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Es ist allgemein zu beobachten, daß das Seltene, Individuelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung genießt, die sich an seine Form als solches knüpft und innerhalb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unabhängig ist. Schon die Sprache läßt die »Seltenheit« zugleich als Vorzüglichkeit und etwas »ganz Besonderes« ohne weiteren Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindividuelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hinzuweisen, daß alles Gute, alles was ein bewußtes Glücksgefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich außerordentlich schnell ab, und in dem Maße ihrer Häufigkeit tritt eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen muß, um als solcher bewußt zu werden. Versteht man deshalb unter dem Guten die Ursache bewußter Lebensreize, so bedarf es keines besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwendiges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: daß auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise ist, daß, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen unzähligemal diesen Fehlschluß: ein gewisser Styl in künstlerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns versehen, wird er uns zum Maßstabe alles Gefallens überhaupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für die Praxis in den: alles Gute muß den Styl M zeigen; ein Parteiprogramm erscheint uns richtig – und gar zu bald halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem enthalten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, daß alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des Selteneren entstammen.
Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit mit Anderen ist zwar als Thatsache wie als Tendenz von nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen sie, und beide sind in den mannichfaltigsten Formen die großen Prinzipien für alle äußere und innere Entwicklung, sodaß die Kulturgeschichte der Menschheit schlechthin als die Geschichte des Kampfes und der Versöhnungsversuche zwischen ihnen aufgefaßt werden kann; allein für das Handeln innerhalb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der Unterschied gegen die Anderen von weit größerem Interesse, als die Gleichheit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist es, was unsere Thätigkeit großenteils herausfordert und bestimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung unter ihnen einnehmen wollen. Der Gegenstand des praktischen Interesses ist das, was uns ihnen gegenüber Vorteil oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin wir mit ihnen übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche Grundlage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er habe bei seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen getroffen, der an die gemeinsame Abstammung der Arten geglaubt habe; das Interesse an derjenigen Abweichung, die die von ihm gezüchtete Spielart charakterisiere und ihr den praktischen Wert für ihn verleihe, fülle das Bewußtsein so aus, daß für die Gleichheit in allen Hauptsachen mit den übrigen Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden sei. Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt sich begreiflich auch auf alle anderen Beziehungen des Ich. Man wird im allgemeinen sagen können, daß bei objektiv gleicher Wichtigkeit der Gleichheit mit einer Allgemeinheit und der Individualisierung ihr gegenüber für den subjektiven Geist die erstere mehr in der Form von Unbewußtheit, die letztere mehr in der der Bewußtheit existieren wird. Die organische Zweckmäßigkeit spart das Bewußtsein in jenem Fall, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke nötiger ist. Bis zu welchem Grade aber die Vorstellung der Verschiedenheit die der Gleichheit verdunkeln kann, zeigt vielleicht kein Beispiel lehrreicher, als die konfessionalistischen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten, namentlich im 17. Jahrhundert. Kaum war die große Absonderung gegen den Katholicismus geschehen, so spaltet sich das Ganze um der nichtigsten Dinge willen in Parteien, die man oft genug äußern hört: man könnte eher mit den Papisten Gemeinschaft halten, als mit denen von der ändern Konfession! So weit kann über der Differenzierung die Hauptsache, über dem Trennenden das Zusammenschließende vergessen werden! Daß dies Interesse an der Differenziertheit, das also die Grundlage des eigenen Wertbewußtseins und des praktischen Handelns bildet, zu einer Wertschätzung derselben psychologisch emporwächst, ist leicht verständlich, und ebenso, daß dies Interesse hinreichend praktisch wird, um eine Differenzierung auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, daß Vereinigungen – von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungskomitees –, die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen, die sich zu einander verhalten, wie die ganze sie einschließende Vereinigung etwa zu einer von radikal ändern Tendenzen bewegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, daß dieser Gegensatz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit anderen Gegensätzen gegenüber gegründet ist.
War die zuerst genannte Ursache für die Schätzung der Differenzierung eine individuell psychologische, die zweite aus individuellen und sociologischen Motiven gemischt, so läßt sich nun eine dritte von rein entwicklungsgeschichtlichem Charakter auffinden. Wenn nämlich die Organismenwelt eine allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hindurch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum vererbt wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat. Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und komplicierteren es in relativem Grade immer sind, erscheinen stets variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daß jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird. Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist also das Band, das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben eine reale und synthetische Verbindung knüpft. Wenn es uns deshalb scheint, als ob die individuelle und seltenere Qualität die vorzüglichere wäre, so ist dies freilich auch von diesem Gesichtspunkte aus ein oft irrender, aber oft auch treffender Induktionsschluß. Die Differenzierung kann freilich auch nach der Seite des Häßlichen und Bösen stattfinden. Allein eine tiefere Analyse zeigt hier häufig, daß bei hochdifferenziertem Charakter sowohl des ethisch wie des ästhetisch Schlechten die Differenzierung mehr die Mittel und Ausdrucksweise betrifft, also etwas an sich Gutes und Zweckmäßiges, das nur durch einen bösen Endzweck, zu dem es gebraucht wird und der an sich kein differenziertes Wesen zeigt, das negative Werturteil rechtfertigt; dies ist bei allen Raffinements des Sybaritentums und der Unsittlichkeit der Fall. Andererseits sehen wir auch gerade, wie entschieden häßliche, also auf primitive Entwickelungsstufen zurückschlagende Erscheinungen, die uns dennoch fesseln, dies durch Beimischung sehr individueller Züge zustande bringen; die sogenannte beaute du diable ist dafür ein häufig angetroffenes Beispiel.
Noch mehr Werturteilen dieser Art begegnen wir, wenn wir, statt nach der Schätzung des Seltenen, nach der des Neuen fragen. Jedes Neue ist ein Seltenes, wenn auch nicht immer im Verhältnis zu dem aktuellen Inhalt des Bewußtseins, so doch zu der Totalität der Erfahrungen überhaupt, nicht immer im Verhältnis zu dem, was neben ihm ist, so doch jedenfalls im Verhältnis zu dem, was vor ihm war und in irgend einer psychischen Form doch noch gegenwärtig sein muß, um jenes sich eben als Neues abheben zu lassen. Das Neue ist das aus der Masse des Gewohnten Herausdifferenzierte, es ist in der Form der Zeit dasjenige, was dem Inhalt nach als Seltenes erscheint. Welche Schätzung aber das Neue rein als solches und ohne Rücksicht auf seinen specifischen Inhalt genießt, bedarf nur der Erwähnung. Verdankt es dieselbe nun auch wesentlich unserer Unterschiedsempfindlichkeit, die einen Reiz nur an dasjenige knüpft, was sich vom bisherigen Empfindungsniveau abhebt, so wirkt doch zweifellos die Erfahrung mit, daß das Alte – welches das durch die Zeitreihe Verbreitete ist, wie das bisher als verbreitet Angesprochene durch die Raumreihe – die primitive Gestaltung gegenüber dem Späteren, erst einen beschränkteren Zeitteil hindurch Existierenden bedeutet. So finden wir, daß in Indien die sociale Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig ist: die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten – wie mir scheint, aus dem Grunde, daß sie die komplicierteren, feineren, difficileren sein müssen. Wenn wir dem entgegen auch vielfach einer Schätzung des Alten, Gefesteten, lange Bewährten begegnen, so ruht dieses seinerseits auf sehr realen und durchsichtigen Gründen, die die Kraft jener wohl für die einzelne Erscheinung einschränken, aber nicht zunichte machen können. – Was in diesen Fragen so leicht irre führt, ist dies, daß so allgemeine Tendenzen, wie die Schätzung des Neuen und Seltenen oder des Alten und allgemein Verbreiteten, als Ursachen der einzelnen Erscheinung, als Kräfte oder psychologische Naturgesetze aufgefaßt werden und dann freilich in den Widerspruch verwickeln, daß ein Naturgesetz das genaue Gegenteil des ändern auszusagen scheint. Derartige allgemeine Prinzipien sind vielmehr die Folgen des Zusammentreffens primärer Kräfte, nichts als ein zusammenfassender Ausdruck für Erscheinungen, deren jede aus besonders zu untersuchenden Ursachen hervorgeht. Aus der unermeßlichen Kombinationsmöglichkeit jener primären Ursachen erklärt sich die Verschiedenheit der allgemeinen Tendenzen, die als Widerspruch nur dann erscheint, wenn sie als allgemeine Ursachen, allgemein gültige Gesetze gefaßt werden und also gleichzeitige und gleichmäßige Anwendung auf jede Erscheinung fordern. Daß sie freilich, nachdem sie lange genug als bloße Folgeerscheinung im Bewußtsein waren, dann auch im Verlauf des Seelenlebens zu Ursachen weiterer psychologischer Geschehnisse werden, ist sicher. In keinem Fall aber kann die Herleitung des notwendigen Eintretens einer derartigen Tendenz dadurch widerlegt werden, daß auch eine entgegengesetzte Geltung hat. Der Nachweis der Notwendigkeit, daß das Neue und Seltene geschätzt wird, leidet nicht unter der Thatsache, daß auch das Alte und Überlieferte geschätzt wird.
Die Niedrigkeit des letzteren nun in der hier betrachteten evolutionistischen Beziehung hat gegenüber dem Jüngeren und Individuelleren die größere Sicherheit der Vererbung, die größere Gewißheit, jedem Einzelnen überliefert zu werden, zum Korrelat. Daher ist es klar, daß großen Massen als Ganzen nur die niedrigeren Bestandteile der bisher erreichten Kultur eigen sein werden.
Von dieser Grundlage aus wird uns z.B. die auffallende Diskrepanz verständlich, die zwischen den theoretischen Überzeugungen und der ethischen Handlungsweise so vieler Menschen herrscht und zwar meistens im Sinne eines Zurückbleibens dieser hinter jenen. Es ist nämlich richtig bemerkt worden, daß ein Einfluß des Wissens auf die Charakterbildung nur insoweit stattfinden könne, als er von den Wissensinhalten der socialen Gruppe ausginge: denn zu der Zeit, wo der Einzelne dazu käme, sich ein wirklich individuelles, über seine Umgebung durch differenzierte Qualitäten hinausgehendes Wissen zu erwerben, – zu dieser Zeit sei sein Charakter und die Richtung seiner Sittlichkeit längst abgeschlossen. In der Periode der Bildung dieser ist er ausschließlich den Einflüssen des in der socialen Gruppe objektivierten Geistes, des in ihr allgemein verbreiteten Wissens ausgesetzt, die freilich je nach der angebornen Eigenart des Individuums zu sehr verschiedenen Resultaten führen werden – man denke z.B. daran, wie verschieden die den Individuen social entgegengebrachte Überzeugung einer jenseitigen Vergeltung auf starke oder schwache, heuchlerische oder aufrichtige, leichtsinnige oder ängstliche Naturanlagen ethisch einwirken muß. Ist nun aber das Wissensniveau der Gruppe als solches ein niedriges, so verstehen wir aus seiner Wirkung auf die ethische Formierung, daß diese oft so wenig mit derjenigen theoretischen Bildung übereinstimmt, die wir dann an dem fertigen, mit individuellem Inhalt erfüllten Geiste wahrnehmen. Wir mögen überzeugt sein, daß das selbstlose Handeln unvergleichlich höheren Wert hat als das egoistische., – und handeln doch egoistisch; wir sind davon durchdrungen, daß die geistigen Freuden viel dauerndere, reuelosere, tiefere sind als die sinnlichen, – und jagen doch wie blind und toll hinter diesen her; wir sagen uns tausendmal vor, daß der Beifall der Menge weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird, – und wieviele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig glauben, lassen nicht hundertmal diesen im Stich um jenes willen! Das kann wohl nur daher stammen, daß solche höheren und vornehmeren Erkenntnisse uns erst kommen, wenn unser sittliches Wesen schon fertig ist und in der Zeit, wo es sich bildet, nur die allgemeineren, d. h. niedrigeren theoretischen Auffassungen uns umgeben.
Wenn nun aber auch jeder Einzelne aus der Masse höhere und feinere Eigenschaften besitzt, so sind diese doch individuellere, d. h. er unterscheidet sich in der Art und Richtung derselben von jedem ändern, der qualitativ ebenso hochstehende Eigenschaften aufweist. Die gemeinsame Grundlage, von der sie sich abzweigen müssen, um höher zu kommen, wird von den niedrigeren Qualitäten gebildet, deren Vererbung allein eine unbedingte ist. Von hier aus wird uns das Schillersche Epigramm verständlich: »Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in corpore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.« Und ebenso der Heinesche Vers: »Selten habt ihr mich verstanden, Selten auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden, Dann verstanden wir uns gleich.« Von hier aus die Thatsache, daß Essen und Trinken, also die ältesten Funktionen, das gesellige Vereinigungsmittel oft sogar sehr heterogener Personen und Kreise bilden, von hier aus auch die eigenartige Tendenz selbst gebildeter Herrengesellschaften, sich in der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; je niedriger ein Gebiet ist, desto sicherer kann man darauf rechnen, von allen verstanden zu werden; das wird um so zweifelhafter, je höher man kommt, weil es in demselben Verhältnis differenzierter, individueller wird. Die Handlungen von Massen werden hierdurch in entsprechender Weise charakterisiert. Der Kardinal Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, daß zahlreiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hochstehende und gebildete Personen einschließen, doch bei gemeinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel handeln, d.h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften wie das gemeine Volk regiert werden, – nur diese sind eben allen gemeinsam, während die höheren differenziert, also bei den Verschiedenen verschieden sind. Wenn eine Masse einheitlich handelt, so geschieht es immer auf Grund möglichst einfacher Vorstellungen; die Wahrscheinlichkeit ist zu gering, daß jedes Mitglied einer größeren Masse einen mannichfaltigeren Gedankenkomplex in Bewußtsein und Überzeugung trägt. Da nun aber angesichts der Kompliciertheit unserer Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere Ansprüche negierende sein muß, so begreifen wir daraus die Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die großen Massen in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden, für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden, und verstehen auch, weshalb gerade diejenigen Religionen, die alle Vermittelung, alle Aufnahme andersartiger Bestandteile am schroffsten und einseitigsten von sich abweisen, die größte Herrschaft über die Gemüter der Masse erlangten.
Dem stellt sich scheinbar die manchmal gehörte Behauptung entgegen, daß religiöse Gemeinschaften um so kleiner seien, je geringer ihr dogmatischer Besitz, und daß der Umfang des Glaubens im geraden Verhältnis zu der Zahl der Bekenner stehe. Da ein differenzierterer Geist dazu gehört, um eine große Anzahl von Vorstellungen, als um wenige zu beherbergen, so würde hiernach gerade die größere Gruppe, falls ihr als solcher die mannichfaltigere Glaubensmasse zukäme, sich in der größeren geistigen Differenziertheit zusammenfinden. Allein die Thatsache selbst zugegeben, bestätigt sie doch die Regel, statt eine Ausnahme von ihr zu bilden. Denn auf religiösem Gebiet stellt gerade Einheit und Einfachheit sehr viel größere Ansprüche an Vertiefung des Denkens und Fühlens als bunte Fülle, wie denn auch die scheinbare Differenziertheit des Polytheismus dem Monotheismus gegenüber als die primitive Stufe auftritt.
Steht nun ein Angehöriger einer Gruppe sehr niedrig, so ist das Gebiet, das ihm mit dieser gemeinsam ist, relativ groß. Dieses Gemeinsame selbst muß aber, absolut genommen, um so niedriger und roher sein, je mehr solcher Einzelnen es giebt, da ein höheres Gemeinsames natürlich nur da möglich ist, wo die einzelnen Bestandteile der Gruppe ein solches aufweisen; die relative Niedrigkeit der Ausbildung, die die Mitglieder einer Gruppe zeigen – relativ in ihrem Verhältnis zum Gruppenbesitz – bedeutet zugleich die absolute Niedrigkeit des letzteren und umgekehrt. Es wäre ein wenngleich bestechender, so doch oberflächlicher Schluß, daß bei hoher Differenziertheit der Einzelnen von einander das gemeinsame Gebiet mehr und mehr verkleinert und auf die unentbehrlichsten und also niedrigsten Eigenschaften und Funktionen eingeschränkt würde. Unsere vorige Abhandlung beruht zwar auf dem Gedanken, daß, je ausgedehnter ein socialer Kreis ist, desto Wenigeres nur ihm gemeinsam sein kann, und daß die Ausdehnung nur durch gesteigerte Differenzierung möglich sei, sodaß diese letztere der Größe des gemeinsamen Inhalts umgekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen scheinbaren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das Verhältnis schematisch so denken, daß der früheste Zustand ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Geringfügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe. Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, daß die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe. Die Folge davon wird sein, daß der Abstand zwischen beiden sich immer vergrößert, daß das sociale Niveau im Verhältnis zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen: erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe, ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen. Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kulturvorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten entbehrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung und der der oberen Stände außerordentlich viel weiter geworden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen müssen, ein größerer, als in den überhaupt »kindlicheren« Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Individuums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwicklung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker ausgebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in gleichem Verhältnis mit den letzteren, sodaß erhebliche absolute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der größte, wo auch die letzteren schon ein höheres Maß von Bildung besitzen, als bei größerer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts. Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewiß ist die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsverfassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, andererseits im Durchschnitt der bewußten Gesinnungen an den Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewiß aber ist die Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den lasterhaften Handlungen vergrößert; die absolute Höhe der Differenzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar, wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüber der Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der obige Satz ist, daß bei unausgebildetem socialem Niveau auch ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muß.
Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns verstehen lehrt, wie wenig dazu gehört, um sich in einer rohen und tiefstehenden Horde zum Führer und Herrn aufzuschwingen. Dies ist auch an den rudelweise lebenden Tieren charakteristisch, bei denen das führende Tier sich keineswegs immer durch so besondere Eigenschaften auszeichnet, daß sie diese ganz besondere Stellung rechtfertigten; auch unter Kindern in Schulklassen ist es häufig zu beobachten, daß ein Kind zu einer Art führender Stellung unter seinen Kameraden gelangt, ohne durch besondere körperliche oder geistige Kräfte dazu prädestiniert zu sein. Ein sehr geringes oder sehr einseitiges Herausragen über den Durchschnitt bringt da schon ein Überwiegen über sehr viele mit sich, wo die Schwankungen um den Durchschnitt herum äußerst geringe sind; über eine stark differenzierte Gesellschaft sich zu erheben ist deshalb um so viel schwerer, weil, wenn man auch in gewissen Hinsichten den Durchschnitt überragt, immer andere nach anderen Seiten Ausgebildete da sind, die es in Hinsicht dieser thun. Es ist deshalb besonders charakteristisch, wenn von den Küstennegern berichtet wird, daß der geschickteste Mann im Dorfe gewöhnlich Schmied, Tischler, Baumeister und Weber in einer Person ist, und wenn bei den niedrigsten Stämmen die klugen Männer immer zugleich Priester, Ärzte, Zauberer, Jugendlehrer u.s.w. sind. Eine Vereinigung wirklicher specifischer Begabungen für alle diese verschiedenen Funktionen ist kaum anzunehmen, sondern nur ein Hervorragen nach irgend einer Seite, das sich aber bei der Niedrigkeit des umgebenden allgemeinen Niveaus zu einer überhaupt ausgezeichneten Stellung ausbildet. Das gleiche Verhalten liegt der psychologischen Thatsache zu Grunde, daß ungebildete Menschen von demjenigen, der auf irgend einem Gebiete Ungewöhnliches und ihnen Imponierendes leistet, nun auch gleich in jeder sonstigen Hinsicht Außerordentliches voraussetzen und fordern. Bei der Fesselung des Individuums an das gemeinsame und deshalb niedrigere Niveau genügt schon ein geringes Maß von differenzierender Erhebung darüber, um nach allen Seiten die Situation zu beherrschen. Man möchte es für eine der Zweckmäßigkeiten der socialen Evolution halten, daß gerade auf den Stufen, wo Herrschaft und Unterordnung den ersten und wichtigsten Grund der Kultur zu legen haben, der durchgehende Mangel an Differenziertheit das Aufkommen herrschender Persönlichkeiten erleichtert. Ein analoges Verhalten zeigen auch die Vorstellungen des Individuums. Je weniger differenziert, je unausgebildeter die Vorstellungsmasse ist, um so leichter wird eine abweichende Vorstellung eine führende Stellung gewinnen und mit Leidenschaft ergriffen werden, gleichviel, ob sie dazu sachlich berechtigt ist oder nicht; die Impulsivität und eigensinnige Leidenschaftlichkeit roher und dummer Menschen ist eine häufig beobachtete Erscheinung in diesem Sinne. Allenthalben sehen wir so, daß das Differenzierte und Aparte einen Wert erhält, der zu seiner sachlichen Bedeutung nur ein sehr unstetiges Verhältnis aufweist; je niedriger eine Gruppe, desto bemerkbarer wird jede Differenzierung, weil Niedrigkeit durchgehende Gleichheit der Individuen bedeutet und jede Besonderheit deshalb gleich sehr vielen gegenüber eine Ausnahmestellung bewirkt.
Soll nun in einer schon differenzierteren Masse dasjenige Nivellement, das zur Einheitlichkeit ihres Handelns gehört, erzielt werden, so kann es nicht so geschehen, daß der Niedere zum Höheren, der auf primitiver Entwicklungsstufe Stehengebliebene zu dem Differenzierteren aufsteige, sondern nur so, daß der Höchste zu jener von ihre schon überwundenen Stufe herabsteige; was Allen gemeinsam ist, kann nur der Besitz des am wenigsten Besitzenden sein. Wo sich über Klassen, von denen eine bisher die herrschende, die andere die beherrschte war, ein Regiment erhebt, pflegt es sich deshalb auf die letztere zu stützen. Denn um sich gleichmäßig über alle Schichten erheben zu können, muß es diese nivellieren. Nivellement aber ist nur so möglich, daß die Höheren weiter herabgedrückt, als die Tieferen emporgezogen werden. Deshalb findet der Usurpator in letzteren bereitwilligere Stützen. Damit hängt es zusammen, daß, wer auf die Massen wirken will, dies nicht durch theoretische Überzeugungen, sondern wesentlich nur durch Appell an ihre Gefühle durchsetzen wird. Denn das Gefühl ist zweifellos gegenüber dem Denken phylogenetisch die niedere Stufe; Lust und Schmerz, sowie gewisse triebhafte Gefühle zur Erhaltung des Ich und der Gattung haben sich jedenfalls vor allem Operieren mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen entwickelt; und deshalb wird sich eine Menge viel eher in primitiven Gefühlen und durch dieselben zusammenfinden, als durch abstraktere Verstandesfunktionen. Hat man den Einzelnen vor sich, so darf man hinreichende Differenzierung seiner Seelenkräfte voraussetzen, die den Versuch rechtfertigt, durch Erweckung theoretischer Überzeugungen auf seine Gefühle zu wirken. Beiderlei Seelenenergieen müssen erst eine gewisse Selbständigkeit erlangt haben, um eine durch den sachlichen Inhalt bestimmte Gegenseitigkeit der Wirkung auszuüben. Wo die Differenzierung noch nicht so weit vorgeschritten ist, wird die Beeinflussung nur in derjenigen Richtung stattfinden, die die natürliche, psychologische Entwicklung innehält; da nun die Masse als solche nicht differenziert ist, so wird der Weg zu ihren Überzeugungen im allgemeinen durch ihre Gefühle hindurchgehen; man wird also umgekehrt wie beim Einzelnen auf diese wirken müssen, um jene zu gestalten.
Hierzu mag eine Erscheinung beitragen, die sich besonders deutlich an einer aktuell zusammenbefindlichen Menge beobachten läßt: die Verstärkung eines Eindrucks oder Impulses dadurch, daß er zugleich eine große Anzahl von Einzelnen trifft. Ebenderselbe Eindruck, der uns, wenn er sich nur auf uns richtet, ziemlich kühl lassen würde, kann eine sehr starke Reaktion hervorrufen, sobald wir uns unter einer größeren Menge befinden, wenngleich jedes einzelne Mitglied derselben im genau gleichen Falle ist; hundertfach lachen wir im Theater oder in Versammlungen über Scherze, über die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, irgend ein Impuls, dem jeder Einzelne nur sehr bedingt folgen würde, bewegt ihn, sobald er sich in einer großen Menge befindet, zum Mitmachen der enthusiastischsten, lobens- oder tadelnswerten Handlungsweisen. Das Mitgerissenwerden des Einzelnen bei den Empfindungsäußerungen einer Menge bedeutet keineswegs, daß jener an sich vollkommen passiv wäre und zu seinem Verhalten nur durch die anderen, anders Gestimmten angeregt würde; ihm mag es von seinem subjektiven Standpunkt aus so erscheinen; allein thatsächlich besteht die Masse doch aus lauter Einzelnen, deren jedem es ebenso geht. Es findet hier die reinste Wechselwirkung statt; jeder Einzelne leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Beitrag sich ihm verbirgt. Wenn man auch durchaus kein Gesetz aufstellen kann, das die Wirkung eines Reizes und die Zahl der gleichzeitig von ihm Getroffenen in durchgängige funktionelle Beziehung brächte, so ist doch im Ganzen kein Zweifel, daß jene sich zugleich mit dieser erhöht. Daher die oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen., die einer Masse gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen, das den leisesten Impulsen von Liebe und Haß oft zu teil wird. Schon an den heerdeweise lebenden Tieren ist dies festzustellen: der leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet oft in einen panischen Schrecken der ganzen Heerde aus. Eine der eigentümlichsten und durchsichtigsten Steigerungen des Gefühls vermöge des gesellschaftlichen Zusammenseins zeigen die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Subjektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemeinsamkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch statt, indessen oft so, daß sie stundenlang schweigend zusammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsamkeit dadurch, daß sie uns dienen könne, uns dem Geiste Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muß offenbar das bloße, auch schweigende Beieinandersein die letalere begünstigen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahrhunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: In Kraft der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe teile sich häufig ein solcher Zustand eines Einzelnen allen mit, sodaß eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zu Tage gefördert werde, die schon viele dem Vereine unwiderstehlich gewonnen habe. Man kann geradezu von einer Nervosität grosser Massen sprechen; eine Empfindlichkeit, eine Leidenschaft, eine Excentricität ist ihnen oft zu eigen, die an keinem einzigen ihrer Mitglieder oder vielleicht nur an äußerst wenigen, für sich allein betrachtet, zu konstatieren wäre.
Alle diese Erscheinungen weisen auf diejenige psychologische Stufe hin, auf der das Seelenleben noch überwiegend von der Association bestimmt wird. Höhere geistige Entwicklung unterbricht die associativen Zusammenhänge, die die Elemente des Seelenlebens so mechanisch untereinander verknüpfen, daß sich an die Erregung irgendeines Punktes oft die weitgehendste Erschütterung in einer Stärke und durch Gebiete hindurch heftet, die in gar keinem sachlichen Verhältnis zu jenem Ausgangspunkte stehen; steigende Differenzierung verselbständigt die einzelnen Bewußtseinselemente derart, daß sie mehr und mehr nur logisch gerechtfertigte Verbindungen eingehen und sich aus den Verwandtschaften lösen, die aus der verschwimmenden Unklarheit und dem Mangel scharfer Umgrenzung bei primitiven Vorstellungen hervorgehen. Solange aber diese noch herrschen, ist auch ein Überwiegen der Gefühle über die Verstandesfunktionen zu beobachten. Denn wie viel oder wenig Wahrheit jene Lehre haben mag, daß die Gefühle nur undeutliche Gedanken sind, in jedem Falle bewirkt Verschwommenheit, unklares Durcheinandergehen der Vorstellungsinhalte eine relativ lebhafte Anregung des Gefühlsvermögens. Je niedriger also das intellektuelle Niveau ist, je mehr unsichere Begrenzung der Vorstellungsinhalte jeden derselben mit jedem irgendwie verknüpft, desto erregbarer sind die Gefühle und desto weniger werden namentlich Willensäußerungen durch scharf umgrenzte und logisch gegliederte Vorstellungsreihen hervorgerufen werden, sondern durch jene Gesamterregung des Geistes, die aus der Fortpflanzung eines gegebenen Anstoßes erfolgt und ebenso Ursache wie Folge von Fluktuierungen des Gefühls ist. Indem also die Aufnahme eines Gedankens oder Impulses durch eine größere Menge ihm die begriffliche Schärfe nimmt – schon weil die Auffassung jedes Einzelnen durch die seiner Genossen beeinflußt wird –, ist die psychologische Grundlage für die Stimmung und Bestimmung der Menge durch den Appell an ihre Gefühle geschaffen; wo die Unklarheit der Begriffe dem Gefühlsleben einen weiten Spielraum giebt, da wird auch in Wechselwirkung das Gefühl einen größeren Einfluß auf die anderen und höheren Funktionen ausüben, und Entschlüsse, die sonst aus einem deutlich gegliederten teleologischen Bewußtseinsprozeß hervorgehen, werden aus jenen viel unklareren Überlegungen und Impulsen entspringen, die der Erregung der Gefühle folgen. Wesentlich ist auch die Widerstandslosigkeit, die aus dieser psychischen Verfassung folgt und so das oben charakterisierte Mitgerissenwerden erklären hilft; je primitiver und undifferenzierter der Bewußtseinszustand ist, desto weniger findet ein auftauchender Impuls sofort die nötigen Gegengewichte. Das beschränkte geistige Niveau hat nur für eine einzige Vorstellungsgruppe Raum, die sich vermöge der Grenzverschwommenheit seiner Elemente widerstandslos fortpflanzt. Daher erklärt sich aber auch das ebenso rasche Umschlagen der Stimmungen und Entschlüsse einer Volksmenge, das nun dem früheren Inhalte so wenig Raum giebt, wie sie damals für den jetzigen übrig hatte; Schnelligkeit und Schroffheit im Nacheinander der Vorstellungen und Entschlüsse ist das begreifliche Korrelat zu dem Mangel ihres Nebeneinander.
Die weiteren psychologischen Gründe dessen, was ich als Kollektivnervosität bezeichnete, gehören wohl hauptsächlich in das weite Gebiet der Erscheinungen der »Sympathie«. Es ist zunächst anzunehmen, daß durch das enge Zusammensein mit vielerlei Menschen eine große Anzahl dunkler Empfindungen sympathischer und antipathischer Art ausgelöst wird, daß sich vielerlei Reize, Triebe und Associationen an die Mannichfaltigkeit der Eindrücke knüpfen, die wir etwa in einer Volksversammlung, in einer Zuhörerschaft u. s, w. erfahren; und wenn auch keiner derselben zu klarem Bewußtsein kommt, so wirken sie doch gerade in ihrer Gesamtheit anregend und bewirken eine innere nervöse Bewegung, die jeden sich darbietenden Inhalt mit Leidenschaft ergreift und ihn weit über das Maß hinaus steigert, das ihm ohne diesen subjektiven Reizzustand zukäme; wir begreifen hieraus ganz im allgemeinen die Steigerung des Nervenlebens, die die Vergesellschaftung mit sich bringt, und daß sie um so größer sein muß, je verschiedenartiger die von dieser ausgehenden Eindrücke und Anregungen sind, d. h. je weiter und differenzierter unser Kulturkreis ist. Eine andere Form der Sympathie ist hier indes noch wichtiger. Unwillkürlich ahmen wir Bewegungen nach, die wir um uns herum vorgehen sehen; wie wir häufig beim Anhören eines Musikstücks dieses ganz oder halb unbewußt mitsingen, beim Anblick einer lebhaften Aktion dieselbe mit unserm Körper oft in der seltsamsten Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Personen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in uns zwischen einem Gefühl und seiner Äußerung gebildet ist und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene rein äußerliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang. Indem der Schauspieler zunächst äußerlich die geforderte Lage und Bewegung nachahmt, lebt er sich schließlich in das innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der äußern Nachahmung ganz in dieses, sodaß er dann völlig aus der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, daß die rein mechanische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch die Mittelglieder also der sinnlichen Äußerung des Affekts und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche Affekt um uns herum zur Äußerung kommt. Und geschieht das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten, so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen Sichhinreißen, zur Überwucherung aller verstandesmäßigen und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen, das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben.
Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu widersprechen, daß die Vereinigung einer Menge auf dem gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem socialen Niveau einnimmt, so muß doch das letztere immer eine gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum, das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen muß; so lange und so weit sich seine: Anlagen noch im Zustande der bloßen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung, die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren geistigen Funktionen, wenngleich sie' in socialer Beziehung von der größten und noch keineswegs genügend hervorgehobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur, daß die Nachahmung eines der hauptsächlichen Mittel gegenseitigen Verständnisses ist; vermöge der vorhin betonten Association zwischen der äußeren Handlung und dem ihr zu gründe liegenden Bewußtseinsvorgang giebt uns die Nachahmung der Handlung eines ändern oft erst den Schlüssel zu ihrem innerlichen Verständnis, indem die Gefühle, die früher auch bei uns die Handlung hervorriefen, erst durch jene psychologische Hülfe ihre Reproduktion erfahren. Dem volkstümlichen Ausdruck, daß man, um irgendeine Hancilungsweise eines anderen recht zu begreifen, erst in seiner Haut stecken müsse, liegt eine tiefe psychologische Wahrheit zu Grunde, und die Nachahmung des anderen läßt uns wenigstens soweit in seiner Haut stecken, als sie eine partielle Gleichheit mit ihm bedeutet; wie sehr aber das gegenseitige Verständnis die Schranken zwischen Mensch und Mensch niederreißt, wieviel es zur Herstellung eines gemeinsamen geistigen Besitzes beiträgt, bedarf keiner Ausführung. Auch ist kein Zweifel, daß wir für die ungeheure Mehrzahl unserer Thätigkeiten auf Nachahmung vorgefundener Formen angewiesen sind, was uns nur nicht ins Bewußtsein tritt, weil das uns und andere Interessierende eben nicht dies, sondern das Eigene und Originelle an uns ist. Ebenso sicher ist freilich die Niedrigkeit des Geistes, dessen Bewegungen in der Form der Nachahmung befangen bleiben, weil, bei der durchgehenden Tendenz auf diese, das am häufigsten Geschehende, am häufigsten zur Nachahmung Auffordernde die Norm des Handelns abgeben wird, das sich demnach mit dem trivialsten Inhalt füllen wird. Wenn nun auch diese Art des geistigen Lebens ihrem Begriffe nach die weit überwiegende sein muß, so hat doch das wachsende Streben nach Differenzierung eine Form geschaffen, die alle Vorteile der Nachahmung und socialen Anlehnung, zugleich aber auch den Reiz einer wechselvollen Differenzierung besitzt: die Mode. Im Mitmachen der Mode auf jeglichem Gebiet ist der Einzelne sociales Wesen κατ εξοχην. Die Qual der Wahl, die Verantwortung derselben anderen gegenüber ist ihm erspart; mit der Bequemlichkeit des Thuns verbindet sich die Sicherheit der allgemeinen Billigung. Indem aber die Mode nun ihrem Inhalte nach in stetem Wechsel begriffen ist, befriedigt sie zugleich das Bedürfnis der Verschiedenheit und stellt eine Differenzierung im Nacheinander dar; der Unterschied der heutigen Mode gegen die von gestern und vorgestern, die Zusammendrängung des auf sie gerichteten Bewußtseins an einem Punkt, der sich gegen das Vorher und das Nachher oft aufs schärfste abscheidet, die Abwechselungen und Übergänge in ihr, die an die Verhältnisse, Streitigkeiten, Kompromisse zwischen Individualitäten erinnern, – alles dieses ersetzt vielen Geistern in der Mode die Reize eines individuell differenzierten Verhaltens und täuscht sie über die Niedrigkeit des Niveaus, an das sie sich binden.
Aus dieser Verfassung der Masse, insofern sie einheitlich auftritt, erklärt sich ungezwungen eine Erscheinung, die zu den abenteuerlichsten sociologischen Ideen Veranlassung gegeben hat. Die Handlungen einer Gesellschaft haben gegenüber denen des Individuums eine schwankungslose Treffsicherheit und Zweckmäßigkeit. Der Einzelne wird von widersprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin- und hergezogen, und seinem Geiste bieten sich in jedem Augenblick vielfache Handlungsmöglichkeiten dar, zwischen denen er nicht immer mit objektiver Richtigkeit oder auch nur mit subjektiver Gewißheit zu wählen weiß; die sociale Gruppe dagegen ist sich stets darüber klar, wen sie für ihren Freund und wen für ihren Feind hält, und zwar nicht so sehr in theoretischem Sinne, als wenn es aufs Handeln ankommt. Zwischen dem Wollen und dem Thun, dem Erstreben und dem Erreichen, den Mitteln und den Zwecken der Allgemeinheit ist eine geringere Diskrepanz, als zwischen denselben Momenten im Individuellen. Dies hat man so zu erklären gesucht, daß die Bewegungen der Masse im Gegensatz zu dem freien Individuum naturgesetzlich bestimmt werden, daß sie schlechthin dem Zuge ihrer Interessen folgen, dem. gegenüber sie so wenig wählen und schwanken können, wie die Materienmassen gegenüber dem Zuge der Gravitation. Eine ganze Anzahl fundamentaler erkenntnistheoretischer Unklarheiten steckt in dieser Erklärungsweise. Gäben wir selbst zu, daß die Handlungen der Masse als solche in besonderem Maße naturgesetzlich sind gegenüber den Handlungen der Einzelnen, so bliebe es noch immer ein Wunder, wenn hier Naturgesetz und Zweckmäßigkeit immer zusammenfielen. Die Natur kennt Zweckmäßigkeit nur in der Form, daß sie eine große Anzahl von Produkten mechanisch hervorbringt, von denen dann zufällig eines besser als die ändern sich den Umständen anpassen kann und sich dadurch als zweckmäßiges erweist. Aber sie hat kein Gebiet, auf dem jede Hervorbringung von vornherein und unbedingt gewissen teleologischen Forderungen genügte. Den alten Satz, daß die Natur immer den kürzesten Weg zu ihren Zwecken einschlage, können wir in keiner Weise mehr anerkennen; da die Natur überhaupt keine Zwecke hat, so können auch ihre Wege nicht durch eine Beziehung zu einem solchen als lange oder kurze charakterisiert werden; deshalb wird auch die Übertragung dieses Prinzips auf das Verhältnis zwischen den socialen Zwecken und ihren Mitteln nicht zutreffen. Im Ernst wird doch auch diese Meinung nicht behaupten wollen, daß das Wählen und Irren des Einzelnen eine Ausnahme von der allgemeinen Naturkausalität darstelle; aber selbst wenn das so wäre und das Handeln der Masse sich dem gegenüber streng natürlich verhielte, so wären noch immer die beiden Fragen zu erledigen, ob denn nicht auch innerhalb der reinen Naturkausalität ein Wählen und Schwanken stattfinden könne, und ferner, durch welche prästabilierte Harmonie gerade in den socialen Bestrebungen der Erfolg sich immer mit der Absicht decken müßte. Wenn auch beide Momente, das Wollen und das Handeln, naturgesetzlich bestimmt sind, ja gerade weil sie es sind, bliebe es doch ein Wunder, wenn der Erfolg des letzteren genau die Umrisse ausfüllte, die das erstere doch nur ideell gezeichnet hat.
Diese Erscheinungen indes, insoweit sie überhaupt festzustellen sind, erklären sich leicht unter der Voraussetzung, daß die Ziele des öffentlichen Geistes viel primitivere und einfachere sind als die des Individuums; worin eine große Anzahl von Menschen übereinstimmt, das muß, wie oben ausgeführt, im allgemeinen dem Niveau des Niedrigsten unter ihnen adäquat sein. Es kann nur die primären Grundlagen der einzelnen Existenzen betreffen, über die sich erst das höher Ausgebildete, feiner Differenzierte derselben zu erheben hat. Daraus verstehen wir die Sicherheit sowohl des Wollens wie des Gelingens der socialen Zwecke. In demselben Maße, in dem der Einzelne in seinen primitivsten Zwecken schwankungslos und irrtumslos ist, in ebendem Maße ist es die sociale Gruppe überhaupt. Die Sicherung der Existenz, der Gewinn neuen Besitzes, der Schutz des Erworbenen, die Lust an der Behauptung und Erweiterung der eigenen Machtsphäre – dies sind grundlegende Triebe für den Einzelnen, in denen er sich mit beliebig vielen anderen zweckmäßigerweise zusammenschließen kann. Weil der Einzelne in diesen prinzipiellen Strebungen nicht wählt noch schwankt, kennt auch die sociale Strebung, die jene zusammenschließt, keine Wahl oder Schwankung. Es kommt hinzu, daß, wie der Einzelne bei rein egoistischen Handlungen klar bestimmt und zielsicher handelt, die Masse es bei allen ihren Zielsetzungen thut; sie kennt nicht den Dualismus zwischen selbstischen und selbstlosen Trieben, in dem der Einzelne rathlos schwankend steht, und der ihn so oft zwischen beiden hindurch ins Leere greifen läßt. Daß aber auch die Erreichung der Ziele irrtumsloser und gelingender ist als beim Einzelnen, folgt zunächst aus der Thatsache – die unseren augenblicklichen Erörterungen ferner liegt –, daß innerhalb eines Ganzen Reibungen und Hemmungen der Teile stattfinden, von denen das Ganze als solches frei ist, dann aber daraus, daß der primitive Charakter der socialen Zwecke sich außer in der einfacheren Qualität ihres Inhalts auch in ihrem Näherliegen bekundet; d. h. die Allgemeinheit bedarf für ihre Zwecke nicht der Umwege und Schleichwege, auf die der Einzelne so oft angewiesen ist. Das liegt aber nicht an irgendeinem mystischen Charakter besonderer Natürlichkeit, sondern nur daran, daß erst höhere Differenzierung der Ziele und Wege es nötig macht, mehr und mehr Mittelglieder in die ideologische Kette einzuschieben. Worin sich aber viele differenzierte Wesen zusammenschließen, das kann selbst nicht in gleichem Maße differenziert sein; und wie sich der Einzelne über diejenigen Zweckverbindungen nicht zu irren pflegt, in denen Ausgangs- und Zielpunkt nahe aneinander liegen, und wie eben die Zwecke am sichersten von ihm erreicht werden, bei denen die erste Initiative am unmittelbarsten dazu hinreicht, so wird natürlich auch der sociale Kreis, insofern der einfachere Inhalt seiner Ziele den eben bezeichneten formalen Charakter derselben zur Folge hat, weniger Irrtümer und Mißerfolgen ausgesetzt sein.
Bei größeren Gruppen, die den Verlauf ihrer Entwicklungen nicht mehr durch augenblickliche Impulse, sondern durch umfassende und feste, allmählich herangewachsene Institutionen bestimmen, müssen die letzteren eine gewisse Weite, einen objektiven Charakter tragen, um der ganzen Fülle verschiedenartiger Bethätigungen den gleichen Raum, die gleiche Sicherung und Förderung zu gewähren. Sie müssen nicht nur irrtumsloser sein, weil jeder Irrtum sich bei der ungeheuren Anzahl davon abhängender Verhältnisse aufs schwerste rächen würde und deshalb mit der größten Vorsicht vermieden werden muß, sondern sie werden von vornherein und abgesehen von diesem Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt schon deshalb als besonders richtig, erhaben über Schwankungen und Einseitigkeiten auftreten, weil sie aus dem Zusammenprall der Gegensätze, aus dem Streite der Interessen, aus dem gegenseitigen Sichabschleifen der in einer Gruppe enthaltenen Verschiedenheiten überhaupt entstanden sind. Für den Einzelnen entsteht die Wahrheit und Sicherheit in der Theorie wie in der Praxis dadurch, daß die zunächst einseitige subjektive Maxime zu einer großen Anzahl von Verhältnissen in Beziehung tritt; die Richtigkeit eines allgemeineren Vorstellens besteht überhaupt nur darin, daß es durch vielerlei und möglichst verschiedene Fälle durchführbar ist; alle Objektivität erhebt sich nur aus der Kreuzung und gegenseitigen Einschränkung einzelner Vorstellungen, deren keiner man es an und für sich ansehen kann, ob sie nicht etwa bloß subjektiv ist; sowohl in realer wie in erkenntnistheoretischer Beziehung läutert sich die Übertriebenheit, die falsche Subjektivität, die Einseitigkeit nicht durch das plötzliche Hineingreifen eines absolut anders gearteten Objektiven, sondern nur durch das Zusammenströmen einer größten Zahl subjektiver Vorstellungen, die ihre Einseitigkeiten gegenseitig korrigieren und paralysieren und so das Objektive gewissermaßen als Verdichtung des Subjektiven herstellen. Offenbar bildet sich nun der öffentliche Geist von vornherein auf dem Wege, der den Einzelgeist relativ spät zur Richtigkeit und Sicherheit seiner Inhalte führt. Gerade weil so äußerst verschiedenartige Interessen in gleichem Maße an den öffentlichen Einrichtungen und Maßregeln beteiligt sind, müssen diese sozusagen im Indifferenzpunkt aller jener Entgegengesetztheiten stehen; sie müssen den Charakter der Objektivität tragen, weil die Subjektivität jedes Einzelnen schon dafür sorgt, daß nicht der eines anderen ein zu großer Einfluß auf sie eingeräumt werde. Als gemeinsame Grundlage, aber, worauf es für die jetzige Betrachtung ankommt, auch als gemeinsames Resultat der Bewährung aller möglichen Tendenzen und Beanlagungen muß das Handeln der Gruppe eine umfassende Objektivität zeigen und den Durchschnitt bilden, der selbst von der Excentricität seiner Faktoren frei ist. Dieser Sicherheit und Möglichkeit entspricht nun freilich ein gewisser Formalismus und Mangel an konkreten Inhalten in großen Bezirken des öffentlichen Wesens. Je größer der sociale Kreis ist, desto mehr Interessen kreuzen sich in ihm und desto farbloser müssen die Bestimmungen sein, die ihn als ganzen treffen und die nun ihre specielle und konkrete Erfüllung von engeren Kreisen und von Individuen erwarten müssen. Wenn es also auch genetisch eine höhere und spätere Stufe ist, die das Niveau der Allgemeinheit objektiv sicher und zweckmäßig bestimmt erscheinen läßt, so sehen wir doch auch in dieser Beziehung, daß mit jenen Vorzügen eine gewisse Niedrigkeit seines Inhalts in bedingender Verbindung steht.
Die anscheinende Irrtumslosigkeit der Allgemeinheit dem Einzelnen gegenüber mag aber auch so zusammenhängen, daß ihr Vorstellen und Handeln die Norm bildet, an der sich für den Einzelnen Richtigkeit oder Irrtum messen. Wir haben schließlich kein anderes Kriterium für die Wahrheit als die Möglichkeit, jeden hinreichend ausgebildeten Geist von ihr zu überzeugen. Die Formen, in denen dies möglich ist, haben allerdings allmählich eine solche Festigkeit und Selbständigkeit erlangt, daß sie, als logische und erkenntnistheoretische Gesetze, auch da zu der subjektiven Überzeugung von Wahrheit führen, wo im einzelnen Fall die Allgemeinheit noch anderer Überzeugung ist; aber immer muß auch dann der Glaube vorhanden sein, daß irgendwann auch diese sich wird davon durchdringen lassen; ein Satz, von dem es feststände, daß die Allgemeinheit ihn nie annehmen wird, würde auch für den Einzelnen nicht den Stempel der Wahrheit tragen. Und das Gleiche gilt für die Richtigkeit des Handelns; wo wir gegen den Widerspruch einer ganzen Welt überzeugt sind, recht und sittlich zu handeln, muß doch der Glaube zu gründe liegen, daß eine vorgeschrittenere Gesellschaft, eine solche, die eine tiefere Einsicht in das ihr wahrhaft Nützliche haben wird, unsere Handlungsweise billigen wird. Aus dieser, wenn auch unbewußten Anlehnung an eine ideale Gesamtheit, auf deren Niveau die jetzt vorhandene nur relativ zufällig noch nicht steht, schöpfen wir die Stärke und Siegessicherheit für unsere theoretischen und praktischen Überzeugungen, die augenblicklich noch völlig individuelle sind. In der Gewißheit eben dieser anticipiert das Individuum ein Niveau der Allgemeinheit, auf dem das jetzt Differenzierte zum Gemeingut geworden ist.
Die Begründung dieser Annahmen liegt wesentlich auf praktischem Gebiet. Der Einzelne kann seine Zwecke so sehr nur im Anschluß an eine Allgemeinheit und durch ihre Mitwirkung erreichen, daß die Isolierung von ihr ihm zugleich auch in jeder ändern Beziehung alles das nehmen würde, was er als Norm, als Gesolltes empfindet, und daß, wo er sich ihr dennoch entgegensetzt, dies nur durch eine individuelle Kombination der von der Gesamtheit dennoch ausgehenden Normen geschieht, die in ihr selbst zwar noch nicht realisiert ist, aber ohne die Möglichkeit einer solchen Realisierung überhaupt wertlos wäre. Welches nun aber auch die gattungspsychologischen Motive seien, es scheint mir unbezweifelbar, daß das subjektive Gefühl der Sicherheit in theoretischer und ethischer Beziehung zusammenfalle mit dem mehr oder minder klaren Bewußtsein der Übereinstimmung mit einer Gesamtheit; bei der durchgängigen Wechselwirkung dieser Beziehungen ist dann die ruhevolle Befriedigung, die Meeresstille der Seele, wie sie aus der Unerschütterlichkeit von Überzeugungen quillt, eben daraus zu erklären, daß diese letztere nur einen Ausdruck für die Übereinstimmung mit einer Gesamtheit und für das Getragensein durch sie bildet. Hierdurch verstehen wir den eigenartigen Reiz des Dogmatischen als solchen; was sich uns als Bestimmtes, Unanzweifelbares und zugleich als allgemein Geltendes giebt, gewährt an und für sich eine Befriedigung und einen inneren Halt, dem gegenüber der Inhalt des Dogmas relativ gleichgültig ist. In dieser Form der absoluten Sicherheit, die nur ein Korrelat der Übereinstimmung mit der Gesamtheit ist, liegt eine der hauptsächlichen Anziehungskräfte der katholischen Kirche; indem sie dem Individuum eine Lehre bietet, welche xaö' öJiou gilt, und von der jede Abweichung eigentlich unmöglich, jedenfalls völlig ketzerisch ist – wie es denn Pius IX. direkt aussprach, daß jeder Mensch in irgendeinem Sinne der katholischen Kirche zugehöre –, appelliert sie in stärkstem Maß an das sociale Element im Menschen und läßt den Einzelnen in der sachlichen Bestimmtheit des Glaubens zugleich alle Sicherheit gewinnen, die in der Übereinstimmung mit der Gesamtheit liegt; und umgekehrt, weil sich Objektivität und Wahrheit mit der Annahme durch die Gesamtheit deckt, gewährt die Lehre, von der die letztere gilt, allen Rückhalt und alle Befriedigung der ersteren. Eine durchaus zuverlässige Persönlichkeit erzählte mir von einer Unterredung mit einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche, in deren Verlauf dieser äußerte: Die innigsten und nützlichsten Anhänger der katholischen Kirche seien immer Menschen gewesen, die eine schwere Sünde oder einen großen Irrtum hinter sich hatten. Das ist psychologisch durchaus begreiflich. Wer sehr geirrt hat, sei es im Sittlichen oder im Theoretischen, wirft sich allem, was sich ihm als unfehlbare Wahrheit darbietet, in die Arme; d.h. das subjektive individualistische Prinzip hat sich ihm als so unzulänglich erwiesen, daß er nun das Niveau sucht, auf dem ihm die Übereinstimmung mit der Gesamtheit Sicherheit und Ruhe gewährt.
Indessen ist der Nachteil eines solchen Vorteils nicht nur der, daß nach den obigen Ausführungen ein sociologisches Niveau, um allen zugänglich zu sein, so niedrig liegen muß, daß es den Höheren viel tiefer hinabzusteigen nötigt, als es den Niedrigen hinaufzieht, sondern die Entlastung von individueller Verantwortung und Initiative läßt: die zu dieser erforderlichen Kräfte rosten und giebt dem Individuum eine sorglose Sicherheit, die die Schärfung und Ausbildung seiner Anlagen verhindert. In der Vogelwelt finden wir auffallende Beispiele dafür; von den australischen Lorikets, von den Tukans, von den amerikanischen Tauben wird uns berichtet, daß sie sich außerordentlich dumm und unvorsichtig benehmen, sobald sie in großen Zügen auftreten, dagegen scheu und gewitzt, wenn sie sich allein halten. Indem der einzelne Vogel sich auf seine Gefährten verläßt, erspart er gewisse höhere individuelle Funktionen, wodurch indes dann schließlich auch das Niveau der Gesamtheit leidet.
Doch wird im großen und ganzen ein sociales Niveau um so mehr Chancen zu seiner Erhöhung haben, je mehr Mitglieder es zählt; denn erstens ist der Kampf um die Existenz und um die bevorzugte Stellung ein schärferer unter vielen, als unter wenigen, und die Auslese eine um so strengere. Auf dem hohen Kulturniveau der oberen Zehntausend, deren Lage behaglich genug ist, um schon auf einen viel geringeren Kampf den Preis des Lebenkönnens zu setzen, auf dem auch die Specialität des Einzelnen früh genug ausgebildet wird, um ihn für relativ weniger umkämpfte Stellungen zu befähigen, machen sich die Nachteile der weniger strengen Auslese hier und da bemerklich. Schon in äußerer Beziehung glaube ich, daß die zunehmende körperliche Schwächlichkeit unserer höheren Stände zum großen Teil daher rührt, daß sie elende, an sich kaum lebensfähige Kinder vermöge ausgezeichneter Pflege und Hygiene aufbringen, natürlich aber ohne sie auf die Dauer zu normalen und kräftigen Menschen machen zu können. In roheren Zeiten und in niedrigeren Ständen, in die die nur wenigen zugänglichen hygienischen Mittel noch nicht gedrungen sind, rafft die natürliche Auslese die schwächlichen Existenzen weg und läßt nur die kräftigen groß werden. Außerdem ist aber von vornherein die Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß unter der größeren Anzahl von Teilnehmern auch eine größere Anzahl hervorragender Naturen vorhanden sei, sodaß jener Kampf ein günstiges Material vorfindet und durch energische Verdrängung des Schwächeren ein immer günstigerer Durchschnitt für die Gesamtheit erreicht wird. Durch die ganze Natur geht dieser Nutzen der größeren Zahl. Über die Schafe in einem Teile von Yorkshire sagt ein Kenner, daß, weil sie gewöhnlich armen Leuten gehören, welche nur wenige besitzen, sie nie veredelt werden können; andererseits haben Handelsgärtner, welche dieselben Pflanzen in großen Massen ziehen, gewöhnlich mehr Erfolg als die bloßen Liebhaber in Bildung neuer und wertvoller Varietäten, wie Darwin bemerkt, unter dem Hinzufügen, daß die verbreiteten und gemeinen Arten größere Wahrscheinlichkeit als die selteneren haben, in einer gegebenen Zeit vorteilhafte Änderungen hervorzubringen. Dieser Vorgang scheint mir ein bedeutsames Licht auf die organische Entwicklung überhaupt zu werfen. Nachdem einmal eine gewisse Art verbreitet und herrschend geworden ist, sondert sich durch besondere Bedingungen eine Unterart ab, welche, in weniger Exemplaren vorhanden, eine gewisse Stabilität zeigt. Treten nun neue Lebensumstände ein, die veränderte Anpassungen fordern, so wird die auf der früheren Stufe zurückgebliebene und zahlreichere Art auf Grund der oben angeführten Vorteile der großen Zahl eine größere Wahrscheinlichkeit haben, wenigstens teilweise den neuen Anforderungen gemäß zu variieren, als jene schon ausgesonderte, welche früher vielleicht die besser angepaßte war. Wir verstehen daraus, wieso aristokratische Differenzierungen über das allgemeine Niveau, nachdem sie eine Zeit lang ein höheres Niveau für sich gebildet, später so oft ihre Lebensfähigkeit gegenüber jenem tieferen verlieren. Denn dieses hat zunächst vermöge der überwiegenden Zahl seiner Teilnehmer die größere Wahrscheinlichkeit, bei geänderten Verhältnissen führende Persönlichkeiten hervorzubringen, die jenen besonders gut angepaßt sind; dann aber ist die niedrige Entwicklung, in der die schärferen Differenzierungen erst im Keime vorhanden sind, überhaupt für manche Anforderungen die günstigere Bedingung, weil sie ein weiches, der Formung sich leicht schmiegendes Material bietet, während scharf umrissene und individualisierte Formen zwar ihren ursprünglichen Lebensbedingungen besser entsprechen, geänderten und entgegengesetzten aber oft schlechter. Daher erklärt es sich auch, daß Klassen mit einseitig ausgeprägtem socialem Besitz in lebhaft bewegten und wechselvollen Zeiten weniger Vorteile haben als solche, die nur geringere Gerneinsamkeiten besitzen; so treten in den Bewegungen der modernsten Kultur die Chancen des Bauernstandes wie der Aristokratie zurück vor denen des industriellen und handeltreibenden Mittelstandes, der keine so festen und bestimmt differenzierten socialen Palladien besitzt wie jene.
Wenn man von dem socialen Niveau und seinem Verhältnis zur Individualität spricht, ist der zweierlei Bedeutungen desselben zu gedenken, die in den vorhergehenden Betrachtungen nicht immer gesondert werden konnten. Der gemeinsame geistige Besitz einer Anzahl von Menschen kann den Sinn desjenigen Teils des individuellen Besitzes haben, der gleichmäßig in jedem derselben vorhanden ist; dann kann er aber auch den Kollektivbesitz bedeuten, der keinem Einzelnen als solchem eigen ist. Man könnte die letztere Gemeinsamkeit als eine reale, die erstere als eine ideale im erkenntnistheoretischen Sinne bezeichnen, insofern diese nur durch den gegenseitigen Vergleich, durch die beziehende Erkenntnis als Gemeinsamkeit erkannt werden kann; an und für sich brauchte es den Einzelnen nicht im Sinne eines einheitlichen Zusammengehörens zu berühren, daß so und so viele Andere noch die gleichen Eigenschaften besitzen wie er selbst. Zwischen den Höhen dieser beiden socialen Niveaus bestehen nun die mannichfaltigsten Verhältnisse. Man. wird die aufsteigende Entwicklung zunächst von der einen Seite in die Formel bringen können, daß der Umfang des socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit abnimmt zu gunsten des socialen Niveaus im Sinne des Kollektivbesitzes; die Grenze für diese Entwicklung wird dadurch gezogen, daß die Individuen einen gewissen Grad von Gleichheit bewahren müssen, um noch von einem einheitlichen gemeinsamen Besitz profitieren zu können; freilich muß mit der Ausdehnung dieses letzteren seine Einheitlichkeit im strengeren Sinne leiden und sich in vielspältige Teile zerlegen, deren Einheit statt der substantiellen mehr und mehr eine bloß dynamische wird, d. h. sich nur noch in einem funktionellen Ineinandergreifen von inhaltlich sehr getrennten Bestandteilen zeigt, welche nun auch entsprechend verschiedenartigen Individualitäten die Teilnahme an dem gemeinsamen öffentlichen Besitz ermöglichen. So wird z.B. ein durchgreifendes und vielgliedriges Rechtssystem da heranwachsen, wo eine starke Differenzierung der Persönlichkeiten nach Stellung, Beruf und Vermögen eintritt und die möglichen Kombinationen unter diesen eine Fülle von Fragen schaffen, denen primitive Rechtsbestimmungen nicht mehr genügen können; trotzdem wird immer noch eine gewisse Einheitlichkeit aller dieser Personen vorhanden sein müssen, damit dieses Recht wirklich allseitig befriedige und dem moralischen Bewußtsein der Einzelnen entspreche. Die Ausdehnungen des socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit und im Sinne des gemeinsamen Besitzes werden also auf ein Kompromiß selbst da angewiesen sein, wo die fortschreitende Differenzierung solche Formen des öffentlichen Geistes schafft oder vorfindet, die die Möglichkeit eines rechtlich sittlichen Zusammenbestehens der mannichfaltigsten Bestrebungen und Lebensführungen gewähren. Umgekehrt muß die irgendwie herbeigeführte Verbreiterung des Kollektivbesitzes auch eine solche der persönlichen Ähnlichkeiten zur Folge haben. Dies liegt am augenfälligsten da vor, wo eine Nation gewonnene Provinzen durch gewaltsame Einführung ihrer Sprache, ihres Rechts, ihrer Religion auch innerlich sich anzugliedern sucht; im Verlauf mehrerer Generationen werden dann die scharfen Differenzen zwischen den alten und den neuen Provinzen ausgeglichen sein, die Gleichheit des objektiven Geistes zu größerer Gleichheit der subjektiven Geister geführt haben. Als ein der Substanz nach hiervon sehr entferntes Beispiel nenne ich die merkwürdige Anähnlichung des Wesens, des Charakters und schließlich der Gesichtszüge, die manchmal unter alten Ehegatten zu beobachten ist. Die Schicksale, Interessen und Sorgen des Lebens haben ein sehr umfassendes gemeinsames Niveau für sie geschaffen, das keineswegs ursprünglich in dem Sinne gemeinsam ist, daß persönliche Eigenschaften in jedem von beiden in gleicher Weise vorhanden wären, sondern es entsteht und besteht gewissermaßen zwischen ihnen als ein Kollektivbesitz, aus dem der Anteil des Einzelnen nicht herauszulösen ist, weil er überhaupt als solcher gar nicht existiert; so wenig bei der Gravitation zwischen zwei Materien die Schwere dem einen oder dem ändern im Sinne einer individuellen Qualität zukäme, weil der eine immer nur im Verhältnis zum ändern schwer ist, so wenig kann man bei den Erlebnissen und inneren Erwerbungen, bei der Konstituierung des objektiven Geistes innerhalb eines Ehelebens immer dem einen und dem ändern einen, wenn auch gleichen Teil desselben zuschreiben, weil er ja nur in der Gemeinsamkeit und durch sie zustande kommt. Aber diese Gemeinsamkeit wirkt nun zurück auf dasjenige, was jeder für sich ist, und schafft eine Gleichheit des persönlichen Denkens, Fühlens und Wollens, die sich, wie gesagt, schließlich auch in der äußeren Erscheinung ausprägt. Die Voraussetzung dazu ist freilich, daß die individuellen Unterschiede schon von vornherein keine übermäßig großen gewesen seien, weil sonst die Bildung jenes objektiv gemeinsamen Niveaus Schwierigkeiten finden würde. Auch hat die absolute Größe dieses letzteren eine Grenze, wenn sie zu dem in Rede stehenden Erfolge führen soll; bei einer gewissen Ausdehnung nämlich gestattet sie wieder, daß je nach der Verschiedenheit der persönlichen Anlagen der eine mehr von dem einen Teil, von der einen Beziehung des Kollektivbesitzes beeinflußt wird, der andere von der anderen; es kann darum noch immer ein gemeinsamer Besitz sein; aber während seine Größe relativ zum individuellen Besitz der Teilhaber in geradem Verhältnis zu seiner verähnlichenden Wirkung steht, giebt sie, absolut betrachtet, mit ihrem eignen Wachstum auch wachsende Möglichkeit ungleicher Wirkungen. Deshalb findet man jenes allmähliche Gleichwerden besonders an Ehepaaren in ruhigen und einfachen Verhältnissen, und wenn man es besonders an kinderlosen Ehepaaren bemerken wollte, so ist das ganz in diesem Sinne; denn so sehr jenes gemeinsame Niveau gerade durch den Besitz von Kindern vergrößert wird, so erlebt es doch dadurch eine Mannichfaltigkeit und Differenzierung, die die Gleichheit seiner Wirkungen auf die Individuen fraglich macht.
Eine andere Kombination zwischen den beiden Bedeutungen des socialen Niveaus und der Differenzierung zeigt sich auf wirtschaftlichem Gebiet. Das vielfache Angebot der gleichen Leistung bei beschränkter Nachfrage erzeugt die Konkurrenz, welche in viel weiterem Umfange, als man es sich gewöhnlich klar macht, schon unmittelbar Differenzierung ist. Denn wenn auch die angebotene Ware die genau gleiche ist, so muß doch jeder versuchen, sich wenigstens in der Art des Angebots von dem ändern zu unterscheiden, weil der Konsument sich sonst in der Buridanischen Lage befinden würde. In der Formung oder wenigstens im Arrangement der Ware, in der Anpreisung oder wenigstens in der Miene, mit der man die Leistung anpreist, muß jeder sich von jedem zu unterscheiden suchen. Je gleichartiger das Angebot dem Inhalt nach ist, desto größere Verschiedenheiten werden die Anbietenden in den persönlichen Seiten desselben ausbilden, wozu noch beiträgt, daß die unmittelbare Konkurrenz gegenseitig antagonistische Gesinnungen hervorruft, die die Persönlichkeiten auch ihrem Denken und Fühlen nach von einander entfernen. Die persönlichen Gemeinsamkeiten, die in der Gleichheit der Beschäftigung und in der des Absatzkreises liegen, erzeugen eine um so schärfere Differenzierung nach anderen Seiten der Persönlichkeit hin. Jene Gleichheit aber drängt doch wieder zur Schaffung eines socialen Niveaus in dem anderen Sinne, insofern der Beruf oder Geschäftszweig als Ganzes gewisse Interessen hat, zu deren Wahrnehmung sich alle Beteiligten zusammenschließen müssen, sei es in Kartellen, die die Konkurrenz zeitweilig beschränken oder aufheben, sei es in Vereinigungen, die sich auf außerhalb der Konkurrenz liegende Zwecke beziehen, wie Repräsentation, Rechtsschutz, Entscheidung in Ehrensachen, Verhalten gegen andere in sich geschlossene Kreise u. s. w., die in manchen Fällen zur Bildung eines entschiedenen Standesbewußtseins führen. Eine bedeutende Höhe des socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit ermöglicht eine entsprechende auch im letzteren Sinne, wofür die Zunft das entscheidende Beispiel giebt. Dem gegenüber erscheint die durch den Wettbewerb und die komplizierteren Verhältnisse ausgebildete Differenzierung als die höhere Stufe, während wiederum eben diese Differenzierung einen gemeinsamen Besitz von neuen Gesichtspunkten aus schafft. Denn einerseits ist das sehr specialisierte Individuum zur Erreichung der obengenannten Zwecke dringender auf andere angewiesen, als eines, welches mehr die Totalität eines Zweiges in sich darstellt; andererseits bringt gerade erst die feinere Differenzierung Bedürfnisse und Zuspitzungen der ein/einen Wesensseiten zustande, die die Grundlage für kollektive Bildungen abgeben. Wenn also Konkurrenten, die dasselbe Bedürfnis mit verschiedenartigen Mitteln decken wollen, wie etwa in der Leibwäschenbranche Leinen, Baumwolle und Wolle mit einander konkurrieren, sich vereinigen, um ein Preisausschreiben über die beste Art der Befriedigung jenes Bedürfnisses zu erlassen, so hofft zwar jeder, daß die Entscheidung gerade für ihn günstig sein werde; allein es ist doch von einem Punkte aus ein gemeinsames Vorgehen zustande gekommen, zu dem zwar ohne die vorangegangene Differenzierung keine Veranlassung gewesen wäre, das aber nun der Ausgangspunkt weiterer Socialisierungen werden kann. Ich werde noch in anderem Zusammenhange zu erwähnen haben, daß gerade die Mannichfaltigkeit und Differenzierung der Beschäftigungszweige den Begriff des Arbeiters überhaupt, den Arbeiterstand als selbstbewußtes Ganzes geschaffen hat. Die Gleichheit der Funktion tritt erst recht hervor, wenn sie sich mit sehr verschiedenartigem Inhalt füllt; erst dann löst sie sich aus der psychologischen Association mit ihrem Inhalt, die bei größerer Gleichförmigkeit desselben statthat, und kann socialisierende Macht zeigen.
Bewirkt die Differenzierung der Individuen hier eine Vermehrung des socialen Niveaus, so wird einem oben angedeuteten Momente zufolge auch die umgekehrte Wirkung stattfinden. Je mehr geistige Produkte nämlich aufgehäuft und allen zugänglich sind, desto eher werden schwächliche Beanlagungen, die der Anregung und des Beispiels bedürfen, zur Bethätigung gelangen. Unzählige Fähigkeiten, eine individuellere Ausbildung und Stellung zu gewinnen, bleiben latent, wenn kein hinreichend weites, jedem sich darbietendes sociales Niveau da ist, dessen mannichfaltige Inhalte aus jedem hervorlocken, was nur in ihm ist, wenn dieses auch nicht stark genug ist, um sich ganz originell und ohne solchen Anreiz zu entfalten. Daher sehen wir allenthalben, wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in der griechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance, in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, undifferenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen, und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung vorgedrungen wären. Je mehr Muster schon vorliegen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß jede nur einigermaßen besondere Anlage ihre Entfaltung und also eine differenzierte Lebensstellung gewönne. Das sociale Niveau im Sinne des Kollektivbesitzes verringert von diesem Gesichtspunkt aus eben dasselbe im Sinne der Gleichheit des Besitzes.
Diese Ungleichmäßigkeiten im Verhältnis der socialen Niveaus in beiderlei Sinne scheinen indes nur so lange herrschen zu können, als beide unter ihren höchsten erreichbaren Graden bleiben und als es neben der Steigerung derselben noch andere Zwecke des Individuums und der Allgemeinheit giebt, die die Entwicklung jener modifizieren und zwar natürlich nicht so, daß beide stets in gleichem Maße davon getroffen würden. Das absolute Maximum des einen wird indes mit dem des ändern zusammenfallen. Um nämlich erstens ein Maximum individueller Gleichheit innerhalb einer Gruppe herzustellen und namentlich zu erhalten, ist das sicherste Mittel, daß ihr Kollektivbesitz ein möglichst großer ist; wenn jeder Einzelne einen möglichst gleichen Teil seines innern und äußern Besitzes an die Gesamtheit abgiebt und der Besitz dieser dafür groß genug ist, um ihm ein Maximum von Formen und Inhalten zu liefern, so ist dies jedenfalls die größte Garantie dafür, daß der eine im wesentlichen dasselbe hat und ist wie der andere; und umgekehrt, wenn eine maximale Gleichheit der Individuen herrscht und überhaupt Socialisierung stattfindet, wird auch der sociale Besitz deshalb im Verhältnis zum individuellen ein maximaler werden, weil das Prinzip der Kraftersparnis dahin drängt, möglichst viele Thätigkeiten an die Allgemeinheit abzugeben – mit Ausnahmen, die wir in unserm letzten Kapitel zu behandeln haben – und möglichst vielen Anhalt von ihr zu entlehnen, während die Verschiedenheit der Individuen, die dieser Tendenz sonst Schranken setzte, der Voraussetzung nach aufgehoben ist. Der Socialismus hat deshalb die Maximisierung beider Niveaus gleichmäßig im Auge; die Gleichheit der Individuen ist eben nur durch Konkurrenzlosigkeit, diese aber nur bei Centralisierung aller Wirtschaft durch den Staat zu erreichen.
Psychologisch ist es mir indessen noch zweifelhaft, ob die Forderung der Ausgleichung der Niveaus dem Triebe der Differenzierung wirklich so absolut entgegengesetzt ist, wie es scheint. Durch die ganze Natur hindurch sehen wir das Streben der Lebewesen, höher zu kommen, über ihre augenblickliche Stellung hinweg eine günstigere zu erwerben; in der Menschenwelt steigert sich dies zu dem lebhaftesten bewußten Wunsch, mehr zu haben und zu genießen, als jeder gegebene Augenblick es darbietet, und die Differenzierung ist nichts als das Mittel dazu oder die Folge davon. Niemand begnügt sich mit der Stellung, die er seinen Mitgeschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in irgendeinem Sinne günstigere erobern, und da die Kräfte und Glücksfälle verschieden sind, so gelingt es Einem, sich über die große Mehrzahl der ändern mehr oder weniger hoch zu erheben. Wenn nun die unterdrückte Majorität den Wunsch nach erhöhter Lebenshaltung weiter empfindet, so wird der nächstliegende Ausdruck dafür sein, daß sie dasselbe haben und sein will, wie die obern Zehntausend. Die Gleichheit mit den Höheren ist der erste sich darbietende Inhalt, mit dem sich der Trieb eigener Erhöhung erfüllt, wie es sich in jedem beliebigen engeren Kreise zeigt, mag es eine Schulklasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein. Das gehört zu den Gründen der Thatsache, daß der Groll des Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände, sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Staffel der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf die sich deshalb für den Augenblick sein Bewußtsein und sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert. Der Niedere will zunächst dem Höheren gleich sein; ist er ihm aber gleich, so zeigt tausendfache Erfahrung, daß dieser Zustand, früher der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangspunkt für weiteres ist, nur die erste Station des ins Unendliche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung. Überall, wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich von diesem neuen Boden aus das Streben des Einzelnen, die Ändern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend gemacht; so z.B. in der häufigen Thatsache, daß sich über dem vollzogenen socialen Nivellement die Tyrannis erhebt. In Frankreich, wo von der großen Revolution her die Gleichheitsideen noch am energischsten wirkten, und wo die Julirevolution diese Traditionen wieder aufgefrischt hatte, tauchte doch kurz nach der letzteren neben der schamlosen Pleonexie Einzelner eine allgemeine Ordenssucht auf, ein unstillbares Verlangen, sich durch ein Bändchen im Knopfloch vor der großen Menge auszuzeichnen. Und es giebt vielleicht keinen treffenderen Beweis für unsere Vermutung über den psychologischen Ursprung der Gleichheitsidee, als die Äußerung einer Kohlenträgerin aus dem Jahre 1848 zu einer vornehmen Dame: »Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden: ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen« – eine Äußerung, deren historische Zuverlässigkeit gleichgültig ist gegenüber ihrer innern psychologischen Wahrheit.
Diese Genesis des Socialismus bedeutete freilich den denkbar schärfsten Gegensatz gegen die meisten theoretischen Begründungen desselben. Für diese ist die Gleichheit der Menschen ein durch sich selbst gerechtfertigtes, für sich bestehendes und befriedigendes Ideal, eine ethische causa sui, ein Zustand, dessen Wert unmittelbar einleuchtet. Ist er statt dessen nur ein Durchgangspunkt, nur das zunächst erreichbare Ziel der Pleonexie der Massen, so verliert er den kategorischen und idealen Charakter, den er nur deshalb angenommen hat, weil den meisten Menschen derjenige Punkt ihres Weges, den sie zunächst erreichen müssen, so lange er noch nicht erreicht ist, als ihr definitives Ziel vorschwebt. Es ist durchaus kein anderes Interesse, aus dem der Niedrigstehende die Gleichheit durchsetzen will, als es der Höhere an der Erhaltung der Ungleichheit hat; wenn diese Forderung indes durch langen Bestand ihren relativen Charakter verloren und sich verselbständigt hat, so kann sie auch zum Ideal solcher Personen werden, bei denen sie jene Genesis subjektiv nicht durchgemacht hat. Die Behauptung eines logischen Rechtes der Gleichheitsforderung – als folgte es analytisch aus der Wesensgleichheit der Menschen, daß auch ihre Rechte, Pflichten und Güter jeder Art gleich sein müßten – hat nur den alleroberflächlichsten Schein für sich; denn erstens geht aus einem wirklichen Verhalten nie vermöge der bloßen Logik ein bloß Gesolltes, nie vermöge dieser aus einer Realität ein Ideal hervor, sondern es bedarf dazu stets eines Willens, der sich aus dem bloßen logisch theoretischen Denken nie ergiebt; zweitens giebt es insbesondere keine logische Regel, nach der die substantielle Gleichheit von Wesen ihre funktionelle Gleichheit zur Folge haben müßte. Drittens ist aber auch die Gleichheit der Menschen als solcher eine sehr bedingte, und es ist völlig willkürlich, über demjenigen, worin sie gleich sind, ihre vielfachen Verschiedenheiten zu vernachlässigen und an den bloßen Begriff Mensch, unter dem wir so verschiedenartige Erscheinungen zusammenfassen, derartig reale Folgen knüpfen zu wollen – ein Überbleibsel des Begriffsrealismus der Naturauffassung, der statt des spezifischen Inhalts der einzelnen Erscheinung nur den Allgemeinbegriff, dem sie zugehörte, ihr Wesen ausmachen ließ. Die ganze Vorstellung von dem selbstverständlichen Rechte der Gleichheitsforderung ist nur ein Beispiel für die Neigung des menschlichen Geistes, die Resultate historischer Prozesse, wenn sie nur hinreichend lange bestanden haben, als logische Notwendigkeiten anzusehen. Suchen wir aber nach dem psychischen Triebe, dem die Gleichheitsforderung der unteren Stände entspricht, so finden wir ihn nur in demjenigen, der gerade auch der Ursprung aller Ungleichheit ist, in dem Triebe nach Glückserhöhung. Und da dieser ins Unendliche geht, so ist durchaus keine Gewähr dafür gegeben, daß die Herstellung eines größten socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit nicht zum bloßen Durchgangspunkt für weiter wirkende Differenzierung werde. Deshalb muß der Socialismus zugleich auf ein größtes sociales Niveau im Sinne des Kollektivbesitzes halten, weil hierdurch den Individuen mehr und mehr die Gelegenheit und der Gegenstand individueller Auszeichnung und Differenzierung entzogen wird.
Es ist indes noch immer die Frage, ob nicht die geringfügigen Unterschiede des Seins und Habens, die selbst die gesteigertste Socialisierung nicht beseitigen kann, dieselben psychologischen und also auch äußeren Folgen haben würden, wie jetzt die viel größeren. Denn da es nicht die absolute Größe eines Eindrucks oder eines Objekts ist, die unsere Reaction darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen anderweitige Eindrücke, so kann eine gewachsene Unterschiedsempfindlichkeit an die verringerten Differenzen unverringerte Folgen knüpfen. Allenthalben findet dieser Prozeß statt. Das Auge paßt sich an geringe Helligkeitsgrade derart an, daß es schließlich die Farbenunterschiede ebenso empfindet wie früher nur in viel hellerer Beleuchtung; die geringen Differenzen in Stellung und Lebensgenuß, die sich innerhalb des gleichen socialen Kreises finden, erregen einerseits Neid und Nacheiferung, andererseits Hochmut, kurz alle Folgen der Differenzierung in demselben Grade, wie die zwischen sehr getrennten Schichten bestehenden Unterschiede u. s. w. Ja, es ist sogar vielfach zu beobachten, daß die Empfindung des Unterschiedes gegen andere Personen um so schärfer ist, je mehr wir im übrigen mit ihnen gemeinsam haben. Deshalb sind einerseits diejenigen Folgen der Differenzierung, die dem Socialismus als schädliche und zu beseitigende erscheinen, noch keineswegs durch ihn aufgehoben; andererseits aber sind die Kulturwerte der Differenzierung nicht in dem Maße von ihm bedroht, wie seine Gegner es wollen; die Anpassung unserer Unterschiedsempfindlichkeit kann eben den geringeren persönlichen Differenzen eines socialisierten Zustandes die gleiche Macht nach der guten wie nach der schlechten Seke verschaffen, wie die jetzigen sie besitzen.