauern, dem das Häuschen gehörte, für die kalten Tage hingestellt, die auch im Sommer bei längerem Regen im Hochland eintreten. Auf dem Kaminsims hatte Moralt einen Krug mit Apfelbaumzweigen stehen, welche Anfänge zu Knospen zeigten. In dem wiedergekehrten auffallend warmen Herbstwetter hatte er auf der Herfahrt diesen zweiten Trieb bemerkt und die paar Zweige heruntergeschnitten, mit der Absicht, sie im Zimmer künstlich zum Grünen und Blühen zu bringen. Dies die ganze kleine Welt des neuen Heims. 165

Das »Berghäusl«, wie dieses von ihm gemietete, seit September wieder leerstehende kleine Anwesen hieß, stand einsam über dem Dorf an der Halde. Mit grauem Schindeldach gedeckt und mit Felssteinen beschwert, zwischen denen ein plumpes, breites Kamin aufragte, grüßte es mit seinem weißlichen Gemäuer und mit dem braunen Holzwerk seiner Laube aus einem verwilderten kleinen Vorgarten zwischen ungepflegten Bäumen herab. Dahinter stieg, gegen Norden schützend, ein gewaltiger Bergkoloß empor, aus dessen düstern Föhrenständen in den höchsten Höhen nackte Kuppen aufragten. Ein felsiger Pfad führte zu dem Häuschen und lief dann, unter dem Vorgärtchen vorüber, weiter den Hang aufwärts. Das nächste Gebäude, wohl hundert Schritte unterhalb, mit geschlossenen Läden und struppiger Umgebung, schien Moralt ein unbewohntes, altes Bauernhüttchen zu sein.

In der Tiefe breitete sich das Tal aus, über eine Stunde lang und eine Viertelstunde breit, eine ebene Moossohle, als wäre es der Boden eines einstigen Sees. Ein kräftiges, schnelles Bergwasser zwischen erlen- und weidenbewachsenen Ufern, von den Gebirglern zum Holztriften benützt, floß quer mittendurch. Über dem Talgrund stiegen rings die Vorhügel mit kurzgrasigen Wieshängen empor, in welche 166 Felstrümmer, Tannenstände und Buschwerk lustige Flecken zeichneten; dahinter das gewaltige Hochgebirg, in einem erhaben großartigen Kreis das Tal umschließend, daß es von der Außenwelt vollständig abgeschnitten, eine kleine Welt für sich zu sein schien. Denn selbst jene Öffnung, die vom Tiefland heraufführte, war durch die Berge im Rücken, um welche die Straße sich mehrfach hereinschlängeln mußte, wie durch vorgeschobene Kulissen verdeckt.

Und über diesem abgeschlossenen Hochlandswinkel lag jetzt, nach den kalten Tagen des Oktoberanfangs, wieder eine sonnenmilde Spätsommerluft, welche die Felswände und Zacken mit weichen Schimmern umwob und die welken Wiesen der Hänge in sammtweiche, goldig verschienene Farben kleidete. 167

 


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