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Durch die Erfahrung gewitzigt, fand Fritz sich am nächsten Donnerstag noch wesentlich früher im großen Hörsaal ein und gewann denn auch einen Sitzplatz ganz in der Nähe des Rednerpultes. Er freute sich daran, den langsam immer stärker werdenden Zustrom der Hörer zu mustern, der heute mindestens so groß war wie in der ersten Vorlesung. Neben ihm saß ein offenbar nicht mehr studierender Herr und las, ohne sich durch das Geräusch der Ankommenden, die überall aufblitzenden Unterhaltungen stören zu lassen, in einem ziemlich unhandlichen Buch. Fritz machte unwillkürlich eine Wendung, den Titel des Werks zu erspähen, das jener mit beiden Händen vor sich hielt. Da legte der andre den Band hin, schlug die erste Seite auf und sagte mit einer verbindlichen Verbeugung: »Es sind die deutschen Schriften von Paul de Lagarde. Sie kennen sie nicht?«
»Nein,« erwiderte Fritz. »Ich kenne nicht einmal den Namen des Verfassers.«
»Sie studieren?«
»Ja, im fünften Semester.«
»Da sieht man's wieder,« sagte der andre nun und wiegte den Band hin und her. Dann ließ er ihn mit einem leisen Klappen auf den Tisch fallen und sah vor 138 sich hin. Fritz sah, wie die dunklen Augen hinter dem randlosen Kneifer mit energischer Nachdenklichkeit irgendeinen Punkt festhielten und sich in diesen gewissermaßen einbohrten. Der ganze Schädel des Mannes, dessen kurz geschornes Haar über der Stirn zwei tiefe Ecken freiließ, drückte bewußte Klarheit, Willensstärke aus.
Als ob er nur laut fortsetzte, was er eben still gedacht, sagte der Nachbar nun: »Lagarde ist nämlich einer der feinsten und ernstesten, die wir haben, eigentlich unvergleichbar.«
Wieder schwieg er eine Weile, dabei blickte er immer noch vor sich hin. Jetzt wandte er den Kopf zu Fritz, der sofort das Gefühl hatte, von diesen Augen, deren Blick nicht über ihn hinlief, sondern fest in sein Gesicht sah, durchforscht zu werden.
»Manche meinen: ein Eigenbrödler. Zugegeben, aber was will das sagen? Mal war jeder ein Eigenbrödler, der überhaupt einer war – Bismarck hätte Gerlach auch nicht die letzten Wünsche enthüllt, die er damals schon hegte, und die doch mehr waren als Wünsche. Oder hier, Treitschke in Leipzig. Warum ist er nicht Professor geworden? Oder von der andern Seite: Ich erinnere mich noch sehr gut, wie vor zwanzig Jahren in meinem Elternhaus in Weimar von der Sozialdemokratie gesprochen wurde. Lassalle war tot, was sollten die paar Leutchen bedeuten? Und heute – wir werden nächstes Jahr unser blaues Wunder erleben.«
Jetzt sagte Fritz: »Und war's mit den sogenannten 139 Flottenschwärmern anders? Ich denke, jetzt wird's in ein paar Jahren damit weiter kommen als bisher in Jahrzehnten.«
»Richtig, verehrter Herr,« erwiderte der andre, und in seinem Blick war etwas wie lebhaftere persönliche Teilnahme nach der fachlichen Ernsthaftigkeit von vorhin. »Und ob wir weiter kommen werden!«
Dabei hob er die eine Hand, die bisher lässig bei der andern auf dem Tisch gelegen hatte, eine feine, gut geformte Hand mit schmaler Fessel, aber starken, langen Fingern, ballte sie in der Luft zur Faust und ließ sie wieder fallen.
»Aber auf Lagarde zurückzukommen – man merkt dem Mann ja an, daß er ein bißchen zu viel in der Stube und hinter alten Handschriften gesessen hat. Gar nichts vom Volksredner, überhaupt keine Spur von dem, was auf die Massen wirkt, wie es unser Treitschke hat. Manche absonderliche Idee, zum Beispiel die immer wiederholte des allgemeinen Anklagerechts gegen jeden Mißbrauch von Amtsgewalt.«
Der Sprecher zuckte die Achseln.
»Lieber Gott, er hat's aus dem Waldeck-Prozeß, der war ja gemein und hat ihn aus der konservativen Partei getrieben. Sie wissen, Waldeck war durch eine gemeine Fälschung politischer Gegner angeklagt und verhaftet worden. Aber heute drücken uns doch ganz andre Sorgen. Unser Beamtentum macht solche Scherze nicht mehr – dem täte eine Auslüftung nach andrer Seite viel nötiger. –
Im übrigen aber: ein Kerl. Darum kennt ihn auch 140 kein Mensch, entschuldigen Sie. Glühend durch und durch, manchmal praktisch bis in Kleinigkeiten, manchmal mit einer riesengroßen Idealistengebärde, die ganz und gar echt ist, die aber nur einer macht, der von unsrer nationalökonomischen Entwicklung nicht genug weiß. Die Hauptsache ist jedenfalls: wer weiter will, muß ihn lesen. Er ist die Ergänzung zu Treitschke –«
»Aber da kommt er,« brach er ab.
Der Professor hatte den Saal betreten und schon das erste Wort seines Vortrages gesprochen.
Als nach einer Stunde alles aufstand, sagte Fritzens Nachbar, als ob er einfach das Gespräch wieder aufnähme: »Ja, Treitschke und Lagarde, es wäre ein lohnendes Kapitel. Der eine überschätzt den Staat sehr wahrscheinlich, der andre unterschätzt ihn sicher. Aber sie drängen beide weiter.«
»Kommen Sie mit?« sagte er dann; »ich gehe nach der Potsdamer Straße zu.«
Fritz erklärte, denselben Weg zu haben, und so gingen sie zusammen.
In der Friedrichstraße legte sein Begleiter Fritz die Hand auf den Arm und blieb einen Augenblick stehen, mitten im Gewühl, ohne darauf zu achten, daß sie angestoßen, gescholten wurden.
»Sehen Sie mal her, da haben wir's gleich. Wie das hier durcheinanderläuft. Die meisten fleißige Leute, die noch zu tun haben oder eben vom Amt und aus dem Geschäft kommen. Gewiß auch manche dunkle Existenz, Frauenzimmer und alles mögliche. Da stehen sie um die Litfaßsäule und studieren, wo sie sich abends 141 am besten amüsieren können. Das macht nun Lagarde nicht mit, schilt auf Stadtväter, die für Schauspielhäuser und dergleichen Geld ausgeben (unsre tun's übrigens ohnehin nicht), und möchte im Grunde ein spartanisches Ideal wieder haben. Stille Internate, einfaches Leben, Vorbereitung auf die große Rechtfertigung. Wundervoll.«
Jetzt gingen sie doch, geschoben, weiter.
»Aber nun Treitschke,« fuhr er fort. »Der steht mitten drin. Ob die Spree eine schöne Gegend ist, ist egal, hat er, glaube ich, sechsundsechzig geschrieben. Die Hauptsache, daß wir eine Hauptstadt kriegen, wo das politische Leben zusammenläuft. Selbst als die Gründerzeit da war, hat er davon gesprochen, daß in einer großen Volkswirtschaft bestimmte Wagehälse nötig wären, auf deutsch also doch Spekulanten. Seitdem er nun ganz hier lebt, den vielen Schmutz sieht, der sich in so 'nem Nest anhäuft, ist er in manchen Punkten andrer Ansicht, siehe Judenfrage. Im großen und ganzen ist er derselbe, kein Freund der Schutzzölle, vor allem ein Gegner des Katheder-Sozialismus, den doch schließlich Bismarck mit der sozialen Gesetzgebung sanktioniert hat.«
»Also,« schloß er, »ich nehme an, daß Sie Treitschke kennen (Fritz nickte), nun lesen Sie mal Lagarde. Ich fürchte, wir werden beide bald brauchen können.«
»Ich meine,« sagte Fritz, »Treitschke haben wir immer brauchen können und brauchen ihn auch heute noch. Ich habe den Sinn Ihrer Bemerkung nicht ganz verstanden.« 142
»Es wird aber nicht mehr sehr lange dauern.«
Mit einem halb fragenden Blick sah der andre Fritz von der Seite an und schwieg dann. Sie waren mittlerweile bis zum Potsdamer Platz gelangt und bogen nun in die Potsdamer Straße ein. Vor einer Weinstube hielt der andre still.
»Kommen Sie mit rein? Aber damit Sie nicht bange werden, will ich mich Ihnen in aller Form vorstellen, da das in Deutschland nun doch mal immer noch zum guten Ton gehört, als ob man sonst nicht fünfzig Worte miteinander sprechen könnte. Doktor Landmann,« sagte er und lüftete den Hut.
Fritz nannte seinen Namen.
»Als ich das erstemal in England eingeladen war und zufällig nur ein fremder Herr, aber nicht der Gastgeber, im Salon war, fühlte ich mich veranlaßt, mit korrekter Verbeugung meinen Namen zu nennen. Der andre aber sagte nur: › That's well.‹ Da hatte ich genug.«
Während Landmann das lachend erzählte, waren sie die Stufen zu der Weinstube emporgeschritten und betraten nun ein kleineres Zimmer, in dem es noch völlig leer war. Kaum hatten sie aber Platz genommen, als die Tür kurz nacheinander zweimal geöffnet wurde und zwei Herren eintraten. Der eine, ein junger Hauptmann in Generalstabsuniform, als Herr von Mettelkamp vorgestellt, fiel zunächst durch eine breite, rote Narbe auf, die am rechten Kinnbacken begann und deren Ende, als er die Mütze abnahm, auf dem Schädel sichtbar wurde. Der andre, Assessor Haffner, 143 ein kleiner, beweglicher Mann, kam Fritz bekannt vor – er entsann sich dann, ihn in Königsberg irgendwo gesehen zu haben.
Als er ihm das aussprach, sagte der: »Sind Sie denn Königsberger?«
Und auf die Bejahung reichte er ihm noch einmal die Hand und meinte: »Na, ich auch. Hier in Berlin ist's übrigens jeder vierte anständige Mensch. Kommen Sie eben frisch von da?«
»Vor vierzehn Tagen bin ich hier angekommen,« sagte Fritz.
»Und Jurist?«
»Jawohl.«
»Natürlich,« lachte der Assessor. »Auch so'n Faden in der heutigen deutschen Wolle. Was anständig angezogen ist, hier in Preußen, ist, wenn's nicht Uniform trägt, Jurist, ohne übrigens mit Ihnen kohlen zu wollen, Landmann.«
Der winkte ab.
»Lassen Sie's gut sein, Haffner. Ihnen schadet's jedenfalls in meinen Augen nichts.«
»Ich danke,« sagte der und trank ihm zu.
Fritz verhielt sich, als das Gespräch allgemein und lebhaft wurde, zunächst sehr schweigsam. Er war weitaus der jüngste des Kreises und fühlte sich zwar bei dem freien und offnen Ton der Gesellschaft, zu der inzwischen noch zwei Herren gestoßen waren, nicht gedrückt, aber doch noch unsicher, nicht recht fest. Auch war manches, was man, offenbar ohne Geheimnistuerei, besprach, doch derart, daß es ihm nicht völlig 144 verständlich war. Es war eine Kolonialdebatte entstanden. Einer sprach von einer der letzten Reichstagsreden Bismarcks.
»Damals hatte er gesagt, er wäre von Haus aus kein Kolonialmensch gewesen und hätte sich nur dem Druck der öffentlichen Meinung untergeordnet. So kann man das doch aber nicht machen. Er hat auch nachher gesagt, daß er die neuen Forderungen für die Marine erst brächte, weil der jetzige Kaiser dafür ein größeres Interesse hätte als seine Vorgänger. Das geht doch nicht. Das hätte mit ganz anderm Elan vertreten werden müssen.«
»Aber Liebster,« fuhr der Doktor Landmann dazwischen, »hat Bismarck die Vorlagen durchbekommen oder nicht?«
»Ja,« sagte der andre.
»Ja, was heißt dann Elan? Bitte, vergessen Sie doch nicht, daß der Fürst kurz danach mal gesagt hat, er könne das Vertrauen, das er in dreißig Jahren auswärtiger Politik sich erworben habe, auf niemand übertragen. Oder so ähnlich. Mehr kann man doch nicht verlangen, als daß er mit seiner ungeheuren Autorität sich für diese Dinge einsetzt. Der Skandal ist bloß der, daß er bei der Marinesache, die doch wirklich vom Finanzstandpunkt aus ein Pappenstiel war, erst in letzter Stunde eine Mehrheit bekam. Da liegt der Hase im Pfeffer. Wenn selbst Bismarck sagt, daß er in einer Frage unter dem Druck der öffentlichen Meinung gegen seine ursprüngliche Überzeugung gehandelt, sich gewandelt habe, so müssen wir eben in 145 diese öffentliche Meinung hineinblasen, daß es nur so flammt.«
Haffner sagte nachdenklich: »Ja, aber den Kaiser haben wir doch, wie es scheint, in diesen Dingen für uns. Ob der nicht das Blasen noch viel besser besorgen könnte?«
»Sie meinen, ohne Bismarck?« rief Landmann dazwischen. »Lieber Haffner, gehen Sie in sich und überlegen Sie sich mal die Sache. Wer von uns kennt den Kaiser? Nicht ein einziger. Wer kennt ihn überhaupt? Ob ihn Bismarck kennt? Bismarck aber kennen wir. Dem sind Monopole und Zölle und solche Dinge gelegentlich in die Binsen gegangen – in den großen nationalen Fragen hat er sich nichts abhandeln lassen, und wenn es hart auf hart kam – auch dem alten Kaiser gegenüber. Denken Sie an Nikolsburg! Wenn wir den weiter bekommen, wenn wir dem die Überzeugung beibringen, daß es sich hier um Fragen von ähnlicher Bedeutung handelt, bei der Ausdehnung der Flotte und bei den Kolonien, dann – dann kann er's auch da mal machen wie beim Septennat. Bismarck gehört zu denen, die alles an alles setzen. Den Kaiser in allen Ehren, aber einmal wissen wir's von ihm nicht, und dann wissen wir nicht, da er doch nicht allein regieren kann, wer nach Bismarck kommt.«
Ein älterer Herr nahm das Wort und sagte: »Ich unterschreibe alles, was Landmann gesagt hat, aber ich glaube, daß es sich hier gar nicht mehr um theoretische Erörterungen darüber handelt, wer's besser machen könnte. Ich fürchte, daß wir sehr bald vor 146 einer praktischen Entscheidung stehen, die niemand von uns und auch sonst kaum einer beeinflussen kann.«
Alle sahen den Sprecher aufmerksam an, der selbst vor sich hinblickte und nun fortfuhr: »Geheuer ist die Sache nicht. Sie wissen, wir erfahren in der Presse manches oder, besser gesagt, es kommt manche Andeutung zu uns, die wo anders nicht laut wird. Ich sehe sehr trübe in die Zukunft.«
Alles schwieg noch. Man wußte: wenn der nicht mehr sagen wollte, war auch nicht mehr aus ihm herauszubekommen. So kam keine rechte Unterhaltung mehr auf, bis man sich trennte und Fritz mit Landmann zusammen nach Hause ging. Der, den er nur wenige Stunden länger kannte als die andern, erschien ihm doch nun, nach all den neuen Eindrücken, wie ein alter Bekannter, demgegenüber er seine Erregung reden ließ.
»Ich kann es mir nicht vorstellen,« sagte er, »und ich glaubte auch nicht, daß das daran liegt, daß ich noch zu jung bin. Ich glaube, wir alle, in meinen Kreisen wenigstens, können uns einen Abgang Bismarcks nicht denken. Erinnern Sie sich doch nur, wie es vor einem Jahr war, als die beiden Kaiser starben. – Daß Bismarck blieb und lebte, das erschien doch uns allen als Hauptsache, als Beruhigung. Ich kann mir's einfach nicht denken, daß alles, was die Herren sagten, mehr ist als Kombination.«
»Es ist mehr,« erwiderte Landmann, »verlassen Sie sich drauf, es ist mehr. Gerade deshalb habe ich heute so lebhaft vom Gegenteil gesprochen.« 147
»Ja, aber, was soll dann werden?«
»Sehr richtig gefragt. Aber schlimm genug, daß heut alle so fragen. Wie nun, wenn Bismarck stürbe – er ist schließlich vierundsiebzig –? Dann müßte es auch gehen.«
»Ja, aber Sie haben doch selbst vorher die Schwierigkeiten einer Zukunft ohne Bismarck gezeichnet,« sagte Fritz.
»Hab' ich, hab' ich getan und tu' ich noch jetzt. Und das eben ist das Entsetzliche der Lage. Ich habe oben ziemlich gut reingeguckt, ich war in einem Ministerium, ich war auch drüben, in Amerika und sonst, ich kenne die Menschen, den Betrieb. Es wird sehr schlimm werden ohne ihn. Und, was das Tragische daran ist: er selbst ist nicht ohne Schuld. Er hat gearbeitet, mehr wahrscheinlich als irgendein Mensch im ganzen Jahrhundert; aber Nachfolger, ja, auch nur selbständige Gehilfen auf seinen eignen Gebieten hat er nicht erzogen, und der Kaiser, der so unerwartet früh auf den Thron kam, hat noch nicht viel mit ihm arbeiten können, war viel verreist, dann war Bismarck wieder monatelang fort. Und das ist noch nicht mal alles. Die ganzen Parteien, die Presse, ja, sagen wir ruhig die Nation ist absolut nicht darauf eingerichtet, ohne ihn weiter zu kommen. Er hat uns auf der einen Seite verwöhnt und hat uns auf der andern Seite nicht herangelassen. Sehen Sie mal (Landmann war nach seiner Gewohnheit wieder stehen geblieben und hatte sich voll zu Fritz gewandt), er ist ein Genie, das weiß einer, der mal in seiner Nähe arbeiten durfte (Fritz 148 sah Landmanns Augen aufleuchten), besser als irgendein andrer. Aber Genies wohnen schließlich im Herrenrecht, sie machen alles allein.«
Sie gingen weiter, Landmann fuhr dann fort: »Wen hat denn Goethe schließlich am nächsten an sich herangezogen: Zelter, Meyer, Riemer, Eckermann; brave Leute, aber ohne tiefere Selbständigkeit. Schiller, das andre Genie, hat ihn mal mitgerissen, nicht umgekehrt. Der hat doch neben ihm und zum Teil mit ihm selbständig und ganz allein gearbeitet. Das kann man natürlich nur mutatis mutandis auf Bismarck übertragen, aber dann stimmt's. Er hat ein paar sehr geschickte Leute um sich, selbständige Köpfe gibt's bei uns natürlich genug, aber nicht in Bismarcks eigentlichen Ressorts, bürokratisch gesprochen – allgemein gesagt, nicht in der hohen Politik, die er schließlich doch dreißig Jahre allein für uns getrieben hat. Da liegt die Gefahr.«
»Und wie wäre der abzuhelfen?« fragte Fritz in scheuer Erregung.
»Ich fürchte, vorläufig gar nicht, wenigstens nicht mit rascher Wirkung. Wir werden sehr böse Erfahrungen machen, das zu wissen, braucht man kein Prophet zu sein. Wir werden durch Schaden klug werden. Und dann heißt's Tag für Tag arbeiten, laut und leise, Männer heranziehen, die in der Gegenwart für die deutsche Zukunft leben, jeden stützen, aber nicht bevormunden, der für uns rübergeht, und nicht unter englischer Flagge, sondern unter der schwarz-weiß-roten, erwerben, bauen, wenn's sein muß, auch 149 kämpfen will, den Bürokratismus mit all seiner Peinlichkeit da zum Teufel jagen, wo er uns nur hemmt. Wir brauchen Leute, die nicht glauben, daß nun mit dem Deutschen Reiche alles zu Ende ist, und daß wir nun fertig sind, weil wir den Dreibund haben, und so weiter und so weiter. Wenn man einen Bismarck für die kolonialen Sachen herumbekommen hat, geht's auch mit andern. Geschrei allein macht's nicht, wenn's auch manchmal nottut, wo Preßfreiheit und Wahlfreiheit herrschen. Wo sollen wir denn mit unserm Geburtenüberschuß hin, mit unsrer großen Volksvermehrung? Ewig Kulturdünger für Engländer und Amerikaner sein? Ich danke.
»Das alles kann man nicht von heute auf morgen beantworten, und kann die Menschen nicht von heut auf morgen ändern. Aber weil wir einmal als Deutsche da sind und leben wollen, ist's mit dem bangen Fragen und Zweifeln nicht getan. Daß wir einen jungen Herrscher haben mit Interesse für Seemacht, ist an sich nur gut. Er muß nur Leute finden, die ihm den Wind machen, wo er ihn braucht, und die ihm, wenn's nottut, auch so steif opponieren, wie Bismarck opponieren konnte.
»Na, für heute genug. Auf Wiedersehen. Kommen Sie ruhig mal wieder zu uns.«
Sie waren im Eifer des Gespräches am Kanal hin- und hergeschritten, jetzt trennten sie sich, und jeder ging seiner Wohnung zu. 150