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Sechstes Kapitel.
Wir lesen.

Während Bruno das herrliche Vorrecht der Jugend genoß und nach den Aufregungen der letzten Nacht und des letzten Tages fest schlief, hatten die Pfarrherrn im Turm eine böse Nacht.

Der Kirchherr stand schon bald, nachdem der Schultheiß und Hartmut den Turm verlassen hatten, an der Wand, legte den linken Arm an die Mauer und preßte sein schweres Haupt auf den Arm. »O dieses dreimal verfluchte Haus des Hartmut! Muß auch seines Sohnes Gutmütigkeit uns zu Schimpf und Schaden werden!«

Einmal brüllte er geradezu hinaus: »Ich hab's! Hinter der ganzen Geschichte steckt Kurt Hartmut selbst. Der hat uns durch seinen Sohn die Falle legen lassen!« Zu den Füßen des verzweifelnden Kirchherrn saß Sifrit Busenhart und weinte still. Er schämte sich mit brennendem Schmerz, daß er, der ältere Mann, nicht früher ernstlich vor dem Wein gewarnt, daß er selbst mitgetrunken und mitgelacht und an den Spässen sich beteiligt habe. Andere Pfarrherren hatten sich aufs Stroh hingestreckt und waren so fest eingeschlafen, daß sie schnarchten. Das verdroß den Kirchherrn gewaltig. Den Diez Schenck weckte er, indem er ihn mit dem Fuß in die Seite stieß. Als der Kirchherr daran ging, den einzelnen Vorwürfe zu machen, da ließen diese es sich nicht gefallen. So wechselten Klagen, Seufzer, Vorwürfe, zornige Entgegnungen mit einander ab bis in die Nacht hinein. Endlich wurde es im Turme auch wieder Tag. Der Ratsbote kam, mit ihm der Wächter, der den Krug mit Wasser frisch füllte und den Brotlaib hinlegte, wieder einen kleineren. Ob die Herren Messe lesen wollen? fragte der Ratsbote. Das Nein des Kirchherrn – er allein gab heute die Antwort – klang so bissig, so wütend, daß der Ratsbote zurückfuhr und sich nicht gewundert hätte, wenn ihm der Wasserbecher, der neben dem Kirchherrn auf dem Stroh lag, an den Kopf geflogen wäre.

Der Tag schlich schrecklich langsam dahin. Über den Gemütern lagerte sich allmählich dumpfe Ruhe, aber die Mägen fingen bedenklich an zu knurren. Die Stückchen Brot, die Ulrich Schnizer austeilte, waren gar zu klein. Einigemal machte der beste Sänger unter den Pfarrherrn, Konrad Eck, den Versuch, einen Psalmen anzustimmen. Aber keiner stimmte mit ein, und bald wurden auch die Töne Ecks dünner und leiser und verstummten. Als abends Ulrich Schnizer die zweite Hälfte des Laibs austeilte und das erste Stück dem Kirchherrn darbot, schüttelte dieser den Kopf. »Gieb meinen Teil den andern; ich esse nichts mehr, ich möchte nicht so langsam sterben; ich will den Hungertod beschleunigen. Bin ich dahin, könnt Ihr thun was ihr wollt.« Schnizer gehorchte dem Kirchherrn nicht, sondern legte das Stück Brot neben ihn aufs Stroh. Als aber bald darauf die erste eigentliche Schwäche den Kirchherrn überfiel, da streckte dieser unwillkürlich die Hand nach dem Brot neben ihm aus und verschlang es.

Arnoldus Linck, der Kirchherr, machte sich sonst aus dem Essen gar nichts. Er wußte nach einer gemeinsamen Mahlzeit kaum mehr, was aufgetischt worden war. Er hielt's mit den alten Philosophen und lebte nicht, um zu essen, sondern aß, um zu leben. Aber seit die Wachtel nicht mehr schlug, seit die Stückchen Brot das einzige waren, was von Speise unter seine Augen kam, schwebten vor seinem inneren Auge immer die üppigsten Speisen, sah er immer Tische vor sich, vollgedeckt zum Zusammenbrechen. Und dazu kam ein Weiteres. Je größer sein Hunger wurde, um so weniger gehorchten ihm auch sonst seine Gedanken, um so schwächer wurde sein Wille. Was hatte denn König Ludwig ihm Leids gethan, daß er ihn so haßte? Es kam dem Kirchherrn sogar der Gedanke: wenn nur der Bischof von Würzburg mit ihm und den Pfarrherrn hier hungern müßte! Der würde wohl bald zu den Gefangenen sagen: Macht Frieden mit dem Rat!

Wieder erschien ein neuer Morgen und wieder die alte Frage durch den Mund des Ratsboten. Heute bekam dieser keine Antwort. Er wartete lange. Wie elend sahen doch schon die Geistlichen aus, wie bleich, wie hohläugig! Er fragte noch einmal, zum drittenmal. Da wendet er sich zum Gehen; aber indem er schon die Treppe hinabsteigt, lispelt's aus der der Treppe entgegengesetzten Ecke des Gelasses, wo Johannes Sontheim, der dickste der Priester, saß: »Ich lese!« Der Ratsbote hat's nicht mehr gehört. Der Kirchherr wendete langsam den Kopf nach dem ersten, der abfiel. Er wollte ihm einen verächtlichen Blick zuwerfen, aber selbst zur Verachtung war der Kirchherr schon zu schwach. »Ich lese auch,« spricht vor sich hin Philippus Helt; »ich halte den Hunger nicht mehr aus, und sterben kann ich doch nicht.«

»Wenn ich an die armen Heilbronner denke, die ohne Sakramente leben und sterben müssen, dann halte ich es auch nicht mehr aus; ich lese auch«, sagte mit fast ersterbender Stimme Sifrit Busenhart. Und so sagten sie alle, einer um den andern, leise, den Kopf tief herabgebeugt, die bleichen Hände um die Kniee gefaltet.

Der Kirchherr schwieg. Den ganzen Tag kam kein Wort mehr über seine Lippen. Aber seine vorher dunkeln Haare hatten am Abend einen gräulichen Schimmer. Als der Ratsbote am Morgen dem Schultheißen meldete, daß ihm die Pfarrherrn gar keine Antwort gegeben haben, da leuchtete es in den Augen des Schultheißen fröhlich auf. Er befahl dem Ratsboten, um die Vesperzeit wieder in den Turm zu gehen und noch einmal zu fragen. Sogleich aber ließ er Kurt Hartmut zu sich entbieten.

»Ich glaube, sie geben heute noch nach«, rief der Schultheiß dem Ratsherrn vergnügt entgegen.

»Wenn sie es thun, und sie wollen mit dem Rate verhandeln, dann laßt mich wegbleiben. Ich will ihnen durch meine Anwesenheit die schwere Stunde nicht noch bitterer machen.« Der Schultheiß war ganz damit einverstanden.

Zur bestimmten Zeit erschien der Ratsbote wieder und richtete an den Kirchherrn seine schon so oft gestellte Frage.

Arnoldus Linck von Winsheim schlug langsam, müde, bis zum Tode betrübt, seine Augen auf und sagte tonlos: »Hole den Schultheißen!« Dieser war bald im Turme. Die Pfarrherrn hatten sich alle von ihrem Strohlager erhoben und standen rechts und links vom Kirchherrn, lauter gebrochene, müde, ausgehungerte Gestalten.

Freundlich wandte sich fast noch von der Treppe aus der Schultheiß zu den Priestern und sagte: »Ihr habt Euch nun wohl aufs Richtige besonnen und leset morgen wieder Messe?«

»Wenn wir es thun«, sagte langsam, schleppend der Kirchherr, was wird dann der Bischof von Würzburg mit uns anfangen?«

»Dafür laßt uns sorgen«, antwortete der Schultheiß. »Leset Ihr und verwaltet Ihr wieder die Sakramente, so steht Rat und Stadt hinter Euch und läßt Euch kein Haar krümmen.«

»Wenn wir lesen, wollt Ihr dann, Herr Schultheiß, dafür sorgen, daß wir ohne Spott und Hohn des Volkes in die Präsenz hinüberkommen, und daß uns dann nachher auch nicht lose Leute zum besten haben?«

»Ihr sollt heute, wenn es dunkel geworden ist, von mir und einigen Ratsherrn in allen Ehren aus dem Turme geführt werden, und Ihr stehet dann in jedem Stück unter dem Schutze des Rats.«

»Wir lesen von morgen an«, sagte immer noch in hohlem Grabeston der Kirchherr. Viel freudiger und frischer ließen die Pfarrherrn im Chore es erschallen: »Wir lesen, wir lesen!«

Bald darauf rief das Glöcklein aus dem Rathause den Rat zusammen. Der Schultheiß machte Mitteilung von dem Entschluß der Pfarrherrn. Alles freute sich, jedermann war damit einverstanden, daß den Priestern jeglicher Schutz gewährt werde. Beim Auseinandergehen reichten verschiedene der Ratsherrn Kurt Hartmut die Hand und sagten ihm Dank, daß er den Vorschlag gemacht habe, der nun die Stadt aus der Not befreite. Als der Halbmond über der Kilianskirche stehend in die Stadt hereinleuchtete, hatte er das Schauspiel, daß ein Zug Priester die Sülmergasse lautlos herauskam, an der Mauer ins Präsenzgäßchen einbog und dann in der Präsenz verschwand.

Am andern Morgen läuteten die Glocken wie früher zur Messe. Wie strömten die Heilbronner herbei! Denn noch am Abend war es wie ein Lauffeuer durch die Stadt gegangen: Die Pfarrherrn lesen Messe! Und wie hatten jetzt einige Tage lang die Priester alle Hände voll zu thun! Da brachten die Mütter die ungetauften Kinder; da kamen die jungen Paare, die nun auch noch vor dem Priester den Ehebund zum Sakramente werden lassen wollten; da eilten die Angehörigen von Schwerkranken herbei und erbaten für sie die letzte Ölung, da kamen auch solche, deren Angehörige gestorben und in ungeweihter Erde begraben worden waren und baten um nachträgliche Weihung der Ruhekämmerlein und um Seelenmessen. Die Pfarrherrn thaten das alles, aber sie wandelten bleich und schweigsam durch die Gassen der Stadt.

Sie hatten noch nachts in der Präsenz in der Konventsstube den Psalm gesungen: Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Sie waren erlöst aus dem Adelberger Turm; es war ihnen alles auch noch wie ein Traum, aber wie ein häßlicher, schrecklicher Traum; darum war auch ihr Mund nicht voll Lachens und ihre Zunge nicht voll Rühmens, sondern ihr Gemüt voll peinlicher Gedanken, die sich untereinander verklagten und entschuldigten.

Aber die Heilbronner hatten wieder ihren Gottesdienst, und die Weinlese, die nun kam, war doch viel schöner, als sie gewesen wäre, wenn das Interdikt seine Schreckensherrschaft weiter geführt hätte.

Die Weinlese, der Herbst, das wollte von jeher in Heilbronn etwas heißen. Alle die Hügel im weiten Halbkreis waren ja mit Reben bezogen. In ganz Heilbronn lebte damals niemand, der nicht mit den Reben und ihrem Gewächs irgend wie zu thun gehabt hätte. Auch in den Häusern der Vornehmen, auch in den Kaufhäusern und in den Werkstätten trat alles andere im Herbst zurück hinter der Weinlese. Es war 1345 kein Feuerwein gewachsen, dazu hatte es im Sommer zu viel geregnet. Aber weil der September trotz des Interdikts fast nur schönes Wetter gebracht hatte, so waren die Trauben gut gereift, und so voll hingen die Weinstöcke, daß es eine Lust war, durch die Weinberge zu gehen und den Segen einzuheimsen.

Auch in Kurt Hartmuts Haus waren die Lagerräume und die Schreibstube geschlossen. Die Kelter, sonst das Jahr hindurch mit Ballen, mit Fässern und Kisten bis an die Decke hinauf belegt, war frei gemacht und für ihren eigentlichen Zweck zugerichtet worden. Und nun zogen die Heilbronner hinaus Tag um Tag. Singend verließen die Winzer und Winzerinnen des Morgens die Stadt, alle die Hügel hallten den Tag über wieder von Jubelrufen der Leserinnen, von den Jodlern der Buttenträger, von den nach Trauben rufenden Tretern. Aus all den vielen Weinbergwegen führten unaufhörlich den ganzen Tag über die Kärcher ihre zweirädrigen Karren, auf denen je ein Faß befestigt war, gefüllt mit den zertretenen Trauben und ihrem süßen Saft. Jeder der Gäule hatte Glocken am Geschirr. Des Abends aber zogen unter dem roten Schein von Kienfackeln die Leser und Leserinnen heim, die schönsten Lieder singend im Wechselgesang. So war denn die ganze Luft bewegt von vielstimmigem Klang und Sang, aber auch die ganze Luft erfüllt vom Geruch des süßen Mostes. Recht hatte der bayrische Ritter gehabt, der unter den Begleitern des Königs Ludwig bei dessen letztem Besuche in Heilbronn gewesen war und gesagt hatte: Es ist nur gut, daß der Wein, der auf den Hügeln bei Heilbronn wächst, nicht von selbst und nicht auf einmal in die Stadt strömt, sonst müßten ja alle Heilbronner im Wein ersaufen.

Die Weinlese neigte sich ihrem Ende zu. Kurt Hartmut hatte das herrliche Herbstwetter seinem besten Weinberg, dem am Abhang des Wartbergs, noch recht zu gute kommen lassen wollen, hatte die Lese dort bis zuletzt aufgeschoben. Dort sollte ein kleines Fest den Abschluß verherrlichen. Dazu war auch Meister Reinold, der Arzt, eingeladen worden, nicht eben zur Freude Hildegards.

Wenn im Frühjahr das junge Grün über die Wiesenflächen des Neckarthals einen neuen Teppich ausbreitet, und die blühenden Bäume wie duftige Spitzen den Teppich einsäumen, wenn die Lerchen in der Luft jubilieren, und die Bienen ihren Erstlingshonig eintragen, wenn die Sonne sich spiegelt in dem Strom, der seine winterlichen Fesseln gesprengt und abgeschüttelt hat, dann ist es fürwahr ein liebliches Bild, das der Wanderer von des Wartbergs Höhen vor sich liegen hat. Auch in des Sommers langem Tageslicht bietet das Neckarthal mit den Höhen, welche es umlagern, eine herrliche Augenweide. Die Hügel, die im Frühjahr noch nichts zeigten, als die rotbraune Erdfarbe, sie haben sich mit dem leuchtenden Grün der sprossenden Reben bedeckt, und von den Scheiteln der Hügel schaut der Wald herab, eingetaucht in tiefes ernstes Blaugrün. Von drüben aber, von der Frankenbacher und Fleiner Höhe, leuchten Kornfelder herüber in allerlei Gelb, schnell der Sichel entgegenreifend, ein herzerquickender Anblick für alle, die mit Angst das Mehl zusammenschmelzen sehen in der Truhe.

Aber am schönsten ist doch im Herbst der Blick vom Wartberg. Nie im ganzen Jahr erscheint das Blau des Himmels tiefer und voller, nie goldener die Sonne als im Oktober. Und nun das Farbenspiel der Rebgelände! Hier brennendes Rot, dort leuchtendes Gelb, daneben noch glänzendes Grün. Wundersam geht in der Runde das Farbenspiel der Wälder über in das duftige Violett des Horizonts, aus dem das Blau des Gewölbes sich aufbaut. Neigt aber die Sonne sich zum Niedergang, steigen leise und leicht zarte Nebelstreifen auf aus dem Thal, dann giebts ein Zusammenspielen und Ineinanderfließen von Farben, daß das trunkene Auge nicht weiß, wohin es blicken, wo es am längsten haften soll. Solch ein Tag war's, als Kurt Hartmut seine Herbstfeier hielt. Noch galt's den Tag über emsig der Weinlese obzuliegen. Alle, bis herunter zur kleinen Anna, hatten ihre Kübel vor sich stehen, in welche sie sorgsam die abgeschnittenen Trauben sammelten. Der muntere Diez durfte in einem kleinen Butten mithelfen, die süße Last hinabzutragen zum Bergzuber, über welcher die Tretbütte stand, in der seit der Morgenfrühe der Böckinger Bursche seines einförmigen Amtes gewaltet hatte. Eben hatte Diez sein Büttlein ausgeschüttet und stieg die Stufen im Weinberg wieder hinan. Da hört er den Treter gewaltig schimpfen und schreien. Er wendet sich und sieht, wie dieser, der von seiner Bütte herabgesprungen war, einen Mönch an der Kapuze seiner Kutte hält. Der Mönch aber sucht sich loszureißen und balgt sich mit dem Treter. Kurt Hartmut und die Seinigen, die Leser und die Leserinnen, alle sind aufmerksam geworden. Diez erkennt den Mönch. »Laß doch den Bruder Johannes!« ruft er dem Treter zu. »Er hat gestohlen, die schönsten hat er gestohlen,« schreit dieser zurück. »Laß ihn, laß ihn,« ruft auch von oben Kurt Hartmut. Da wird der Mönch frei. Er läuft einen Bogenschuß weit, dann dreht er sich und schwingt das geraubte Körbchen in der Luft, dankt mit der andern Hand und eilt der Stadt zu. Frau Else hatte die schönsten Trauben in Körbchen zum Heimnehmen zurückgestellt; das Körbchen der untersten Zeile hatte Bruder Johannes ergattert. Alles lachte; Kurt Hartmut aber sagte: »So hat er sich die ersten und die letzten Trauben aus dem besten Weinberg geholt. Man sieht, der Barfüßer hat doch ein großes Vertrauen zu uns.«

Ganz oben am Weinberg, an der Grenze zwischen Reben und Wald hatte Hildegard seit einiger Zeit mit der Mutter gewaltet. Hier wurde der festliche Abendimbiß bereitet. Der Wind wehte von Westen, darum war an der östlichen Grenze des Weinbergs von Uz das Feuer angefacht und unterhalten, über dem unter Aufsicht von Frau Else Würstchen gebraten wurden. Auf der entgegengesetzten Seite richtete Hildegard Brote und stellte die zinnerne Weinflasche, mit edlem Wein gefüllt, und die Becher zurecht. Da näherte sich ihr Meister Reinold.

Der Arzt fragte: »Kann ich helfen?«

»Ich danke, ich werde allein bald fertig sein.« antwortet Hildegard und sah von ihrer Arbeit zu dem Meister auf. Sie sah in ein trauriges Gesicht. »Was ist Euch, Meister? Seid Ihr traurig, wo doch alles fröhlich ist?«

»Habt Ihr nicht gesehen, was eben wieder der Barfüßerbruder Johannes gethan hat?«

»Ich habe es gesehen und habe mich herzlich darüber gefreut,« antwortete lächelnd Hildegard.

»Was Euch freut, ist mein Untergang!« sagte seufzend Reinold. »Wie kann denn ein geschulter Arzt für die Dauer es aufnehmen mit einem Mönche, der sogar die Arznei für seine Kranken stiehlt?«

»Macht's auch so!« sagte rasch Hildegard.

»Daß mich die Leute totschlagen sollen, wenn ich es einmal probierte?« antwortete bitter der Meister.

»Ach nein,« sagte, ihr vorschnelles Wort offenbar bedauernd, Hildegard, »ich meine nicht, daß Ihr gerade das Gleiche thun sollt wie der oft fast närrische Bruder Johannes; ich meine, Ihr sollt das Heilen der Kranken auch so, wie der Barfüßer, als einen Gottesdienst ansehen. Das werden die Leute bald merken und dann auch zu Eurer Kunst, die größer ist, als die des Mönchs, Zutrauen gewinnen.«

Meister Reinold errötete; es blitzte in seinen Augen auf wie gefesselte Wut, und gerade diesen Blick fing Hildegard auf. Der Arzt aber bezwang sich und fuhr in scheinbarer Ruhe fort: »Ihr meint also, edle Jungfrau, ich hätte bei den Dominikanern in Wimpfen bleiben sollen? Dürfen denn bloß Mönche einen Beruf haben, welcher wie kein anderer der Menschheit zum Heile dienen soll? Mich hat, glaubt mir's, Hildegard, nicht die Liebe zum Geld auf die hohe Schule nach Salerno getrieben. Ich wollte eindringen in die Geheimnisse der Natur. Ich wollte die Feinde kennen lernen, welche des Menschen Leben bedrohen. Ich wollte die Waffen schmieden, mit denen ich als ein treuer Wächter die Feinde von des Menschen Leib abwehren könnte. Ich wollte lernen, den Tod zu bändigen, daß er nur noch kommen dürfte, um als Freund die müden Wanderer einzuladen, sich zur ersehnten Ruhe niederzulegen. So hab' ich geforscht und gearbeitet, und nun, da ich ins Vaterland zurückgekehrt bin und zeigen möchte, daß ich nicht umsonst gelernt habe, sieht man mich mit Mißtrauen an. Nur wenige sind's, die mich verstehen. Wäre Euer Vater nicht immer wieder mein Fürsprecher, ich hätte in Heilbronn kaum etwas zu thun. Und nun seh' ich, daß auch Ihr, edle Jungfrau, mich nicht verstehet!« Des Meisters Stimme hatte einen wehmütigen Klang angenommen. Hildegard kam in Verlegenheit.

»Ich wollt' Euch gewiß nicht wehe thun,« sagte sie, wie um Entschuldigung bittend, »ich kann mich nicht recht ausdrücken. Ich habe das Gefühl, der Arzt sollte wie der Priester nicht des Geldes wegen sein Amt ausüben, sondern umsonst, daß dann jeder Kranke im Arzt gleichsam einen Boten und Diener Gottes sehen würde.«

»Wie die Priester umsonst!« lachte bitter Meister Reinold hinaus. »Aber wohnt Ihr denn nicht den Priestern gegenüber? Seht Ihr denn nicht, was, seit die Priester wieder Messe lesen, die Heilbronner für Lasten von Frucht und Wein, von Kohl und Kraut, von Obst und Trauben in die Präsenz schleppen? Würde nur der zehnte Teil von diesem Zehnten mir zugetragen, ich geb' Euch mein Wort, dann würde ich auch umsonst die Kranken behandeln und würde gewiß auch den Armen gerne allerlei Labsal bringen. Aber saget mir doch nur das Eine, wie kommt Ihr, eines Kaufmanns Tochter, die doch besser als manche andere weiß, daß man erwerben muß, um leben zu können, wie kommt Ihr auf den Gedanken, daß ein Arzt umsonst seines Amtes warten soll?«

»Das kann ich Euch wohl sagen. Ich kam auf den Gedanken, weil er im Evangelium steht.«

»Im Evangelium?« fragte gedehnt der Meister. »Wo denn?«

»Der Herr Jesus sagt: Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus! Umsonst habt Ihr es empfangen, umsonst gebet es auch!«

»Wie mögt Ihr, edle Jungfrau, uns Ärzte den Jüngern Jesu gleichstellen?«

»So wollt Ihr also, Meister Reinold, kein Jünger Jesu sein?« fragte rasch die Jungfrau und wandte ihre klaren Augen fest dem Arzte zu.

Reinold wurde verwirrt und sagte, ohne seinen Unwillen ganz niederkämpfen zu können: »Wie mag man doch so fragen! Ein Arzt und ein Apostel Christi das ist und bleibt zweierlei. Aber erlaubt mir noch einmal eine Frage: Leset Ihr denn das Evangelium?«

»Gewiß!« sagte Hildegard mit ruhiger Bestimmtheit. Der Arzt schüttelte den Kopf.

Nun aber war die Lese wirklich beendet, die letzten Kübel waren in den letzten Butten geleert. Mit einem Jubelschrei bezeugte unten am Weinberg der Treter seine Freude darüber, daß der Feierabend nahe. Die Leserinnen und die Buttenträger traten aus den Zeilen auf den freien Platz, wo sich Kurt Hartmut und Frau Else anschickten, alle, die mitgeholfen hatten, zu bedienen.

Frau Else bot selbst die Platte mit den Würsten umher, Anna trug neben der Mutter den Korb mit den zugeschnittenen Broten. Kurt Hartmut schenkte den Wein, und Hildegard kredenzte die Becher. Diez hatte sich mit seinem Brot und seiner Wurst alsbald wieder ans Feuer gemacht, denn dies mußte gut unterhalten werden, je rascher die Sonne sank, je näher die Zeit der Heimkehr heranrückte. Als männiglich mit Speise und Trank versehen war, und eine behagliche Ruhe sich über die ganze Gesellschaft ausbreitete, sagte Frau Else: »Was unser Bruno wohl macht? Ob der am Rhein auch so unser gedenkt, wie wir sein gedenken?«

»Ich glaube,« entgegnete Hartmut, »er wird uns nicht ganz vergessen, aber er wird in Köln so viel zu sehen haben, daß er nicht allzuviel an den Heilbronner Herbst denken kann.«

»Mög' ihn Gott vor dem Winter wieder glücklich den Rhein und Neckar heraufbringen!« sagte innig Frau Else.

Meister Reinold aber erhob den Becher und rief: »Laßt uns anstoßen auf das Wohl des Sohnes, der zum erstenmal fern von der Heimat weilt!« Alle folgten gern der Aufforderung des Arztes. Bald herrschte laute Fröhlichkeit im Kreise. Die Sonne war hinter dem Heuchelberg untergegangen. Die Luft wurde kühl, die Dämmerung begann, sich über das Neckarthal zu legen. Man dachte nun an den Heimweg. Während Frau Else mit ihren Töchtern das Geschirr zusammenräumte, hatte Uz mit Diez die Kienfackeln herbeigetragen, die am Feuer angezündet werden sollten, damit sie den Heimweg erleuchteten. Jeder der Männer und Jünglinge holte sich eine Fackel und zündete sie an; dann fanden sich die Paare. Den Anfang machten Diez und Anna; Uz führte voll Vergnügen die alte Köchin Barbara. Hildegard konnte es dem Arzte nicht abschlagen, als er höflich und mit zierlicher Verbeugung um die Ehre bat, die Jungfrau heimgeleiten zu dürfen. Frau Else hätte es lieber gesehen, wenn der Arzt sie selbst geführt hätte, dann wäre Hildegard in Begleitung des Vaters gegangen. Aber es ließ sich nicht mehr ändern. Man stieg zunächst durch den Weinberg hinab. Beim Fackelschein überzeugte sich Hartmut, daß der Bergzuber gut zugedeckt war. Dann führte der Weg noch ein kleines Stück steil zwischen hohen Mauern hinab, bis er am Fuße des Berges in einen schönen breiten Weg ausmündete, der auf beiden Seiten mit Obstbäumen besetzt war. Meister Reinold hatte es dahin gebracht, daß er mit Hildegard den Zug schloß. Die Leser und Leserinnen sangen. So hörte niemand, was der Arzt mit dem Mädchen redete. Er knüpfte wieder an an das, was er vor dem Abendimbiß mit ihr geredet hatte.

»Habt Ihr kein Mitleid mit mir, edle Jungfrau, daß ich in Heilbronn so gar nicht vorwärts kommen kann?« fragte er und schaute seine Begleiterin wehmütig an.

»Ich möchte Euch aufrichtig wünschen, daß Ihr mit Eurer Kunst überall Anerkennung fändet«, gab ihm Hildegard zurück.

»Dann müßt Ihr mir auch wünschen, daß ich Vertrauen gewinne; ohne das ist alles umsonst.«

»Ihr habt ja meines Vaters und manches andern angesehenen Bürgers Vertrauen.«

»Was hilft mich das«, sagte mit plötzlicher leidenschaftlicher Erregung der Arzt, »wenn ich Euer Vertrauen nicht habe, Hildegard!«

Das Mädchen fuhr zusammen. Der Arzt hemmte seinen Schritt und schaute Hildegard flehentlich an. Sie blickte auf und sah in die Augen Reinolds; diese schimmerten feucht, aber – war es der Widerschein der brennenden Fackel, oder war es ein unwillkürliches Aufleuchten dessen, was im tiefsten Herzensgrund des Meisters lauerte – der Blick hatte für Hildegard nur etwas Abstoßendes, nichts, was ihr Mitleid hätte wachrufen können.

Kühl sagte Hildegard: »Ich glaube, wenn ich krank wäre, wollte ich Euch Vertrauen schenken und wollte Eure Mittel gegen die Krankheit anwenden und Eure Ratschläge befolgen.«

»Mein' ich denn das!« rief in kläglichem Tone der Meister. »Was hilft mich das Vertrauen Eures Vaters, wenn er mir seine Tochter nicht anvertraut, was hilft mich Euer Vertrauen, Hildegard, wenn Ihr nicht mein Weib werden wollt!«

Mit diesen Worten suchte er Hildegard näher an sich heran zu ziehen. Sie aber riß sich los und trat einige Schritte von ihm weg. Dann kam es über ihre Seele wie eine klare Offenbarung. Sie richtete sich hoch auf, so daß der nur mittelgroße Arzt ihr gegenüber klein erschien. »Der Weg soll ich für Euch werden, auf dem Ihr bequem zum Ziele kommen könnet! Das wagt Ihr Kurt Hartmuts Tochter anzubieten? Schämt Euch!«

Sie ließ den Arzt stehen und eilte, die Vorausgehenden einzuholen. Reinold aber war geneigt, seine Fackel wegzuwerfen und nicht bloß der spröden Jungfrau, sondern der ganzen Herbstgesellschaft, ja ganz Heilbronn den Rücken zu kehren und in die weite Welt hinauszulaufen. Doch er besann sich rasch eines andern. Er eilte Hildegard nach, holte sie unmittelbar hinter den letzten Leserinnen ein und raunte der Bleichen unter dem Schutze des lauten Herbstgesangs zu: »Ich habe als Gast Eurer Eltern das Recht, Euch bis zur Stadt zu begleiten; Ihr werdet mir den Schimpf nicht anthun, daß Ihr mich allein gehen lasset!«

Hildegard gab keine Antwort; doch weigerte sie sich auch nicht, neben dem Arzt herzugehen. Beide waren froh, daß bald das Sülmerthor erreicht war. Hier mußten die Fackeln vor der Mauer weggeworfen werden. Wenn nun auch die Sülmergasse nur spärlich durch einzelne Lichtstrahlen erleuchtet war, die aus den Fenstern der hohen Häuser fielen, das focht das junge Volk nicht an. Der Gesang wurde in der Stadt mit doppelter Kraft fortgesetzt, bis man am Hartmut'schen Hause in der Klostergasse angekommen war. Dort ließen die Winzer und Winzerinnen alle auf Hartmut und seine Eheliebste den Heilruf erschallen. Dann löste sich der Zug auf, und Meister Reinold konnte ohne Aufsehen von seiner Begleiterin sich wenden, um den Eltern seinen Dank zu sagen.

Daß er in diesem Augenblick die ganze Hartmut'sche Familie samt der Stadt Heilbronn zum Teufel wünschte, ahnte weder Kurt noch Else.

Der Mutter fiel am andern Tag das bleiche Aussehen Hildegards auf. Sie fragte besorgt nach dem Grunde. Die Tochter schüttete der Mutter ihr ganzes Herz aus; sie machte dieser damit eine große Freude. Meister Reinolds wütende Gedanken aber pendelten hin und her zwischen Kurt Hartmuts Haus und dem Hause des reichen Nathan in der Judengasse.


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