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E s waren ein paar heiße Monate – die Monate Juni und Juli des Jahres achtzehnhundertneunundvierzig. Von dem blauen Himmel schien die strahlende Sonne auf die rauschenden Wälder, die wogenden Saatfelder, die grünen Rebengärten des paradiesisch schönen Landes; aber durch dieses Paradies tobte des Krieges grimme Furie. In den Wäldern und Rebenhügeln knallten die Büchsen, die stillen Berge hallten das Echo des Kanonendonners wieder, Rosseshufen zerstampften unbarmherzig das goldene Korn und die Haidelerche stieg zu den Wolken empor und trug auf ihren Flügeln zu den Wolken das Blut, das aus diesem Kampf der Brüder gegen Brüder in ihr friedliches Nest gespritzt war.
Es waren ein paar heiße Monate – nicht zum wenigsten heiß für die todesmuthige Schaar, die unter Degenfeld's und Wolfgang's Führung sich dem übermächtigen Feinde entgegengeworfen und ihm mit Verlust so manches wackern Burschen unter unsäglichen Strapazen und Gefahren, oft dem beinahe sicheren Verderben kaum entrinnend, jeden Fuß breit Boden, der sich nur menschenmöglicherweise vertheidigen ließ, streitig gemacht hatte. Immer die letzten in dem Rückzuge, immer die ersten vor dem Feinde, waren diese Braven oft Tage lang von aller Verbindung mit ihrer Armee abgeschnitten gewesen, und wenn sie auch einmal in das Hauptquartier kamen, so war es fast nur, um die Verwundeten abzuliefern, neue Munition zu holen und sich dann wieder auf ihren gefährlichen Posten zu begeben, auf den man sie gern und willig ziehen ließ.
Eine wunderliche Schaar! sehr wenig parademäßig, aber für das Auge des Kenners tüchtig genug: trotzige, von Sonne, Staub und Schweiß geschwärzte Gesichter, kräftige Gestalten in zerlumpten Blousen und zerfetzten Stiefeln, die Patronentaschen voller als die leichten Ränzel, mit denen kaum der dritte Mann versehen war, die treue Büchse auf der Schulter, wie es dem Träger gerade bequem war, geräuschlos, schnellen, unermüdlichen Schritts – so zogen sie beim ersten Morgengrauen durch die dampfenden Schluchten in die Berge, die oft schon wenige Stunden später der Schauplatz des grimmigsten Kampfes wurden.
Auch war die »Brigade Degenfeld« in den jenseitigen Reihen wohl bekannt. Man hatte herausgebracht, daß jenes gefürchtete kleine Corps, das immer zur ungelegensten Zeit auf dem Punkte, wo es am wenigsten zu erwarten stand, mit solcher Bravour angriff und sich stets die Rückzugslinie offen zu halten wußte, von Officieren, die zur Revolutionsarmee übergegangen waren, geführt werde; man hatte sofort auf Degenfeld und Wolfgang gerathen; ausgesandte Spione hatten die Vermuthung bestätigt. Seitdem entbrannte jedes Mal, so oft die »Brigade Degenfeld« in's Gefecht kam, ein ganz besonderer Wetteifer unter den in's Feuer commandirten Bataillonen der Regulären. Es hieß, die Officiere hätten sich das Wort gegeben, »die Ausreißer« lebendig oder todt zu fangen. So wenigstens sagten Gefangene aus, die man bei verschiedenen Gelegenheiten gemacht hatte. Besonders erbittert sei der Commandeur des neunundneunzigsten Infanterieregiments, Obrist von Hohenstein. Er hatte gegen seine Officiere geäußert, daß man ihm die Schande, einen Verwandten unter der republikanischen Canaille zu haben, nicht anrechnen möge; und den Soldaten vor dem letzten Gefechte gedroht, Den, welchen er nicht seine Schuldigkeit thun sehe, »mit seiner eigenen Spadille über den Haufen zu stoßen.« Sie hätten sich deshalb gar nicht ungern gefangen nehmen lassen; so, wie sie, würden es noch gar Viele machen, wenn die Furcht sie nicht hielte.
»Sie sollen uns nicht lebendig fangen, Wolfgang,« sagte Degenfeld, dem Freunde die Hand auf die Schulter legend.
»Und sollten wir uns wie Brutus und Cassius in unsre Schwerter stürzen,« erwiderte Wolfgang lächelnd.
»Hätten wir es doch nur mit einem Cäsar zu thun!« entgegnete Degenfeld seufzend; »da wäre der Tod weniger bitter. Sie wissen: ich würde einem Cäsar freilich nicht huldigen, aber ihm doch mit einer gewissen Beruhigung die Welt räumen, die für freie Seelen keinen Platz mehr hat. Ja, die Sache recht betrachtet, wäre ein Cäsar vielleicht ein Segen für dieses geliebte vielköpfige Ungeheuer von Vaterland.«
»Lassen Sie das nicht unsere Freunde drüben hören,« sagte Wolfgang, auf Münzer und Cajus deutend, die in einiger Entfernung unter einem Baum lagen und sich in leisem Tone unterhielten.
Ein Mann in einer Blouse, den die dreifarbige Schärpe, die er um den schlanken Leib gegürtet hatte, als Officier bezeichnete, trat in straffer militairischer Haltung, die Hand an dem zerknitterten Calabreser, auf die Beiden zu und sagte: »Verstatten der Herr Major –«
»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, Herr Lieutenant?« fragte Degenfeld lächelnd.
»Danke, Herr Major, habe noch das Gewehrputzen zu beaufsichtigen. Wollte mir auch nur erlauben zu melden, daß die drei Leute von den Neunundneunzigern ihre Dienste anbieten. Es sind tüchtige Leute, Herr Major, und wir haben für unsren letzten Verlust keinen Ersatz gehabt.«
»Was meinen Sie, Wolfgang? fragte Degenfeld.
»Ich glaube, wir können uns ganz auf Freund Rüchel verlassen,« erwiderte Wolfgang.
»So nehmen Sie sie in Ihre Compagnie, Rüchel,« sagte Degenfeld; »aber beobachten Sie die Leute genau; stellen Sie sie das nächste Mal an einen gefährlichen Posten; wenn sie sich bewähren, tant mieux – desto besser,« verbesserte sich Degenfeld, als er bemerkte, daß Rüchel bei diesen Worten einen fragenden Blick auf Wolfgang richtete.
»Zu Befehl!« sagte Rüchel, die Hand wieder an seinen Calabreser legend und auf den Hacken Kehrt machend.
»Es ist wunderlich,« bemerkte Degenfeld, als Rüchel gegangen war, »wie fest uns doch der alte Zopf im Nacken hängt. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, diesen Mann, dessen militairisches Talent ich bewundere, dessen gute, ja glänzende Eigenschaften ihn uns so lieb und werth gemacht haben, als Officier anzusehen; warum? weil ich ihn in der Commisuniform des Unterofficiers kennen gelernt habe und seine Ausdrucksweise gerade nicht die eleganteste ist. Und geht es ihm selbst anders? kann er sich dazu erheben, sich als unseres Gleichen zu betrachten, trotzdem wir ihn doch wahrlich als unseres Gleichen behandeln? Wenn wir, die wir doch wenigstens den guten Willen haben, vernünftige Menschen zu sein, so unvernünftig sind; was soll man denn von den Anderen erwarten? Ich fange nächstens an einzusehen, daß Ihr Balthasar mit seiner Theorie von der stillen Revolution recht hat. Wir Andern können uns nur gegenseitig todtschlagen, ohne uns zu bessern und zu belehren.«
»Das wäre nun freilich wieder Cajus' Theorie,« sagte Wolfgang; »oder behauptet er nicht, daß ein Geschlecht, welches nicht zu belehren und zu bessern sei, eben einfach todtgeschlagen werden müsse?«
»Und so wird es auch wohl geschehen,« sagte Degenfeld; »dies verderbte Geschlecht wird in der Wüste der Revolution umkommen, damit die nachwachsende Generation von dem gelobten Lande der Freiheit fröhlichen Besitz ergreifen kann. Sie, liebster Wolfgang, rechne ich schon zu dem neuen Geschlecht; Sie sind schon ein moderner Mensch; mit uns alten Romantikern aber ist nichts zu machen; die lange Gewohnheit, uns, das heißt: das eigene, winzige Ich als den Mittelpunkt anzusehen, um den sich Sonne, Mond und alle Sterne drehen, hat uns ausgehöhlt und unser Nervensystem zerrüttet. Wir sind zu Nichts mehr gut, als um umgehauen und in den feurigen Ofen der Weltgeschichte geworfen zu werden.«
Herr von Degenfeld sagte das Alles in einem scherzhaften Ton, durch welchen die Melancholie einer ernsten, entmutigenden Ueberzeugung nur zu deutlich hindurchklang. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in dieser Weise gegen Wolfgang äußerte. Wolfgang hatte mit tiefem Schmerze diesen tragischen Zug in dem Charakter des so hochverehrten Mannes immer deutlicher hervortreten sehen, und es war ihm jetzt eigentlich erst klar geworden, wie richtig Herr von Degenfeld sich beurtheilt hatte, wenn er sich die Fähigkeit, eine große Rolle in der Revolution zu spielen, absprach. Er war ein Revolutionair im Geiste; aber nicht mit dem Herzen, nicht mit der Phantasie und Leidenschaft, nicht im Blut und in den Nerven. Seine tiefe Einsicht in die Schäden des alten, verrotteten Systems, die persönliche Verfolgung, der er sich durch seine tapfern Schriften ausgesetzt hatte, zuletzt seine innige Freundschaft zu Münzer hatten ihn in den Kampf geführt, der in einem so jähen Widerspruche mit seinen friedlichen Neigungen und der gelehrten Muße stand, für die er sich vorzugsweise organisirt wußte. Um so größer aber war Wolfgang's Bewunderung des trefflichsten Mannes. Wolfgang, und Wolfgang allein, wußte, was dieser schönen harmonischen Seele die Gelassenheit kostete, mit der sie alle blutigen Consequenzen einer theoretischen Ueberzeugung trug.
Es war wohl ein wahlverwandtschaftlicher Zug, der Degenfeld an Wolfgang's Liebling, dem guten Balthasar, ein so großes Wohlgefallen finden ließ. Stundenlang konnte er sich auf dem Marsche oder im Lager mit diesem »modernen Sokrates,« wie er ihn scherzend nannte, unterhalten. Er rühmte die Fülle von Kenntnissen, die Balthasar bei seinem einsamen Studium sich erworben hatte, ebenso wie seine kindliche Herzensreinheit und unendliche Güte. »Vor dem Manne müssen wir Alle schamroth werden,« sagte er oft zu Wolfgang; »er ist in jedem Augenblick, was wir in unsern besten Stunden zu sein wünschen. Ich würde ihn um den Himmel in seinem Gemüthe beneiden, wenn ich nicht fürchten müßte, durch diese Regung den letzten Rest der Achtung bei Cajus einzubüßen.«
Cajus machte in der That aus seiner Verachtung Balthasars kaum ein Hehl, obgleich er sich freilich gegen Degenfeld und Wolfgang jeder directen Aeußerung enthielt. Desto freier äußerte er sich gegen Münzer. Er nannte Balthasar »einen rührseligen Schwärmer, den rechten Gefährten für solche Ideologen wie Wolfgang und Degenfeld.« Er behauptete, daß es ein Unsinn sei, einen Menschen mit in's Feld zu nehmen, bei dessen bloßem Anblick schon die Leute den kriegerischen Muth vergäßen.
Ob Münzer, wie es manchmal schien, die Antipathie gegen Balthasar wirklich theilte, oder ob er dieselbe nur zum Vorwand nahm, sich öfter aus der Gesellschaft der Freunde zurückziehen zu können – Münzer war im Verlaufe dieser Wochen trotz des eigentlich beständigen Beisammenseins, trotzdem sie so viele Gefahren gemeinsam bestehen mußten und bestanden, immer düsterer, immer zurückhaltender, immer einsamer geworden. Nur in Cajus' Gesellschaft schien er sich wohl zu fühlen, wie denn auch dieser kalte verschlossene Mann nur an Münzer ein wärmeres Interesse zu nehmen schien. Münzer hatte es ausgeschlagen, in dem kleinen Corps, welches an tüchtigen Officieren empfindlichen Mangel litt, irgend etwas Anderes zu sein, als gemeiner Soldat, während selbst Cajus die Führung einer Abtheilung übernommen hatte – wozu ihn allerdings seine großen militairischen Gaben vollkommen berechtigten. Auch an den Berathungen nahm er meist nur schweigend Theil; nur hin und wieder sprach er in wenigen Worten seine Ansicht aus, wobei man bemerken konnte, daß er jedes Mal einer etwa abweichenden Meinung, die Cajus aufgestellt hatte, den Vorzug gab. Wolfgang konnte sich durch dies Alles nicht persönlich gekränkt fühlen, denn es war zu augenscheinlich, daß Münzer's Seelenleiden die hauptsächliche, wenn nicht die einzige Ursache der Zurückhaltung war, die er gegen seine Freunde an den Tag legte. Hatten doch die innern Kämpfe selbst sein Aeußeres auf eine unheimliche Weise verändert. Den herrlichen Kopf, den er früher so stolz in den Nacken warf, vorübergebeugt, die sonst so strahlenden Augen düster auf den Boden heftend, – so schritt er auf den Märschen stundenlang dahin, ohne daß ein Wort über seine Lippen gekommen wäre, und dabei sah man seinen Bewegungen nur zu deutlich an, daß die Kraft dieses mächtigen Leibes gebrochen war. Nur, wenn er in das Gefecht ging, schien der Alp, der auf seiner Seele lastete, von ihm zu weichen. Wenn die Büchsen krachten, und die Spitzkugeln der Feinde ihnen über die Köpfe pfiffen, oder in die Baumstämme schlugen, athmete er hoch auf; seine Wangen rötheten sich, seine Augen blitzten; er sprach und scherzte mit Allen, die in seiner Nähe waren, um so heiterer, je drohender die Gefahr war. Ja, er setzte sich der augenscheinlichsten Gefahr oft so geflissentlich aus, daß bei den abergläubischen Gemüthern des Corps die Unverwundbarkeit des Doctors kaum noch zweifelhaft war, während Wolfgang zu der traurigen Gewißheit gelangte, daß Münzer den Tod suche.
Er sagte es ihm eines Abends, als sie nach einem heißen Scharmützel mit den feindlichen Vorposten in eine verhältnißmäßig sichere Stellung zurückgegangen waren. Münzer bejahte das mit großer Gelassenheit. »Ich habe genug gelebt,« sagte er, »um zu erfahren, daß ich, wie ich nun bin, in diese Welt nicht passe. Das Dogma von der Unschätzbarkeit des Lebens mag ganz gut sein für die Glücklichen; es den Unglücklichen aufdringen wollen, ist eine Frechheit, oder eine Absurdität, oder Beides. Das Leben hat nur einen ganz relativen Werth, den nur Der, der es lebt, bestimmen kann; denn Niemand steckt in des Andern Haut, oder fühlt mit des Andern Herzen, oder denkt mit des Andern Hirn. Wenn der Werth des Lebens nun unter Null gesunken ist, so ist es keine Tugend, sondern eine Schande, weiter zu leben. Die Alten dachten in diesem, wie in vielen andern Punkten, weiser als wir mit unsrer gespreizten transcendentalen Moral.«
Wolfgang gab die Richtigkeit diese Sätze nur in bedingter Weise zu. »Ich würde Ihnen nur dann ohne Einschränkung beipflichten,« sagte er, »wenn der Mensch wirklich die Monade wäre, zu welcher Sie ihn machen. Das ist aber keineswegs der Fall. Ich habe, wie Sie sich denken können, in letzterer Zeit sehr viel über das Thema, von dem wir eben sprechen, gegrübelt, und bin zu dem Resultat gekommen, daß wir jede That, sie sei, welche sie sei, zweimal thun, einmal für uns und das andere Mal für die Andern. Lebten wir nur für uns, so möchte immerhin unser eigenes Belieben die Richtschnur und unsre individuelle Meinung der Maßstab unsrer Thaten sein. Aber wir leben in der Familie für die Familie, in der Genossenschaft für die Genossenschaft, in dem Vaterlande für das Vaterland, leben und – sterben. Das können wir nicht ändern, und weil wir's nicht können, dürfen wir es auch nicht ändern wollen. Hier ist die zweite und höhere Instanz, in welche unser Thun und Lassen tritt. Sehen wir wohl zu, daß wir in dieser unsre Sache nicht schmählich verlieren, die wir in jener ersten mit lächelnder Selbstgenügsamkeit für gewonnen ansprachen.«
»Ich hör' Ulyssen reden!« erwiderte Münzer; »aber ohne Spott, Wolfgang, ich habe meine Sache auch vor die zweite, höhere Instanz gebracht und glaube sie auch da gewonnen zu haben. Ich darf wohl auftreten und sprechen: ich habe für die Freiheit und Einheit meines Vaterlandes gearbeitet. Wie unzufrieden auch meine Freunde mit mir sein mögen, diese Anerkennung werden sie mir nicht versagen können. Wenn Jemand, wie ich, zwanzig Jahre lang in täglicher mühseliger Arbeit an einem Werke geschafft hat, so ist dieses Werk wohl gewissermaßen sein Werk, und wenn dieses Werk nun mißlingt, vollkommen mißlingt, so wird man es dem Arbeiter nicht allzusehr verargen dürfen, daß er sein verfehltes Leben dem mißlungenen Werk nachschicken möchte. Unsre Revolution ist mißlungen, kläglich mißlungen; der kreisende Berg hat eine Maus geboren. Statt der socialen, zum mindesten doch republikanischen Schilderhebung eine Winkelcampagne für eine romantische Constitution, die ewig auf dem Papiere bleiben wird. Die Kleinbürger haben das Proletariat an die Geldsäcke verrathen, die sich bereitwillig der frechen Faust des Adels öffnen, der sie zugleich vor dem Proletarier und dem Kleinbürgerthum beschützen muß. Er wird sich seine Schutzherrlichkeit theuer bezahlen lassen, so theuer, daß endlich – doch darüber können noch Jahre vergehen – der überdies durch die lange Ruhe übermüthig gemachte Bourgeois nicht mehr wird zahlen wollen und im Bund mit dem Proletarier und dem kleinen Bürger den Adel stürzt, um im Augenblicke des Sieges die dummen Zwerge, die seine Schlachten geschlagen haben, unter die Füße zu treten und allmächtig, auf seinem Geldsack thronend, allein zu herrschen. Das ist der Verlauf der Bewegung, der circulus vitiosus, in welchem sich unsre sociale Krankheit noch Menschenalter hindurch herumbewegen kann. Unsre Sache – ich meine die Sache, für die ich gekämpft habe – war schon heute vor einem Jahr entschieden, als Cavaignac's Kartätschen die wahre, die sociale Revolution in den Straßen von Paris niederschmetterten. Ich bin seitdem ein Mann, dem das Leben vergällt, dessen Kraft gebrochen ist. Ich kann nur noch mit meinem Blute den Boden düngen, aus dem vielleicht in späterer Zeit die Saat einer besseren Freiheit erwächst, als wie sie jetzt im Schatten von sechsunddreißig Thronen, die man nicht anzutasten wagt und von unzähligen Kirchen, die man noch immer wie Heiligthümer respectirt, gedeihen kann.«
»Und die Ihrigen?« fragte Wolfgang ruhig und fest: »Ihr Weib? Ihre Kinder?«
Ueber Münzer's Gesicht flog ein tiefer Schatten.
»Meine Kinder,« sagte er langsam und als ob er mit sich selbst spräche, »für sie ist gesorgt. Und mein Weib –«
Er stützte den Kopf in die Hand und murmelte:
»Armes Weib, Du hättest ein freundlicheres Loos verdient. Es war kein guter Tag, an dem wir uns zum ersten Male sahen. Glücklich wären wir nun wohl Beide nicht geworden, aber die Qual, uns gegenseitig noch unglücklicher gemacht zu haben, wäre uns doch erspart geblieben. Ach, Wolfgang, es ist ein schauriges Ding um so ein Menschenleben! ich möchte es, und könnte ich dadurch ein Gott werden, nicht zum zweiten Male leben. Mir graut vor dieser Arbeit, die keinen Erfolg hat, vor diesem Suchen, das Nichts findet, vor diesen Freuden, die wie Rauch verfliegen, vor diesen Schmerzen, deren Feuer uns verzehrt! Das Alles ist fürchterlich genug, wenn wir es an uns selbst erfahren; aber das Maß des Wehes schwillt über, wenn wir, selbst leidend, Andere leiden machen, wenn das Leid der Andern unser Leid vermehrt.«
Münzer verbarg sein Gesicht in beide Hände; sein Körper wurde wie von Fieberfrost geschüttelt; Wolfgang selbst war auf das Schmerzlichste erregt. Die Scheu, in so zarte Verhältnisse einzugreifen, hatte ihn bis jetzt davon zurückgehalten, die Entdeckung, die er durch Balthasar gemacht hätte, dem unglücklichen Freunde mitzutheilen. Jetzt aber faßte er sich ein Herz und sagte:
»Sie haben mir öfter von gewissen Briefen gesprochen, die Sie im vorigen Herbst in der Residenz von einem anonymen Correspondenten aus Rheinstadt erhielten. Sie schienen großen Werth auf diese Briefe zu legen, und haben mehr als einmal den lebhaften Wunsch geäußert, den Verfasser kennen zu lernen, oder vielmehr die Verfasserin, denn manche Züge ließen auf eine Dame schließen. Wollen Sie noch wissen, wer diese Briefe geschrieben hat?«
»Du weißt es?« sagte Münzer, den Kopf erhebend und Wolfgang mit großen Augen anblickend.
»Ja.«
»Wer ist es?«
»Ihre Frau.«
»Unmöglich!« rief Münzer, heftig von seinem Sitze aufstehend. »Es kann nicht sein! Ich habe es halb und halb geglaubt. Ein Brief, den ich im vorigen Herbst, kurze Zeit, nachdem ich nach Rheinstadt zurückgekommen war, von ihr erhielt, hat mir jede Hoffnung zerstört. Es kann nicht sein!«
»Es ist!« sagte Wolfgang und erzählte nun Münzer Alles, was Balthasar ihm gesagt hatte.
Münzer ging mit ungleichen Schritten auf und ab. Endlich blieb er vor Wolfgang stehen und sagte:
»Wir sprechen noch weiter hierüber, Wolfgang, für jetzt muß ich mit mir allein sein.«
Er drückte dem Freunde die Hand und ging durch den Wald in der Richtung fort, wo die Vorposten des Corps unter Cajus' Führung in unmittelbarer Nähe vor dem Feinde standen.