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Die kleine Anna wollte sich vor der Rückkehr in die Stadt einen Strauß binden und holte eben noch zur Einfassung der Blumen Zweiglein von der Tanne, die oben in der Ecke des Gartens gegen die Großgartacher Straße hin stand. Die Mutter hatte ihr noch einmal zugerufen, sie möge sich tummeln, da wurde ihr Blick von einem Vorgang auf der Straße gefesselt. Sie richtete sich auf den Zehen auf und beugte sich so weit wie möglich vor, konnte aber aus dem, was sie sah, nicht klug werden.
»Mutter, Mutter, komm doch schnell und sieh'!«
»Komm, komm und sieh' selbst! Ich kann es Dir nicht sagen.«
Frau Else eilte herbei, spähte hinaus in der Richtung, welche die Kleine ihr wies, sagte dann aber schnell:
»Das war auch der Mühe wert, mich zu rufen! Das sind zwei Trunkene, die haben das Fest des heiligen Jakobus im Wirtshaus gefeiert und können jetzt in ihrer Trunkenheit den Heimweg nicht mehr finden!«
Kurt Hartmut war auch herangetreten und schaute auf die Straße hinaus.
»Das sind keine Betrunkenen!« sagte er. Er pfiff zwei scharfe, schneidende Töne. Er pflegte das zu Hause so zu machen, wenn er schnell Leute zur Hand haben wollte. Uz, Diez, aber auch Bruno waren wie vom Wind hergetragen zur Stelle.
»Bruno und Uz, Ihr laufet hin und seht, was Ihr dort helfen könnt. Der eine der beiden hat uns erblickt, winkt und bittet um Hilfe!«
Bruno und Uz eilten zum Garten hinaus.
Die Zurückgebliebenen sahen, wie der eine der beiden Wanderer sich alle Mühe gab, den andern aufrecht zu halten. Es war umsonst. Eben sank der Ältere, vom Jüngeren gerade nur vor hartem Fall bewahrt, langsam an den Rand der Straße.
Die zur Hilfe gesandten jungen Leute waren bei den Fremden angelangt. Daß es Fremde waren, sah man sofort an ihrer etwas eigentümlichen, langen Kleidung von abgeschossenem, einmal grün gewesenem Stoff.
»Was fehlt dem Mann, womit können wir helfen?« fragte Bruno.
Mit dankbarem Blick schaute der angeredete junge Mann Bruno an und antwortete, nicht ohne Mühe die deutschen Worte zusammensuchend und mehr oder weniger richtig sie aussprechend:
»Mein Oheim ist krank; wir hofften, die Stadt dort noch zu erreichen. Aber der Weg ist zu böse. Die Kraft hat ihn verlassen. O, helft mir, ihn tragen!«
»Wir wollen ihn bis zu unserem Garten tragen, dort können wir ihn erquicken,« sagte Bruno. Er löste dann dem Zusammengebrochenen den Bündel von seinem Rücken, nahm auch den des Jüngeren, und nun trugen dieser und Uz den Ohnmächtigen.
Hildegard hatte indessen schon den Weinkrug wieder aus dem Korbe hervorgeholt und den Rest in einen Becher gegossen. Als sie mit dem Becher in der Hand die Herannahenden erwartete, sagte sie zur Mutter: »Jetzt, wo man Meister Reinold brauchen könnte, ist er gewiß nicht da!«
»Konnte er das wissen?« fragte unwirsch der Vater.
»Wissen nicht, aber vielleicht ahnen!« entgegnete die Tochter.
»O Weibervolk! Doch hier gilts nicht reden, sondern handeln! Gieb den Becher, Hildegard!« Zu Uz gewandt aber fuhr Kurt fort: »Legt den Mann sachte an den Rain!« Als dies geschehen war, versuchte Kurt, sich neben dem Kranken niederbeugend, ihm einige Tropfen Wein einzuflößen. Aber der Ohnmächtige konnte noch nicht schlucken. »Eilt, holt Wasser vom Brunnen!« Diez war bald mit dem gefüllten Krug wieder da. Frau Else machte Tücher naß und legte sie dem Kranken auf's Haupt. Endlich schlug dieser die Augen auf, blickte verwundert um sich, heftete dann seinen Blick auf den Neffen und sagte zu ihm einige leise Worte in einer fremden Sprache. Kurt aber hielt dem Liegenden noch einmal den Becher an den Mund und forderte ihn freundlich zum Trinken auf. Der Alte suchte den Kopf zu heben, trank einige Schlücke, schloß dann aber wieder müde seine Augen.
»Wo kommt Ihr denn her?« fragte Hartmut den Jüngling.
»Wir sind von Straßburg her unterwegs und wollen von Heilbronn nach Hall und nach Nürnberg.«
»Was ist denn Euer Gewerbe?«
»Wir sind gesandt!« antwortete der Jüngling errötend.
»Von wem?«
»Von unserem Herrn!«
Der Alte schlug die Augen wieder auf und sagte abermals in seiner Sprache einige Worte zu seinem Begleiter.
Kurt verstand nun deutlich, daß es die welsche Sprache war, in der die Fremden verkehrten. In dieser ihrer Sprache, die Kurt noch nicht ganz wieder verlernt hatte, raunte er dem Jüngling einige Worte zu. Dieser erblaßte. Aber auch der Alte mußte die Worte verstanden haben, denn er richtete die Augen ängstlich gespannt auf Hartmut.
Er hatte den Jüngling geradezu gefragt, ob sie Waldenser seien. Das Erbleichen desselben und die Angst des Alten gab ihm eine bejahende Antwort.
»Seid ruhig, Ihr werdet von mir nicht verraten,« sagte Kurt italienisch.
»Wollt Ihr nicht versuchen, noch einmal ein wenig zu trinken? Vielleicht vermöget Ihr auch einen Bissen Brot zu Euch zu nehmen,« sagte Frau Else.
Der Alte trank noch einmal aus dem Becher, dankte aber für das Brot; er erhob sich dann langsam, von seinem Neffen und Hartmut gestützt. Wohl zitterten noch seine Kniee, aber als er die Entfernung bis zur Stadt mit den Augen gemessen hatte, sagte er zu Hartmut: »Wenn Ihr, Herr, gestattet, daß dieser starke junge Mann«, – er deutete auf Uz – »mit meinem Neffen mich geleitet, dann hoffe ich, in die Stadt zu kommen. Gott wird mir in der Herberge durch die Ruhe neue Kraft schenken, wenn es sein Wille ist.«
»Uz, Du führst die Fremden zur Herberge in der Judengasse!«
Frau Else wechselte mit ihrem Mann einige Worte; Hildegard hörte, was sie sagte und vereinigte ihre Bitten mit denen der Mutter. »Nein, Uz,« rief darauf Hartmut, »Du führst sie in unser Haus! Wir gehen voran, folgt langsam nach, und thut nicht über Eure Kräfte!«
Was Uz hätte heimtragen sollen, ward in's Gartenhaus eingeschlossen. Sofort trat Kurt Hartmut mit seiner Familie den Heimweg an. Die drei andern folgten. Unter dem Brückenthor sagte Hartmut dem Wächter, er solle die mit seinem Knechte Uz kommenden Fremdlinge unaufgehalten hereinlassen, er bürge für sie.
Eine halbe Stunde nachher waren sie alle im Hause rechts unten in der Klostergasse, die sich draußen am Sonnenbronnen zusammengefunden hatten.
Das Haus Kurt Hartmuts war eines der stattlichsten in Heilbronn. Es war von seinem Vater Veit Hartmut erbaut worden und wurde damals von allen Heilbronnern angestaunt. Zum erstenmal wagte es ein Bürger, ein steinern Haus zu bauen; hoch erhob sich gegen die Gasse die Vorderseite, unterbrochen von zierlichen spitzbogigen Fenstern, ähnlich denen drüben an den Chortürmen der Kirche. Vorn an der Ecke, der Kirche zugewandt, war das merkwürdige Wahrzeichen des Hauses: ein wildes Tier, ein Leoparde, kauert auf einem Stein und hat zwischen den Vordertatzen das Haupt einer Jungfrau.
Schon Kurt Hartmut war als Knabe gerne hinübergegangen zu den schräg gegenüber wohnenden Präsenzherren und hatte sich von ihnen die Geschichte erzählen lassen, welche das Steinbild darstellte, die Geschichte der heiligen Marciana.
Auch Kurts Kinder hatten von den Pfarrherren die Geschichte vernommen und konnten sie den Gespielen erzählen, wie da einmal in den alten Zeiten, da die Kaiser und die Ratsherren noch Heiden waren, eine fromme christliche Jungfrau lebte, Marciana. Sie sollte vor dem Bilde des Kaisers Weihrauch in die Flammen werfen und den Kaiser verehren, wie man doch nur den lieben Herrgott und die heilige Gottesmutter verehren darf. Deß weigerte sich die Jungfrau. Da wurde sie von den Schergen ergriffen und vor die Richter geführt; die fällten das Urteil, daß sie am Jahrestag des Kaisers sollte allem Volk zum Schauspiel einem Löwen vorgeworfen werden. Aber der Löwe verschonte sie und legte sich zu den Füßen der Jungfrau, als wäre er ihr Schoßhündlein. Da aber das heidnische Volk schrie, die Christin müsse doch sterben, so ließ man einen Stier auf sie los. Der rannte sie zu Boden und stieß ihr mit dem Horn die Brust auf. Sie aber lebte immer noch und hob die Hände auf zu ihrem himmlischen König, dem Herrn Christo. Das verdroß die Heidenleute baß, und so thaten die Schergen noch einmal ein Gitter auf, daraus entsprang ein grimmer Leoparde, der stürzte sich auf die blutende Jungfrau und zerriß sie gänzlich. Und als er sich an ihrem Leichnam gesättigt hatte, legte er sich und hielt ihr blutend Haupt zwischen den Tatzen. Indem er aber so lag, stieg plötzlich vor den Augen des Volks über den zerrissenen Gebeinen der Jungfrau eine schneeweiße Taube auf, die flog der Sonne zu und entschwand den Augen.
So hatten schon vor Jahren die alten Präsenzherren dem jungen Kurt erzählt, so erzählten die jetzigen den Kindern Kurts und so erzählten die Kinder ihren Gespielen.
Warum aber wohl der alte Veit Hartmut dies Steinbild an seines Hauses Vorsprung hatte anbringen lassen? Weil seine Frau eine besondere Freude an der Geschichte der heiligen Marciana gehabt hat und noch aus einem anderen Grunde. Den verriet er einmal seinem Kurt, als dieser von Welschland glücklich zurückgekehrt war, und Vater und Sohn, wie es sich so manchmal begiebt, in der Dämmerstunde müßig einander gegenüber saßen und niemand sonst in der Stube war. Der alte Veit hatte auch seine Kämpfe gehabt mit der übergroßen Macht der Gewohnheit, mit der rohen Gewalt der Menge. Da sah er denn in dem grausen Pardeltier all die rohe Gewalt, auf die er schon in seinem Leben gestoßen, er sah in dem blutenden Haupt der Jungfrau die mißhandelte und unterdrückte Vernunft, aber deshalb hatte schon Veit Hartmut ganz oben hoch über dem Bilde im Taubenschlag stets weiße Tauben gehalten und hatte in ihnen ein Abbild der unbesiegbaren ewigen Wahrheit erblickt, die doch immer wieder zum Himmel sich erhebt.
Von jenem Augenblick an, da der Vater ihm das Bild erklärt hatte, lernte Kurt Hartmut an anderes denken, wenn er zur Messe ging oder zur Vesper, wenn er beichtete, und wenn er die hl. Kommunion empfing, wenn er am hl. Fronleichnamsfest die Kerze trug hinter dem Allerheiligsten. Er dachte fast nur noch an anderes, sah nur noch Bilder und Gleichnisse, wo sein Weib und seine Kinder die Wirklichkeit mit frommen Händen in ein frommes Herz hereinzuziehen glaubten, wo diese wahrhaftige Geschichten hörten und lasen und erlebten. Aber Kurt Hartmut verstand auch zu schweigen. Doch wenn er etwa mißmutig von der Ratsversammlung heimkehrte, wo man ihn nicht verstanden und mit gewaltiger Übermacht seine Gedanken unterdrückt hatte, und er sah das Bild an der Ecke seines Hauses, aber hoch droben am blauen Himmel eine seiner weißen Tauben schweben, dann vermochte er kaum die Lippen geschlossen zu halten und nur im Herzen zu sprechen: Ich danke dir, Vater, für das Wahrzeichen unseres Hauses, und daß du es mir gedeutet hast.
Durch einen Thorbogen mit einem Kreuzgewölbe betrat man den geräumigen Hof des Hartmut'schen Hauses. Zu ebener Erde waren dem Eingang gegenüber und auf beiden Seiten Gewölbe, in welchen die Waren lagerten; in den oberen Stockwerken waren hölzerne Galerien, alle gegen den Hof offen. Vom Thorbogen aus gesehen in der linken Ecke des Hofs war die kunstvoll gewundene Treppe, bis zum zweiten Stockwerk von Stein, weiter hinauf von Holz. Das Hartmut'sche Haus war das erste gewesen, das mit Ziegeln gedeckt und mit Wasserspeiern versehen wurde. Das ganz besonders hatten manche Heilbronner fast wie einen Übermut angesehen, und wenn ein junger Weingärtner einmal in irgend etwas seinem Vater zu weit zu gehen schien, so konnte er auf das Wort des Alten gefaßt sein: »Du wirst dein Haus noch mit Ziegeln decken wollen, wie Veit Hartmut.«
Pfeffer und Leder, Zimmt und Tücher, Heringe und Weinfässer, sie vereinigten ihre Düfte und gaben dem Hause und dem Hofe, ja manchmal der ganzen Gasse einen bestimmten Geruch, der manchem Heilbronner Knaben lieblicher däuchte, als der Geruch von Lilien und Rosen.
Im dritten Stockwerk war den beiden Fremdlingen eine geräumige Kammer angewiesen worden. Frau Else hatte mit Hildegard schnell zwei Lagerstätten zugerüstet, und bald lag der kranke Alte in guter Hut. Kurt hatte den Jüngeren gefragt, ob der Arzt gerufen werden solle. Mit aller Entschiedenheit, ja mit flehender Stimme bat dieser: »Nein, nein, laßt es, lieber Herr! Der uns gesandt hat, wird helfen!«
Frau Else hatte natürlich schon auf dem Heimweg vom Sonnenbronnen ihren Mann gefragt, was er denn mit den Wanderern geredet, und was er von ihnen erfahren habe. Kurt hatte nur gesagt, es seien Italiener und rechtschaffene Leute. Mehr wollte sie auch nicht wissen, als es nun galt, barmherzige Liebe zu erzeigen. Denn der Alte wurde nicht so bald, wie sein junger Begleiter hoffte, besser; vielmehr steigerte sich in den ersten Tagen das Fieber so sehr und atmete er so hart und unter fortwährendem Stechen, daß das Leben zu erlöschen schien. Wenn da der junge Mann in das untere Stockwerk herabkam, um irgend eine Bitte vorzutragen, oder wenn Frau Else hinaufkam in die Kammer, um nach dem Kranken zu sehen, so merkte man dem Jüngling den Kummer wohl an, aber er blieb Tag für Tag und Stunde für Stunde gleichmäßig ruhig und gelassen und sagte nur immer wieder: »Der Herr wird helfen.« Im Lauf der Tage hatte der muntere Diez die Namen der Fremdlinge erfahren. Der ältere hieß Pietro, sein Neffe Giovanni. Aber der Vater duldete nicht, daß weiter über die Gäste geredet werde.
Nur als Kurt Hartmut einmal am Neckar war, um bei der Ausladung seines Schiffes Befehle zu geben, machte sich Diez an die Mutter und fragte sie:
»Sind denn Pietro und Giovanni auch Christen?«
»Wie kommst Du zu dieser Frage?«
»Sie bekreuzen sich nicht, wenn sie beten.«
»Woher weißt Du das?«
Diez errötete, als ehrlicher Bursche aber sagte er:
»Ich habe gestern durch den Spalt der Thüre in die Kammer geschaut, da haben sie gebetet in ihrer Sprache, aber sie haben sich nicht bekreuzt.«
»Pfui, Diez, wie magst Du so an der Thüre stehen! Thu' das nimmer! Die Fremden haben sich wohl bekreuzt, ehe Du kamst und zum Späher wurdest.«
Diez ging und war bald mit anderen Fragen beschäftigt. Frau Else aber war unruhig geworden. Sie hatte schon länger geahnt, daß ihre Gäste nicht bloß fremde Sitten, sondern auch einen anderen Glauben haben. Mit Ketzern wollte sie nichts zu thun haben, nein, ganz gewiß nicht. Aber Ketzer konnten die beiden doch auch nicht sein, diese bescheidenen, demütigen Leute. Warum aber wollte Kurt auch mit ihr, seinem Eheweib, nicht weiter über die Fremden reden? Er schien sie gar nicht zu beachten, aber sie hatte es längst bemerkt, daß er in der Frühe, ehe er in die Lagerräume hinabstieg, zum oberen Stockwerk leise hinaufeilte und dort mit Giovanni einige Worte wechselte.
Während Frau Else so sich ihre Gedanken machte, war Hildegard oben im vierten Stockwerk, wo sie getrocknete Wäsche vom Boden holen wollte, in ihren Gedanken auch mit den Fremden beschäftigt. Sie hatte an der Kammer der Gäste vorüber müssen; sie wollte gewiß nicht horchen. Aber wie sie an der Thüre war, hörte sie die Stimme Giovannis. Sie verstand kein Wort; aber sie fühlte es alsbald, daß das, was gesprochen wurde, gebetet sei. Wie gebannt blieb sie stehen und lauschte, und Andacht erfüllte ihr junges Herz. Und als sie sich losgerissen hatte und ihrer Arbeit oben nachging, da verglich sie die Töne, die sie eben vernommen, mit den Gebeten der Priester, wie sie dieselben von klein auf in der Kirche gehört hatte, und sie fragte sich: Warum beten diese Fremdlinge so ganz anders?
Mit Kurt Hartmut waren die Handlungsdiener an den Neckar gegangen. Nur Bruno und Uz waren im Hofe zurückgeblieben.
»Hab' acht auf den Hof!« hatte Hartmut zu seinem Sohne gesagt, als er das Haus verließ.
»Hab' acht auf den Hof!« sagte Bruno zu Uz und eilte mit einem Büchlein in der Hand hinaus in die Gasse, hinüber in die Präsenz.
Uz hatte acht auf den Hof. Er setzte sich unter den Thorbogen und hörte auf die Schwalben, die schwirrend hoch über den Hof wegflogen. Die Töne in der Luft reizten ihn zur Nachahmung, und bald schwirrte und pfiff es durch den Thorbogen, wie oben in der Luft.
Bruno aber war von der Klostergasse aus in den Hof der Präsenz getreten. Als er denselben durchschritt, um in das gegen die Präsenzgasse liegende Haus der Pfarrherren zu kommen, begegnete ihm der Kirchherr Arnoldus Linck von Winsheim. Den wollte er nicht aufsuchen; vor ihm fürchtete er sich beinahe. Denn es war ein gar ernster und gestrenger Herr, eine hohe, hagere Gestalt, und seine Augen, die konnten so sonderbar leuchten und sich so tief in die Seele derer bohren, die mit ihm redeten.
»Wohin des Wegs, Bruno?« fragte der Kirchherr.
»Zum Pfarrherrn Sifrit Busenhart; ich möchte ihm das Büchlein bringen, das er mir geliehen.«
»Gut, gut, mein Sohn! Sag mir einmal, Ihr habet Gäste? Wer sind denn die Leute?«
Bruno kam in Verwirrung. Er dachte an des Vaters Gebot, daß über die Fremden geschwiegen werden soll. Aber der Kirchherr war ja der Beichtiger, also auch ein Vater; so redete denn der Jüngling. Er erzählte, wie sie mit den Wanderern zusammengestoßen.
»Haben sie schon viel mit dem Vater gesprochen?« forschte der Kirchherr weiter.
»O nein, ich sah den Vater noch nie bei ihnen. Nur, wenn der Jüngere, Giovanni heißt er, in die Stube kommt, die Mutter etwas zu bitten, und der Vater auch in der Stube ist, sprechen sie ein paar Worte miteinander.«
»Wohin wollen sie denn?«
»Nach Hall und Nürnberg!«
In den Augen des Kirchherrn blitzte es auf. »Haben sie auch schon von dem König Ludwig geredet?«
»Ich habe noch nie den Namen aus ihrem Munde vernommen. Der Alte war recht krank, so hat man fast nur davon geredet, wie es ihm gehe. Jetzt aber ist er wieder munterer; sie werden wohl bald weiter ziehen.«
»Waren sie auch in Ulm?«
»Ich glaube nicht.«
»Nicht wahr, du sagst mir, wenn sie gehen!«
»Ich will sehen, daß ich es Euch melde.«
Der Kirchherr war offenbar von der Auskunft wenig befriedigt. Was er gehört hatte, stimmte nicht ganz zu seiner Vermutung, daß die Gäste Hartmuts Unterhändler des Königs Ludwig seien.
Bruno war froh, als ihn der Kirchherr ziehen ließ.
Er eilte die Treppe hinauf. Dort wohnten unter der Aufsicht und Leitung des Kirchherrn die zehn Pfarrherren der Kilianskirche beieinander beinahe wie Mönche. Bruno fand den Pfarrherrn Sifrit Busenhart in seinem Gelasse. Der Geistliche war schon vorgerückteren Alters, die Platte mußte er sich nicht immer neu scheren lassen; sein Kopf war beinahe kahl. Nur spärliche graue Löcklein standen noch neben den Schläfen. Aber aus den Augen leuchtete fast noch jugendliche Lebhaftigkeit, und das zufriedene Gesicht verkündigte jedem eitel Freundlichkeit und Wohlwollen.
»So hast Du die Geschichte vom armen Heinrich schon gelesen?« rief der Pfarrherr dem Eintretenden entgegen, »hat sie Dir gefallen?«
»Ich habe den Herrn Heinrich von Aue nicht leiden mögen; ich hätte ihn schütteln können, als er die zum Opfertod bereite Jungfrau nach Salerno führte. Es wäre doch schöner gewesen, wenn er seinen Aussatz geduldig ertragen hätte. Daß er dann zuletzt das Opfer nicht hat schlachten lassen, das hat mir gefallen, und seine Heilung habe ich ihm gegönnt. Aber sagt, ehrwürdiger Pfarrherr, giebt es denn bei uns auch Menschen, die am Aussatz leiden?«
»Du warst noch ein kleiner Knabe, da lebten hier im Sondersiechenhaus zwei Aussätzige. Sie sind durch den Tod längst von ihren Qualen erlöst.«
»Ach Gott bewahre einen doch vor dieser Krankheit!«
»Ja, und wenn er sie einem Menschen auflegt, dann schenke er ihm die Geduld Hiobs! Aber sag, Bruno, willst Du ein anderes Büchlein?«
»Darum bitte ich, ehrwürdiger Herr!«
Der Geistliche ging an ein Wandkästchen, öffnete es, stellte dort das Büchlein vom armen Heinrich hinein und nahm ein anderes dafür heraus.
»Aber vergiß mir über dem Büchlein nicht die Arbeit, welche Dir Dein Herr Vater aufträgt.«
Bruno zuckte etwas zusammen. Er hatte den Auftrag des Vaters schlecht ausgeführt. Aber er war ja in der Präsenz, bei den geistlichen Herren, und was er darüber versäumt, das kann der liebe Herrgott, dem die Pfarrherren dienen, ersetzen.
Bruno dankte, versteckte das Büchlein in seinem Gewand und nahm wenig Augenblicke nachher den Uz, der immer noch Schwalben durch den Thorbogen schwirren ließ, wieder hinein zu den Waren. Uz versicherte, es sei kein Käufer gekommen.
Einige Tage nachher hatte Pietro das Lager verlassen. Giovanni hatte die Thüre geöffnet und ließ die warme Augustsonne über die Galerie her in's Gemach hereinleuchten; die Wärme that dem in einem Stuhle sitzenden Wiedergenesenden wohl.
Am Fenstergesimse lehnte Giovanni und las aus einem Heft. Hildegard brachte dem Genesenden eine Schale Milch. Die Wärme und Innigkeit, mit welcher Pietro dankte und der Jungfrau und ihren Eltern Gottes Vergeltung wünschte, gab dem Mädchen die Freiheit, zu fragen, was Giovanni lese.
»In unserer Sprache das Evangelium«, antwortete Pietro.
»Leset Ihr es dann, wie es die Priester in der Messe lesen?«
»Nein, meine Tochter, wir lesen es, wie es die Apostel geschrieben haben, das ganze Evangelium, nicht bloß kleine Abschnitte.«
»Der Vater hat auch Evangelien mit schönen gemalten Buchstaben. Ich habe in ihnen auch schon gelesen, denn ein bißchen Latein verstehe ich schon. Ja ich habe sogar einige Sprüche auswendig gelernt.« Halblaut und etwas verlegen sagte sie, mehr vor sich hin als zu den beiden Männern gewandt, den Anfang des Evangeliums Johannis: » In principio erat verbum, et verbum erat apud Deum et Deus erat verbum.« Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. »Seht, edle Jungfrau«, sagte Giovanni freudig bewegt, »das ist ja gerade das Evangelium, das ich hier in Händen habe.«
Mit niedergeschlagenen Augen fuhr Hildegard, zu Pietro gewandt, fort: »Wenn ich nur verstehen würde, was ich so auswendig weiß!«
»Meine Tochter, wer den Spruch versteht, den Du hergesagt, der versteht Gott. Und wo ist ein Mensch, der den Ewigen ganz verstehen würde? Aber was von Ewigkeit bei Gott war, sein heiliger Sohn und sein heiliges Wort, das soll uns mehr sein als Kirche und Papst, als Messe und Priester.«
Erschrocken blickte Hildegard dem Alten in die Augen. »So seid Ihr also der Kirche und den Priestern feind?«
»O nein, wären sie nur uns nicht feind! Wir greifen niemand an, aber sie verfolgen uns von Stadt zu Stadt; sie stellen uns nach, als wären wir wilde Tiere; wo sie uns in ihre Hand bekommen, da müssen wir auf den Scheiterhaufen. Und wir wollen doch gar nichts, als das Wort verkündigen, das im Anfang war, und das das Leben und das Licht der Menschen ist.«
Der Alte hatte mit ungewöhnlicher Erregung gesprochen.
Hildegard kämpfte mit sich selbst. Sie glaubte, die Mutter spräche zu ihr: »Geh' Kind, laß diese Ketzer! Sie sind auf einem von Gott verdammten Weg!« Aber in ihrem eigenen Herzen sprach eine andere Stimme: »Höre weiter zu und frage weiter, diese Menschen sind nicht böse«.
»Warum bleibet Ihr denn nicht bei den andern Christen und haltet Euch in ihrer Mitte an das Wort, von dem Ihr redet?«
»Nichts anderes, meine Tochter, wollte der Mann, der zuerst wieder sein Herz ganz dem göttlichen Worte zugewandt hat. Petrus Waldus hat keinen Papst und keinen Priester gehaßt, er wollte demütig durch die Christenheit hingehen und den einfachen Leuten ganz schlicht das Wort verkündigen, durch welches es in seiner Seele helle geworden war. Da haben sie ihn aus der Kirche hinausgestoßen, und seither werden wir, die wir das ewige Wort lieben, gehaßt, als wären wir Teufel. Sieh, an dem Tage, da Dein gütiger Vater mich armen kranken Mann in sein Haus aufgenommen hat, da hat es sich zum zehntenmal gejährt, daß dieses jungen Mannes Eltern, mein Schwager und meine Schwester in Turin verbrannt worden sind. Meinen Vater haben sie, o wie so lange ist's schon her, auch verbrannt, meine Mutter ertränkt. Seit drei Jahren wandern wir in Deutschland von einer Stadt zur andern und suchen die Brüder auf. Aber auch in Eurem Lande verfolgen uns die Priester und Mönche. Daß wir beide vor einigen Wochen in Basel dem Feuertod entronnen sind, ist nur ein Wunder unseres gnädigen Herrn.«
»Aber warum bleibet Ihr nicht in Eurer Heimat, oder sonstwo an einem verborgenen Ort? Warum reiset Ihr so weit in der Welt umher und bringet Euch immer wieder in Lebensgefahr?«
»Weil der Herr Christus«, antwortete Giovanni mit Lebhaftigkeit, »seinen Jüngern nicht gesagt hat: verstecket euch in Höhlen und berget euch in Schlupfwinkeln, sondern: gehet hinaus in die Welt und saget das Evangelium allen Menschen!«
Rasch wandte sich Giovanni von Hildegard ab und sprach leise aber schnell mit Pietro italienisch. Dieser besann sich einen Augenblick, schaute dann vertrauensvoll das vor ihm stehende Mädchen an und gab Giovanni eine kurze Antwort, worauf dieser wieder zu Hildegard gewendet fortfuhr:
»Edle Jungfrau, Ihr kennet nun unser Geheimnis; wir sind jetzt ebenso in Eurer Hand, wie in der Eures Vaters. Aber wir fürchten von Eurem Vater nichts Böses und auch von Euch nichts. Ja, wir bitten jetzt sogar um eine große Gunst. Helfet mir dazu, daß ich in Eurer Stadt zu – und nun las Giovanni den Namen, den er auf der letzten halbleeren Seite seines Heftes aufgeschrieben hatte – zu Meister Vaihinger kommen kann!«
So verwundert Hildegard über die Bitte war, so mußte sie doch zuerst lächeln, denn mehr noch als manches andere deutsche Wort hatte der Name dem italienischen Jüngling Schwierigkeiten gemacht. Er hatte ihn in einer Weise ausgesprochen, die für Heilbronner Ohren beinahe greulich war.
»Ihr meinet den Schuster?«
»Ja, ja, er ist Schuster« und zur Versicherung, daß ja kein Mißverständnis obwaltete, deutete Giovanni auf seine Schuhe.
»Meister Vaihinger wohnt in der Rappengasse. Aber wie wisset Ihr, die Ihr doch zum erstenmal unsere Stadt betreten habt, den Namen des Mannes?«
»Die Brüder, die in der Welt zerstreut sind, kennen einander. Es sind ihrer in dieser Stadt noch einige wenige. Vor uns waren schon manche Waldenser in Schwaben und Franken. Sie haben den Menschen, die das Wort lieben, unseres Erlösers Evangelium gebracht. Aber nun sagt, edle Jungfrau, wollet Ihr mir dazu behilflich sein, daß ich heute, wenn es dunkel geworden ist, unbemerkt in's Haus des Meisters kommen kann?«
Hildegard geriet in große Verlegenheit. Wie? da leben, ohne daß es die andern Christenleute merken, Menschen in der Stadt, die von der Kirche und von den Heiligen, von den Priestern und von der Messe nichts wollen. Diese Menschen haben mit anderen Gleichgesinnten eine geheime Verbindung, und jetzt soll sie, die Tochter eines guten christlichen Hauses, diesen Menschen zu Dienst sein, die doch jedermann Ketzer schilt! Sie hörte im unteren Stockwerk in der Küche die Stimme der Mutter, die fragte: »Wo doch Hildegard so lange weilt?« War das nicht ein deutlicher Wink, daß sie die Bitte der Gäste abschlagen, daß sie allen weiteren Verkehr mit ihnen meiden soll? Aber Hildegard schaute dem Bittenden in die Augen, und da sah sie etwas, was sie in ihrem Leben noch nie so gesehen hatte; da leuchtete ein Glanz, der schien ihr heiliger als der Glanz des ewigen Lichts drüben in der Kirche, und die Bitte Giovannis war für sie ein Befehl, strenger, zwingender, als je für sie ein Wort der Mutter gewesen war.
Leise und doch bestimmt sagte sie zu Giovanni: »Ich will mit Uz reden, daß er Euch unbemerkt zu Meister Vaihinger führt. Wenn ich es Uz anbefehle, schweigt er wie das Grab. Aber nun muß ich zur Mutter in die Küche!«
Sie hörte nicht mehr auf die Dankesworte der beiden Gäste und eilte die Treppe hinab.
Es gelang Uz, den jungen Waldenser unbemerkt in die Rappengasse zu Meister Vaihinger zu führen und ihn vor Mitternacht wieder glücklich in die Klostergasse zurückzubringen. Hildegard konnte es sich nicht versagen, den Burschen am andern Morgen ein wenig auszuhorchen. Sie vermochte aber nicht viel aus ihm herauszubringen. »Der Schmied Büttinger und der Schneider Atzmann und der Weingärtner Bobach, sie haben alle dem Welschen einen Kuß gegeben, und hernach knieten sie alle in der Kammer drinnen, und der Welsche hat gebetet, daß der Distelfink im Käfig wieder lebendig geworden ist und hat dreingepfiffen. Ich hab' nicht verstanden, was der Welsche gebetet hat und was die Hiesigen dazu gesagt haben; ich hab' auf den Distelfink gehört.«
Also Handwerksmeister halten es mit den Waldensern? Weiß denn der Vater auch davon? Aber die Mutter weiß gewiß nichts davon und will nichts davon. Warum muß ich mit ihnen bekannt werden? Das waren die Gedanken Hildegards. Von oben herab hörte sie, ohne die Worte zu verstehen, die ruhige, klare Stimme Giovannis. Und wieder legte sich die Unruhe ihres Herzens, und sie sagte sich abermals: es ist kein Unrecht, daß du auf die frommen Leute hörst und mit ihnen redest.
Zwei Tage nachher war Hildegard frühe auf, es hatte die große Heilbronner Messe begonnen. Da hörte sie, als sie von der Galerie in den Hof hinabschaute, oben die Stimme des Vaters, hörte, wie er Frage und Antwort mit den Gästen wechselte. Dann vernahm sie noch, daß der Vater sagte: »Reiset glücklich!« Bald darauf ertönte unten im Hofe die Stimme des Vaters. Er gab den Handlungsdienern und gab Bruno und Uz Befehle. Während der Messe waren auch zur Hilfe die Weingärtner da, welche das Jahr über die Weinberge Kurt Hartmuts besorgten. Sie hatten schon am Vortag tüchtig mitzurüsten auf die Messe. Schon kamen ab und zu Händler und Krämer in den Hof; schnell wurden die Mahlzeiten eingenommen, bei denen ein behagliches Gespräch unmöglich war. Man redete nur vom Geschäft. Hildegard mußte oft in den Keller und hatte den alten Kunden, die weit hergekommen waren, einen Becher Wein zu kredenzen. Wer konnte da von den Gästen reden? Man konnte ja kaum an sie denken!
Aber Hildegard dachte doch an sie. Das Wort des Vaters, das sie gehört, machte ihr zu schaffen. Gegen Abend, da die Zurüstungen auf den Jahrmarkt beendet waren, und keine Kunden mehr kamen, eilte Hildegard mit dem Abendbrot in die Kammer der Gäste. Pietro war jetzt völlig genesen, das sah man. So verstand es sich auch von selbst, daß die Beiden das gastliche Haus wieder verließen. Aber weder die Waldenser noch Hildegard redeten vom Gehen. Nur, als sie gute Nacht wünschte, glaubte sie in den Augen Pietros eine Thräne zu sehen, und im Blick Giovannis leuchtete ihr mehr noch als bisher ein wunderbares Feuer entgegen, daß es ihr heiß wurde im Herzen, und daß eine dunkle Glut sich über ihre Wangen ausbreitete. Am ersten Meßtag selbst hatte Hildegard noch morgens die Stimmen der Waldenser gehört. Aber dann kam der Umtrieb, der von Stunde zu Stunde sich steigerte.
Da war Kurt Hartmut wie ein Feldherr in der Schlacht. Seine Augen waren überall, seine Antworten immer ruhig; jedem Kunden schien er allein anzugehören und gehörte doch allen. Alles in der Familie half mit; Anna konnte der Schwester zur Seite stehen mit Einschenken und Umherbieten der Becher, Diez war stets zu haben, wenn es galt, einem Kunden die Pferde am Wagen zu halten oder gar einen Esel zum Thorweg hereinzuführen, um ihn da zu bepacken. Bruno aber durfte an solchem Tage der schönen Büchlein des Pfarrherrn Sifrit Busenhart nicht gedenken; da mußte er vielmehr seine Gedanken zusammennehmen und sich an der großen Wage wacker tummeln trotz seiner natürlichen Ungelenkigkeit. Wie im Flug gingen für die emsige Familie die Tage der Messe vorüber. Es war am ersten Tage abends allmählich ruhig geworden in Hof und Haus. Die Familie sammelte sich zum verspäteten Abendbrot. Diez fehlte noch. Der Vater ließ seine bekannten Pfiffe ertönen. Da eilte auch schon der Vermißte in großen Sätzen die Treppe herab und lief mit der Botschaft ins Zimmer: »Die Welschen sind fort!«
»Ich weiß es, daß die Waldenser weiter gezogen sind; sie lassen Dich, Else, noch grüßen und Dir für alles danken.«
Frau Else war eben daran, den Braten aufzuschneiden.
Das Messer entfiel ihrer Hand, und entsetzt sah sie ihren Mann an. »So wußtest Du, daß es Ketzer waren, und hast sie dennoch unter unser Dach gebracht! Kurt, Kurt, wenn wir den Fluch dieses Ungehorsams tragen müssen, dann wehe uns!«
»Ich habe nicht Waldenser ins Haus aufgenommen, sondern einen kranken, würdigen Alten und seinen Begleiter. Das hab' ich nicht zum wenigsten gethan, weil ein mitleidiges Frauenherz es wünschte. Ich glaube, das mitleidige Herz hat das Richtigere getroffen, als das Herz, das sich vor dem Beichtstuhl des Kirchherrn fürchtet. Aber es wird hier in meinem Hause und an meinem Tische von jetzt an von niemand mehr über die Welschen geredet!«
Die letzten Worte hatte Kurt Hartmut sehr scharf gesprochen, und jeder im Hause wußte, daß ein solcher Befehl befolgt werden mußte, wenn man nicht von einem gewaltigen Zornausbruch des Hausherrn sich treffen lassen wollte.
Frau Else seufzte und schwieg. Hildegard war bald rot, bald bleich geworden. Bruno sah finster vor sich hin. Nur Diez und Anna stillten nach dem bewegten Tage fröhlich ihren Hunger. Die älteren Mitglieder der Familie waren froh, daß der Vater bald vom Tische aufstand, um noch in die Herberge zu gehen, in welcher verschiedene seiner besten Kunden, die aus weiterer Entfernung gekommen waren, übernachteten.
So gerne Frau Else mit ihrer Hildegard noch über das geredet hätte, was ihr Herz bewegte, so war sie doch ein gehorsam Weib und schwieg, und weil emsige Hausfrauen an der Arbeit immer ein gutes Mittel haben, unruhige Gedanken zu dämpfen, so fuhr sie mit der Tochter auch nach dem Feierabend fort, zu arbeiten und das durch den ersten Meßtag in Unordnung gekommene Haus wieder möglichst in den rechten Stand zu bringen.
Bruno aber sagte sich: »Der Vater hat befohlen: in meinem Haus und an meinem Tisch wird nicht mehr über die Welschen geredet. Die Präsenz ist nicht des Vaters Haus und des Vaters Tisch – also!« So lief denn Bruno noch in der Dämmerung hinüber in die Präsenz, nicht zu seinem geliebten Pfarrherrn Sifrit Busenhart, sondern zum gestrengen Kirchherrn Arnoldus Linck. Der Jüngling kam dem Geistlichen offenbar ungelegen. Nicht eben freundlich fragte er Bruno: »Was willst Du noch in so später Stunde?«
»Auf Euren Wunsch, ehrwürdiger Herr, melde ich Euch, daß die Welschen fort sind.«
Die Botschaft Brunos stand offenbar weit ab von dem Gegenstand, der des Kirchherrn Gedanken eben beschäftigt hatte. »Die Welschen, sagst Du?« fragte er gedehnt; dann aber fuhr er schnell fort: »Ja, ja, ich weiß jetzt, die Fremden, die in Eurem Hause waren. So, die sind fort. Wohin sind sie denn?«
»Das weiß ich nicht gewiß. Wenn sie die Wahrheit gesprochen haben, dann sind sie nach Hall. Sie haben wahrscheinlich das Haus verlassen, als unser Hof ganz voll von Marktleuten war. Ehrwürdiger Herr, es waren Waldenser!«
»Da sei Gott vor! Bruno, Bruno, da habt Ihr nicht genug gebetet und gewacht, sonst hätte der Teufel Euch diese seine Jünger nicht ins Haus führen können. Aber sag, sind sie, so lange sie bei Euch herbergten, auch in die Stadt gekommen und in unsere Bürgerhäuser gegangen?«
»Nein, sie haben sich ganz verborgen gehalten. Nur der Jüngere ist zu uns herabgekommen, den Alten sah ich nur immer in der Kammer.«
»Wer hat es denn herausgebracht, daß es Waldenser sind?«
Bruno zögerte mit der Antwort. Endlich sagte er ziemlich kleinlaut: »Der Vater hat es gewußt, daß es Waldenser sind, aber die Mutter nicht. Die Mutter ist arg betrübt, daß sie solche Ketzer im Hause gehabt hat.«
»Geh' nun wieder und bitte die liebe Gottesmutter und Deinen Schutzheiligen, daß sie Euer Haus künftig bewahren vor solchen gefährlichen Menschen!«
Der Kirchherr machte über dem jungen Menschen, der sich demütig verbeugte und die Hände zusammenlegte, das Zeichen des Kreuzes.
»Der wird nicht wie sein Vater, der gehört uns«, murmelte der Kirchherr vor sich hin, während Bruno ins väterliche Haus hinüberschlich.
Am ersten Tag nach Beendigung der Messe kniete Frau Else lange vor dem Beichtstuhl des Kirchherrn und schüttete ihr bekümmertes Herz aus. Sie bekam Weihwasser mit aus der Kirche und die Anweisung, unter Anrufung des heiligen Michael die Kammer, da die Ketzer geweilt, wohl auszuräuchern. Zu diesem Geschäft nahm sie, während Kurt Hartmut in der Ratsversammlung war, die alte Magd, die Barbara und Hildegard mit hinauf in den Oberstock. Ach, wenn Else gewußt hätte, wie ungern Hildegard mitging, wie wenig ihrer Meinung nach die Kammer einer Ausräucherung bedurfte! Während die Mutter das Weihwasser in die Ecken und an die Wände sprengte und die alte Barbara inbrünstig den Erzengel Michael anrief und immer neuen Wachholder im Namen der heiligen Dreifaltigkeit auf die Kohlen warf, die aus einem Becken in der Mitte der Kammer glühten, erblickte Hildegard aus dem Gesims des Fensters einen Papierstreifen. Es gelang ihr, denselben wegzunehmen und in ihrem Kleide zu bergen, ohne daß es die Mutter oder die Magd merkte. Bei all dem frommen Werke der Beiden betete Hildegard auch. Aber ihre Bitten hatten einen andern Inhalt, sie erflehte von dem allmächtigen Gott Schutz für die beiden Wanderer, die stets in Todesgefahr schwebten.
Als die Kammer wieder gründlich befreit war von allem ketzerischen Geiste und die Frauen in den ersten Stock hinabgestiegen waren, eilte Hildegard in ihr Kämmerchen und las den Streifen. Es stand nichts anderes auf ihm als der Spruch, den sie auswendig konnte: In principio erat verbum, et verbum erat apud Deum, et Deus erat verbum. Und dazu noch die weiteren Worte aus demselben Evangelium: In ipso vita erat, et vita erat lux hominum. (In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.) Hildegard wußte, daß sie den Abschiedsgruß der Waldenser in der Hand habe. Die Handschrift der beiden Sprüche war verschieden, der erste mit festen kräftigen Zügen, der zweite mit kleineren etwas unsicheren Buchstaben geschrieben. Hildegard sah den Streifen viel länger und viel häufiger an, als wegen der Entzifferung des Geschriebenen nötig gewesen wäre.