Georg Simmel
Über sociale Differenzierung
Georg Simmel

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VI. Die Differenzierung und das Prinzip der Kraftersparnis

Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Organismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Tendenz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unterscheidet sich von dem niedrigeren so, daß es zunächst die gleichen Funktionen wie dieses, außerdem aber noch andere auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein, daß diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an Zweckthätigkeit dadurch erreichen, daß es die niederen Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft vollbringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Maße vollkommener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin, immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letzteren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen.

Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweckthätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht: die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung bewirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite, welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer dritten jene direkt zweckmäßige anregt, so ist dies, auf die Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck hinreichenden Bewegung noch eine Reihe anderer ausführe – sei es, weil sie mit jener associiert und, obgleich augenblicklich überflüssig, nicht von ihr zu trennen sind, sei es, daß sie thatsächlich dem gleichen Zwecke dienen, der aber durch eine einzige von ihnen hinreichend realisiert wird.

Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung läßt sich nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Richtungen ausdeuten. Ich gehe zunächst von einem nicht unmittelbar socialen Gebiete aus. In der Sprachentwicklung hat die Differenzierung dahin geführt, daß aus den wenigen Vokalen der älteren Sprachen eine mannigfaltige Reihe derselben in den neueren auftrat. Jene früheren Vokale weisen scharfe und grelle Lautunterschiede auf, während die neueren Vermittelungen und Schattierungen zwischen ihnen stiften, sie gleichsam in Teile spalten und diese Teile mannigfaltig zusammenfügen. Man hat dies wohl richtig so erklärt, daß es eine Erleichterung der Arbeit für die Sprachorgane mit sich brächte; jenes leichtere Gleiten der Sprache durch Mischlaute, durch unentschiedene und biegsame Schattierungen war eine Kraftersparnis gegenüber dem unvermittelten Springen zwischen scharf von einander abstehenden, jedes Mal eine völlig anders gerichtete Innervation fordernden Vokalen. Vielleicht ist nun auch rein geistig die Verflüssigung der scharfen Begriffsgrenzen, wie sie aus der Entwicklungslehre und der monistischen Weltanschauung überhaupt hervorgeht, eine Ersparnis von Denkarbeit, insofern das Vorstellen der Welt um so größere Anstrengung fordert, je heterogener ihre Teile sind, je weniger das Denken des einen derselben inhaltlich mit dem des ändern vermittelt ist. Wie eine kompliziertere, kraftverbrauchendere Gesetzgebung da nötig ist, wo die Klassen der Gruppe durch besondere Rechte oder Formen der rechtlichen Verhältnisse von einander getrennt sind; wie das denkende Umfassen der letzteren sich erleichtert, wenn die Schroffheit absoluter rechtlicher Unterschiede sich in diejenigen fließenden Differenzen auflöst, die bei ganz einheitlicher und für alle gleicher Gesetzgebung noch wegen des Unterschiedes des Besitzes und der gesellschaftlichen Position bestehen bleiben: so wird vielleicht jede psychische Arbeit in dem Maße erleichtert, in dem die Starrheit streng begrenzter Begriffe sich zu Vermittelungen und Übergängen verflüssigt. Als Differenzierung ist dies insofern aufzufassen, als so das Band, welches eine große Anzahl von Individuen schematisch zusammengefaßt hat, durchgeschnitten wird und statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht. Während jene scharf begrenzten, begrifflichen Zusammenfassungen immer subjektiven Charakter tragen – alle Synthesis, so drückt Kant dies erschöpfend aus, kann nicht in den Dingen, sondern nur im Geiste liegen-, zeigt das Zurückgehen auf den Einzelnen in seiner Einzelheit realistische Tendenz; und die Wirklichkeit ist unsern Begriffen gegenüber immer vermittelnd, immer ein Kompromiß zwischen diesen, weil sie nur herausgelöste und in unserem Kopfe verselbständigte Seiten der Wirklichkeit sind, die an sich diese mit vielen anderen verschmolzen enthält. Daher ist die Differenzierung, die scheinbar ein trennendes Prinzip ist, doch in Wirklichkeit so oft ein versöhnendes und annäherndes und eben dadurch ein kraftsparendes für den Geist, der theoretisch oder praktisch damit operiert.

Die Differenzierung zeigt hier wieder ihr Verhältnis zum Monismus; sobald die scharf abgrenzende Zusammenfassung in einzelne Gruppen und Begriffe aufhört, um zugleich mit der Individualisierung auch Vermittelung und Allmählichkeit der Übergänge eintreten zu lassen, stellt sich eine zusammenhängende Reihe kleinster Unterschiede und damit die Fülle der Erscheinungen als einheitliches Ganzes dar. Aller Monismus ist nun aber seinerseits als denkkraftsparendes Prinzip angesprochen worden. Gewiß mit vielem Recht; ob mit bedingungslosem und so unmittelbarem, wie es den Anschein hat, möchte ich dennoch bezweifeln. Wenn sich die monistische Anschauung der Dinge auch enger an die Wirklichkeit anschließt, als etwa das Dogma der gesonderten Schöpfungsakte und ihre erkenntnistheoretischen Pendants, so bedarf doch auch sie einer synthetischen Thätigkeit und zwar vielleicht einer umfassenderen und anstrengenderen, als wenn man sich begnügt, beliebig viele Reihen von Erscheinungen, je nachdem einem gerade Ähnlichkeiten unter ihnen auffallen, als genetisch zusammengehörige anzusehen; es erfordert wohl ein höheres Denken, die Gesamtheit der physikalischen Bewegungen aus einer einheitlichen Kraftquelle und ihren ineinander übergehenden Umsetzungen zu begreifen, als für jede verschiedene Erscheinung auch eine verschiedene Ursache zu konstituieren: für die Wärme eine besondere Wärmekraft, für das Leben eine besondere Lebenskraft, oder, mit jener typischen Übertreibung, für das Opium eine besondere vis dormitiva. Es ist wohl endlich schwieriger, das Leben der Seele als jenes einheitliche Ganze zu erkennen, wie es sich bei der Auflösung in die Prozesse zwischen den einzelnen Vorstellungen darbietet, als wenn man mit gesonderten Seelenvermögen rechnet und die Reproduktion der Vorstellungen aus dem »Gedächtnis« oder die Fähigkeit des Schließens aus der »Vernunft« erklärt glaubt.

Wo freilich der Monismus der Anschauungsweise nicht die Differenzierung und Individualisierung ihrer Inhalte zum Korrelat hat, da ist er vielfach kraftsparend, allein nicht im Sinne der anderweitig und im ganzen erhöhten Thätigkeit, sondern im Sinne der Trägheit. So ist es, um auf theoretischem Gebiete zu bleiben, keineswegs immer eine Stärke des Denkens, welche zu so hohen und allgemeinen Abstraktionen aufsteigt, wie es z.B. die indische Brahmaidee ist, vielmehr oft eine Schlaffheit und Widerstandslosigkeit, die vor der scharfkantigen, grellen Wirklichkeit der Dinge flieht, nicht imstande, mit den Räthseln der Individualität fertig zu werden, und nun immer höher und höher getrieben wird bis zu der metaphysischen Idee des All-Einen, bei der überhaupt jedes bestimmte Denken aufhört. Statt in den dunklen Bergwerksschacht der Einzelheiten der Welt hinabzusteigen, aus dem allein sich das Gold wahrer und gerechter Erkenntnis herausholen läßt, überspringt eine bequemere, kraftlosere Denkart einfach die Gegensätze des Seins, die sie vielmehr zu vereinigen streben sollte, und badet sich im Aether des all-einen und all-guten Prinzips. Wo nun aber, wie in den vorher angeführten Fällen, der auf Grund von Differenzierung sich erhebende Monismus mehr Kraft verbraucht, als die pluralistische Denkart, ist dies doch mehr vorübergehend als definitiv. Denn die auf diese Weise erreichten Resultate sind dafür um so reicher, sodaß im Verhältnis zu diesen doch ein geringerer Kraftverbrauch stattfindet – ungefähr wie eine Lokomotive sehr viel mehr Kraft verbraucht, als eine Postkutsche, allein im Verhältnis zu den erreichten Wirkungen sehr viel weniger. So macht ein großer, einheitlich verwalteter Staat eine große und bis ins Kleinste arbeitsteilig gegliederte Beamtenschaft nötig, richtet aber mit diesem bedeutenden, durch seine Einheitlichkeit und seine Differenzierung erforderlichen Kraftaufwand doch auch relativ viel mehr aus, als wenn eben dasselbe Gebiet in lauter kleine staatliche Einheiten zerfiele, deren jede freilich in sich keiner hohen Differenzierung des Verwaltungskörpers bedarf.

Schwieriger liegt die Frage nach der Kraftersparnis bei jener Differenzierung, die ein Auseinandergehen in feindliche Gegensätze enthält, also z. B. in dem früher erwähnten Falle, daß eine ursprünglich einheitliche Körperschaft mannichfach entgegengesetze Parteien in sich ausbildet. Man kann dies als Arbeitsteilung betrachten; denn die Tendenzen, aus denen die Parteibildungen hervorgehen, sind Triebe der menschlichen Natur überhaupt, die sich in irgendeinem, wie auch immer verschiedenen Maße in jedem Einzelnen finden, und man kann sich vorstellen, daß die verschiedenartigen Momente, die früher im Kopfe jedes Einzelnen Abwägung und relative Ausgleichung fanden, nun auf verschiedene Persönlichkeiten übertragen und von jedem in specialisierter Weise gepflegt werden, während die Ausgleichung erst im Zusammen Aller stattfindet. Die Partei, die als solche nur die Verkörperung eines einseitigen Gedankens darstellt, unterdrückt in dem ihr Angehörigen, insoweit er ein solcher ist, alle anders gearteten Triebe, von denen er von vornherein doch nicht ganz frei zu sein pflegt; verfolgen wir die psychologischen Momente, die die Parteistellung des Einzelnen bestimmen, so sehen wir, wie in den weitaus meisten Fällen nicht eine undurchbrechliche Naturanlage auf sie hingedrängt hat, sondern die Zufälligkeit der Umstände und Einflüsse, denen der Einzelne ausgesetzt war, und die in ihm gerade die eine von verschiedenen Richtungsmöglichkeiten und potentiell vorhandenen Kräften zur Entwicklung gebracht haben, während die anderen rudimentär werden. Aus diesem letzten Umstände, aus dem Aufhören der inneren Gegenbewegungen, die vor dem Eintritt in eine einseitige Partei unserm Denken und Wollen einen Teil seiner Kraft nehmen, erklärt sich die Macht, die die Partei über das Individuum übt, und die sich u. A. darin zeigt, daß die sittlichsten und gewissenhaftesten Menschen die ganze rücksichtslose Interessenpolitik mitmachen, die eben die Partei als solche für nötig findet, welche sich um Bedenken der individuellen Moral fast so wenig kümmert, wie es Staaten untereinander thun. In dieser Einseitigkeit liegt ihre Stärke, wie es sich besonders daraus ergiebt, daß die Parteileidenschaft ihre volle Wucht auch dann noch behält, ja oft erst entfaltet, wenn die Parteiung ihren Sinn und ihre Bedeutung ganz verloren hat, wenn gar nicht mehr um positive Ziele gestritten wird, sondern die durch keinen sachlichen Grund mehr bestimmte Zugehörigkeit zu einer Partei den Antagonismus gegen die andere hervorruft. Vielleicht das stärkste Beispiel sind die Zirkusparteien in Rom und Byzanz; trotzdem nicht der geringste sachliche Unterschied die weiße von der rothen Partei, die blaue von der grünen trennte, um so weniger, als schließlich nicht einmal die Pferde und Lenker den Parteien eigentümlich, sondern von Unternehmern gehalten waren, die sie jeder beliebigen Partei vermietheten, – trotzdem genügte das zufällige Ergreifen der einen oder der anderen Partei, um ein tödlicher Feind der entgegengesetzten zu werden. Unzählige Familienzwiste früherer Zeiten trugen, wenn sie mehrere Generationen hindurch gewährt hatten, keinen anderen Charakter; das Objekt des Streites war oft längst verschwunden; aber die Thatsache, daß man der einen oder der anderen Familie angehörte, gab jedem eine Parteistellung des schärfsten Gegensatzes gegen die andere. Als im 14. und 15. Jahrhundert die Tyrannieen in Italien aufkamen und dadurch das politische Parteileben überhaupt jede Bedeutung verlor, dauerten dennoch die Kämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen weiter fort, aber ohne irgendeinen Inhalt: der Parteigegensatz als solcher hatte eine Bedeutung gewonnen, die nach seinem Sinne gar nicht mehr fragte. Kurz, die Differenzierung, die in der Parteiung liegt, entwickelt Kräfte, deren Größe sich gerade in der Sinnlosigkeit zeigt, mit der sie, oft ohne Einbuße zu erleiden, jeden Inhalt abstreift und sich nur an die Form der Partei überhaupt hält. Nun geht zwar aller sociale Zusammenschluß aus der Schwäche und Bestandsunfähigkeit des Individuums hervor, und die blinde, sinnlose Hingabe an eine Partei, wie in den angeführten Fällen, kommt gerade häufig in Zeiten des Niedergangs und der Impotenz der Völker oder Gruppen vor, in denen der Einzelne das sichere Gefühl individueller Kraft, wenigstens für die bisherigen Arten ihrer Äußerung, verloren hat. Immerhin zeigen sich in dieser Form noch Kraftquanta, die sonst unentwickelt geblieben wären. Und wenn viele Kräfte auch gerade durch solche Parteiungen nutzlos aufgerieben und verschwendet werden mögen, so ist dies doch nur eine Übertreibung und ein Mißbrauch, vor dem keine menschliche Tendenz sicher ist; im Ganzen wird man sagen müssen: die Parteibildung schafft Zentralgebilde, an welche die Anlehnung dem Einzelnen die inneren Gegenbewegungen erspart und seine Kräfte dadurch zu großer Wirkung bringt, daß sie dieselben in einen Kanal leitet, wo sie, ohne psychologische Hindernisse zu finden, ausströmen können; und indem nun Partei gegen Partei kämpft und jede eine große Anzahl persönlicher Kräfte verdichtet in sich enthält, muß sich das Resultat aus der gegenseitigen Messung der Momente und der ihnen entsprechenden Kräfte reiner, schneller und vollständiger herausstellen, als wenn der Kampf zwischen ihnen in einem individuellen Geiste oder zwischen einzelnen Individuen ausgefochten würde.

Ein eigenartiges Verhältnis zwischen Kraftverbrauch und Differenzierung findet bei jener Arbeitsteilung statt, die man die quantitative nennen könnte; während die Arbeitsteilung im gewöhnlichen Sinne bedeutet, daß der eine etwas anderes arbeitet als der andere, also qualitative Verhältnisse betrifft, ist auch die Arbeitsteilung von dem Gesichtspunkte aus wichtig, daß der eine mehr arbeitet als der andere. Diese quantitative Arbeitsteilung wirkt freilich nur dadurch kultursteigernd, daß sie zum Mittel der qualitativen wird, indem das Mehr oder Weniger einer zunächst für alle wesensgleichen Arbeit eine wesensverschiedene Gestaltung der Persönlichkeiten und ihrer Bethätigungen zur Folge hat; die Sklaverei und die kapitalistische Wirtschaft zeigen den Kulturwert dieser quantitativen Arbeitsteilung. Die Umsetzung derselben in qualitative bezog sich zunächst auf die Differenzierung zwischen körperlicher und geistiger Thätigkeit. Die bloße Entlastung von der ersteren mußte ganz von selbst zu einer Steigerung der letzteren führen, da diese sich spontaner einstellt als jene und vielfach ohne auf bewußte Impulse und Anstrengungen zu warten. Und nun zeigt sich auch hier, wie die Kraftersparnis durch Differenzierung doch zum Vehikel so viel höherer Kraftwirkung wird. Denn man kann doch wohl das Wesen der geistigen Arbeit gegenüber der körperlichen darein setzen, daß sie mit geringerem Kraftaufwand die größeren Wirkungen erzielt.

Dieser Gegensatz ist freilich kein absoluter. Weder giebt es eine körperliche, hier in Betracht kommende Thätigkeit, die nicht irgendwie vom Bewußtsein und Willen gelenkt würde, noch eine geistige, die ohne irgendeine körperliche Wirkung oder Vermittelung bliebe. Man kann also nur sagen, daß das relative Mehr von Geistigkeit in einem Thun kraftsparend wirkt. Man darf dieses Verhältnis der körperlicheren und der geistigeren Arbeit wohl mit dem zwischen der niederen und der höheren Seelenthätigkeit in Analogie stellen. Der psychische Prozeß, der im Einzelnen und Sinnlichen befangen bleibt, ist zwar weniger anstrengend, als der abstrakte und rationale; aber seine theoretischen und praktischen Ergebnisse sind dafür auch um so geringer. Das Denken nach logischen Prinzipien und Gesetzen ist kraftersparend, insofern es durch seinen zusammenfassenden Charakter das Durchdenken der Einzelheit ersetzt: das Gesetz, das das Verhalten unendlich vieler Einzelfälle in eine Formel verdichtet, bedeutet die höchste Kraftersparnis des Denkens; wer das Gesetz kennt, verhält sich zu dem, der nur den einzelnen Fall kennt, wie der, der die Maschine besitzt, zum Handarbeiter. Wenn aber das höhere Denken so Zusammenfassung und Verdichtung ist, so ist es zunächst doch Differenzierung. Denn jede Einzelheit der Welt, die von einem bestimmten Gesetz zwar nur einen einzigen Fall bedeutet, ist doch ein Kreuzungspunkt außerordentlich vieler Kraftwirkungen und Gesetze, und es bedarf zunächst der psychologischen Auseinanderlegung derselben, um jene einzelne Beziehung zu erkennen, die, mit der gleichen an anderen Erscheinungen zusammengehalten, den Grund und das Bereich des höheren Gesetzes abgiebt; erst über die Differenzierung aller der Faktoren, in deren zufälligem Zusammen die einzelne Erscheinung besteht, kann sich die höhere Norm erheben. Und nun verhält sich offenbar die geistige Thätigkeit überhaupt zur körperlichen, wie sich innerhalb des Gebietes jener die höhere zur niederen, da ja, wie oben erwähnt, der Unterschied zwischen körperlicher 'und geistiger Thätigkeit nur ein quantitatives Mehr und Minder beider Elemente an der Thätigkeit bedeutet. Das Denken schiebt sich zwischen die mechanischen Thätigkeiten wie das Geld zwischen die realen ökonomischen Werte und Vorgänge, konzentrierend, vermittelnd, erleichternd. Und auch das Geld ist aus einem Differenzierungsprozeß hervorgegangen; der Tauschwert der Dinge, eine Qualität oder Funktion, die sie neben ihren anderweitigen Eigenschaften erwerben, muß von ihnen gelöst und im Bewußtsein verselbständigt werden, ehe die Zusammenschließung dieser, den verschiedensten Dingen gemeinsamen Eigenschaft in einen über allen einzelnen stehenden Begriff und Symbol stattfinden konnte; und. die Kraftersparnis, die durch diese Differenzierung und nachherige Zusammenschließung erreicht wird, liegt gleicherweise in dem Aufsteigen zu höheren Begriffen und Normen, die in der gleichen Weise gewonnen werden. Wie kraftsparend die Konzentration, die Zusammenfassung der Individualfunktionen in eine Zentralkraft wirkt, ist ohne weiteres klar; aber man muß sich zum Bewußtsein bringen, daß einer solchen Zentralisierung stets Differenzierung zugrunde liegt, daß sie, um Kraft zu ersparen, nicht die Erscheinungskomplexe in ihrer Totalität, sondern immer nur herausgesonderte Seiten derselben zusammenzufassen hat. Die Geschichte des menschlichen Denkens, ebenso wie die der socialen Entwicklungen, läßt sich als die Geschichte dieser Fluktuationen auffassen, durch die der bunte, prinzipienlos zusammengestellte Erscheinungskomplex nach gewissen Gesichtspunkten hin differenziert und die Resultate der Differenzierung zu einem höheren Gebilde zusammengeschlossen werden; das Gleichgewicht zwischen Auflösung und Zusammenfassung ist aber nie ein stabiles, sondern immer ein labiles; jene höhere Einheit ist nie eine definitive, insofern sie entweder selbst wieder in Elemente differenziert wird, die dann ihrerseits neue und wieder höhere Zentralgebilde formen, für die sie das Material bilden, oder insofern jene früheren Komplexe nach anderen Gesichtspunkten differenziert werden, was dann neue Zusammenschließungen hervorbringt und die früheren antiquiert.

Diese ganze Bewegung läßt sich vorstellen als beherrscht von der Tendenz zur Kraftersparnis, und zwar zunächst im Sinne der Reibungsminderung. Ich habe dies oben von einem anderen Gesichtspunkte für das Verhältnis der kirchlichen Interessen zu den staatlichen und den wissenschaftlichen ausgeführt. Unzählige Kräfte gehen da verloren, wo die Arbeitsteilung noch nicht jedem ein gesondertes Gebiet angewiesen hat, sondern der Anspruch an das gleiche, gewissermaßen nicht aufgetheilte, den Wettbewerb entfesselt; denn so sehr dieser in vielen Fällen dem Produkt zugute kommt und zu höherer objektiver Leistung anspornt, so bringt er doch in vielen anderen es mit sich, daß zunächst auf die Beseitigung des Konkurrenten Kräfte verwandt werden müssen, bevor man an die Arbeit geht, oder auch neben ihr her. Der Sieg in diesem Kampf entscheidet sich unzählige Male nicht durch die Anspannung aller Kräfte auf die Arbeit, sondern auf außerhalb derselben gelegene, mehr oder weniger subjektive Momente; und diese Kräfte sind verschwendet: sie gehen für die Sache verloren; sie dienen nur zur Beseitigung einer Schwierigkeit, die für den einen da ist, weil sie für den ändern da ist, und unter günstigerer Zielsetzung für beide fortfallen würde: es ist das doppelt unzweckmäßige Verhältnis, daß Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzulegen. Wenn es das Ideal der Kultur ist, daß die Kräfte der Menschen auf die Besiegung des Objekts, resp. der Natur, statt auf die des Mitmenschen verwandt werden, so ist die Verteilung der Arbeitsgebiete die größte Förderung desselben; und wenn die griechischen Socialpolitiker den eigentlich kaufmännischen Beruf dem Staatswesen verderblich hielten und nur den Landbau als geziemenden und gerechten Erwerb gelten lassen wollten, da dieser seinen Nutzen nicht von Menschen und deren Beraubung nähme, so ist kein Zweifel, daß der Mangel an Arbeitsteilung sie zu diesem Urteil berechtigte. Denn die Gestattung des Landbaues erweist ihre Erkenntnis, daß nur Hinwendung an das Objekt allein die Konkurrenz besiegt, von der sie die Sprengung des Staatswesens fürchteten, und daß unter den damaligen, noch nicht arbeitsgeteilten Verhältnissen die Hinwendung an das Objekt unmöglich wäre, außer wo es sich um ein der Konkurrenz so wenig zugängliches Objekt, wie das der Landbebauung, handelt. Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung beseitigen, die aus der Setzung des gleichen Zieles hervorgeht, welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Besiegung des Mitbewerbers lenkt.

Die Betrachtung des Individuums zeig;t dies von einer anderen Seite. Wenn die Gesamtheit der Willens- und Denkakte eines Einzelnen als ein Ganzes seiner Gruppe gegenüber sehr differenziert, in sich also sehr einheitlich ist, so werden damit jene Umstimmungen, jener Wechsel der Innervierungen vermieden, der bei größerer Verschiedenheit der Denkrichtungen und Impulse notwendig ist. In unserm psychischen Wesen ist etwas dem physischen Beharrungsvermögen wenigstens Analoges zu beobachten: ein Trieb, dem augenblicklich herrschenden Gedanken auch weiter nachzuhängen, dem jetzigen Wollen sich noch weiter zu überlassen, sich innerhalb des einmal gegebenen Interessenkreises auch weiter zu bewegen. Wo nun ein Wechsel, ein Abspringen erfordert ist, da muß diese Trägheitswirkung erst durch einen besonderen Impuls überwunden werden; die neue Innervierung muß stärker sein, als ihr Zweck an und für sich erfordert, weil sie zunächst von einer anders gerichteten Kraftwirkung gekreuzt wird und deren ablenkende Wirkung nur durch vermehrte Energie paralysieren kann. Man darf sich jene physisch-psychische Analogie der vis inertiae vielleicht damit erklären, daß wir die Kraftsumme nie mit völliger Bestimmtheit berechnen können, die um eines gegebenen inneren oder äußeren Zweckes willen aus dem latenten in den wirkenden Zustand übergeführt werden muß; da aber das Zurückbleiben hinter dem nötigen Quantum sich sehr schnell bemerkbar machen würde, so irren wir offenbar mehr und öfter nach der Seite des Zuviel, und die motorisch aufgewandte Energie wirkt noch über den Punkt hinaus, auf den sie rationaler Weise gerichtet ist. Setzt an diesem nun eine neue Willensrichtung ein, so hat sie gewissermaßen nicht ganz freies Feld vor sich, sondern findet jenen Überschuß anders gerichteter Kraft vor, den sie erst durch eine entsprechende eigene Verstärkung überwinden muß.

Man muß hier auch an Vorgänge innerhalb des Individuums erinnern, die wenigstens gleichnisweise als Reibung und Konkurrenz zu begreifen sind. Je vielseitiger man sich bethätigt, je geringer die Einheitlichkeit und Umgrenzung unseres Wesens ist, desto häufiger wird die verfügbare Kraftsumme desselben von verschiedenen Direktiven in Anspruch genommen, die so wenig wie Individuen untereinander eine friedliche Teilung jener vornehmen, sondern indem jede möglichst viel Kraft für sich beansprucht, muß sie jeder anderen Abbruch thun, und zwar geschieht dies offenbar oft genug so, daß auf die direkte Beseitigung des konkurrierenden Triebes Kraft verwandt wird, die uns dem sachlichen Ziele nicht näher bringt; es findet nur eine gegenseitige Aufhebung entgegengesetzt gerichteter Kräfte statt, deren Resultat Null ist, ehe es zu positiver Leistung kommt. Durch zweierlei Differenzierungen allein kann das Individuum die so in ihm verschwendeten Kräfte sparen: entweder indem es sich als Ganzes differenziert, d.h. in möglichster Einseitigkeit seine Triebe auf einen Grundton abstimmt, zu dem sie nun insgesamt harmonisch sind, so daß es wegen ihrer Gleichheit oder Parallelität zu keiner Konkurrenz kommt; oder indem es sich seinen einzelnen Trieben und Seiten nach derart differenziert und jede derselben ein so gesondertes Gebiet – sei es im Nebeneinander, oder, wie wir es weiterhin ausführen werden, im Nacheinander –, ein so scharf umgrenztes Ziel und so selbständige, abseits aller anderen liegende Wege dazu besitzt, daß gar keine Berührung und deshalb keine Reibung und Konkurrenz unter ihnen stattfindet; die Differenzierung im Sinne des Ganzen wie im Sinne der Teile wirkt gleichermaßen kraftsparend. Will man diesem Verhältnis eine Stellung in einer kosmologischen Metaphysik anweisen, was ja immer nur den Anspruch einer unsicheren Ahnung und andeutenden Symbolik erheben kann, so dürfte man auf die Zöllner'sche Hypothese verweisen: die den Elementen der Materie innewohnenden Kräfte müßten so beschaffen sein, daß die unter ihrem Einflüsse stattfindenden Bewegungen dahin streben, in einem begrenzten Räume die Anzahl der stattfindenden Zusammenstöße auf ein Minimum zu reduzieren. Danach würden also z.B. die Bewegungen eines mit Gasmolekülen erfüllten kubischen Raumes sich mit der Zeit in drei Gruppen teilen, von denen jede parallel zu zwei Seitenflächen vor sich ginge; dann würden eben gar keine Zusammenstöße der Moleküle mehr untereinander, sondern nur noch mit je zwei einander gegenüberliegenden Gefäßwänden stattfinden und daher die Zahl der Zusammenstöße auf ein Minimum reduziert sein. Ganz analog sehen wir nun, wie die Verminderung der Zusammenstöße, resp. der Reibung, innerhalb zusammengesetzterer Organisationen so zustande kommt, daß sich die Wege der einzeln en Elemente möglichst auseinanderlegen. Aus dem wirren Durcheinander, das sie in jedem Augenblick an einen Punkt zusammenführt, an dem also Reibung, Repulsion, Kraftaufhebung stattfindet, stellt sich der Zustand der gesonderten Bahnen her, und man kann jene physikalische Tendenz ebenso als Differenzierung, wie diese psychologisch sociale als Reduktion der Zusammenstöße bezeichnen. Zöllner selbst deutet auf erkenntnistheoretische Gründe hin das Verhältnis so aus, daß den äußeren Zusammenstößen der Dinge ein Unlusitgefühl entspräche, und giebt der obigen physikalischen Hypothese deshalb diese metaphysische Form: Alle Arbeitsleistungen der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust und Unlust bestimmt, und zwar so, daß die Bewegungen innerhalb eines abgeschlossenen Gebietes von Erscheinungen sich verhalten, als ob sie den unbewußten Zweck verfolgten, die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu reduzieren.

Wie sich in dieses Prinzip das Differenzierungsstreben einordnet, liegt auf der Hand. Man kann aber vielleicht in der Abstraktion noch eine Stufe höher steigen und als allgemeinste formale Tendenz des Naturgeschehens die Kraftersparnis ansehen; dies ersetzte den alten und jedenfalls höchst mißverständlich ausgedrückten Grundsatz, daß die Natur immer den kürzesten Weg nimmt, durch die Maxime, daß sie den kürzesten Weg sucht; zu welchen Zielen dieser führt, ist dann Sache materialer Ausmachung und gestattet vielleicht keine einheitliche Zusammenfassung. Die Herbeiführung von Lust und die Vermeidung der Unlust wären dann nur entweder eines dieser Ziele, oder für gewisse Naturwesen das Zeichen gelungener Kraftersparnis, oder ein angezüchtetes psychologisches Lock-und Hülfsmittel für dieselbe.

Ordnen wir nun die Differenzierung dem Prinzip der Kraftersparnis unter, so ist von vornherein wahrscheinlich, daß gelegentlich auch ihr entgegengesetzte Bewegungen und Einschränkungen diesem höchsten Ziele werden dienen müssen. Denn bei der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität der menschlichen Dinge wird kein höchstes Prinzip immer und überall durch gleichgeartete Einzelvorgänge verwirklicht, sondern wegen der Verschiedenheit der Ausgangspunkte und der Notwendigkeit, auf Ungleiches auch Ungleiches wirken zu lassen, um Gleiches als Resultat zu erzielen, werden die Zwischenglieder, die zu der höchsten Einheit hinaufführen, in dem Verhältnis verschiedenartige sein müssen, als sie in der teleologischen Kette noch von dieser abstehen. Aus der Täuschung hierüber, aus dem falschen monistischen Schein, den die Einheit des höchsten Prinzips psychologisch auch auf die Stufen zu ihm wirft, erklären sich unzählige Verblendungen und Einseitigkeiten im Handeln wie im Erkennen.

Die Gefahren einer zu weit getriebenen Individualisierung und Arbeitsteilung sind zu bekannt, um hier mehr als einer Hinweisung zu bedürfen. Nur das eine will ich doch erwähnen, daß die der Specialthätigkeit zugewandte Kraft zunächst zwar durch den Verzicht auf anderweitige Thätigkeit aufs Äußerste gesteigert wird, bei großer Entschiedenheit und langer Dauer dieses Zustandes aber wieder abnimmt. Denn der Mangel an Übung bringt für jene anderen Muskel- oder Vorstellungsgruppen Schwächung und Atrophie mit sich, die natürlich eine Affection des gesamten Organismus in gleichem Sinne bedeutet. Da nun aber der allein funktionierende Teil doch schließlich aus diesem Ganzen seine Nahrung und Kraft zieht, so muß auch seine Tüchtigkeit leiden, wenn das Ganze leidet. Die einseitige Anstrengung bringt also auf dem Umwege über die Zusammenhänge des Gesamtorganismus, den die durch jene nötige Vernachlässigung der anderen Organe schwächt, auch eine Schwächung eben des Organes mit, dessen Kräftigung sie ursprünglich diente.

Ferner wird auch jene Arbeitsteilung, die in der Abgabe der Funktionen an öffentliche Organe besteht und im allgemeinen eine eminente Kraftersparnis bewirkt, eben um der Kraftersparnis willen oft wieder an die Individuen oder an kleinere Verbände zurückgehen. Es tritt dabei nämlich Folgendes ein. Wenn mehrere Funktionen von den Individuen abgelöst und von einem gemeinsamen Zentralorgan, z. B. dem Staat, übernommen werden, so treten sie in diesem, als einem einheitlichen, in derartige gegenseitige Beziehung und Abhängigkeit, daß die Wandlungen der einen auch die Gesamtheit der ändern alterieren. Dadurch wird die einzelne mit einem Ballast von Rücksichten, mit der Notwendigkeit, ein stets verschobenes Gleichgewicht wiederzugewinnen, belastet und bedingt dadurch eine größere Kraftaufwendung, als für das vorliegende Ziel an sich erforderlich wäre. Sobald sich aus den abgegebenen Funktionen ein neuer, mehrseitig thätiger Organismus zusammengliedert, steht dieser unter selbständigen Lebensbedingungen, die auf die Gesamtheit der Interessen berechnet sind und deshalb für die einzelne einen größeren Apparat arbeiten lassen, als ihre isolierte Zweckmäßigkeit beanspruchen würde. Ich nenne nur einige dieser Belastungen, die jede an den Staat übergegangene Funktion treffen: die Etatisierung der Ausgaben, die Notwendigkeit, jede kleinste Aufwendung in einer Balancierung ungeheurer Gesamtsummen zu halten, die Vielfachheit der Kontrolle, die, im allgemeinen notwendig, im einzelnen oft überflüssig ist, das Interesse der politischen Parteien und die öffentliche Kritik, die oft einerseits zu unnützen Versuchen zwingen, andererseits nützliche unterdrücken, die besonderen Berechtigungen, die die vom Staate angestellten Funktionäre genießen: die Pension, das sociale Übergewicht und vieles andere, – kurz, das Prinzip der Kraftersparnis wird vielfach die Ablösung der Funktionen von den individuellen Wesen und ihre Übertragung auf einen Zentralkörper ebenso einschränken, wie es sie andererseits hervorruft.

Die zwischen Differenzierung und ihrem Gegenteil wechselnde Zweckmäßigkeit der Entwicklung zeigt sich klar auf dem religiösen und auf dem militärischen Gebiet. Die Entwicklung der christlichen Kirche hatte sehr früh zu einer Scheidung zwischen den Vollkommenen und den Alltagsmenschen geführt, zwischen einer geistig-geistlichen Aristokratie und der misera contribuens plebs. Der Priesterstand der katholischen Kirche, der die Beziehungen der Gläubigen zum Himmel vermittelt, ist nur ein Resultat eben derselben Arbeitsteilung, die etwa die Post als ein besonderes sociales Organ konstituiert hat, um die Beziehungen der Bürger zu entfernten Orten zu vermitteln. Diese Differenzierung hob die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm abgelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte; die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bürgerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein besonderer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem der Geist ihn treibt, predigt.

Inwieweit jener frühere Zustand indes unter das Prinzip der Kraftersparnis fällt, zeigt die folgende Betrachtung. Drei wesentliche Requisite des Katholizismus: der Cölibat, das Klosterleben und die dogmatische Hierarchie, die sich zur Inquisition aufgipfelte, waren höchst wirksame und umfassende Mittel, um alles geistige Leben in einem bestimmten Stande zu monopolisieren, der alle Elemente des Fortschritts aus den weitesten Kreisen heraussaugte; dies war zwar in den allerrohesten Zeiten ein Weg, um die vorhandenen geistigen Kräfte zu konservieren, die sich ohne Anhalt an einem bestimmten Stande und bestimmten Mittelpunkten wirkungslos zerstreut hätten; dann aber bewirkte es doch eine negative Zuchtwahl. Denn für alle tieferen und geistigeren Naturen gab es keinen anderen Beruf, als das Klosterleben, und da dieses den Cölibat forderte, so war die Vererbung höherer geistiger Anlage stark verhindert; gerade die roheren und niedrigeren Naturen gewannen dadurch das Feld für sich und ihre Nachkommenschaft. Das ist immer und überall der Fluch des Keuschheitsideales; gilt die Keuschheit als sittliche Forderung und sittliches Verdienst, so wird sie doch nur diejenigen Seelen für sich gewinnen, die überhaupt der Beeinflussung durch ideale Momente zugänglich sind, also gerade die feineren, höheren, ethisch angelegten, und der Verzicht dieser auf Fortpflanzung muß notwendig das schlechte Vererbungsmaterial überwiegen machen. Wir haben hierin ein Beispiel für den oben charakterisierten Fall, daß die Konzentration der Kräfte auf ein arbeitsteilig bestimmtes Glied zunächst zwar eine Stärkung, dann aber auf dem Umwege über die Gesamtverhältnisse des Organismus eine Schwächung eben dieses bewirkt. Zuerst wurden durch die scharfe Differenzierung zwischen den Organen für die geistigen und für die irdischen Interessen die ersteren konserviert und gesteigert; indem sie aber durch die völlige Abkehr vom Sinnlichen die Durchdringung der größeren Massen mit vererbbaren höheren Qualitäten verhinderten, sich selbst aber wieder nur aus eben diesen Massen rekrutieren konnten, mußte ihr eigenes Material schließlich degenerieren. Dazu kam der Dogmatismus im Inhalt der Lehre, der die fortschrittliche Entfaltung geistigen Lebens zunächst durch unmittelbare Einwirkung auf die Geister, dann aber auch mittelbar durch die Ketzerverfolgung beschränkte, welche man gleichfalls mit einer Zuchtwahl verglichen hat, die mit äußerster Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten Männer auswählte, um sie auf irgend eine Weise unschädlich zu machen. Allein in alledem hat doch vielleicht eine segensreiche Kraftersparnis gelegen. Vielleicht war damals die geistige Kraft der Völker in ihren älteren Bestandteilen zu erschöpft, in ihren jüngeren zu barbarisch, um bei voller Freiheit zur Entwicklung jedes geistigen Triebes tüchtige Gebilde hervorzubringen; es war vielmehr günstig, daß ihr Auskeimen verhindert oder beschnitten und dadurch die Säfte konzentriert wurden; das Mittelalter war so eine Sparbüchse für die Kräfte der Volksseele; seine bornierende Religiosität versah die Stelle des Gärtners, der die unzeitigen Triebe wegschneidet, bis sich durch Konzentrierung des für sie doch nur verschwendeten Saftes ein wahrhaft lebensfähiger Zweig bildet. Wie viele Kräfte nun aber durch das Rückgängigmachen jener Arbeitsteilung in der Reformation direkt und indirekt gespart wurden, liegt auf der Hand. Nun war für die religiöse Empfindung und Bethätigung der Umweg über den Priester und das weitläufige Zeremoniell überflüssig gemacht; wie es nicht mehr der Wallfahrt nach bestimmten Orten bedurfte, sondern von jedem Kämmerlein aus ein kürzester Weg zu Gottes Ohre führte; wie das Gebet nicht mehr die Instanz der fürsprechenden Heiligen passieren mußte, um Erfüllung zu finden; wie das individuelle Gewissen sich unmittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewußt werden durfte, ohne erst durch Nachfrage beim Priester diesen und sich selbst mit Aussprachen, Zweifeln, Vermittelungen zu belasten, – so wurde die Gesamtheit der innerlichen und äußerlichen Religiosität vereinfacht und durch Rückgewähr der herausdifferenzierten religiösen Qualitäten an den Einzelnen die Kraft gespart, die der zu ihrer Bewährung nötige Umweg über das Zentralorgan gekostet hatte.

Wir finden endlich die folgende Form, in der eine kraftsparende Rückbildung der Differenzierung stattfindet, insbesondere in religiösen Verhältnissen. Zwei Parteien, von gemeinsamer Grundlage ausgehend, haben sich auf Unterscheidungslehren hin als entschieden gesonderte, für sich bestehende Gruppen konstituiert. Nun soll eine Wiedervereinigung stattfinden; allein nicht so wird das oft möglich sein, daß das Unterscheidende von einer oder von beiden aufgegeben wird, sondern nur so, daß es zur Sache der persönlichen Überzeugung jedes einzelnen Mitgliedes wird. Das Gemeinsame beider, das für jede bisher nur in so fester Verbindung mit ihrer specifischen Differenz existiert hatte, daß jede Partei es sozusagen für sich allein besaß und es kein Gemeinsames im Sinne einer zusammenschließenden Kraft war, wird nun wieder ein solches unter Vernachlässigung jener Differenzen. Diese letzteren dagegen verlieren ihre gruppenbildende Macht und werden vom Ganzen auf das Individuum übertragen. Bei den Aussöhnungsversuchen, denen sich Paul III. den Lutheranern gegenüber geneigt zeigte, war die Absicht offenbar beiderseits auf eine derartige Formulierung der Dogmen gerichtet, die beiden Parteien wieder einen gemeinsamen Boden gewährte, während es im übrigen jedem überlassen bleiben konnte, sich für sein Teil noch das Besondere und Abweichende, dessen er bedurfte, hinzuzudenken. Auch bei der evangelischen Union in Preußen war die Meinung keineswegs die, daß die bisherigen Unterscheidungslehren verschwinden, sondern nur, daß sie zur Privatsache jedes werden sollten, statt von einem besonders differenzierten konfessionellen Gebilde getragen zu werden; es stünde dem Uniomsten demnach noch frei, von der Willensfreiheit irn lutherischen Sinne, vom Abendmahl im reformierten zu denken. Die scheidenden Fragen waren nur keine entscheidenden mehr; sie waren wieder an das Gewissen des Einzelnen zurückgegangen und hatten dadurch den gemeinsamen Grundgedanken die Möglichkeit gegeben, die vorangegangene Differenzierung wieder aufzuheben – was übrigens der in unserm dritten Kapitel gewonnenen Formel entspricht, nach der der Weg der Entwicklung von der kleineren Gruppe einerseits zur größeren, andererseits zugleich zur Individualisierung führt. Eine Kraftersparnis liegt hier insofern vor, als das religiöse Zentralgebilde von solchen Fragen und Angelegenheiten entlastet wird, die der Einzelne arn besten für sich allein ordnet, und entsprechend der Einzelne nicht mehr durch die Autorität seiner Konfession genötigt ist, mit dem, was ihm richtig erscheint, noch eine Anzahl Glaubensartikel außer den Hauptsachen in Kauf zu nehmen, die ihm persönlich überflüssig sind.

Wenn auch keine genaue Parallelität hiermit, so doch eine teilweise Verwandtschaft der Form zeigt die Entwicklung des Kriegerstandes auf. Ursprünglich ist jedes männliche Mitglied des Stammes auch Krieger; mit jeglichem Besitz und dem Wunsch nach Mehrbesitz ist es unmittelbar verbunden, daß jener verteidigt, dieser erkämpft werde; die Führung der Waffen ist die selbstverständliche Konsequenz davon, daß jemand etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat. Daß eine so allgemeine, natürliche, mit jeglichem Interesse verknüpfte Bethätigung von dem Einzelnen als solchem gelöst und in einem besonderen Gebilde verselbständigt werde, bedeutet schon eine hohe Differenzierung und eine besonders große Kraftersparnis. Denn je mehr eigentliche Kulturbeschäftigungen sich ausbildeten, desto störender mußte die Notwendigkeit, jeden Augenblick zu den Waffen zu greifen, desto kraftsparender die Einrichtung wirken, daß lieber ein Teil der Gruppe sich ganz der kriegerischen Beschäftigung widmete, damit die Übrigen möglichst ungestört ihre Kräfte für die anderen nötigen Lebensinteressen entfalten könnten; es war eine Arbeitsteilung, welche ihren Gipfel in den Söldnern erreichte, die von jedem außerkriegerischen Interesse soweit losgelöst waren, daß sie sich jeder beliebigen Kriegspartei zu Diensten stellten. Die erste Rückgängigmachung dieser Differenzierung fand da statt, wo die Heere ihren internationalen oder unpolitischen Charakter verloren und wenigstens dem Lande entstammten, für das sie fochten, so daß der Krieger, wenn er auch im übrigen nur dies und nichts anderes war, doch wenigstens zugleich Patriot sein konnte. Wo dies aber der Fall ist, da wird doch die zugrunde liegende, in den Kampf mitgebrachte Empfindung, der Mut, die Spannkraft, die kriegerische Tüchtigkeit überhaupt auf eine Höhe gehoben, die der vaterlandslose Söldner nur künstlich, durch bewußte Willensanstrengung und mit entsprechend größerem Kraftverbrauch erreichen konnte. Überall bedeutet es eine erhebliche Kraftersparnis, wenn eine erforderte Bethätigung gern und mit Unterstützung des spontanen Gefühles geschieht; die Widerstände der Trägheit, der Feigheit, der Abneigung jeder Art, die sich unsern Thätigkeiten entgegensetzen, fallen dann eben von selbst weg, während es sonst, wenn unser Herz nicht dabei beteiligt ist, besonderer Anstrengung zu ihrer Überwindung bedarf. Das höchste Maß so zu erzielender Kraftersparnis stellen die modernen Volksheere dar, in denen die Differenzierung des Kriegerstandes ganz zurückgebildet ist. Indem die Wehrpflicht nun wieder jeden Bürger trifft, indem die Gesamtheit eines aus unermeßlich vielen Elementen bestehenden Vaterlandes an jeden Einzelnen gewiesen ist und mit auf ihm ruht, indem mannichfaltigste eigene Interessen der kriegerischen Verteidigung bedürfen, – wird ein Maximum von innerlichen Spannkräften dieser Richtung frei, und es bedarf weder des Soldes, noch des Zwanges, noch der künstlichen Anspannung, um den gleichen oder vielmehr einen viel höheren militärischen Effekt zu erzielen, als die Differenzierung des Kriegerstandes ihn hervorbrachte.

Diese auch sonst häufige Art der Entwicklung, nach der das letzte Glied derselben eine ähnliche Form wie das Anfangsglied aufweist, sehen wir in der wichtigen Frage nach der Stellvertretung differenzierter Organe für einander. Im körperlichen Leben sind stellvertretende Thätigkeiten nicht selten, und es ist zunächst klar, daß, je niedriger und undifferenzierter der Bau eines Wesens ist, seine Teile um so eher für einander vikariieren können; wenn man den Süßwasserpolypen umkrämpelt, sodaß sein innerer, bisher verdauender Teil an die Stelle der Haut kommt und umgekehrt, so findet demnächst eine entsprechende Vertauschung der Funktionen statt, sodaß die frühere Haut nun das verdauende Organ wird u. s. w. Je feiner sich nun die Organe eines Wesens individuell ausgestalten, desto mehr ist jedes einzelne auf seine besondere, von keinem anderen erfüllbare Funktion angewiesen. Aber gerade bei dem Gipfelpunkt aller Entwicklung, bei dem Gehirn, ist ein Vikariieren der Teile für einander wieder in relativ hohem Maße vorhanden. Die teilweise Fußlähmung, die ein Kaninchen durch teilweise Zerstörung der Hirnrinde erlitten, wird nach einiger Zeit wieder aufgehoben. Die aphasischen Störungen bei Verletzung des Gehirns; lassen sich zum Teil wieder gutmachen; indem offenbar andere Hirnpartieen die Funktionen der verletzten übernehmen; auch ein Vikariat nach der quantitativen Seite hin findet statt, indem nach Verlust eines Sinnes die übrigen an Schärfe soweit zuzunehmen pflegen, daß sie die durch jenen Verlust behinderten Lebenszwecke möglichst erreichen helfen. Dem entspricht es nun ganz, wenn innerhalb der niedrigsten Gesellschaft die Undifferenziertheit ihrer Mitglieder es mit sich bringt, daß die meisten in ihr vor sich gehenden Thätigkeiten von jedem beliebigen vollzogen werden können, jeder an jedes Stelle treten kann. Und wenn eine höhere Entwicklung diese Möglichkeit des Vikariats aufhebt, indem sie jeden für eine dem ändern versagte Specialität ausbildet, so finden wir gerade wieder, daß die höchsten und intelligentesten Menschen eine hervorragende Fähigkeit besitzen, sich in alle möglichen Lagen zu finden und alle möglichen Funktionen zu übernehmen. Die Differenzierung hat sich hier vom Ganzen, von dem sie die Einseitigkeit der Teile fordert, auf den Teil selbst übertragen und diesem eine solche innere Mannichfaltigkeit verliehen, daß für jeden auftauchenden äußeren Anspruch eine entsprechende Fähigkeit da ist. Die Spirale der Entwicklung erreicht hiermit einen Punkt, der senkrecht über dem Ausgangspunkt liegt: auf dieser Höhe der Ausbildung verhält sich der Einzelne zum Ganzen nicht anders, als im primitiven Zustande, nur daß in diesem beides nicht differenziert, in jenem aber differenziert ist. Die scheinbare Rückbildung der Differenzierung, die in diesen Erscheinungen liegt, ist thatsächlich eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos zurückgegangen.

In entsprechender Weise kann man die oben dargelegte militärische Entwicklung nicht als eine Rückläufigkeit des Differenzierungsprozesses ansehen, sondern als einen Wechsel der Form, in der, und des Subjektes, an dem er sich vollzieht. Während zur Zeit der Söldner nur ein Bruchteil des Volkes Soldat war, aber ziemlich das ganze Leben lang, ist es jetzt das ganze Volk, aber nur eine gewisse Zeit lang. Die Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander innerhalb der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden des Individuums übertragen. Überhaupt ist diese Differenzierung der Zeit nach wichtig, derzufolge nicht Übertragung einer Funktion auf einen bestimmten Teil und gleichzeitig die einer ändern auf einen ändern stattfindet, sondern das Ganze zu einer Zeit sich einer bestimmten Funktion hingiebt, zu einer ändern einer ändern. Wie bei der homochronen Differenzierung ein Teil sich einseitig gegen anderweitig mögliche Funktionen verschließt, so hier eine Periode. Jener auf so vielen Gebieten bemerkbare Parallelismus der Erscheinungen der räumlichen Folge und der zeitlichen Folge nach macht sich auch hier geltend. Wenn der Weg der Entwicklung der ist, daß aus unterschiedsloser Organisation sich scharf gesonderte, nebeneinander funktionierende Glieder bilden, daß aus der homogenen Masse der Gruppengenossen sich individuelle, einseitig ausgebildete Persönlichkeiten differenzieren: so geht eben derselbe auch dahin, daß das gleichförmige, von Anfang an in geradlinigeren Gleisen verlaufende Leben niedriger Stufen in immer entschiedenere, schärfer gegen einander abgesetzte Perioden zerfällt, und daß überhaupt das Leben des Einzelnen, wenngleich als Ganzes und, relativ betrachtet, einseitiger, so doch in sich eine immer größere Mannichfaltigkeit von besonders charakterisierten Entwicklungsstadien durchmacht. Darauf weist schon die Thatsache hin, daß, je höher ein Wesen steht, es um so langsamer den Gipfel seiner Entwicklung erreicht; während das Tier in der kürzesten Frist alle die Fähigkeiten völlig entwickelt, in deren Ausübung dann sein weiteres Leben vergeht, braucht der Mensch dazu unvergleichlich längere Zeit und durchläuft also viel mehr verschiedenartige Entwicklungsperioden; und offenbar muß sich dies in dem Verhältnis des niederen Menschen zum höheren wiederholen. Das Leben der höchsten Exemplare unserer Gattung ist oft bis in das Greisenalter hinein fortwährende Entwicklung – sodaß Goethe noch die Unsterblichkeit daraufhin postulierte, daß er hier keine Zeit zu vollkommner Entwicklung hätte –, von der man sogar oft die Vorstellung hat, daß die spätere Stufe nicht sowohl ein Fortschritt über jede frühere hinaus und diese nur die zu überwindende Vorbedingung zu jener sei, sondern vielmehr die, als stellten diese verschiedenen Überzeugungs- und Bethätigungsweisen die an sich gleichberechtigten Seiten des menschlichen Wesens dar; und von den Wesen, die das Ganze unserer Gattung möglichst vollkommen in sich repräsentieren, würden sie im Nacheinander durchlaufen, weil ihr Bestehen im gleichzeitigen Nebeneinander logisch und psychologisch unmöglich ist. Ich erinnere daran, wie ein Kant eine rationalistisch-dogmatische, eine skeptische und eine kritische Periode durchlaufen hat, deren jede eine allgemeine und relativ berechtigte Seite menschlicher Ausbildung darstellt und sonst in gleichzeitiger Verteilung auf verschiedene Individuen vorkommt; ferner an den Stilwechsel innerhalb künstlerischer Entwicklungen, an den Wechsel außerberuflicher Interessen – von dem der Verkehrskreise bis zu dem des Sports –, an die gegenseitige Verdrängung realistischer und idealistischer, theoretischer und praktischer Epochen des Lebens, an die sich ablösenden Überzeugungen in mancher großen politischen Laufbahn. Jede Parteimeinung, der die letztere etwa sich abschnittsweise zuwendet, ruht auf einem tiefgegründeten Interesse der menschlichen Natur; insofern die Gesamtheit überhaupt fortschreitet, entwickeln sich in ihr, obschon nicht immer in gleichen Maß Verhältnissen, die Momente, die für Kollektivismus wie für Individualismus, für konservative wie für fortschrittliche Maßregeln, für Bevormundung wie für Liberalismus sprechen; und die wachsende Entschiedenheit des Parteilebens zeigt, wenn nicht das Recht, so doch die psychologische Kraft jeder dieser Tendenzen. Wenn der Einzelne nun befähigt ist, die Gesamtheit in sich aufzunehmen und zum Schnittpunkt der in ihr angesponnenen Fäden zu werden, so ist dies entweder im Nebeneinander oder im Nacheinander ihrer einzelnen Momente möglich. Und hier kommt der Gesichtspunkt der Kraftersparnis wieder zur Geltung; wo entgegengesetzte Tendenzen gleichzeitig ihren Anspruch auf unser Bewußtsein geltend machen, wird unzählige Male Reibung, Hemmung, unnützes Aufbrauchen von Kraft stattfinden. Darum differenziert die natürliche Zweckmäßigkeit dieselben, indem sie sie auf verschiedene Zeitmomente verteilt. Die Kraft einseitiger Persönlichkeiten erklärt sich sehr vielfach gewiß nicht so, daß sie von vornherein eine übernormale Kraftsumme besitzen, sondern so, daß ihnen die unnütze Hemmung und Aufreibung der Kraft durch Verschiedenartigkeit der Interessen und Strebungen erspart bleibt; und entsprechend leuchtet es ein, daß bei einer gegebenen Mannichfaltigkeit von Anlagen und Reizbarkeiten dasjenige Wesen die geringsten inneren Widerstände, also den geringsten Kraftverbrauch aufweisen wird, das in jeder gegebenen Periode seines Lebens sich einseitig der einen oder der anderen hingiebt und bei der Unmöglichkeit, dieselben im Nebeneinander an verschiedene Organe zu verteilen, sie wenigstens im Nacheinander an gesonderte Epochen differenziert. Dann wird das Zusammentreffen entgegengesetzter Strebungen und ein gegenseitiges Paralysieren ihrer Kraft nur in relativ kurzen Übergangsperioden stattfinden, in denen das Alte noch nicht ganz tot, das Neue noch nicht ganz lebendig ist, und die deshalb auch immer ein geringeres Maß von Kraftentwicklung darbieten.

Zu derselben Lösung der Frage nach der Thätigkeitsart, die ein Maximum von Kraft spare, resp. entwickle, kommt man, wenn man nicht, wie bisher, das Nacheinander des Verschiedenen, sondern die Verschiedenheit im Nacheinander betont. Ist die Aufgabe, mannichfaltige Strebungen so anzuordnen, daß sie sich in möglichst vollkommener Weise und mit möglichster Energie ausleben können, so hatten wir ihre Differenzierung in der Zeit als erforderlich erkannt; wenn nun umgekehrt eine zeitliche Entwicklung gegeben ist und gefragt wird, welcher Inhalt für sie der geeignetste sei, um mit möglichst wenig Kraftaufwand eine möglichst große Wirkung zu erzielen, so muß geantwortet werden: ein in sich möglichst differenzierter. Die Analogie mit dem Nutzen, den der Fruchtwechsel gegenüber der Zweifelderwirtschaft bringt, muß hier jedem beifallen. Wird ein Feld immer mit derselben Fruchtart bepflanzt, so sind in relativ kurzer Zeit alle die Bestandteile, die sie zu ihrer Entwicklung braucht, dem Boden entzogen, und dieser bedarf der Ruhe zu ihrer Ergänzung. Wird aber eine andere Art angepflanzt, so bedarf diese anderer Bodenbestandteile, welche von jener nicht beansprucht worden sind, und läßt dafür die bereits erschöpften in Ruhe. Dasselbe Feld gewährt also zwei verschiedenen Arten die Möglichkeit der Entwicklung, die es zwei gleichen nicht gewährt. Die Ansprüche, die an die Kraft des menschlichen Wesens gestellt werden, verhalten sich nicht anders. Der veränderte Anspruch zieht aus dem Boden des Lebens eine Nahrung, die der unverändert gebliebene nicht gefunden hätte, weil er auf die früher gebrauchten und deshalb mehr oder weniger verbrauchten angewiesen wäre. Auch unsere Beziehungen zu Menschen erschöpfen sich leicht, wenn wir immer dasselbe von ihnen verlangen, während sie sich fruchtbar erhalten, wenn wir durch abwechselnde Ansprüche verschiedene Teile ihres Wesens in Thätigkeit setzen. Wie der Mensch in sensorischer Beziehung ein auf den Unterschied angewiesenes Wesen ist, d. h. nur den Unterschied gegen den bisherigen Zustand empfindet und wahrnimmt, so ist er es auch in motorischer Beziehung, insofern die Energie der Bewegung sich außerordentlich schnell abstumpft, wenn sie keine Unterschiede enthält. Die Kraftersparnis aus dieser Form der Differenzierung unseres Handelns läßt sich folgendermaßen darstellen. Haben wir zwei verschiedene Thätigkeitsformen a und b vor uns, die den gleichen oder zwei quantitativ gleiche Effekte e hervorbringen können, und haben wir soeben oder eine Zeit lang hintereinander schon a ausgeübt: so wird zur weiteren Erreichung von e durch a eine größere Anstrengung gehören, als durch b, das eine Abwechselung gegen die bisherige Thätigkeit bildet. Wie es für den Empfindungsnerven eines höheren zentripetalen Reizes bedarf, um nach eben stattgehabter Erregung noch einmal die gleiche zu produzieren, als wenn eine gleiche von einem ändern, bisher nicht oder in anderer Weise gereizten verlangt wird: genau so braucht es eines größeren zentrifugalen Reizes, also eines größeren Gesamt-Kraftaufwandes des Organismus, um den eben erzielten Effekt noch einmal zu bewirken, als wenn es sich um einen neuen handelt, für den die specifische Energie noch nicht verbraucht ist. Es ist nicht möglich zu sagen, daß ein Wesen, dessen Bethätigungen im Nacheinander nicht differenziert sind, deshalb schon mehr Kraft verbrauche, als ein differenzierendes, wohl aber, daß es mehr Kraft verbraucht, wenn es gleich große Erfolge wie das letztere erreichen will.

Überblicken wir die bisher gewonnenen Resultate, so scheint sich ein fundamentaler Widerspruch durch sie hindurch zu ziehen, den ich statt durch Rekapitulation lieber direkt darstellen will. Die Differenzierung der socialen Gruppe steht nämlich offenbar zu der des Individuums in direktem Gegensatz. Die erstere bedeutet, daß der Einzelne so einseitig wie möglich sei, daß irgend eine singuläre Aufgabe ihn ganz erfülle und die Gesamtheit seiner Triebe, Fähigkeiten und Interessen auf diesen einen Ton abgestimmt sei, weil bei der Einseitigkeit des Einzelnen die größte Möglichkeit und Notwendigkeit dafür vorhanden ist, daß sie sich inhaltlich von der jedes ändern Einzelnen unterscheide. So bannt der Zwang der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein Leben lang in die einförmigste Arbeit, in die umschränkteste Specialität, weil er auf diese Weise die Fertigkeit in ihr erlangt, die die geforderte Güte und Billigkeit des Produktes ermöglicht; so verlangt das öffentliche Interesse oft Einseitigkeit des politischen Standpunktes, die dem Einzelnen oft durchaus nicht sympathisch ist, wofür die Solonische Bestimmung über Parteilosigkeit heranzuziehen ist; so steigert die Allgemeinheit die Ansprüche an diejenigen, denen sie irgendwelche Stellungen gewährt, derart, daß ihnen oft nur durch äußerste Konzentration auf das Fach unter Ausschluß aller ändern Bildungsinteressen genügt werden kann. Dem gegenüber bedeutet die Differenzierung des Individuums gerade das Aufheben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens- und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in diesem Falle seine Rolle als Teil desselben. Die Mannichfaltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt, ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen. Daß die Entgegengesetztheit dieser beiden Tendenzen keine absolute ist, sondern nach verschiedenen Seiten hin ihre Grenze findet, ist deshalb selbstverständlich, weil der Trieb der Differenzierung selbst nicht ins Unendliche geht, sondern für jeden gegebenen Einzel- oder Kollektivorganismus an dem Geltungsbereich des entgegengesetzten Triebes halt machen muß. So wird es, wie wir schon mehrfach hervorgehoben, einen Grad von Individualisierung der Gruppenmitglieder geben, bei dem entweder die Leistungsfähigkeit dieser auch für ihren Specialberuf aufhört, oder bei dem die Gruppe auseinanderfällt, weil jene keine Beziehungen mehr zu einander finden. Und ebenso wird auch das Individuum für sich selbst darauf verzichten, die Mannichfaltigkeit seiner Triebe bis in die äußerste Möglichkeit hin auszuleben, weil dies die unerträglichste Zersplitterung bedeuten würde. Innerhalb gewisser Grenzen wird also das Interesse des Einzelnen an seiner Differenzierung im Sinne eines Ganzen zu keinem ändern Zustand führen, als das Interesse der Gesamtheit an seiner Differenzierung im Sinne eines Gliedes. Wo aber diese Grenze liegt, wo die Wünsche des Einzelnen nach innerer Mannichfaltigkeit oder nach specialisierter Einseitigkeit mit den gleichen Forderungen der Allgemeinheit an ihn zusammenfallen, das werden nur diejenigen im Prinzip ausmachen wollen, die die aus augenblicklichen Verhältnissen sich ergebende Forderung nur so meinen stützen zu können, daß sie sie als absolute, aus dem an sich seienden Wesen der Dinge folgende hinstellen. Es ist jedenfalls die Aufgabe der Kultur, jene Grenzen immer zu erweitern und die socialen wie die individuellen Aufgaben immer mehr so zu gestalten, daß der gleiche Grad von Differenzierung für beide erforderlich ist.

Was gegen die wachsende Verwirklichung dieses Zieles spricht, ist vor allem dies, daß die entgegengesetzten Ansprüche von beiden Seiten her wachsen. Wenn nämlich das Ganze stark differenziert ist und eine Fülle sehr verschiedenartiger Thätigkeiten und Persönlichkeiten einschließt, so werden die Triebe und Anlagen, die durch die Vererbung in dem Einzelnen auftreten, schließlich gleichfalls sehr mannichfaltige und divergente sein und werden in ihrer ganzen Buntheit und Divergenz in demselben Maße zur Äußerung drängen, in dem gerade die Differenzierung der Verhältnisse, die sie hervorrief, ihnen die Möglichkeit dieser allseitigen Bewährung versagt. So lange die Differenzierung des socialen Ganzen noch nicht die Individuen, sondern vielmehr ganze Unterabteilungen desselben betrifft – also bei Herrschaft des Kastenwesens, des erblichen Handwerks, auch der patriarchalischen Familienform und der Zunft, und bei jeder größeren Strenge der Standesunterschiede –, wird dieser innere Widerspruch der Entwicklung noch weniger auftreten, weil die Vererbung der Eigenschaften wesentlich innerhalb des gleichen Kreises bleibt, also solche Personen trifft, die die so überlieferten Triebe und Dispositionen auch ausbilden können. Sobald indes die Kreise sich mischen, sei es so, daß der Einzelne an mehreren Teil hat, sei es durch Anhäufung der von verschiedenen Ascendenten ausgehenden Anlagen auf einen Erben, da wird mit der Andauer eines solchen Zustandes durch viele Generationen schließlich jeder Einzelne eine Reihe unerfüllbarer Forderungen in sich fühlen. In je umfassenderer Weise die verschiedenen Bestandteile der Gesellschaft sich kreuzen, desto verschiedenere Dispositionen trägt jeder Nachkömmling von ihr zu Lehen, desto vollkommner erscheint er der Anlage nach als ihr Mikrokosmos, desto unmöglicher aber ist es ihm zugleich, jede Anlage zu der Entfaltung zu bringen, auf die sie hindrängt. Denn erst bei starkem Anwachsen des socialen Makrokosmos findet jene Mischung seiner Elemente statt, und gerade dieses Anwachsen zwingt ihn, immer größere Specialisierung seiner Mitglieder zu verlangen. Hiermit mag die größere Häufigkeit der sogenannten problematischen Naturen in der modernen Zeit in Zusammenhang stehen. Goethe bezeichnet als problematisch solche Naturen, die keiner Situation, genugthun und denen keine Situation genugthut. Wo sich nun eine große Anzahl von Trieben und Dispositionen, die natürlich auch in Form von Begehrungen auftreten, zusammenfindet, da wird das Leben leicht sehr viele unaufgegangene Reste zeigen. Die Befriedigungen, die die Wirklichkeit zu bieten weiß, betreffen nur dieses und jenes einzelne Verlangen, und wo es ursprünglich scheint, als ob ein Schicksal, eine Beschäftigung, ein Verhältnis zu Menschen uns ganz ausfüllte, da pflegt doch bei vielseitigeren Naturen bald eine Lokalisierung der Befriedigung einzutreten, und wenn die Verbindungen innerhalb der Seele zunächst auch den Reiz auf das Ganze derselben sich fortpflanzen lassen, so beschränkt er sich doch in kurzem auf seinen ursprünglichen Herd, die sympathisch erregten Schwingungen verklingen, und das Problem allseitiger Befriedigung wird auch durch diese Situation nicht als gelöst erkannt. Und die Verhältnisse ihrerseits fordern für die specielle Lage den ganzen Menschen, der sich derselben aber doch nur dann gewähren kann, wenn die Gesamtheit seiner Anlagen sich einigermaßen nach dieser Richtung hin vereinigen läßt, was eben angesichts der Mannichfaltigkeit der Vererbungen immer unwahrscheinlicher wird. Nur sehr starke Charaktere, die einerseits den nicht für die augenblickliche Forderung geeigneten Trieben halt gebieten, andererseits die Forderung selbst so zu gestalten die Kraft haben, daß sie mit ihren eigenen Begehrungen übereinstimmt, – nur diese können sich von problematischer Wesensart in Zeiten fernhalten, wo die Lagen immer specialisierter und die Anlagen immer mannichfaltiger werden. Mit Recht ist deshalb der Ausdruck: problematische Natur fast zu einem Synonymum von: schwacher Charakter – geworden, wenngleich die Schwäche des Charakters nicht die eigentliche und positive Ursache jener Wesensgestaltung ist, die vielmehr nur in den Verhältnissen der individuellen und der socialen Differenzierung liegt, sondern nur insoweit Ursache, als man behaupten kann, daß ein entschieden starker Charakter diesen Verhältnissen ein Gegengewicht geboten hätte.

Hier erzeugt also das Differenzierungsstreben, indem es sich einerseits auf das Ganze, andererseits auf den Teil bezieht, einen Widerspruch, der das Gegenteil von Kraftersparnis ist. Und ganz analog sehen wir auch innerhalb des Einzelwesens die erwähnte Differenzierung im Nacheinander in Konflikt mit der im Nebeneinander geraten. Die Einheitlichkeit des Wesens, die charaktervolle Bestimmtheit des Handelns und der Interessen, das Festhalten einer einmal eingeschlagenen Entwicklungsrichtung – alles dies wird von starken Trieben unserer Natur selbst um den Preis der Einseitigkeit verlangt und damit jene primäre Kraftersparnis erzielt, die in der einfachen Ablehnung aller Vielheit liegt; dem gegenüber steht der Trieb nach mehrfacher Bewährung, allseitiger Entfaltung, und bewirkt die sekundäre Kraftersparnis, die in der Geschmeidigkeit vielfältiger Kräfte, in der Leichtigkeit des Übergangs von einer Anforderung des Lebens an die andere liegt. Man kann auch hierin die Wirkung der großen Prinzipien sehen, die alles organische Leben bestimmen: der Vererbung und der Anpassung; die stabile Einheitlichkeit des Lebens, die Gleichheit des Charakters der einen Lebensperiode mit der ändern entspricht am Individuum dem, was an der Gattung als Erfolg der Vererbung auftritt, während Mannichfaltigkeit im Thun und Leiden als Anpassung erscheint, als Modifikation des angeborenen Charakters je nach den Umständen, die in unberechenbarer Fülle und Entgegengesetztheit an uns; herantreten. Und nun sehen wir den Konflikt dieser, auf das ganze Leben erstreckten Tendenzen sich innerhalb des Differenzierungsstrebens selbst wiederholen, wie überhaupt im Organischen das Verhältnis der Teile eines Ganzen zu einander sich oft im gegenseitigen Verhältnis der Unterabteilungen eines Teiles wiederholt. Wo die Neigung für Differenzierung vorhanden ist, da macht sich doch der Gegensatz geltend, daß jede gegebene kürzere Epoche einerseits mit möglichst scharf ausgebildetem, nach einer Richtung hin differenziertem Inhalt erfüllt und nach irgendwelcher Zeit von einer ändern, von anderm Inhalt in gleicher Form erfüllten, abgelöst werde – also Differenzierung im Nacheinander; und andererseits beansprucht nun jeder gegebene Zeitteil einen in sich, d.h. im Nebeneinander, möglichst differenzierten, mannichfachen Inhalt. Auf unzähligen Gebieten wird dieser Zwiespalt von der äußersten Wichtigkeit. Z.B. die Auswahl des Lehrstoffes für die Jugend hat stets einen Kompromiß zwischen den beiden Tendenzen zu schließen: daß zunächst ein einheitlicher Teil des zu bewältigenden Inhalts vorgenommen und einseitig, aber entsprechend fest eingeprägt werde, um dann einem ändern, ebenso behandelten Platz zu machen, und daß andererseits doch auch ein Nebeneinander der Gegenstände stattfinden muß, das zwar nicht so schnell Gründlichkeit erzielt, aber durch die Abwechselung den Geist frisch und anpassungsfähig erhält. Die Temperamente, die Charaktere, die gesamten Verschiedenheiten des menschlichen Wesens, von den äußerlichen des Berufs bis zu denen der metaphysischen Weltanschauung, zeichnen sich dadurch voneinander ab, daß die einen die Vielheit mehr im Nacheinander, die ändern mehr im Nebeneinander entwickeln, resp. bewältigen. Man kann vielleicht behaupten, daß sich die Proportion zwischen beiden für jedes Individuum etwas anders, als für jedes andere stellen wird, und daß die Richtigstellung derselben zu den letzten Zielen praktischer Lebensweisheit gehört. Es pflegt erst durch die Reibung zwischen den beiden Tendenzen außerordentlich viel Kraft verschwendet zu werden, ehe man sie so auf die verschiedenen Aufgaben des Lebens verteilt, daß dem Prinzip der höchsten Kraftersparnis genügt wird.

Man muß indes im Auge behalten, daß es sich im letzten Grunde hier auch mehr um einen graduellen, als um einen prinzipiellen Unterschied handelt. Vermöge der Enge des Bewußtseins, die den Inhalt desselben in jedem gegebenen Augenblick auf eine oder äußerst wenige Vorstellungen beschränkt, ist doch auch das sogenannte Nebeneinander der verschiedenen inneren und äußeren Bethätigungen und Entwicklungen, genau genommen, ein Nacheinander. Daß wir eine gewisse Periode als Einheit abgrenzen und das in ihr Vorgehende als nebeneinander vorgehend bezeichnen, ist schließlich etwas rein Willkürliches. Wir vernachlässigen die kleinen Zeitunterschiede zwischen dem Auftauchen der Entwicklungsinhalte in einer Periode und betrachten sie als gleichzeitig; die Größe dieses vernachlässigten Zeitunterschiedes hat aber keine objektive Grenze. Wenn also in dem obigen pädagogischen Falle mehrere Lehrgegenstände nebeneinander betrieben werden, so ist dies doch, genau genommen, kein Nebeneinander, sondern ein Nacheinander, das nur kürzere Intervalle zeigt, als in dem Falle, den wir im engeren Sinne so bezeichnen. Für das Nebeneinander bleiben demnach nur zweierlei specifische Bedeutungen bestehen. Zunächst das wechselseitige Nacheinander der Inhalte; zwei Entwicklungsreihen bezeichnen wir als gleichzeitig, wenn auf einen Schritt in der einen immer ein solcher in der ändern und dann wieder ein Zurückkehren zu jener erfolgt; sie sind so als Ganze in demselben Zeitabschnitt befaßt, wenngleich ihre Teile immer verschiedene Unterabteilungen desselben erfüllen. Zweitens bestehen die Fähigkeiten und Dispositionen, die durch nacheinanderfolgende Thätigkeiten erworben werden, thatsächlich nebeneinander, sodaß der eintretende Reiz jede beliebige erwecken kann; neben dem Nacheinander der Erwerbungen und dem Nacheinander der Ausübungen besteht das Nebeneinander der latenten Kräfte. Sind dies die beiden Formen, in denen das Nebeneinander der Differenzierungen seinen genaueren Sinn findet, so wird die Konkurrenz desselben mit der Tendenz des Nacheinander sich folgendermaßen darstellen. Wo es in einem abwechselnden Auftreten der Thätigkeiten besteht, handelt es sich um die Frage, wie lange jedes Element des Komplexes im Vordergrunde stehen soll, ehe es von dem ändern abgelöst wird. Was diesen Konflikt von dem einfachen zwischen dem Beharrungsstreben der einzelnen Thätigkeitsform und dem sich Vordrängen der ändern unterscheidet, ist die dadurch eintretende Modifikation, daß hier mit dem Nachlassen jeder die Vorstellung ihrer Rückkehr verbunden ist. Dies kann das Nachlassen einerseits erleichtern; es kann es aber auch erschweren, sobald der Übergang von einer zur ändern überhaupt mit Schwierigkeiten verbunden ist und nun das Bewußtsein, daß mit jedem ersten Wechsel auch gleich der zweite näher rückt, leicht zu einem möglichsten Hinausschieben des ersten führen kann. Ein deutliches Gegenstreben der erwähnten Tendenzen findet sich nun etwa in der Organisierung der Beamtenfunktionen, sei es im privaten oder im öffentlichen Dienst. Der Vorgesetzte oder Chef wird oft ein Interesse daran haben, daß die Thätigkeit seiner Beamten einen gewissen Kreis von Aufgaben umfasse, denen sie sich abwechselnd widmen. Dies hat eine größere Gewandtheit in den Geschäften und vor allem die Erleichterung von nötig werdenden Stellvertretungen und Aushülfen zur Folge. Dem aber wird sich oft ein Interesse des Beamten selbst entgegenstellen, der die ihm überhaupt zugänglichen Funktionen lieber in eine Reihe gliedern wird, die die eine endgültig abgethan sein läßt, wenn die nächste beginnt. Denn hierdurch erreicht er viel eher ein Aufsteigen im Dienst, indem sehr häufig nicht sowohl die höhere und besser bezahlte Funktion die spätere ist, als vielmehr die gewohnheitsmäßig später aufgetragene schließlich als solche die Würde und das Entgelt einer höheren gewinnt, wie dies namentlich in der Hierarchie der Subalternen, aber auch bei den höchsten, an die Sinekure streifenden Stellungen zu beobachten ist. Wo dagegen schon allerhand höhere und niedere Funktionen in abwechselnder Folge in einer Stellung befaßt sind, da wird sich das Aufsteigen aus derselben nicht so leicht geben, weil die Differenzierungsmomente, die sonst die Form des Nacheinander forderten oder mit sich brachten, hier schon zugleich, im Nebeneinander, bestehen.

Zu anderweitigen Konflikten führt der zweite Sinn eines wirklichen Nebeneinander der Differenzierungen am Individuum, der die latenten Kräfte und Fähigkeiten einschließt. Hier werden sich die Verschiedenheiten des geistig-sittlichen Wesens darin zeigen, daß der eine eine Mehrzahl von Thätigkeiten übt, um die Fähigkeiten zu möglichst vielen gleichsam in sich aufzuspeichern, der andere nur an ihrem verfließenden Nacheinander, an der Abwechselung ihrer Aktualität Interesse hat. Die gleiche Form der Differenz zeigen etwa zwei Rentiers, von denen der eine sein Vermögen in einer Anzahl verschiedenartiger Werte anlegt – Grundbesitz, Fonds, Hypotheken, Geschäftsbeteiligungen u. s. w. –, der andere das gesamte Kapital bald ganz der einen, bald ganz der ändern ihm günstig erscheinenden Anlage zuwendet. Die Differenzierung der Besitztümer in eine einerseits im Nebeneinander, andererseits im Nacheinander bestehende Mehrheit von Anlagen dient bei dem ersteren mehr der Sicherheit, bei dem zweiten mehr der Höhe der Verzinsung. Man könnte den Kapital-, insbesondere den Geldbesitz überhaupt als eine latente Differenzierung ansehen. Denn sein Wesen liegt darin, daß vermöge seiner eine unumschränkte Anzahl von Wirkungen geübt werden kann. In sich vollkommen einheitlichen Charakters, weil als bloßes Tauschmittel vollkommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannichfaltigkeit alles Handelns und Genießens aus, und, in der Form der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farbenreichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos erscheinende Weiß alle Farben des Spektrums in sich enthält; es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate, wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen. Denn thatsächlich schließt es die Mannichfaltigkeit nicht nur im Vorblick, sondern auch im Rückblick ein; nur aus der Fülle sich kreuzender Interessen, aus dem Reichtum verschiedenartigster Thätigkeiten konnte dieses, nun sozusagen über den Parteien stehende Tauschmittel hervorgehen. Die Differenzierung des wirtschaftlichen Lebens im allgemeinen ist die Ursache des Geldes, und die Möglichkeit jeder beliebigen wirtschaftlichen Differenzierung ist für den Einzelnen der Erfolg seines Besitzes. Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander der Differenzierungen im Sinne der Potentialität. Gegenüber dem Geldbesitz ist alle Thätigkeit überhaupt Differenzierung im Nacheinander; sie legt doch jedenfalls die vorhandene Kraftsumme in eine Anzahl verschiedener Momente: auseinander, wenn sie sich auch innerhalb dieser in gleicher Form äußert, während die Zeit des Geldbesitzes als »fruchtbarer Moment« im eminenten Sinne, als momentane Zusammenschließung unzähliger Fäden anzusehen ist, die im nächsten Augenblick wieder zu gleich zahllosen Wirkungen auseinandergehen. Es liegt auf der Hand, zu wie vielen und tiefen Konflikten die Zweiheit dieser Tendenzen sowohl im Individuum, wie in der Gesamtheit führen muß, und daß es sich hier um nichts weniger, als um den von einer bestimmten Seite her betrachteten Kampf zwischen Kapital und Arbeit handelt. Und hier greift wieder die Frage der Kraftersparnis ein. Kapital ist objektivierte Kraftersparnis und zwar in dem doppelten Sinne, daß eine früher erzeugte Kraft nicht sofort wieder verbraucht, sondern aufgespeichert worden ist, und daß künftige Wirkungen mit diesem höchst kompendiösen, absolut zweckmäßigen Werkzeug geübt werden. Das Geld ist offenbar dasjenige Werkzeug, bei dessen Verwendung weniger Kraft, als bei jedem anderen durch Reibung nebenbei geht; wie es aus Arbeit und Differenzierung hervorgeht, setzt es sich in Arbeit und Differenzierung um, ohne daß bei diesem Umsetzungsprozeß etwas verloren wird. Infolgedessen aber erfordert es auch, daß außer ihm Arbeit und Differenzierung vorhanden sei, weil es sonst Allgemeinheit ohne Einzelheit, Funktion ohne Stoff, Wort ohne Sinn ist, Die Differenzierung im Zugleich, in dem Sinne, wie wir sie dem Kapital zusprechen, weist demnach notwendig auf eine Differenzierung im Nacheinander hin; das Maßverhältnis beider derart zu bestimmen, daß im Ganzen ein Maximum von Kraftersparnis eintritt, bildet für die Einzelnen und für die Allgemeinheit eines der höchsten Probleme, und diese wie jene unterscheiden sich oft aufs schärfste, indem sie bald die Differenzierung im Nebeneinander, die den Besitz ausmacht, bald die im Nacheinander, die der Arbeit entspricht, überwiegen lassen; keines von beiden kann in irgend höheren Verhältnissen entbehrt werden.

Wo nun wie hier zwei Elemente oder Tendenzen sich gegenseitig fordern, aber auch sich gegenseitig begrenzen, da gerät die Erkenntnis leicht in die Versuchung eines doppelten Irrtums. Zunächst mit einem nichtssagenden: Nicht zu wenig und nicht zu viel! die Frage nach den Quanten beantworten zu wollen, in denen jene Elemente sich zur Herstellung des wünschenswertesten Zustandes mischen müssen: das ist ein rein analytischer, ja identischer Satz; der Zusatz des »zu« bezeichnet doch schon von vornherein ein unrichtiges Maß, und durch die Negierung desselben wird deshalb noch absolut kein Anhaltspunkt gegeben, welches denn nun das richtige Maß ist; die ganze Frage ist gerade die, an welchem Punkte des Anwachsens oder des Zurückweichens beider das »zu« beginnt. Diese Gefahr, eine Formulierung des Problems schon für seine Lösung zu halten, liegt eben da besonders nahe, wo das Maß des einen Elementes eine Funktion, wenn auch eine unstätige, von dem des ändern ist, wie es bei Kapital und Arbeit der Fall ist. Die Entfaltung der Kräfte im Nacheinander, wie die Arbeit sie mit sich bringt, erscheint leicht durch das Maß bestimmt, in dem ihre potentielle Differenzierung im Nebeneinander, im Kapital, vorhanden oder wünschenswert ist; und dieser letzteren bestimmt man nun wieder das rechte Maß nach dem Quantum der vorhandenen oder zu leistenden Arbeit.

Von fühlbareren Folgen ist ein anderer häufiger Irrtum: daß man das labile Gleichgewicht zwischen beiden Elementen als ein stabiles ansieht, und zwar sowohl für die Wirklichkeit, als für das Ideal. Das sogenannte eherne Lohngesetz ist ein solcher Versuch, die aktuelle Differenzierung der Arbeit als in einem stetigen Verhältnis zu der latenten Differenzierung des Kapitals stehend zu erkennen. Ebenso die Careysche Begründung der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit: da die steigende Zivilisation das für ein Produkt nötige Arbeitsquantum stetig vermindert, so werde der Arbeiter für das gleiche Produkt relativ immer besser bezahlt; da aber zugleich die Konsumtion außerordentlich wächst, so steigt auch der Gewinn des Kapitalisten, der zwar an jedem einzelnen Produkt relativ weniger Anteil hat, durch die Masse der Produktion aber, absolut genommen, doch noch einen größeren Vorteil hat, als bei geringerer Produktion. Hier soll also wenigstens die Entwicklung der aktuellen Differenzierung, wie sie in der zivilisierten Arbeit liegt, zu der Entwicklung ihrer Aufspeicherung im Kapital ein dauerndes Verhältnis aufweisen, das nicht von der Zufälligkeit historischer Umstände, sondern von der logisch sachlichen Beziehung dieser Faktoren selbst bestimmt wird. Andererseits versuchen socialistische Utopieen ein derartiges Verhältnis wenigstens für die Zukunft zu konstruieren und gehen von der naiven Voraussetzung aus, es ließe sich überhaupt eines auffinden, das durchweg verwendbar wäre und – wenn wir das socialistische Ideal einmal nach der Seite unsrer jetzigen Betrachtung hin deuten können – das ein Maximum von socialer Kraftersparnis darstellte. Ich denke hier etwa an die Vorschläge Louis Blancs, der die Kräftevergeudung durch das Arbeiten der Individuen gegeneinander dadurch vermeiden will, daß die in den Kapitalgewinn einmündende und in ihm latent werdende Arbeit nicht individualistisch verwandt, sondern zu einem Drittel völlig gleich aufgeteilt, zu zwei Dritteln aber zur Verbesserung und Vermehrung der Arbeitsmittel etc. bestimmt werden soll. Ich glaube, daß alle Versuche, das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit theoretisch oder praktisch zu fixieren, das Schicksal erleiden werden, das den Operationen mit den »Seelenvermögen« in der älteren Psychologie zu Teil wurde. Auch hier wollte man von bestimmten Verhältnissen zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Willen und Gefühl, zwischen Gedächtnis und Einbildungskraft sprechen, bis man einsah, daß dies nur ganz rohe sprachliche Zusammenfassungen sehr komplizierter Seelenvorgänge sind, und daß man zu einem Verständnis derselben nur kommt, indem man, von jenen Hypostasierungen absehend, auf die einfachsten psychischen Prozesse zurückgeht und die Regeln ermittelt, nach denen die einzelnen Vorstellungen sich wechselwirkend zu jenen höheren Gebilden zusammenschließen, die den unmittelbaren Inhalt des Bewußtseins bilden. So wird man wohl auch das Verständnis für so allgemeine und komplizierte. Gebilde, wie Kapital und Arbeit, und für ihr gegenseitiges Verhältnis nicht in unmittelbarem Aneinanderhalten und durch die scheinbar unmittelbare Bestimmtheit des einen durch das andere gewinnen, sondern durch das Zurückgehen auf die ursprünglichen Differenzierungsprozesse, von denen jenes beides nur verschiedene Kombinationen oder Entwicklungsstadien sind.


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