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Erste Abteilung.
Zur Epik.

16

17

I.
Die epische Poesie unter dem wechselnden Zeichen des Verkehrs.

Unter so niedrigem Zeichen die hohe, die herrliche Dichtung!
   Sind sie Brüder denn nicht: Hermes und Phöbus Apoll?

Ich glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Wahl und Fassung meines Themas für manchen Leser auf den ersten Blick etwas Befremdendes haben. Was, wird man fragen, hat die epische Poesie, die Poesie überhaupt, mit dem Verkehr zu thun? Was ist unter seinem wechselnden Zeichen zu verstehen? Aber wenn man mit Recht von einem »Zeichen des Verkehrs« sprechen und füglich behaupten darf, daß unser Jahrhundert, speciell dieses letzte Viertel, noch ganz besonders unter ihm stehe, werden wir, auch ohne seine verschiedenen Vehikel in unserem vortrefflichen Postmuseum studiert zu haben, doch zweifellos alsbald an den wechselnden Adspekt gemahnt, den dieses Zeichen in der Zeiten Folge dem nachsinnenden Betrachter bietet. Allerdings in Stadien, die einmal nach Jahrtausenden, dann wieder nach Jahrhunderten, wieder nach Jahrzehnten, am Ende gar nach einzelnen Jahren bemessen werden müssen. Oder wer zählte die Jahrtausende, in denen der Mensch kein anderes Fortbewegungs- (d. h. Verkehrs-)mittel kannte als das ihm von der Natur verliehene seiner Beine und Arme, – ein Mittel, das ihn sicher im Kampfe mit den Tieren um das Dasein und die Erdherrschaft oft jämmerlich im Stich ließ, bis er seine Konkurrenten allmählich aus dem Felde schlug, sie in seine Dienste zwang; den Fluß nicht mehr, wie früher, zu durch 18schwimmen brauchte, sondern sich von einem Floß hinübertragen ließ; die Walze erfand, Lasten fortzubewegen; aus der Walze das um eine feste Achse sich drehende Rad wurde, aus dem Floß ein Kanoe, das er mit Ruder und Segel beflügeln lernte, wie er die Fortbewegung des Karrens zu beschleunigen wußte durch das davor gespannte Pferd oder Rind, – und ihm so der Ehrentitel eines homo sapiens mit einigem Recht zukam. Und wieder wie viele Jahrtausende, bis Sophokles in dem zweiten Chorliede der Antigone von ihm singen durfte:

»Vieles Gewaltige lebt und nichts
Ist gewaltiger als der Mensch; –«

Dennoch, von wie berechtigtem Stolz das Herz des Dichters geschwellt war, als er dieses hohe Lied der Erfindsamkeit der Menschen sang, die er am Ziel der Kultur angelangt wähnen mochte, – welch Entsetzen würde seine Athener ergriffen haben, wäre in das Gewühl der Seeschlacht von Salamis einer unserer Kriegskolosse hineingedampft, donnernd seine vernichtenden Geschosse entsendend! Hätte ein Feldtelegraph das Νενικήκαμεν des todesmutigen Läufers von Marathon um vier Stunden überholt; oder der Besucher der Akropolis sein geliebtes Attika von Eisensträngen überspannt gesehen, auf denen das Dampfroß die unendlichen Lasten langer Wagenzüge sausend dahinträgt! Um das herrliche Lied wären wir jedenfalls gekommen; oder wie anders hätte es lauten müssen!

Und läßt uns diese Andeutung ahnen, daß auch die dramatische und lyrische Poesie den wechselnden Zeichen des Verkehrs ihren Tribut zu zahlen haben, – von ihrem viel mächtigeren Einfluß auf die epische Dichtung wird uns eine kürzeste Betrachtung des Wesens dieser Kunst leicht überzeugen. Denn keine der beiden Schwesterkünste strebt so eifrig 19 wie sie danach, ein möglichst getreues Abbild der Wirklichkeit auch in ihrer äußeren Erscheinung zu geben; keine ist so darauf aus, den Einflüssen nachzuspüren, die das Milieu, in dem der Mensch sich bewegt, auf seine körperliche und geistige Entwickelung, seine Entschlüsse und Handlungen hat; keine ist so fest mit allen Fasern ihres Wesens an den Kulturzustand der Zeit ihrer Entstehung gebunden; mit allen Wurzeln so tief darin verwachsen. Die zweite Strophe desselben vorhin citierten Chorliedes:

»Und das Wort und den luftigen Flug
Des Gedankens erfand er, – u. s. w.«

sie ist nicht nur ebenso ästhetisch schön, sondern auch so wahr, so »aktuell« wie vor zwei Jahrtausenden; der amerikanische Hinterwäldler mag, ist er sonst ein Poet, vor seinem einsamen Blockhause sitzend oder durch die feierliche Stille des Urwaldes schweifend, ein Liebeslied dichten, so innig, so zart, so tief, wie ein anderer mitten im rasselnden Getriebe des Weltstadtverkehrs. Wiederum: ob dramatis personae im griechischen Peplos, im Tierfell der Cherusker, im Eisenharnisch der Ritter der beiden Rosen, im Koller und in Kanonen der Pappenheimer, in der Hoftracht von Guastalla, im Frack und in der Arbeiterbluse unserer Tage über die Bretter schreiten: ihre Herzen – und darauf kommt es dem Dramatiker in erster und ich möchte sagen: letzter Linie an – schlagen in dem identischen Takt der sie bewegenden Leidenschaften. Und der gefällige Coulissenmeister schafft ihnen mit gleicher Gemütsruhe ihre obligate Umgebung, mag sie aus Felsen, Einöden, Ritterburgen, modernen Wohnräumen oder woraus immer bestehen.

Wie anders stellt sich die Sache in der Epik, aus der übrigens – was hier gleich bemerkt sein mag – das historische Genre, weil für unsere Zwecke unwesentlich und uner 20giebig, ausscheidet; obgleich ich so schweren Herzens an Scotts Ivanhoe, Quentin Durward u. s. w., meinen Lieblingen, vorübergehen, mir sogar den diskretesten Blick in das »Nest der Zaunkönige« versagen muß. Denn mag es bei dieser Heraufbeschwörung einer vergangenen Zeit aus ihrem wohlverdienten Grabe mit noch so rechten Dingen zugehen und ihr Geist nicht übel getroffen sein, – von ihrem Körper, dem Drum und Dran, wissen die divinatorischen Herren nicht mehr, als sie aus den gleichzeitigen Quellen schöpfen konnten, an die denn auch wir – weil es sicherer ist – uns lieber direkt wenden. Oder aber solche Quellen sind überall nicht vorhanden, so ist, was sie uns nach dieser Seite bieten, besten Falles ein pis aller und faute de mieux. Und auch nach einer so beträchtlichen Einschränkung unseres Stoffgebietes würde es sich als ein uferloses Meer erweisen, wollten wir es nach allen Richtungen auszumessen versuchen und nicht vielmehr uns darauf beschränken, es sozusagen aus der Vogelperspektive zu überblicken, von der herab wir es in gewisse Zonen einteilen mögen, die wir wiederum nur an einzelnen, besonders merkwürdigen Produkten, die sie hervorgebracht, zu charakterisieren uns bemühen müssen.

Da will es nun das Glück, daß wir gleich am Anfang unseres langen Weges auf ein episches Gebilde treffen, das, wie es ewig mustergültig für die ganze Gattung ist, sich auch als das schicklichste Objekt erweist, an ihm unsere Absicht zu demonstrieren.

Ich spreche selbstverständlich von den homerischen Epen, insonderheit von der »Odyssee«. Nicht als ob nicht auch die »Ilias« gar manches böte, was in den Kreis unserer Betrachtungen gehört, und noch mehr bieten würde, wenn sie die Vorgeschichte des Krieges: die Versammlung der griechischen Flotte in Aulis, ihr langes, notgedrungenes Ver 21weilen daselbst, die Ereignisse auf der Überfahrt u. s. w. nicht als dem Hörer bekannt voraussetzte und höchstens andeutungsweise darauf zurückkäme. Aber als das Gedicht anhebt, liegt das Griechenheer bereits im zehnten Jahre vor den Mauern Trojas in einem befestigten Lager, das auch die auf das Land gezogenen Schiffe birgt. Die Vorkommnisse der Kämpfe selbst gehören in das Gebiet der Kriegs- und Waffengeschichte. Von dem Einflüsse der Verkehrsmittel – obgleich das Ganze natürlich auch von ihm beherrscht wird – ist doch im einzelnen wenig zu spüren. Die dramatische Konzentration, zu welcher der Dichter durch die Natur seiner Aufgabe gezwungen war, zog ihm auch für das Lokal die engsten Schranken: mit seinem Streitwagen konnte Achill es leicht durchmessen. Umgekehrt, wie das echt epische Wundergedicht der Odyssee nur dadurch zu stande kommen konnte, daß diese Schranken, wenigstens für die Phantasie, völlig aufgehoben sind. Und doch wiederum gerade deshalb aufgehoben werden konnten, weil die wirkliche Welt, die das Auge des Dichters überblickte, so sehr beschränkt war.

Beschränkt, wie sie den Menschen sein mußte, die sich mit plumpen Ruderschiffen an den vielzackigen Ufern ihres heimischen Meeres in öder Mühsal hinquälten, nur im äußersten Notfall auf die offene See hinaussteuerten, die Segel nur zu gebrauchen wußten, wenn ein günstiger Wind sie blähte; der Spielball jedes ungünstigen Windes waren, der sie vor sich hertrieb, sie ahnten nicht, wohin; und die aus einem Sturm, der den Schiffer von heute nicht schreckt, nur Götterhilfe retten konnte. So mochte denn der Sänger gern seinen Helden die liebe Heimat zehn Jahre lang suchen lassen in einer Entfernung vom Ausgangspunkte der Fahrt, die unsere Dampfer in wenigen Tagen mit unfehlbarer 22 Sicherheit durchmessen. So ihn hierhin und dahin vom rechten Wege abirren und all die unsterblichen Abenteuer erleben lassen: aus Inseln, von holden, allzu gastfreundlichen Nixen bewohnt; oder fürchterlichen Cyklopen, die ihm die Gefährten wegschlachten; oder bei Schmaus und Spiel, Gesang und Tanz ihr Leben verdämmernden Phäaken, die den Schlafenden dann endlich zu seiner felsigen Ithaka und in die Arme seiner dauerhaften Gattin zurückführen. O, du selige Zeit der epischen Poesie, die du unter einem Zeichen des Verkehrs standest, das sich kaum mit unsicherem Licht über den Horizont einer jugendfrischen Menschheit erhob und unter dem doch deine duftigsten Blütenträume reiften!

Nun würde man mich völlig mißverstehen, wollte man mir imputieren: ich sähe in diesem Zeichen eines kindlich-unbehilflichen, primitiven Verkehrs, mit seinem Tappen im Dunkeln durch eine Welt, in der man alles mit Händen muß greifen können, was nicht in Nebel zerflattern soll, gewissermaßen die bekannte homerische Sonne: den einzigen, herrlichen Erzeuger so göttlicher Poesie. Ich weiß sehr wohl, daß, eine solche Frucht zu zeitigen, noch ganz andere Faktoren in Aktion treten müssen; daß zu der strahlenden Sonne ein sonnenhaftes Auge gehört, wie es dem gottbegnadeten Griechenvolke von damals eignete. Aber um diese Faktoren aufzuzählen, würden wir weit von unserem Wege abzuschweifen haben. Begnügen wir uns also, zu sagen: die homerischen Epen sind das Produkt einer Phase der griechischen Kultur, die, um sie hervorzubringen, unter keinem anderen Zeichen des Verkehres stehen durfte.

Aber bevor wir unseren Blick von dem erquicklichsten aller epischen Gebilde wenden, müssen wir noch auf ein Moment hinweisen, das zu seinem wonnesamen Zauber nicht wenig beiträgt und, indem es die Enge des physischen Hori 23zontes der Menschen von damals in das Ungemessene erweitert, doch eben aus dieser Enge geboren ist. Ich meine die Einwirkung und das Eingreifen der Götterwelt auf und in die Menschenwelt; eine Einwirkung und ein Eingreifen, die sich von den Gesetzen der Natur emancipieren, sich ihre eigenen Verkehrsmittel schaffen und die Wunder der modernen Wissenschaft ahnungvoll vorwegnehmen. Das teleskopische Auge vom Vater Zeus umspannt mit einem Blick das Blachfeld zu seinen Füßen, auf dem Griechen und Trojaner sich abschlachten, und die Gefilde friedlicher Hippomolgen; mit telegraphischer Schnelle tragen die goldenen Sandalen Hermes vom Olymp über Land und Meer zur Insel der Calypso; ein himmlischer Wagen, der vor den Luftschiffen von heute den erheblichen Vorteil der Lenkbarkeit voraus hat, steht für Here bereit, wenn sie den hohen Gemahl auf dem Ida mit ihrem Besuch beglücken will; mit telephonischer Genauigkeit flüstern Götterstimmen schlummernden Königstöchtern und sich ratlos auf nächtlichem Pfühl wälzenden Helden das Programm für die Arbeit des nächsten Tages zu.

Wir werden weiterhin sehen, wie dieser Apparat, der unter den zarten Händen eines Homer so anmutig spielt, unter den plumperen späterer Dichter zu einer Maschinerie wird, die à tort et à travers zur Anwendung kommt und dabei nicht selten höchst aufdringlich klappert. Wir sehen es sogar alsbald in Vergils »Äneis«, einem epischen Produkt, das wir nach unserem vorhin angedeuteten Programm eigentlich stillschweigend zu übergehen hätten. Gehört es doch zu jenen alexandrinischen Werken, die nicht von der Sonne der Aktualität geboren und in ihr gereift, sondern im Schein einer fleißigen, von dem Öl antiquarischer Gelehrsamkeit gespeisten Lampe in usum delphini mühsam gezüchtet sind. Nun kann ja freilich von einer Gleichzeitigkeit 24 oder doch engen Zeitfolge des trojanischen Krieges (dem wir das Recht eines, wenn auch sagenhaft verbrämten, historischen Faktums zugestehen müssen) und der homerischen Gedichte keineswegs die Rede sein; aber die Zeitferne ist minder groß und wird bis auf einen minimalen Rest paralysiert durch die Naivetät der Sänger, die ihre Zeit frischweg für die Vergangenheit nahmen und im großen und ganzen sicher nehmen durften.

Zwischen dem augusteischen Dichter aber und seinem Stoff lag ein rundes Jahrtausend, in der die Weltlage sich sehr wesentlich verändert hatte. Wenn die Schifflein der griechischen Heldenpiraten sich ängstlich an seinen Küsten hinwanden, durchfurchen jetzt stolze Flotten das weite Becken des Mittelmeeres. Seine Uferländer, seine Inseln, von denen schon die nahe Trinakria den homerischen Sängern ein Fabelland war, – sie gehören ausnahmslos zu der von den siegreichen Legionen auf ihren unendlichen Militärstraßen rastlos durchzogenen Machtsphäre des römischen Weltreiches, von dessen fernster orientalischer Grenze bis zur Ultima Thule Depeschen mit uns schier unbegreiflicher Geschwindigkeit befördert werden.

Da mußte sich denn der Dichter für seine Gebilde künstlich eine Perspektive schaffen und die Dinge mühsam so zu sehen versuchen, wie sie der griechische Dichter mühelos gesehen hatte. Natürlich baut sich auch hier die Fabel auf den Bedingungen primitiver Verkehrsmittel auf: Äneas wird umgetrieben wie weiland Odysseus; seine Schiffe sind ein Spiel der Wellen und der Winde. Aber, wie die Sage es mit sich brachte, daß das Lokal bedeutend weiter nach Westen geschoben wird, als der Horizont der homerischen Dichter jemals reichte, so ist auch das holde Clair-Obscur der odysseischen Irrfahrten verschwunden: deutlicher heben sich die afrikanische, die italische Küste aus dem blauen Meer; die 25 Ortsbestimmungen werden präziser; ohne daß er es will, verrät der Dichter seine bessere geographische Kenntnis, seinen größeren Überblick. Unter der Hand sind ihm die Schiffe gelenkiger, leistungsfähiger geworden (wie die im fünften Buch so ausführlich geschilderte Ruderregatta beweist); das Roß, das in der Ilias nur vor den Kampfwagen figuriert und in der Odyssee nur einmal: auf der Rundfahrt Telemachs zu den griechischen Fürsten, das Kummet um den Nacken schüttelt, es hat jetzt in Scherz und Ernst seine Reiter gefunden, die sich (im elften Gesang) eine regelrechte Schlacht liefern (V. 599 ff.):

– – – – – – – – – – Laut über das Schlachtfeld
Donnert das trabende Roß und bekämpft kurzhaltende Zügel.
Dort anstrebend und dort – – – – – – – – – –
– – – – – –daß im schwankenden Prall des Galoppe?
Brust an Brust den Gäulen zerkracht. –

Das trabende Roß, dem in den klassischen Epen nur eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle zukommt, tritt auf der Bildfläche unserer vornehmsten Nationalepen, den »Nibelungen« und »Gudrun«, so bedeutsam hervor: wir können ohne Übertreibung sagen, daß wir bei ihnen im Zeichen des durch das Roß vermittelten Verkehrs stehen, neben dem dann freilich das Schiff seine angestammten epischen Rechte fest behauptet. Die Frage, ob von der Zeit, als Nibelungen und Gudrun nur erst im Volksmund umliefen, bis sie die Form fanden, in der sie auf uns gekommen sind, Verkehr und Verkehrsmittel in deutschen und nordischen Landen sich inzwischen verändert und wie weit sie sich verändert hatten, dürfen wir um so ruhiger beiseite schieben, als die Treue, mit der die Ordner der uralten Lieder sich an die Quellen gehalten haben, unabweisbar ist und wir überdies sehen werden, daß auf sehr lange hinaus die folgenden Zeiten über andere und reichere Mittel nicht wesentlich verfügen konnten.

26 Und nun, mögen auch die nordischen Schiffer, wie ich gern glaube, bessere Seeleute gewesen sein als Odysseus und seine Genossen: ohne Kompaß, ohne Magnetnadel und Karten mußten auch sie das Meer befahren, noch dazu ein so gefährliches wie ihr heimisches. Weiter stelle man sich die Hindernisse vor, die sich dem Landreisenden in der Unwegsamkeit der Straßen entgegentürmten, soweit überhaupt zu jener Zeit von solchen geredet werden kann; dem Flußschiffer in den Stromschnellen und Untiefen der Wasserläufe, – war doch damals selbst der Rhein zwischen Mainz und Worms aufwärts nicht schiffbar! Kann es wundernehmen, daß diesen Menschen nur die unmittelbare Nähe vertraut ist und schon eine geringe Ferne vor ihren Augen nebelhaft verdämmert? die größere sich mit einem undurchdringlichen Schleier verhüllt? Daß sie, fast schon nachbarlich, dahinleben, ohne sich zu kennen, – oder doch nur von Hörensagen? Welches Aufgebot von Rossen und Menschen da nötig ist, wenn die Fürsten einander trotzdem besuchen wollen? Welche Vorrichtungen bei dem Gastgeber, um die Gäste standesgemäß zu bewirten? Wundernehmen, daß die so mühsam zu stande gebrachten Besuche durch ihre Dauer die Geduld und vermutlich auch die Kasse des gastfreiesten unserer Fürsten hundertfach erschöpfen würden? Wiederum, welche reichen Motive der Dichter aus diesen Zuständen mühelos schöpft? Welchen Anreiz sie ihm bieten zu langatmigen Schilderungen der entfalteten Pracht der Gelage und Turniere? Welche Leichtigkeit, Verwickelungen zu schaffen, folgewichtige Begebenheiten herbeizuführen? Als Siegfried zum erstenmal mit seinem Gefolge nach Worms kommt, erkennt die Fremdlinge »Niemand in der Burgunder Land«; auch der vielerfahrene Hagen nicht, der nur aus der Herrlichkeit des Helden schließt, es müsse Siegfried sein. Dafür 27 behält Siegfried Zeit die Hülle und Fülle, um Chriemhild zu werben, »sah er sie gleich noch nie«; sich für seinen Schwager in spe mit den Sachsen und Dänen zu schlagen; die viel heiklere Aufgabe zu lösen, Brunhild von Island für ihn zu erkämpfen. Zu dieser Fahrt muß erst auf dem Rhein fleißiglich ein starkes Schifflein gezimmert werden, »das sie« (und nebenbei ihre Rosse) »tragen sollte hernieder an die See«.

Nun, wie prächtig die Schilderung des Einschiffens:

»Eine Ruderstange Siegfried ergriff.
Vom Gestade schob er kräftig das Schiff.
Gunther, der Kühne, ein Ruder selber nahm,
Da huben sich vom Lande die schnellen Ritter lobesam.«

Und welche holde Unbestimmtheit der Reisebeschreibung:

»Sie führten reichlich Speise, dazu guten Wein,
Den besten, den sie finden mochten um den Rhein.
Ihre Rosse standen still in guter Ruh,
Das Schiff ging so eben, kein Ungemach stieß ihnen zu.«
»Ihre starken Segelseile streckte die Luft mit Macht,
Sie fuhren zwanzig Meilen eh' niedersank die Nacht
Mit günstigem Winde nieder nach der See;
– – – – – – – – – – – – – –
»An dem zwölften Morgen, wie wir hören sagen,
Da hatten sie die Winde weit hinweggetragen
Nach Isenstein, der Veste in Brunhildens Land;
Das war ihrer keinem außer Siegfried bekannt.«

Ihr glücklichen Sänger der Vorzeit! Wie so günstig war euch das Zeichen des Verkehrs, unter dem ihr standet! Wie leicht machte es euch das Metier! Nur dem Lyriker unserer Tage leuchtet noch zuweilen so freundlich sein holdes Licht:

»Saßen all' auf dem Verdecke,
Fuhren stolz hinab den Rhein.« –

Aber wenn wir, die Romanciers von heute, eure depossedierten Epigonen, unsere Helden auf die Reife schicken …

Doch noch halten wir in unseren Betrachtungen längst nicht da, wo wir dies Klagelied anzustimmen nur zu gutes 28 Recht haben, trauernd um die verlorene Freiheit, die Lücken unseres Wissens überbrücken zu dürfen mit einem treuherzigen:

»Was sie für Wege fuhren zum Rheine durch das Land
Kann ich euch nicht bescheiden.« –

Übrigens, um auch das zu erwähnen: unser Epos kennt als Beförderungsmittel auch gelegentlich den Leiterwagen, deren zwölf kaum hinreichen, den Nibelungenhort von dannen zu fahren (eine Behauptung, die man geneigt ist, übertrieben zu finden, wenn man ihn in Wagners Rheingold vor sich aufgebaut sieht); und die Flußschiffe werden manchmal zusammengebunden, z. B. auf der Fahrt Chriemhilds und ihres Gefolges zu den Heunen so viele auf einmal, daß

»Bedeckt war das Wasser von Roß und auch von Mann,
Als ob es Erde wäre.«

Und der dienstwillige Götterapparat der homerischen Epen und der Äneis? In den Nibelungen ist von ihm nichts zu entdecken. Freilich geschehen noch Wunder, aber nur der Tapferkeit und Heldenkraft. Wotan und die anderen Asen haben sich nach Walhall zurückgezogen; höchstens, daß das Christenkreuz die Berg und Flußgeister noch nicht völlig hat bannen können, so daß sie noch hier und da ihr unheimliches Wesen treiben, wie in der wundervollen Episode, wo die Donaunixen Hagen und allen Burgunden den Untergang prophezeien.

Was wir bei den Nibelungen beobachten, gilt für »Gudrun« mutatis mutandis, d. h. daß wir in das Zeichen des Verkehrs, statt des Rosses oder des Flußkahnes, überall das Seeschiff setzen müssen. Im übrigen finden wir die uns wohlbekannte Unbestimmtheit der Lokal- und Zeitangaben:

»Sie hatte tausend Meilen das Wasser fortgetragen
Hin zu Hagens Feste, wie wir hören sagen« –

mit allen für den epischen Gesang so unendlich günstigen Konsequenzen.

29 Und diese Unbestimmtheit wird hier noch größer, da, wie es scheint S. Scherers Geschichte der deutschen Litteratur. S. 14., der Redakteur der Gudrun-Lieder kein Nordmann, sondern ein Süddeutscher, eine Landratte, war. So dürfen wir ihm nicht verargen, wenn er gelegentlich – z. B. bei der Fahrt der Helden nach Irland – von »Reiten« spricht, wo es sich offenbar nur um Segeln und Rudern handelt, dann aber freilich sie nicht reit-, sondern »wassermüde« an das Ziel ihrer Reise gelangen läßt.

Nicht viel anders stellt sich die Sache bei den höfischen Ritterepen der Folgezeit, nur daß hier, wo die freie Erfindung eine viel größere Rolle spielt, der Dichter von seinen besseren, dem inzwischen mächtig gewachsenen Verkehr zu verdankenden geographischen Kenntnissen ausgiebigen Gebrauch macht. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn da so manches der berichteten Abenteuer in dem nun den Abendländern durch die Kreuzzüge erschlossenen Orient lokalisiert ist. So dient Parzivals Vater Gahmuret (Buch I) dem Kalifen von Bagdad und gelangt nach Zazamaur, wo er die Königin Belakane, eine Mohrin, im Kriege unterstützt und zum Dank für seinen Sieg mit ihrer Hand belohnt wird, freilich nur, um sie treulos wieder zu verlassen – wie Äneas seine Dido –; nach Spanien zu gehen und sich dort mit Herzeloide zu vermählen, – offenbar, ohne von der Zweiseelentheorie und Praxis des guten Grafen von Gleichen die mindeste Ahnung zu haben. Bedingen diese Abenteuer weite Seereisen, so kommt denn doch wieder das Roß zu seinem guten epischen Recht, da für den größeren Teil des Gedichtes Frankreich und Spanien die Schauplätze sind, von denen das zweite mit seiner maurischen, von orientalischen Märchen durchdufteten Kultursphäre den Dichter 30 vielfach beeinflußt haben wird. So bei der Beschreibung der Gralsburg im fünften Buch und deren Erklärung aus dem Munde des Einsiedlers Trevrizent im neunten; so bei der der Schloßwunderbauten im Lande des Klinschors und in vielen anderen Partieen. Man sieht: mit dem ausgedehnteren physischen Horizont hat sich auch der geistige des Dichters erweitert, sind ihm neue Motive zugeführt, ist es ihm möglich gemacht, den Teppich seiner Fabel reicher und bunter zu wirken.

Ein Reichtum und eine Neuheit, die für uns Moderne fast erdrückend werden, wenn wir – Tristan, Iwein e tutti quanti beiseite lassend, da sie für unsere Zwecke kaum etwas Neues bieten – zu dem König der italienischen Kunst-Epen-Dichter, zu Ariosto und seinem »Orlando furioso« gelangen. Aber, wie hoch ich auch Messer Ludovicos poetische Kraft und Kunst schätze; wie willig ich einräume, daß er, käme es nur auf das Fabulieren an, im ganzen Umfange der epischen Litteratur kaum seinesgleichen hat: er ist schon deshalb für uns weniger wichtig, weil er – außer etwa in den zahlreich eingestreuten Novellen – nicht aus dem Leben seiner Zeit schöpft, sondern, Bojardos »Orlando inamorato« fortspinnend und sich, wie jener, an die poetischen Volksmärchen von Karl dem Großen und seinen Paladinen haltend, den Boden der Wirklichkeit weniger unter den Füßen verliert, als mit übermütigem Fuße von sich stößt, um sich mit jauchzender Lust in dem blauen Äther des Märchens zu wiegen. Was kümmern ihn, der mit Zeit und Raum so souverän umspringt, mit neckischer Schalkheit den Schauplatz seiner wundersamen Geschichten beständig wechselt, die landläufigen Mittel des gemeinen Verkehres, mit denen doch der alte Homer und das deutsche Volksepos immer auszukommen suchen? Freilich hat er noch die volle ritterliche 31 Freude an dem edlen Roß, um dessen Besitz sich seine Helden und Heldinnen gelegentlich die Knochen willig entzweischlagen; aber sehr viel bequemer ist ihm das Flügelpferd, das den Paladin im Nu aus dem fernsten Orient nach Spanien oder Frankreich trägt, und ohne das er den Kampf mit dem grausen Kraken, den bösen Zauberern und all den Ungetümen, die Wasser, Land und Luft unsicher machen, nimmer bestehen könnte.

Noch flüchtiger als am Rasenden Roland können wir an Tassos »Befreitem Jerusalem« vorübergehen, einem Gedicht, das in seinem phantastischen Teil – soweit es die Verschiedenheit der beiden Dichternaturen zuläßt – so ziemlich dasselbe Gesicht zeigt, wie das seines größeren Vorgängers und in seinem, mit jenem nicht eben erfreulich verquickten, historischen in Vergils Manier eine Vergangenheit schildert, die nur die Gelehrsamkeit heraufbeschwören kann. Dies aber ist das Genre, von dem wir uns ans bekannten Gründen fernhalten.

Wie wir uns von Dante und seiner »Divina Commédia« ferngehalten haben, diesem wundersamsten aller epischen Gedichte, das unter einem heiligeren Zeichen steht als dem des Verkehrs, läßt auch des Dichters skrupulöse Genauigkeit in der Angabe der verschiedenen Etappen seiner Höllen- und Himmelsreise, der Schilderung der Marterhöhlen und Ausmessung ihrer Dimensionen nichts zu wünschen; und gehört immerhin das Emporklettern des Dichters und seines konzilianten compagnon de voyage an dem zottigen Leibe des ungeheuren Lucifer zu einem Fortbewegungs- und Verkehrsmittel, dem wir auf unserem Wege bisher nicht begegnet sind.

Versenkt oder erhebt uns Dante in Regionen, die vom himmlischen Licht verklärt oder von der Glut der Hölle grauenhaft angestrahlt sind, und erhält uns so schwebend 32 in einem wonnesamen oder schauderhaften Traum, so wandern wir in Boccacios »Dekamerone« mit desto sichereren Füßen auf unserer Erde, darum nicht weniger geliebt, weil es auf ihr nicht überall ganz reinlich und oft sogar recht gründlich – oder soll ich sagen unergründlich? – unsauber zugeht. Wie weit in dem ergötzlichen Buche die eigene Erfindung des Autors reicht, wie weit er den fabulierungslustigen Vorgängern tributär ist, geht uns hier nicht an. Zweifellos ist, daß er, so oder so, das Gute selbst erfindend, oder es, wie Fritz Reuter in seinen Läuschen und Riemels, nehmend, wo er es fand, aus einem Strom schöpft, der keinesfalls so mächtig sein könnte, wäre er nicht von Nebenflüssen aus allen Teilen der damals bekannten Welt genährt worden. Die Hauptmasse des Materiales stellt natürlich das Heimatland des Dichters, das beinahe mit jeder seiner berühmteren Städte vertreten ist; aber nicht wenige der Geschichten führen uns auch nach Frankreich, Spanien, England hinüber, nach der afrikanischen Küste, den griechischen Inseln, dem Orient. Welchen lebhaften Verkehr der Nationen das voraussetzt, welche Ausbildung und geschickte Ausnutzung der Verkehrsmittel, trotzdem wir immer noch bei dem Ruder- und Segelschiff, dem Reit- und Lasttier halten – zu denen sich jetzt allerdings der landesübliche Esel gesellt – und sogar recht viele Wege im Dekamerone per pedes zurückgelegt werden, wenn es auch meistens die sehr unwürdiger Nachfolger apostolorum sind –: das alles springt in die Augen. Auf die Wunder der Ritterepen verzichtet der durch und durch realistische, satirische Schalk; und wenn einmal der Zauber hineinspielt – wie in der neunten Novelle des zehnten Tages, wo Messer Torello in seinem Bett von Alexandrien nach Pavia zurückgeschickt wird –, so ist es eben eine Ausnahme.

33 Die dem Gedankengang zuliebe hier vorgenommene Verschiebung der chronologischen Folge mag darauf vorbereiten, daß wir uns weiterhin noch vielfach in Zickzacklinien und wo möglich größeren Sprüngen als zuvor werden bewegen müssen, um mit unserer Aufgabe nur einigermaßen zu Ende zu kommen. Ich möchte diese Unterbrechung zu einer allgemeinen ästhetischen Bemerkung ausnutzen, einem doch möglichen Mißverständnisse vorzubeugen, zu dem die Fassung meines Themas Veranlassung gegeben haben könnte. Ein Mißverständnis wäre es nämlich, anzunehmen, daß der Einfluß des Verkehres, so gewiß er auch immer latent vorhanden ist, sich überall an jedem epischen Produkt mit gleicher Evidenz nachweisen ließe; und ein noch größeres, zu glauben, es müsse mit seiner Ausbreitung eine obligate Erweiterung des epischen Stoffgebietes verbunden sein. Von dem einen wie dem anderen Irrtum müßte uns allein die Betrachtung jenes herrlichen Romans – fast möchte ich sagen: des herrlichsten aller Romane – bewahren, in dem uns Miguel de Cervantes die Thaten des sinnreichen Junkers »Don Quichotte von der Mancha« erzählt. Hier entfernen wir uns, wenn wir von den eingeflochtenen Novellen absehen, die – mit Ausnahme etwa der des Sklaven – den physischen Horizont nicht erweitern, kaum ein paar Meilen von dem Heimatdorfe des Helden; er und sein getreuer Sancho sind die Hauptakteurs, alle übrigen Personen, so viele ihrer auch auftreten, sind Staffage und utilités; während er dem von seinen romantischen Vorgängern abgehetzten Flügelroß im 41. Kapitel des zweiten Teils ein tragikomisches Ende für immer bereitet, sind der edle Rosinante und des Knappen getreuer Grauer die einzigen nennenswerten Vehikel, deren sich der Dichter bedient. Und doch: welche unerschöpfliche Fülle des Geistes, der Ironie, des Spottes, der Satire, des durch Thränen lächelnden Humors! 34 Als sollte durchaus ein Wort Schopenhauers bewahrheitet werden, das dem Roman die Palme zuerkennt, der bei der größten Knappheit des äußeren Apparates die reichste Fülle seelischen Lebens zu entfalten versteht. Scheint ja doch bereits für das Diktum des Frankfurter Weisen der zweite Teil des Don Quichotte Zeugnis ablegen zu wollen, der in dem Maße, wie sich der Schauplatz erweitert, das Angebot der Mittel verstärkt wird – gewährt uns der Dichter doch sogar einmal einen Ausblick auf das Meer mit seinen Galeeren! – hinter dem ästhetischen Wunderzauber des ersten, nach meinem Gefühl wenigstens, nicht unbeträchtlich zurückbleibt, wie denn auch sonst über »Fortsetzungen« das helle Gestirn, das dem Anfang leuchtete, schmerzlich zu verbleichen pflegt.

Über den Fortsetzungen, denen sich in diesem trüben Geschick die Nachahmungen zugesellen, als deren eine – wenn nicht gerade des Don Quichotte, der freilich unnachahmlich ist, so doch früherer sogenannter Schelmenromane der Spanier – der »Gil Blas« des Le Sage von vielen mit einem Rechte angesehen wird, das ich weder erhärten noch bestreiten kann. Auch der ästhetische Wert dieses berühmten, in alle Sprachen übersetzten, trotz gelegentlicher Weitschweifigkeit und der frappanten Ähnlichkeit so mancher der erzählten Abenteuer und der lästigen Wiederholungen der Motive für einen mutigen Leser noch heute genießbaren Romans hat uns hier nicht zu kümmern. Wir haben ihn nur daraufhin anzusehen, welchen Vorteil er etwa aus den Verkehrsmitteln zieht, von denen wir a priori annehmen dürfen, daß wir sie jetzt – zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts – auf einer höheren Stufe finden werden als vorher. Und in der That: die Fülle der vorgeführten Abenteuer, der häufige Wechsel des Lokals wären nicht möglich, wenn wir uns Spanien, auf das der Schauplatz fast ausschließlich beschränkt bleibt, nicht 35 vorstellen müßten als durchzogen von mehr oder weniger guten Landstraßen, auf denen Fußgänger, Reiter auf Pferden oder Eseln, meist mit Maultieren bespannte Reise- und sonstige Wagen einen äußerst lebhaften Verkehr unterhalten. Die Sicherheit der Straßen läßt freilich viel zu wünschen übrig, wie der – auf der vorjährigen Berliner Kunstausstellung von einem spanischen Maler dargestellte – Überfall, den die Räuber, unter die Gil Blas geraten ist, auf die Karosse der vornehmen Dame ausführen, und noch eine lange Reihe ähnlicher Vorkommnisse beweisen.

Die Karosse! Der Reisewagen! Zum erstenmal taucht er hier auf, um durch die Romanlitteratur des ganzen achtzehnten und der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts nicht wieder zu verschwinden, ja, einige der schönsten ihrer Erzeugnisse erst möglich zu machen, so daß man dankbar und freudig in den jauchzenden Ruf einstimmen möchte, mit dem Thümmels »Reise in die mittägigen Provinzen Frankreichs« anhebt:

»Wer sagt mir doch, was in dem Schalle
Des Posthorns und im mut'gen Knalle
Der Peitsche für ein Zauber liegt.«

Ich denke aber weniger an das eben genannte deutsche Werk als an zwei englische, ohne die – besonders das erste – die Reise wohl ungeschrieben geblieben, wenigstens nicht so geschrieben wäre: Lawrence Sternes »Sentimental Journey through France and Italy« und Tobias Smollets »Humphry Clinker«.

Wir sind in die Zeit eingetreten, in der man nicht bloß in Geschäften, das vieldeutige Wort in seinem weitesten Sinne genommen, auf die Reise ging, sondern – was früher doch nur sporadisch geschah – zu seinem Vergnügen, hätte es auch nur in der Befriedigung der Neugier bestanden. Und dann: die große Tour durch Frankreich, Italien, etwa 36 auch Deutschland und weniger bevorzugte Länder hinter sich gebracht zu haben, gehörte damals zum guten Ton, drückte das Siegel auf die feine Bildung des jungen Kavaliers, neben dem der obligate ehrbare Hofmeister oft genug einen schweren Stand haben mochte. Daß zum Reisen jenes zum Kriege dreimal Nötige ebenfalls gehört, gilt bekanntlich leider noch heute, galt aber mit ganz erheblich größerer Wucht zu jener Zeit, wo es mit glatten Chausseen und regelmäßig laufenden bequemen Posten noch gar sehr im argen lag. So waren es denn in erster Linie die Engländer, als die mit dem straffsten Beutel Ausgerüsteten, die den Reisesport in Entreprise nahmen; und auch verhältnismäßig arme Leute, wie Sterne, wollten nicht zu Hause bleiben. Er schifft sich nach Calais ein, und sein erstes Geschäft, nachdem er den Fuß auf den Kontinent gesetzt hat, ist, sich einen Reisewagen zu kaufen. »Denn«, erzählt er, »da man nicht durch Frankreich und Italien ohne eine Chaise reisen kann, ging ich in den Gasthaushof, um etwas der Art, das meinem Zweck entsprach, zu erstehen oder zu mieten. Ein alter desobligeant in der fernsten Ecke des Hofes frappierte mich auf den ersten Blick.« Er steigt ein, zieht den Taffetvorhang zu und schreibt die berühmte Vorrede seines Buches über die verschiedenen Species des genus Reisender, als deren letzte er den sentimentalen, d. h. sich selbst, findet. Ihn, der »den Mann bedauert, der von Bersaba bis Dan wallfahren und jammern kann, daß alles eitel sei, und nicht ahnt, daß eine ungeheure Summe von Abenteuern für den vorhanden, dessen Herz, während er seines Weges zieht, sich für alles interessiert.« Der Leser weiß, wie unser sentimentaler Reisender sein immerhin bedenkliches Programm durchführt. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, eine wieviel größere Chance, solche manchmal nicht gefahrlosen 37 Abenteuer zu erleben, der Reisende in einem desobligeant auf den bösen Wegen von damals hatte. Ohne beides keine höfliche Begegnung mit der reizenden Französin in Calais; keine Wahrscheinlichkeit, aus dem Wagen herauszumüssen, um, bis zu den Knieen im Schmutz, dem Postillon zu helfen, das herabgefallene Portemanteau hinten wieder auf das Trittbrett zu schnallen; kein La Fleur, der auf dem Klepper nebenhertrabt; kein toter Esel am Wege bei Nampont, über den man flennen kann; keine hübschen Wirtstöchter in Montriul, mit denen man schäkert; keine Maria zu Moulines, der man die Thränen, abwechselnd mit sich selber, von den Wangen wischt; endlich keine schöne Piemontesin, der man das eine der beiden Betten in dem einzigen Gastzimmerchen des elenden Wirtshauses oben auf den savoyer Bergen anbietet, während man selbst in das andere schlüpft, und die Kammerjungfer der Dame in den Alkoven verwiesen wird, um zur Unzeit – oder war es zur rechten? – zwischen die beiden nahen Betten zu treten und der witzig-frivolen, geistvoll-sentimentalen, in ihrer Art einzigen Geschichte ein schon von Tausenden beklagtes unverhofftes Ende zu machen.

Wie denn auch Smollets »Humphry Clinker« einzig in seiner Art genannt werden muß. Ich wähle aber diesen Roman zu eingehenderer Besprechung, nicht sowohl, weil er einer der besten, jedenfalls ergötzlichsten ist, die je geschrieben wurden – das würde in ein anderes Kapitel gehören – sondern weil er so völlig unter dem Zeichen des Verkehrs steht, wie er in England – wohl dem damals reichsten und kultiviertesten Lande – sich darbietet. Auch dieser Roman ist eine Reisegeschichte, nur daß hier nicht ein einzelner unterwegs ist, sondern eine ganze, aus Onkel, Tante, Neffe, Nichte und der nötigen Dienerschaft bestehende Ge 38sellschaft. Natürlich wird die Reise, die sich vom Süden Englands bis hinauf nach Edinburg und zurück erstreckt, in einem Wagen zurückgelegt, nicht in dem nur eine Person haltenden desobligeant des sentimentalen Reisenden, sondern einer richtigen, mit vier Pferden bespannten Familienkutsche, deren Miete eine Guinee für den Tag beträgt. Der Neffe und der Diener reiten; die Männer sind sämtlich mit Pistolen bewaffnet.

In dieser Verfassung bewegt sich die Gesellschaft von Ort zu Ort, ihr Quartier auf längere oder kürzere und kürzeste Zeit in einer Stadt, einem fashionablen Badeorte, einem wüsten Torfe, einem Landedelsitz, oder wo immer aufschlagend. Nun aber sind die Abenteuer, die unseren Reisenden begegnen, nur auf Grund dieser Fortbewegungsmethode denkbar und möglich; und, so zahlreich sie sind: der Autor ist, obgleich ein arger Satiriker und grimmer Spötter, dennoch ein Realist vom reinsten Wasser, ja, ein Naturalist von keineswegs laxer Observanz, so daß wir stets die Ueberzeugung haben: alles geht mit völlig rechten Dingen zu, ja, vielmehr: muß unter den gegebenen Verhältnissen so zugehen. Dabei zeigt er in seinen Schilderungen eine Anschaulichkeit, eine Kraft der Plastik, zeichnet dann wieder mit einem so treuherzig-naiven, accuraten Stift, daß wir fortwährend die Bilder, mit denen Chodowiecki seine Reisen oder die Romane seiner Zeit illustriert, vor uns zu sehen glauben. Ich greife auf gut Glück eine Schilderung des Straßenverkehres von London heraus, die nebenbei beweisen mag, was sich die Themsestadt schon damals in dieser Beziehung leisten konnte: »Alles ist Tumult und Hast: man sollte meinen, diese Menschen würden von einem Gehirnfieber getrieben, das ihnen keine Ruhe läßt. Die Fußgänger stürzen dahin, als ob der Gerichtsvollzieher hinter ihnen wäre. 39 Die Lasten- und Sänftenträger laufen Trab mit ihrer Bürde; Leute, die ihre eigenen Equipagen halten, jagen durch die Straßen; selbst einfache Bürger, Ärzte, Apotheker blitzen nur so in ihren Gefährten vorüber. Die Droschkenkutscher machen ihre Pferde dampfen und das Pflaster schlittert unter ihnen. Durch Piccadilly habe ich faktisch einen Wagen im schlanken Galopp fahren sehen. Mit einem Wort: die ganze Nation scheint in Begriff, ihren Verstand zu verlieren.«

Auf der Landstraße sieht es natürlich anders aus. »In Anbetracht des Chausseegeldes, das wir bezahlen müssen,« klagt der kaustische Mr. Bramble, die erste, das ganze humoristische Orchester dominierende Geige, »geben die Wege Veranlassung zu bitterster Klage. Zwischen Newark und Weatherby habe ich von dem Stoßen und Schaukeln mehr gelitten als sonst in meinem Leben, obgleich die Kutsche ungewöhnlich bequem ist und die Postillone es an Sorgfalt nicht fehlen lassen.« Da kann es denn nicht ausbleiben, daß eines der Vorderpferde stürzt, während man in scharfem Trabe einen Hügel hinabfährt, und der Wagen, während der Postillon den rollenden zum Stehen bringen will und zu diesem Zweck seitwärts lenkt, in einen Morast gerät, wo er das Oberste zu unterst kehrt. Ein anderes Mal schlägt in einem reißenden Bach, den man passieren muß, die Kutsche um u. s. w. Bei alledem kommt es, wohlgemerkt, auf das materielle Abenteuer viel weniger an, sondern auf das glänzende Kapital für Geist und Gemüt, das der Autor aus diesem unscheinbaren Material zu gewinnen versteht.

Ich erwähnte vorhin, daß die Männer der Gesellschaft mit Pistolen bewaffnet sind. Das hat seinen guten Grund, denn der Hochstraßenritter, der highwayman, ist hier kein posthumes Phantasiegebilde, wie in einem Roman von Bulwer, sondern eine Realität, mit welcher der Reisende von 40 damals in England sehr ernsthaft rechnen mußte, wie denn auch unser Autor nicht unterläßt, uns ein und das andere Pröbchen von dem Eingreifen der rührigen Gilde in das Verkehrsleben seiner Zeit zu geben. Sie erscheint, wie wir uns erinnern, nicht zum erstenmal auf der epischen Bildfläche: kann sie doch sogar ihr poetisches Bürgerrecht bis auf den Polyphem der Odyssee, als ihren ehrwürdigen Ahnherrn, zurückführen. Es wäre eine interessante Aufgabe, ihren Stammbaum in seinen Verzweigungen und Verästelungen im Verlauf der Zeit zu verfolgen; hier können wir nur konstatieren, daß er in den Romanen des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in der üppigsten Blüte steht, um, wie aus der Wirklichkeit, so aus der Dichtung allgemach zu schwinden mit so manchem anderen kostbaren Requisit der Romantik, das dem geordneten Verkehrsleben weichen mußte.

Aber Smollet war nicht nur auf dem Lande zu Hause; er, der als Schiffsarzt Westindien und andere englische Kolonien kennen gelernt hatte, war es auch auf der See und in eminenter Weise, die ihn in den betreffenden Partien seines »Roderic Random« zu einem der Väter und zugleich ausgezeichnetsten Vertreter des Seeromanes werden läßt, in dessen Fahrwasser dann später die Cooper, Marryat, Eugen Sue und sonstige dii minorum gentium munter segeln.

Zu dem Genre Seeroman wären auch in gewissem Sinne bereits Daniel Defoes »Robinson Crusoe« und Swifts »Gullivers Travels« zu rechnen gewesen; aber des ersten erzieherisch-utopistische, des anderen rein satirische Tendenz führen zu weit ab von den Wegen der Wirklichkeit (ich meine der romanhaften, die auf Wirklichkeit fußt), als daß sie uns für unseren Zweck viel bieten könnten. Der eigentlich so zu nennende Seeroman tritt erst jetzt in seine halkyonischen 41 Tage: lediglich eine Folge des machtvoll sich hebenden Schiffsverkehres mit den Freuden und Leiden, die er in Krieg und Frieden im Gefolge hat. Und indem er nun an den entlegensten Küsten seine Anker wirft und die fernsten Länder erschließt, lockt er auch den Romancier hinter sich her, dem es nicht gerade die See angethan hat, sondern vielleicht nur der Wechsel des Lokales genehm ist, weil er so besser auf seine poetische Rechnung kommt. Und der nun das Idyll von »Paul und Virginie« in einem etwas forciert sentimentalen Lichte, das ein Reflex aus Rousseaus »Nouvelle Heloïse« ist, auf einer Insel des Südmeeres spielen; »Manon Lescauts« allzu bewegliches Herz erst in der steinigen Wüste um Neu-Orleans zur wohlverdienten Ruhe gelangen läßt; uns mit »L'amour des deux Sauvages dans le désert« zu rühren sucht; den »Letzten der Mohikaner« in seinem Urwalde aufstöbert; in glutvollen Farben uns »Lebensbilder aus beiden Hemisphären« vor die staunenden Augen zaubert, die wir noch weiter aufreißen, als wir entdecken, daß wir in dem rätselhaften Autor einen Landsmann zu verehren haben; mit den »Regulatoren in Arkansas« uns vertraut, mit erotischen Jagdgeschichten, in denen er das bekannte Latein nicht spart, angenehm gruseln macht.

Und dann du, der von sich sang: »I have loved thee, Ocean«; du, dem das Meer, das du so liebtest, die kostbarsten poetischen Perlen verschwenderisch bot; du, Dichter des grenzenlos genialen »Don Juan«, – wie dürfte man dein vergessen, wenn von denen gesprochen wird, die unter dem Zeichen des Verkehrs, wie ihn das Schiff vermittelt, erzählt und gesungen haben! Des Segelschiffes, wohlgemerkt! Noch steigt am Ende der Periode, bei der wir halten, nur hier und da am Horizonte aus dem Schlot eines Dampfers ein schnell verschwindendes Wölkchen auf.

42 Unter dem Zeichen des Seeschiffsverkehres im strikteren Sinne stand die deutsche Epik weder zu jener Zeit, noch – wenn wir von Gudrun absehen wollen – zu einer früheren und steht, um das gleich zu sagen, – bis auf Ausnahmen, die in dem Ganzen fast verschwinden – nicht unter ihm bis auf den heutigen Tag. Wie es nicht anders sein kann bei einem Volke, das, trotz seiner immerhin ausgedehnten Nord- und Ostseeküsten, eben ein Binnenlandsvolk ist, wenigstens bisher war und – unsere Kolonialbestrebungen müßten denn mit ganz anderen Erfolgen als bisher gekrönt werden – auch in Zukunft bleiben wird. Daher nun unser gutes Land den lieben Nachbarnationen zum Tanzplatz des Mars ausgesucht schien zu jeder Zeit, zu keiner mehr als jener, die uns Christoffel von Grimmelshausen in seinem »Abenteuerlichen Simplicius Simplicissimus« mit einer Anschaulichkeit und Wahrheit geschildert hat, die nicht zu übertreffen sind; einer treuherzigen Einfalt und gelegentlichen schalkischen Laune, die uns hier und da wohl lächeln machen würden, hätten wir nicht viel öfter Neigung, blutige Thränen zu weinen über das Leid, mit dem gemeine Raubsucht und religiöser Fanatismus den Deutschen ungestraft heimsuchen durften, weil er verlernt hatte, sich auf sich selbst zu besinnen und auf das, was er kann, wenn er will. So läßt uns denn das merkwürdige Buch tief in den Hexenkessel blicken, in dem die – leider nicht hinten weit in der Türkei – aufeinander schlagenden Völker durcheinander brodeln, dem Autor Gelegenheit gebend, uns seine intime Kenntnis, nicht nur der nord- und südwestlichen Provinzen des Deutschen Reiches bis nach Sachsen und Westfalen zu entfalten, sondern uns auch nach Paris zu begleiten (wohin er als Soldat nicht einmal gekommen war), um uns aus der Seinestadt, einem Babel offenbar schon damals, diverse Alkoven 43geschichten zu erzählen, um die ihn der Autor der Demi-Vierges beneiden könnte.

Wir dürfen an den übrigen, demselben Verfasser zugeschriebenen, aber wohl kaum oder doch nur zum geringsten Teil von ihm herrührenden sogenannten »Simplicianischen Schriften« um so ruhiger vorübergehen, als wir in ihnen mehr oder weniger nach Wolkenkuckucksheim geraten, d. h. für unsere Zwecke wenig oder keine Ausbeute finden, ebensowenig wie in den übrigen deutschen Romanen des siebzehnten Jahrhunderts, von denen man, wie Freiligrath von der Steppe, sagen kann:

»Wer sie durchritten hat, den graust.«

Wenigstens bekennt das der einzige, der es gewagt haben dürfte: L. Cholevius; oder ich übersetze mir doch so sein melancholisches Wort: »Man kann in diesen Schriften tagelang lesen, ohne daß man auf ein anregendes oder unterhaltendes Kapitel stößt.« Es giebt gewisse Dinge, die ich aufs Wort glaube.

Den Binnenlandscharakter, um mich so auszudrücken, verleugnet, wie ich bereits bemerkte, der deutsche Roman auch in der Folge nicht. Uns fehlte eben, was der alternde Goethe gelegentlich des Vicar of Wakefield als einen Vorzug des Buches hervorhebt: »Die Familie, mit deren Schilderung er (der Autor) sich beschäftigt, steht auf einer der letzten Stufen des bürgerlichen Behagens und doch kommt sie mit dem Höchsten in Berührung; ihr enger Kreis, der sich noch mehr verengt, greift durch den natürlichen und bürgerlichen Lauf der Dinge in die große Welt mit ein; auf der reichen bewegten Woge des englischen Lebens schwimmt dieser leichte Kahn und in Wohl und Weh hat er Schaden oder Hilfe von der ungeheuren Flotte zu erwarten, die um ihn hersegelt.«

44 Mußte er so klagen, dessen Leben denn doch nach unseren Begriffen ein so »reichbewegtes« war, – welche Jeremiaden hätten erst die Gellert, Wieland, Engel, Miller, Müller, Krüdener, Jakobi, Nicolai und sie alle anstimmen können, die das Schicksal zum Teil in noch viel engere Rahmen gewiesen hatte, so eng manchmal wie der des Schulmeisterleins Wuz bei Jean Paul; und die nicht, gleich ihm, prometheische Titanen waren, sich Menschen zu schaffen nach ihrem eigenen hohen Bilde. Wie winzig der Erdenkreis, auf dem sich »Werthers Leiden«, »die Wahlverwandtschaften«, selbst »Wilhelm Meister« abspielen; und welch ein unermeßlicher geistiger Himmel überwölbt diese Romane, welche wundersamsten Blicke in die Tiefe des menschlichen Gemütes gewähren sie! Großthaten epischer Kunst, denen wir Späteren, wenn wir klug sind, wohl nacheifern, ohne hoffen zu dürfen, in ihren eigensten Schönheiten an sie heranzureichen, trotzdem – vielleicht weil – auch wir jetzt von einer »bewegten Woge des Lebens« sprechen können, die uns umspült; und die Gegenwart mit dem Reichtum und der virtuosen Ausnutzung ihrer Verkehrsmittel, von denen selbst ein Alexander von Humboldt noch vor zwei Menschenaltern sich nichts träumen ließ, uns Perspektiven in die weite Welt geöffnet und erschlossen haben, die uns zuzurufen scheinen:

»Kühne Seglerin, Phantasie,
Wirf ein mutloses Anker hie!«

Denn jetzt nichts mehr vom Schalle des Posthornes und dem Knalle der Peitsche: »Ein Bahnhof! Ein Hafen! Ein Eisenbahnzug, der pfeift und seine erste Rauchwolke speit! Ein großes Fahrzeug, das sich langsam auf die Reede hinausschiebt, aber dessen Seiten vor Ungeduld zittern und das nun fliehen wird weit, weit nach dem Horizont zu neuen Ländern! Wer kann das sehen, ohne vor Neid zu beben, 45 ohne in seiner Seele die schaudernde Begier langer Reisen erwachen zu fühlen!«

Und doch kann man nicht eben sagen, daß Maupassant, dessen Buch »Au Soleil« – übrigens nur eine Beschreibung der Reise nach Algier – wir das hübsche Wort entlehnen und seine specielleren litterarischen Vorfahren von Balzac an, um nicht weiter zurückzugreifen, und ebenso seine gleichzeitigen Mitstrebenden von der Leichtigkeit, sein Zelt abzubrechen und in die Ferne zu tragen, einen unbescheidenen Gebrauch gemacht hätten. Im Gegenteil: man befindet sich im französischen Roman fast ausschließlich auf französischem Boden und sogar zumeist auf dem Pariser Makadam. Weshalb auch in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt! Weshalb nicht zu Hause bleiben und sich redlich nähren, wenn es an Nahrungsstoff nimmer gebricht! Er ist – abgesehen von den Romanen des gewaltigen Zola, der uns stets mit einem neuen gigantischen Vorwurf überrascht, und einigen anderen rühmlichen Ausnahmen – ein wenig einförmig, dieser Nahrungsstoff, gewiß! Toujours perdrix! Aber heute bratet, morgen dämpft man sie, tischt sie übermorgen in einer noch nicht dagewesenen pikanten Sauce auf. Hauptsache ist, daß das alte Gericht den Gästen immer wieder mundet und zu diesen Gästen nicht blos die lieben Landsleute gehören, sondern die Kostgänger sich von allen Enden und Ecken der civilisierten Welt zur Tafel drängen, – nicht zuletzt die Deutschen.

Man glaube nicht, daß ich des französischen Romans spotten will! Ich bin vielmehr der Meinung, daß, wie jeder ordentliche Mensch, so auch der Romancier sich am besten steht, wenn er sich darauf beschränkt, das zu machen, was er gut machen kann. Und daß die französischen Romanciers ihre Sache gut machen: ich wäre der letzte, es zu 46 leugnen. Ich und wir alle haben ihnen so viel zu danken! Und mancher von uns wahrlich mehr, als er eingestehen möchte oder dürfte. Aber gilt, was ich hier von der Weisheit gesagt habe, mit der sich die französischen Autoren auf ihre heimische Stoffwelt beschränken, nicht ebenso von der englischen Novellistik, die uns mit der ewigen Wiederholung der identischen Motive oft bedenklich auf die Nerven fällt? Von der russischen, der skandinavischen, der italienischen, schließlich mehr oder minder von den Romanlitteraturen aller Kulturvölker, deren Produkte den Zauberreiz, den sie auf uns üben, oft weniger der Kunst der Verfasser verdanken als dem uns befremdenden Lokalkolorit, welches den naiven Leser darüber wegtäuscht, daß ein Pferd immer ein Pferd bleibt, auch wenn es Cavallo genannt wird?

Wenn sich die Sache aber so verhält, wo bleibt die Einwirkung des Verkehrszeichens, unter dem wir tatsächlich stehen, und das sich sonst in jeder Lebenssphäre so eindringlich geltend macht, wo bleibt diese Einwirkung auf die epische Dichtung?

Die Antwort dürfte sein: sie ist, wenn sie auch nicht augenfällig zu Tage liegt, überall latent vorhanden; und für den, der sie sucht, unschwer nachzuweisen in der Gemeinschaftlichkeit des Kulturideals, die sich herausstellt, wenn wir der Sache auf den Grund gehen, und die ohne den beständigen intercourse und Kontakt der Nationen schlechterdings unmöglich wäre, wie sie denn deren schönste Frucht ist. Man untersuche daraufhin nach ihrem politischen, ethischen, socialen Glaubensbekenntnis so verschiedene Schriftsteller, wie etwa unsern Gustav Freytag und Emile Zola, oder Tolstoi und Eliot, und man wird zu seiner freudigen Überraschung finden, daß sie in ihren verschiedenen Idiomen zu dem einen identischen Gott der Humanität beten.

47 Aber nicht allein bei den großen Fragen der Menschheit, in deren Beantwortung sich die vorgeschrittenen Geister zu allen Zeiten begegneten, zeigt die moderne Epik in ihren sämtlichen Erzeugnissen eine sich immer steigernde Konvergenz; auch in dem Kleinkram der Sitten und Gebräuche, über die eine Verständigung noch viel schwieriger ist, gleicht der Weltverkehr die trennenden Unterschiede immer mehr aus. Gehört doch schon ein Kennerauge dazu, auf der Promenade oder an der Table d'hôte eines großen Badeortes die verschiedenen Nationalitäten, auch nur physiognomisch, auseinanderzuhalten, so daß die Zeit nicht mehr unabsehbar, vielmehr bereits gekommen scheint, wo bei den civilisierten Völkern Europas und Amerikas eine family likeness die Regel ist, wie unter den Kindern des braven Mister Primrose. Die odysseeische Kenntnis fremder Länder, Städte und Sitten, die im vorigen Jahrhundert noch als Privileg verhältnismäßig weniger, besonders Wohlsituierter war, verschaffen sich heute Tausende und Tausende mit dem Aufwand oft recht bescheidener Mittel; der Handwerker von heute weiß, wenn nicht durch Autopsie, vermittelt durch socialdemokratische und andere Kongresse, so durch die Lektüre der Zeitungen mehr von den ökonomischen und sittlichen Zuständen der anderen Nationen als vormals so mancher Gelehrte. Kann es uns da wundernehmen, wenn der Roman, das Spiegelbild des Lebens, eine internationale Physiognomie gewinnt? Wenn ein Turgenjeff, Russe vom Scheitel bis zur Sohle, wie er war, seine Bücher für mindestens drei Nationen zugleich schrieb? Eine Amerikanerin, wie die geistvolle Julien Gordon, ihre Novellen bald in ihrem heimischen New-York, bald in Paris oder Petersburg spielen läßt? Du Maurier in seiner famosen »Trilby« uns lockere Pariser Künstlerateliers und steifleinene Londoner drawingrooms mit den echtesten Lokalfarben ausstatten kann? Eine Ossip Schubin die allerorts- und nirgends-Gesellschaft der europäischen tip-top-Salons, ihre Domäne, überall sucht und findet? Der Franzose Bourget in Rom freilich nicht mehr die Herrin der Welt, aber eine »Kosmopolis« sieht? Und sein Landsmann Zola uns durch die Straßen, Plätze und Gärten der ewigen Stadt, durch ihre alten und neuen Trümmer, die Audienzzimmer der Kardinäle, die Vorgemächer des Vatikans bis in die Gegenwart des Heiligen Vaters mit einer Sicherheit und intimen Kenntnis der einschlägigen Verhältnisse und betreffenden Personen führt, als hätte er nicht drei Wochen, sondern sein Leben lang römische Luft geatmet? Und giebt es einen frappanteren Beweis der unwiderstehlichen Macht des Weltverkehrs auch für die epische Dichtung als Romanbibliotheken wie die von Engelhorn, wo die langen Reihen der rotuniformierten Bände sich aus aller Herren Ländern rekrutieren und die einzelnen hier, nachdem die Übersetzung die linguistischen Unterschiede getilgt hat, cum grano salis alle dasselbe in derselben Sprache zu sagen scheinen?

Damit steht es nun durchaus nicht in Widerspruch, ist vielmehr nur eine andere Folge des modernen Weltverkehrs, wenn es dem einen oder dem anderen Autor, wie dem Junker Karl von Horst, zu eng in seinem Heimatschloß wird und er, sich Ruhe zu reiten, den Pegasus hinaus ins Weite spornt; ein Daudet seinen köstlichen »Tartarin von Tarascon« nach Algier ziehen läßt oder ihn uns »Sur les Alpes« schildert; ein Mark Twain seine »Innocents« auf einen »Trip abroad« schickt; ein Kipling oder Crawford uns glauben machen möchten, daß an den Ufern des Ganges und am Fuße des Himalaja denn doch noch Dinge geschehen, von denen ein occidentalisches Gehirn nichts träumt; ein 49 Loti uns mit seinem »Frère Yves« und seinem »Matelot« über alle Meere schickt; ein Rudolf Lindau, Konrad Telmann, eine Gabriele Reuter unsere Novellistik mit Motiven aus China und Japan, Sizilien und Korsika, Ägypten und Argentinien bereichern.

Und ganz gewiß ist es doch eine unabweisliche Konsequenz des Verkehrs von heute, daß seine Mittel: der Dampf und die Elektricität, in den Romanen wie Essen und Trinken frei verwandt werden und ihren Verfassern eine Welt früher nicht gekannter Anregungen bieten, Kombinationen ermöglichen. Ich erinnere mich noch heute des gewaltigen Eindruckes, den der Tod des Mister Carker, des Schuftes in »Dombey and Son«, auf mich machte, als er in der Nacht die glühenden Augen der Lokomotive sich näher und näher kommen sieht; wie der Vogel vom Blick der Schlange, so von ihnen gebannt, auf den Schienen stehen bleibt und von der Lokomotive zermalmt wird. Das war, wenn ich nicht irre, am Ende der vierziger Jahre. Und noch heute, wo kein Kind sich mehr vor der Dampfmaschine fürchtet, – wie könnte man sich des Grausens erwehren bei der Schilderung des führerlos in die Nacht hineinrasenden Eisenbahnzuges, die das Finale von Zolas »La Bête humaine« bildet? Und welche Fülle von freundlichen und schmerzlichen, ergötzlichen und peinlichen Scenen des Wiedersehens, der Trennung, des unverhofften Sichfindens, des Überrascht- und Ertapptwerdens machen das Dampfroß, das Dampfschiff, der Telegraph, das Telephon nicht sowohl möglich als – ich möchte sagen – obligatorisch? Hier ins Detail gehen, hieße, Wasser in ein Sieb schöpfen.

Nun sollte man annehmen, auch der ausschweifendsten Phantasie müßte ein solcher Verkehrsapparat zu ihren Gebilden genügen. Und doch ist das ein Irrtum; und doch 50 sucht sie, wie in den primitiven Zeiten der Epik, die Erdenschranken weiter hinauszuschieben, wiederum durch Wunder, nur daß es nicht mehr Götterwunder, sondern Wunder der Technik sind. Einer Technik, die Leistungen fertig bringt, deren Vater vorläufig der sehnsuchtvolle Wunsch, deren Mutter die träumende Hoffnung ist. Dergleichen liest sich ganz ergötzlich, wenn, wie in Jules Vernes pseudowissenschaftlichen, höchst unterhaltenden Phantastereien, die Schellenkappe des Humors dazu ironisch klingelt, wirkt aber unerfreulich, wenn man mit ernsthaft gemeinten Helden auf lenkbaren Luftschiffen umhersegeln und andre halsbrecherische Zukunftstücke vorzunehmen gezwungen werden soll, wie in Conrads »In purpurner Finsternis« oder des Dänen Otto Moeller »Gold und Ehre«.

Nun ein allerletztes Zeichen des Zeichens des Verkehres, unter dem die epische Dichtung von heute steht. Man fürchte nicht, daß ich jetzt auch noch mit dem Fahrrad kommen werde! Bislang hat es seine epische Rolle nicht angetreten; aber hier haben wir es wohl nur mit einer Frage vermutlich allernächster Zeit zu thun. Wenigstens behauptet einer meiner jüngeren Freunde, der ein gewaltiger Radler vor dem Herrn ist: er würde keine Dame heiraten, die dem Radsport nicht ebenso enthusiastisch huldigte wie er und ihm ehekontraktlich verspräche, die Hochzeitreise mit ihm auf dem Rade zu machen. Welche Perspektive thut sich da vor uns auf, besonders, wenn wir die erbliche Belastung mit in Rechnung bringen!

Aber ich wollte von etwas anderm sprechen.

Es ist kein halbes Jahrhundert her, da durfte Karl Gutzkow Romane in neun Bänden schreiben, ohne seine Leser – sie hätten denn zu dem Konventikel der Grenzboten gehört – zur haarsträubenden Verzweiflung zu bringen. Als 51 ich in den sechziger Jahren den gewagten Ausspruch formulierte: gute Romane müßten lang sein, und mit Feuereifer die Theorie praktisch durch vierbändige Romane zu erhärten suchte, nannte mein lieber Berthold Auerbach das »unbändig« und meinte, aller guten Dinge seien ihrer drei, weil er selbst sich mit drei Bänden begnügte. Heute herrscht unumschränkt der Einbänder, den man auf dem Bahnsteig für eine Mark erstehen, bequem in die Tasche stecken und ebenso zwischen Anfangs- und Endstation der Fahrt durchblättern kann.

Ob zum Vorteil oder Nachteil der Erzählungskunst? Ein andrer mag die Frage entscheiden. Der dann auch, ausgestattet mit größerer Gelehrsamkeit als ich – wozu nebenbei herzlich wenig gehört – die flüchtige Skizze, die ich hier geboten habe, zu einem umfang- und farbenreichen Gemälde ausweiten möge. Mich dünkt, es müßte eine dankbare Aufgabe sein.

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