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Fritz arbeitete gegen Mittag eines warmen Sommertages im großen Lesesaal der Königlichen Bibliothek. Rings um ihn an den langen Tischen saßen Damen und Herren über Bücher geneigt, lesend oder schreibend. Mit Ehrfurcht wurde auf leisesten Sohlen die Ecke umgangen, an der Theodor Mommsen eifrig arbeitend saß. Da ertönten Marschklänge von der Straße her, erst leise, dann immer lauter, einer öffnete die große Tür nach dem Balkon, und von allen Tischen zogen Hörer auf den Altan hinaus, um das Aufziehen der Wache zu beobachten. Der ganze Raum erschien von den kräftigen Tönen der Musik erfüllt, hier und da trommelte ein Sitzengebliebener den Takt auf dem Tisch mit. Auch Fritz war aufgestanden und mit hinausgetreten, er freute sich über das bunte Bild der von allerlei halbwüchsigem Volk begleiteten Regimentsmusik. Als er an seinen Platz zurückgekehrt und es wieder still geworden war, man nur noch das Umschlagen von Blättern und das Kratzen von Federn hörte, las auch er noch eine Weile fort, schlug dann das Buch zu, stellte es an seinen Ort und verließ das Gebäude. Als er um die Ecke der Linden bog, sah er gerade Treitschke und neben ihm die schlanke Gestalt Hermann Grimms mit dem weißlockigen Haupt aus 173 dem Vorgarten der Universität herauskommen und am Friedrichsdenkmal vorüber den Mittelgang der Linden betreten. Er selbst ging langsam auf der linken Seite weiter, blieb an ein paar Schaufenstern stehen, wurde an der Friedrichstraße durch einen großen Wagenknäuel aufgehalten und kam so erst nach geraumer Zeit zum Pariser Platz. Hier sah er plötzlich die beiden Professoren vom Tore her langsam ankommen, zwischen ihnen ging ein etwas kleinerer Herr, offenbar älter als beide, hochaufgerichtet, in lebhaftem Gespräch mit Grimm, während Treitschke, der ja wenig hören konnte, in die Menge sah. Das ausdrucksvolle Gesicht des alten Mannes mit der großen, glattrasierten Oberlippe, den weit über die Augen vorstehenden Brauen, kurz, der ganze Kopf, auf dem eine nicht zur Schau getragene, sondern immanente Bedeutung lag, fiel Fritz auf. Er suchte in seinem Gedächtnis und plötzlich hatte er's gefunden: er hatte ein Bild des Mannes oft genug auf Wittes Schreibtisch gesehen – es mußte Eduard Simson sein, mit dem Witte aus gemeinsamen Königsberger Tagen noch immer freundlich verbunden war. Es konnte in dem großen Menschenstrom, der um diese Zeit über den Pariser Platz und die Linden trieb, nicht auffallen, wenn er den dreien folgte; so kreuzte er die Straße und beobachtete vom Mittelgang her noch eine Weile die drei Herren, vornehmlich den Präsidenten, bis sie vor einem der alten, kleinen Gasthöfe stehen blieben und die beiden Professoren sich verabschiedeten, während Simson ins Haus ging.
Fritz hatte sich inzwischen entsonnen, daß Witte ihm 174 ja gesagt hatte, er solle, falls er den Präsidenten, der häufig in Berlin sei, einmal antreffen könne, Grüße von ihm bestellen. So ging er denn nach einer Weile in den Gasthof und fragte den Pförtner, ob Herr von Simson hier abgestiegen sei, was ihm mit dem Hinzufügen bejaht wurde, der Herr reise morgen wieder ab.
Am frühen Nachmittag machte sich Fritz auf den Weg und gab seine Karte ab mit dem Zusatz: mit Grüßen von Doktor Witte. Unmittelbar danach wurde er hinausgebeten, und der Präsident kam ihm fast an der Tür seines Gemachs entgegen.
»Ich freue mich,« sagte er, »von meinem alten Freunde etwas zu hören, vermutlich doch durch einen jungen Landsmann.«
Die gütige Ansprache benahm Fritz jede Befangenheit, er stand Rede und Antwort und saß bald in einem durch die geschickte Lenkung der Exzellenz nicht abbrechenden Gespräch dem greisen Parlamentarier gegenüber, der ihn schließlich mit vielen Grüßen an den alten Bekannten in Königsberg verabschiedete.
Es war naturgemäß bei dieser flüchtigen Begegnung kaum ein Wort gefallen, das über die einmal gegebene heimatliche Anknüpfung hinausgegangen wäre, – trotzdem ging Fritz mit einem festlichen Gefühl von dannen. Zum erstenmal hatte er einem bedeutenden, der ganzen Nation bekannten Mann gegenüber gesessen, von dem erst vor wenigen Tagen Treitschke in einer beiläufigen Bemerkung mit größtem Respekt gesprochen hatte, und überdies war es gerade die Persönlichkeit, die jenes Frankfurter Parlament, von dem er 175 jüngst hatte sprechen müssen, mit den Einrichtungen des neuen Reiches sichtbar verband. Die alte Erfahrung, daß man von einem hervorragenden Mann nie unbereichert scheidet, bewährte sich auch an Fritz, dem überdies die klassisch ruhige, selbstverständlich vornehme Ausdrucksweise des greisen Herrn besonders aufgefallen war.
So kam er in freiester Stimmung nach Hause und fand Landmann mit einem Buch auf seinem Sofa sitzen.
Fritz begrüßte ihn sehr überrascht, da jener noch nie den Weg zu ihm gefunden hatte, und erzählte ihm zunächst, von wem er käme.
Landmann hörte aufmerksam zu, sagte dann aber: »Ich komme eben von einem weniger erfreulichen Eindruck. Zufällig war ich auf dem Lehrter Bahnhof und habe einen ganzen Trupp deutscher Auswanderer abfahren sehen – natürlich nach Amerika. Und das wird nicht besser, sondern immer schlimmer. Die Geburtenzahl steigt, die Volksvermehrung ist ungeheuer und wird nach allen Anzeichen noch immer größer, und der Überschuß, der hier nicht gleich unterkommt, quillt hinaus, und das alles geht uns verloren.«
»Dabei hört man doch immer wieder von der Leutenot auf den Gütern,« warf Fritz ein.
»Richtig. Und auch die steigt. Dabei haben wir in den Großstädten ein Überangebot von arbeitswilligen Händen. Bismarck hat ja mal erzählt, wie ihm die Leute gelegentlich beschämt nach Varzin zurückkämen, und hat gesagt, daß jeder anständige Gutsbesitzer möglichst für seine alten Leute sorgt. Aber was nützt das? 176 Selbst wenn's überall so ist, und heute nimmt sich wirklich jeder Gutsbesitzer in acht, seine Leute schlecht zu behandeln, schon rein deshalb, weil er sie halten muß, das meiste, was da in der radikalen Presse erzählt wird, sind Schauermärchen – schließlich, hin oder her, Tatsache ist, daß die Leute weglaufen, und daß wir an ihre Stelle immer mehr slawische Saisonarbeiter kriegen. Wo soll denn das hin!«
Er schwieg eine Weile, und dann fuhr er fort: »Und sehen Sie, die Bauern, die wir jetzt in Posen ansetzen, die werden nicht weggehen. Es ist die alte Sache: wir brauchen Land, kleine, auskömmliche Stellen, nicht nur für evangelische Deutsche unter den katholischen Polen, sondern überall – auch drüben. Wenn so'n tadelloser deutscher Landmann fünf Jahre überm großen Teich ist, wird er amerikanischer Bürger, und wir sind ihn und seine Kinder für alle Zeiten los. Und was könnten wir dabei für Leute gebrauchen! Warum macht denn die Regierung nicht, wovon Bismarck immer gesprochen hat, und nutzt die westpreußischen Wasserkräfte für die Industrie? Wir brauchen keine Aushebung der Freizügigkeit – solche Dinge lassen sich heute einfach nicht mehr einführen, so was geht nur noch in Rußland. Wir brauchen eine planmäßige Siedlung in ganz Deutschland, schon um den Güterschacher zu hemmen, eine geregelte Wanderungspolitik hier drinnen und nach drüben.«
Er ging erregt auf und ab.
»Es könnte einem, wenn's nicht so verdammt sentimental klänge, das Herz abstoßen. Und dabei hab' ich 177 doch drüben gesehen, in Afrika meine ich, was Deutsche leisten können, wenn man sie nicht überall bevormundet. Hier läßt man's gehen, und drüben tut man nicht genug. Herrgott, was gibt's noch alles zu tun!«
Er lachte.
»Schließlich ist das der einzige Trost. Wir müssen uns rühren, rühren, rühren. Wissen Sie, wie sich mal die jungen Leute nannten, so im Genre von Fritz Reuter und andern Burschenschaftern?«
Er wartete gar keine Antwort ab und fuhr fort:
»Verschworene der Zukunft! Das ist's. Keine Verschwörerei, wie bei unsern lieben Nachbarn im Osten oder bei den Herren Polen in Krakau und in der Schweiz, aber Arbeit für die Zukunft. Wenn die Parteien, die wir heute mal haben, wollen – schön. Wenn nicht, muß man sie umreißen oder in die Luft sprengen – sehen Sie, ich rede schon wie ein Anarchist. Na, Sie wissen ja, was ich meine. Es wird bald kein Maulspitzen mehr helfen, wir werden alle pfeifen müssen, bis man uns hört. Der eine rackert sich für das Stückchen Kolonialland drüben, der andre macht's den Herren in der große Bude begreiflich, wie Mettelkamp.«
Plötzlich stand er Fritz hart gegenüber.
»Na, und wie ist's mit Ihnen, Friedrich? Was meinen Sie denn? Wollen Sie später mitmachen bei Burdach?«
Die Frage kam so unerwartet heraus und fand Fritz, der Landmann eifrig gefolgt war, ohne für ein Wort der Zustimmung Raum zu finden, völlig unvorbereitet. 178
Landmann lachte.
»Na ja, da hab' ich Ihnen den Salat gleich angerichtet. Wär's gefällig, zuzugreifen! Sie brauchen nicht, wie jener Mann, zu fragen: muß es gleich sein? Aber Sie werden doch ungefähr wissen, ob Sie das reizen könnte.«
Jetzt fand Fritz Worte der Erwiderung.
»Herr Doktor, dieser Gedanke ist mir so neu. Ich habe hier in diesen Monaten soviel gehört und gelernt, ich habe an bestimmte Pläne der Art wirklich nicht entfernt gedacht.«
»Dann denken Sie jetzt dran,« sagte Landmann trocken.
»Ich habe ja außer jenem einen Aufsatz niemals etwas geschrieben. Ich weiß nicht einmal, wie Doktor Burdach über die Arbeit denkt.«
»Na, wenn er sie nicht gut fände, würde er doch mit mir nicht diese Idee besprochen haben.«
»Also Burdach hat Ihnen gegenüber diesen Plan erwogen?«
Landmann nickte eifrig.
»Erwogen! Erwogen? Er will Sie an sein Blatt haben. Er findet schwer Leute für seine Zeitung, die keiner Partei dient, er sucht gerade junge, unverbrauchte Kräfte, die noch nicht irgendwo in der Mühle waren. Sie gefallen ihm, er hält Sie für geeignet, und ich kann Ihnen sagen, er hat den Blick dafür. Er hat schon mal jemanden, der überhaupt noch nie einen Zeitungsartikel geschrieben hatte, nach einem langen, zufälligen Gespräch rangeschleift – der Mann ist heute 179 deutscher Korrespondent für zwei große Blätter in Neuyork und machte seine Sache glänzend.«
»Das alles ist mir so neu,« sagte Fritz mit einem Ton, dem man die Wärme anmerkte, die ihn erfüllte. »Ich habe mir so etwas nie ausgemalt –«
»Grade, grade,« rief Landmann. »Aus der Wolke muß es fallen! Ich habe selbst Bedenken gehabt, aber ich habe Sie seitdem noch eine ganze Weile beobachtet, und ich sage mir jetzt, es wird gehn, es wird sogar sehr gut gehn. Sie stoßen sich doch wohl nicht daran, daß man als Redakteur nicht klassiert ist, wie als Beamter, Offizier und so weiter und so weiter?«
Fritz lächelte.
»Nein, das nicht. Ich glaube, so weit kennen Sie mich.«
»Im übrigen,« sagte Landmann, »ist das ja gerade auch einer der Zöpfe, die wir abschneiden müssen. Ich weiß nicht, wo die Stelle steht, der Deutsche sagt im Zweifel: bei Schiller, daß es nicht auf das Amt ankommt, sondern auf den Geist, in dem wir's treiben. Das ist's. Also kurz und gut: ich rate zu, natürlich erst nach dem Examen, schon um sich mal den Rückweg offen zu halten, außerdem – Sie sehen, man kann nicht ganz aus seiner Haut – ist der Doktortitel immerhin sehr angenehm.«
»Na, werden Sie erst mal ruhig,« schloß er, »und dann sagen Sie mir später, ob Sie sich so oder so entschlossen haben.«
Damit schüttelte er Fritz die Hand und ging.
Der blieb, von vielen Gedanken hin und her 180 getrieben, zurück. Wie immer empfand er das Bedürfnis, draußen in der Natur zu sich zu kommen, im Gehen klar zu werden, weiter zu denken. So verließ er das Haus und wanderte gen Westen über den öden Kurfürstendamm in den Grunewald. Hier war's kühler, unter den hohen Bäumen wehte ein leiser Wind und brachte Harzgeruch mit. Von irgendwoher klangen Musiktöne herüber, ab und zu begegnete er singenden Scharen, und je weiter er sich in den Wald verlor, um so einsamer wurde es um ihn.
Wie weit lag das, was sich ihm nun bot, von dem in strengem Dienst aufgegangenen Leben seines Vaters, auch von der ruhigen Kontortätigkeit früherer Vorfahren ab! Er hatte nicht anders gedacht, als daß er später Richter werden würde, wie es ihm natürlich schien – nun bot sich ein freierer, aber freilich auch nicht von so festen Trägern gestützter Beruf.
Fritz blieb stehen.
Der Heimat ging er damit verloren, aber er konnte dann, mußte dann hier in Berlin bleiben, wo ihm so vieles aufgegangen war. Noch war der Ausschnitt von Menschen, die er hier kennengelernt hatte, nicht groß, aber wie lebhaft rieb sich das aneinander, wie wurde hier gearbeitet, wie ging hier der Schlag des politischen Lebens!
Dazwischen klang eine leise Hoffnung: er würde Aline früher heimführen können, als im regelmäßigen Gang einer Juristenlaufbahn. Auch die Hoffnung blieb, daß die Mutter dem einzigen Kinde nach Berlin folgen würde. 181
Aber stärker als das lebte doch jäh das Gefühl in ihm auf, das ihn immer lebhafter gepackt hatte, seit er hier war: hier anders dienen zu können, wirken zu können in den Kämpfen, die hier vor allem, sichtbar und laut, lautlos und verborgen dann wieder, ausgefochten wurden.
Unwillkürlich kam ihm so der Titel des Treitschkischen Buches in den Sinn, das ihn in freien Stunden der letzten Wochen fast allein beschäftigt hatte: Deutsche Kämpfe.
Waren die vorbei? Er hatte sich die Frage so oft mit nein beantwortet, er fühlte förmlich, wie sie jetzt stürmischer als je beginnen würden, schon begonnen hatten, zumal wenn jenes Schicksal sich erfüllte, das viele Gemüter beschäftigte – wenn Bismarck ging.
Fritz reckte sich im Weitergehen.
Würde er's können? Würde seine Feder stark sein, würde er sich wirklich immer ausdrücken können und so ausdrücken, daß er der Sache nützte? Andre hatten das Vertrauen zu ihm, bewährte Männer, die nicht leichtsinnig hinsprachen, vor deren Urteil er Achtung hatte. Sollte er sich weniger zutrauen, als sie ihm?
Eine Erzählung des Vater kam ihm in den Sinn, die er in dessen Kriegstagebüchern gefunden hatte. Im österreichischen Krieg hatte der junge Leutnant, weil die beiden älteren Kompanieoffiziere verwundet waren, plötzlich die Führung übernehmen müssen, und mitten in der Nacht detachierte ihn der Oberst mit seiner Kompanie weit heraus und gab ihm einen sehr verwickelten Auftrag in wenig aufgeklärter Gegend. 182 Leutnant Friedrich hatte an den Helm gefaßt, aber der alte Kommandeur hatte wohl in seinen Augen etwas wie einen leisen Zweifel an der eignen Fähigkeit gelesen, diese neue, große Verantwortung in so schwieriger Lage so durchzuführen. wie es der Dienst verlangte. Dann hatte ihm der Oberst auf die Schulter geklopft und gesagt: »Lieber Friedrich, Sie werden's können, denn Sie müssen's können.« In seiner knappen Art erzählte der Vater im Tagebuch weiter, daß er nun mit der größten Ruhe, wie auf dem Exerzierplatz, seinen Auftrag ausgeführt hätte, er war gelungen, die Rekognoszierung glückte und sicherte den Vormarsch des Regiments zur nächsten Schlacht. Als ihm der Kommandeur ein paar Tage nach dem siegreichen Gefecht einen Kriegsorden überreichte und ihn zur Beförderung zum Premier beglückwünschte, hatte der alte Pommer nur gesagt: »Sehen Sie, lieber Friedrich, wat möt, dat möt.«
»Wat möt, dat möt,« wiederholte sich Fritz im stillen – er meinte zu müssen, und so wollte er auch.
Als er Landmann am andern Tage wiedersah, sagte der nach einem Blick in Fritzens Gesicht: »Ich sehe, Sie haben sich so entschieden, wie ich's dachte.«
Und als der bejahte, sagte Landmann: »Burdach ist augenblicklich verreist, es genügt ja, wenn Sie ihm vor den Ferien sagen, daß Sie kommen wollen, das Weitere findet sich dann schon von selbst.« 183