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Erzählung.
Gott, dem Allbarmherzigen, sei Dank und Preis! Nunmehr ist alles zu einem glücklichen Ende gediehen, wie Er es von aller Ewigkeit her theils vorherbestimmt, theils zuzulassen beschlossen hat! Heute sah ich den lieben Knaben noch einmal, und es sind mir dabei die hellen Thränen in meinen weißen Bart gerollt; nun werde ich ihn nicht mehr schauen, bis der Herr zum Gerichte kommt. Wie wird er in himmlischer Schönheit zur Rechten Christi strahlen! Wenn ich armer Sünder dann im Angesichte von Himmel und Erde zittere und zage, mag er wohl bei meinem Richter ein huldreiches Wort für mich einlegen. Ja, er und die liebe Mutter Gottes, die alles so wohl gelenkt und gewendet hat, und der zu Ehren ich nun in der Einfalt meines Herzens aufzeichnen will, was sich in diesen letzten Wochen hier in Prag begeben und zugetragen hat.
Es ist mir jetzt noch frisch in der Erinnerung und mag vielleicht in spätern Zeiten etwas zum Lobe Mariä beitragen, wofern meine himmlische Herrin dieses einfältige Geschreibsel segnen will. Worte, insbesonders geschriebene, sind überhaupt den Samenkörnern ähnlich, welche der Wind hin und her verweht, daß auch nach vielen Jahren noch an fremden Orten die Blumen aufblühen, wie mir letzten Sommer, ich weiß nicht von wannen, ein tiefrothes Blutströpflein in meinem Gartenbeet aufsproßte, und ich habe es gepflückt und der lieben schmerzhaften Mutter zum Sträußlein gewunden.
Ja, das Blutströpflein! Ob es nicht doch eine geheime Bedeutung hatte, wie damals der Bruder Kunibert meinte?
Und so fange ich, P. Sebaldus O. C., denn in Gottes Namen an und will alles in der Weise aufschreiben, wie ich es entweder selber erlebte oder von glaubwürdigen Leuten nachher gehört habe.
Heuer, im Jahre des Herrn 1701, da die Christenheit das große Jubiläum feiert, welches der nun schon in Gott ruhende heilige Vater Innocenz XII. verkündete, da sein glorreicher Nachfolger Clemens, dieses Namens der elfte, an Christi Statt die katholische Kirche leitet, da Leopold I. die römische Kaiserkrone trägt, da Johann Joseph, aus dem Grafengeschlechte der Brenner, Erzbischof von Prag ist und hier in unserem armen Kapuzinerklösterlein auf dem Hradschin P. Honorius in Milde und Strenge als Guardian waltet – hat sich die Begebenheit mit dem jungen Abele zugetragen.
Es war im Märzmonat und in der heiligen Fastenzeit – des Tages kann ich mich nicht mehr genau entsinnen; doch mag es nicht viel früher oder später als Oculi gewesen sein –, da ging ich eines Nachmittags in unserem Klostergärtlein spazieren und freute mich der warmen Sonne und des anbrechenden Frühlings. Erst schaute ich nach meinen Blumen. Die Schneeglöcklein waren schon nahezu vorüber; die goldigen Schlüsselblumen aber standen in vollem Flor, und unter dem alten Birnbaume blühten die ersten Veilchen, die lieben, duftigen Fastenblümlein. Dann räumte ich an den kleinen Eckbeetchen das dürre Laub beiseite, und siehe, da lugten die ersten Crocus-Blumen aus dem Lande hervor, kräftig gelb und zart lila, daß ich meine Freude hatte. Konnte es mir auch nicht versagen und rief den Bruder Kunibert herbei, um ihm die Blumen zu zeigen; denn ich hatte die Zwiebeln erst letzten Herbst von meinem geistlichen Bruder aus Regensburg erhalten.
Bei diesem Anlasse haben wir alte Knaben, und sogar in der heiligen Fastenzeit, uns gegen das Silentium verfehlt; der P. Guardian merkte es aber alsbald, öffnete das Fensterlein seiner Zelle und dictirte uns eine Pönitenz, welche ich mit dem Beistande Gottes denselben Abend noch im Refector verrichtet habe.
Wir nun ließen die Köpfe hängen und gingen unserer Wege. Ganz unten im Garten längs der Mauer ist ein stiller Pfad, an dessen Ende sich ein kleines Heiligenhäuschen mit einem Bildnisse der schmerzhaften Mutter befindet. Dahin trug ich die erste offene Crocus-Blume zusamt ein paar Veilchen, meiner lieben Mutter zum Gruße, und wandelte dann auf und ab, den armen Seelen einen Rosenkranz betend, bis mich das Glöcklein zur Vesper riefe.
Nicht manches Gesetzchen hatte ich gebetet, da kam Bruder Kunibert und meldete: » P. Sebalde, es steht ein Judenknabe an der Pforte, der mit einem Kapuzinerpater reden will. Kommet also und höret, was sein Begehr sei.«
Fast ein bißchen ungeduldig fragte ich: »Hat vielleicht P. Guardian bestimmt, daß ich mich mit diesem Judenknaben abgebe? Ansonst wir in dieser Jubiläumszeit mit den Christenleuten Arbeit genug haben.«
»Ei, ei, P. Sebalde,« meinte der Bruder Pförtner darauf, »es will mich bedünken, daß Ihr in dieser Stunde mehr der Erholung als der Arbeit pfleget. Im übrigen wisset, daß P. Guardian im Beichtstuhl ist, P. Operarius zu einem Kranken ging und somit Ihr nach aller Ordnung der Nächste seid, den ich zur Pforte zu rufen habe.«
Das war nun soweit alles recht; doch gefiel mir der liebe Sonnenschein im Garten besser als die düstere Pförtnerstube. Sagte also zum Bruder Kunibert, er möge den Judenknaben zu mir herausbringen, und er that mir den willen.
Bald kam der Knabe. Ich konnte mich nicht genug über sein edles, bescheidenes Wesen verwundern, und niemals hätte ich bei einem Kinde des verstoßenen Volkes so viel Anstand und Sittsamkeit gesucht, wie er mich sah, rückte er alsbald das Sammetbarett von seinen schwarzen Locken, richtete sein dunkles Auge fast schüchtern auf mich, dann sagte er in wohllautender Sprache: »Das ist gut, mein hochwürdiger Vater, das hat der Herr wohl gefügt, daß ich gerade Euch treffe. Es war mein Wunsch, aber ich kannte Euern Namen nicht.«
»Und woher kennst du mich denn?« fragte ich verwundert.
»Der Küster zu Sanct Veit ist mir hold und läßt mich zuweilen heimlich in die Kirche schlüpfen. So hörte ich neulich Eure Predigt auf Lichtmeß, und was Ihr damals von der Jungfrau aus dem Hause David sagtet, hat mir baß gefallen. Auch ich bin aus dem Stamme Juda, so unsere Ueberlieferungen nicht trügen.«
»Armes Kind,« sagte ich traurig, »das Scepter ist von Juda gewichen, weil Israel seinen Tag nicht erkannte, an welchem es sein Heiland, wie eine Henne ihre Küchlein, um sich sammeln wollte!«
Bei diesen Worten, welche ich eigentlich viel mehr für mich als für ihn gesprochen, schaute mich der Knabe gleichwohl gar ernst und verständnißvoll an und antwortete: »Ich weiß es: unsere Väter haben gesündigt; sie haben den gottverheißenen Messias ermordet, sie haben gerufen: ›Sein Blut komme über uns und unsere Kinder‹, und siehe – es ist über uns gekommen! Wir irren umher von Land zu Land, unstät wie Kain, der seinen Bruder Abel erschlug; aber der Herr wird sich dereinst unser erbarmen und die Reste Israels retten, – und,« fügte er bei, derweil eine Thräne in sein Auge trat, » hassen sollten uns darum die Christen nicht.«
Männiglich kann sich denken, wie sehr ich über diese unerwarteten Worte aus dem Munde eines Judenkindes staunte. Ich gab ihm gänzlich darin recht, daß kein Christ einen Juden hassen dürfe, den Worten Christi gemäß: »Liebet eure Feinde«, und fragte ihn sodann höchlich verwundert, ob er denn, was ich aus seinen Worten schier abnehmen müsse, glaube, daß Jesus von Nazareth der gottverheißene Messias sei, und er erwiderte, fromm die Hände über der Brust kreuzend: »Ich glaube es und bin entschlossen, ein Christ zu werden.«
»Und wie kommst du zu diesem beseligenden Glauben?« forschte ich weiter.
»Maria, die Mutter Christi, hat es mich geheißen.«
Ich traute meinen alten Ohren nicht und ließ ihn die Antwort abermals wiederholen, und nochmals sagte er mit derselben überzeugenden Einfalt: »Maria, die Mutter Gottes.« Daß der Knabe mich nicht belügen wollte, dafür würde ich des Todes sterben; ich meinte also, es habe ihm geträumt. Er aber bestand darauf, es sei kein Traum gewesen, und sagte: »Maria, die auf der großen Säule des Marktplatzes steht, hat es mich geheißen.«
Auf meine Frage erzählte er dann ausführlicher, wie folgt: Es habe ihm einmal, da er noch ein zartes Knäblein war, eine christliche Magd von der heiligen Jungfrau erzählt, wie die Christen sie ihre Mutter nennen dürfen, und wie ihm das so gut gefallen, auch eine Mutter im Himmel zu haben. »Seitdem habe ich oftmals traurig in der Ferne gestanden, wenn meine christlichen Spielgenossen sich vor dem Bilde der Mutter Gottes hinknieten, habe meine Mütze abgenommen und auch mich der himmlischen Frau empfohlen. Nun geschah es letzten Dienstag nachmittags, daß ich mit vielen Schülern der Jesuiten auf dem Platze des Federspieles pflog, und da wir recht in der Hitze des Spieles waren, erscholl das Aveläuten. Alsbald stellten meine Kameraden das Spiel ein, scharten sich um die hohe Mariensäule und sprachen niederknieend ihr Gebet. Da weiß ich nicht, wie mir wurde; plötzlich kniete ich, wie von unsichtbaren Händen gezogen, zu den übrigen nieder, und da ich das Gebet, welches sie sprachen, nicht kannte, sagte ich das einzige Wort: ›O du mächtige Tochter unseres Volkes, sei auch meine Mutter!‹ Und siehe, kaum hatte ich auf diese Weise in meinem Herzen gefleht, so antwortete mir Maria: ›Werde ein Christ, und ich will deine Mutter sein.‹«
»Das hat die heilige Jungfrau mit lauter Stimme dir zugerufen!« fragte ich.
»Ich habe es deutlich gehört,« antwortete er.
»Und auch deine Spielkameraden haben es gehört?«
»Ich weiß es nicht; aber ich habe es so deutlich gehört, wie ich jetzt Eure Worte vernehme, mein Vater. Und seit der Stunde drängen mich meine Kameraden, ich müsse ein Christ werden, und noch mehr als sie drängt mich eine Stimme in meiner Brust ohne Unterlaß und sagt mir: Verlasse das Haus deines Vaters und werde ein Christ!«
Ob nun das Bild auf dem Marktplatze wirklich geredet habe, wie das bei andern Gnadenbildern glaubwürdigerweise geschehen ist, oder ob die liebe Mutter Gottes bloß innerlich zu dem Herzen des Knaben sprach, will ich dermalen nicht entscheiden. So viel ist gewiß und war mir von Stund an klar, daß die göttliche Gnade in ungewöhnlicher Art diese arme, noch nicht mit dem Taufkleide gezierte Seele an sich zog. Beschloß auch sofort, mich des Knaben anzunehmen, wofern unser P. Guardian, mit dem ich in so wichtiger Ungelegenheit erst Rücksprache nehmen mußte, damit einverstanden wäre, möchte daraus für mich entstehen, was da wollte, und obwohl ich mich erinnerte, daß schon mehr als ein Ordensbruder dem Hasse der rachsüchtigen Juden mit Blut und Leben zum Opfer fiel.
Da kam es mir in den Sinn, daß ich ihn noch nicht nach seinem Namen und seiner Sippe gefragt hatte, was ich doch billig zu Anfang hätte thun sollen. Holte also schleunig mein Versäumniß nach und erfuhr nun zu meinem nicht geringen Schrecken, daß der Knabe der einzige Sohn des alten Abel Abele sei und soeben das zwölfte Jahr vollendet habe. Ferner vernahm ich, daß sein Vater sich gegenwärtig auf einer Handelsreise nach Venedig befinde und von dort vor Monatsfrist nicht leicht zurückerwartet werde. Es schien mir somit das Gerathenste, den Knaben vor des Vaters Heimkunft zur heiligen Taufe vorzubereiten.
Sothaner Abel Abele ist aber der allerreichste Jude nicht nur in Prag, sondern in ganz Böheim, und hatte ich oftmals von armen Leuten über ihn klagen hören ob der unbarmherzigen Härte, mit welcher er seinen Schuldnern den letzten Heller, ja das Blut unter den Nägeln hervorpreßte. Daß somit seines einzigen Söhnleins Entschluß, ein Christ zu werden, einen höllischen Sturm hervorrufen werde, lag auf der Hand, und ich überlegte in meinem Herzen, ob es in Anbetracht der zarten Jugend des kleinen Abele nicht rathsam sei, die Spendung der heiligen Taufe ein paar Jahre hinauszuschieben. Allein der Gedanke, daß die Mutter Gottes selber jetzt den Knaben berufen, verscheuchte jeglichen Zweifel; auch fand ich ihn gänzlich entschlossen, von seinen Eltern zu scheiden, wiewohl ihm das seiner Mutter wegen, welche er kindlich liebte, recht bitter wurde. Sprach ihm also Muth ein, bis das Vesperglöcklein läutete und mich in das Chor rief; dann bat ich ihn, er möge sich ein halbes Stündchen im Garten gedulden, derweil ich mit meinen Brüdern das Lob Gottes und seiner Heiligen singe, und ging in die Kirche. All das wunderbare, das ich soeben gehört, ließ jedoch meinen Geist nur halb und halb beim Psalmodiren, so zwar, daß ich zum Aergerniß meiner Brüder eine falsche Antiphon anstimmte, was mir der liebe Gott verzeihen möge.
Als die Vesper zu Ende, wartete im Kreuzgange P. Guardian meiner und winkte mir, ihm auf seine Zelle zu folgen. Konnte mir schon denken, warum, und nahm diesmal den wohlverdienten Wischer hin, ohne die Nase zu rümpfen. Dann erzählte ich ihm die wunderbare Geschichte von dem Judenknaben. P. Guardian hörte mich ruhig zu Ende, strich sich seinen schwarzen Bart und meinte: » P. Sebalde, da habt Ihr Euch in Eurer Gutmüthigkeit wieder einmal einen rechten Bären aufbinden lassen.«
Ließ mich aber hierdurch nicht beirren und sagte: »O mein lieber P. Honori, wollte Gott, man bände mir täglich solche Bären auf, welche sich in der heiligen Taufe in Lämmer Christi verwandeln! Kommt doch und seht das Knäblein, und Ihr möget selber entscheiden, ob dieses unschuldige Antlitz die Larve eines Lügners sei. Kommt mit, der junge Abele steht drunten im Garten und wartet unser!«
Dessen war P. Guardian zufrieden, und wir stiegen selbander in das Gärtlein nieder. Bald fanden wir den Knaben; er hatte inzwischen an dem Heiligenhäuschen gar säuberlich die dürren Blätter aus dem Epheu gelesen und das kleine Beet davor abwechselnd mit weißen Schneeglöcklein und gelben Schlüsselblumen so besteckt, daß die Reihen in hebräischen Buchstaben das Wort Mirjam, das heißt: Maria, bildeten. Wiewohl ich es nämlich in meinen jungen Jahren in litteris Hebraicis nur mit Mühe bis zum Hithpaël gebracht, konnte ich die sonderbaren Schriftzeichen doch noch lesen und dem P. Guardian verdolmetschen. Als der Knabe unsere Schritte hörte, wandte er sein von der Arbeit lieblich geröthetes Gesicht herum, strich die vollen Locken aus der Stirne und grüßte uns recht ehrfurchtsvoll und kindlich, was alles bei P. Guardian eines guten Eindruckes nicht verfehlte.
Gleichwohl nahm er ihn scharf ins Gebet und fragte ihn seine Geschichte rückwärts und vorwärts. Der Knabe wiederholte in einfältigen Worten, was er mir erzählt hatte, und widersprach sich dabei nicht mit einer Silbe. Als er aber merkte, daß P. Guardian seiner Erzählung nicht recht traute, wurde er fast betrübt und sagte: »Glaubt Ihr meinen Worten nicht, ehrwürdiger Vater? Und habe doch in meinem Leben noch niemals gelogen.«
»Ich glaube dir, mein Kind,« antwortete der P. Guardian. »Aber mich schreckt der Kampf, so deiner harret. Wie willst du gegen den Willen deines Vaters den Befehl der heiligen Jungfrau ausführen?«
»Sie wird mir helfen,« sagte der Knabe voll Zuversicht. »Ich bin entschlossen, meinem Vater zu entfliehen.«
»Aber dein Vater ist reich, sehr reich,« prüfte ihn P. Honorius des weitern, »Wenn du ihm entfliehst, machst du dich zum Bettler, und du weißt nicht, wie hart und bitter das Bettelbrod schmeckt.«
Doch machte solche Vorstellung keinen sonderlichen Eindruck auf den entschlossenen Knaben, vielmehr antwortete derselbe: »Wohl hat mein Vater viel Seidenzeug in seinen Gewölben und reichlich Gold in seinen Kisten; das alles will ich mit Freuden verlassen und betteln gehen. Daß ich aber von meiner Mutter scheiden muß, das freilich ist über die Maßen hart; doch wird mich Maria zu trösten wissen.«
»Amen,« sagte ich da, zu Zähren bewegt, »und sie wird dir eine vielliebe Mutter sein.«
»Maria soll mir eine vielliebe Mutter sein und wird, wie ich hoffe, dereinst auch meine Mutter trösten. Diese ist dem christlichen Glauben nicht so abhold: schaut nur, was sie mir einst umhing, da ich noch sehr klein war.« Mit diesen Worten zog der kleine Abel zu unserem großen Staunen ein Skapulier hervor.
Da wir dessen ansichtig wurden, sagte der P. Guardian: »Wahrlich, mein Knabe, dich hat die heilige Jungfrau von der Wiege an zu ihrem Kinde angenommen! Nun zweifle auch ich nimmermehr, daß du ihrem Rufe ohne Zaudern zu folgen habest. Sie wird dir Kraft und Stärke verleihen, selbst wenn du mit deinem Blute den Glauben besiegeln müßtest. So wollen wir allda vor ihrem Bilde niederknieen, voll Dank für das Werk, das sie begonnen, und um ihre mächtige Hilfe flehen.«
Knieten also selbdritt nieder, und P. Honorius betete mit erhobenen Händen und gar beweglicher Andacht das »Unter deinen Schutz und Schirm«, worin ich aus vollem Herzen einstimmte.
Dabei faltete der kleine Abel, dieses Gebetleins noch unkundig, seine Hände, schaute vertrauend zur schmerzhaften Mutter empor und sprach zum Schlusse ganz allein ein kräftiges Amen, daß uns beiden Männern schier die Thränen in die Augen traten. Auch ereignete es sich, daß zur selben Stunde in der nahen Santa Casa oder Loreto-Kapelle das Aveläuten anhub, dem hinwiederum alle Kirchen von Prag antworteten, und es kam aus einem Nachbargarten ein Blutfink auf den alten Birnbaum geflogen und schmetterte sein Abendlied. Das war der erste und letzte Blutfink, den ich heuer in unserem Garten hörte, und Bruder Kunibert meinte nachher, auch das sei eine Vorbedeutung gewesen.
Jetzo ging P. Guardian mit mir zu Rathe, was mit dem Knaben zu thun sei, und hierbei waren wir keineswegs einerlei Meinung; denn ich wollte ihn heimlich im Kloster behalten und hätte gar zu gerne das unschuldige Blut zu einem Sohne des hl. Franciscus herangezogen, derweil P. Honorius nichts davon hören wollte, indem er den Sturm scheute, den der reiche Jude gegen uns arme Kapuziner heraufbeschwören würde. Sein Plan ging vielmehr dahin, den Knaben in das Proselytenhaus zu schicken, das eigens zum Unterhalte neubekehrter Juden gestiftet ist und in dem sie unter dem Schutze der Obrigkeit gegen die Nachstellungen ihrer Sippe gesichert sind. Zu meinem großen Herzeleid konnte ich den guten P. Honorium nicht zu meiner Meinung bereden, weder für unser Klösterlein hier in Prag, noch für ein anderes unserer böhmischen Provinz. Mußte mich also zu seinem Willen bequemen, wobei ich gleichwohl nicht gänzlich und freudig gehorchte, vielmehr mir fest fürnahm, die ganze Historie an meinen geistlichen Bruder in Regensburg zu schreiben, zuversichtlich vertrauend, er werde sich dieses Pflegekindes der lieben Mutter Gottes annehmen.
Summa Summarum: bis von dorther eine Antwort kam, mußte ich meinem P. Guardian nachgeben, auch alsbald in seinem Auftrage mit dem Knaben nach Sanct Clemens gehen, um daselbst mit dem Rector des großen Jesuiten-Collegii, welcher dem Proselytenhause vorsteht, Rede und Rath zu pflegen. Das nahm seine Zeit; denn die Jesuiten wollten sich in sothaner Angelegenheit die Finger auch nicht verbrennen.
Der P. Rector berief seine Consultores oder Räthe, und diese fragten den Knaben mit großer Milde im Ton, aber der Sache nach noch viel schärfer als unser P. Guardian, die Kreuz und Quer nach allen Umständen des wunderbaren Vorfalls, zeigten sich schließlich doch befriedigt, und der P. Rector sagte Ja und Amen. Wollte auch sofort persönlich mit mir den Knaben nach dem nahegelegenen Proselytenhause geleiten, und es wurde diesem daselbst, wie bei einer solchen Begleitung nicht anders zu erwarten, die beste Aufnahme zu theil. Nachdem zu allseitiger Zufriedenheit jegliches geordnet war, verabschiedeten wir uns für diese Nacht, wobei der Knabe in wohlgesetztem Latein – denn er war dieser Sprache schier besser kundig als ich – dem Jesuiten sein gratias sagte, mir aber die Hand küßte und mich um meinen öftern Besuch gar dringend ersuchte. Herzlich gerne versprach ich das dem guten Kinde.
Vor dem Hause sagten wir zwei Ordensleute uns mit freundlichen Worten »Gute Nacht«, empfahlen uns auch der eine in des andern fromme Gebete und heilige Opfer. Dann wandte ich mich der steinernen Brücke zu, welche durch den Martyrtod des großen hl. Johannes von Nepomuk so hoch berühmt ist. Es war inzwischen Nacht geworden und die Lichter brannten hell vor dem großen steinernen Crucifixe, das von einem Juden zur Strafe für eine Gotteslästerung daselbst errichtet wurde, wie es denn auch zum ewigen Andenken in hebräischer Schrift das Bekenntniß der Gottheit Christi trägt.
Ich ging nicht vorbei, ohne ein Vaterunser für die Bekehrung des verblendeten Judenvolkes, insonderheit aber für den kleinen Abele zu beten, und auch den hl. Nepomuk grüßte ich in der gleichen Meinung mit einem kurzen Gebete. Dann wandelte ich fast traurig durch die dunkeln Straßen dem Hradschin zu; weiß nicht, wie es kam; aber es lag mir so bang auf dem Herzen, als ob die nächste Zeit viel bittern Schmerz und schweren Kummer bringen müßte.
*
Am andern Morgen nach der Terz sagte mir P. Guardian, der Pfarrherr von Rostok, der nachgerade alt und bettlägerig wird und oftmals nicht sein eigenes Dorf, geschweige die zugehörige Filiale von Zalow besorgen kann, habe für den Rest der Fastenzeit, absonderlich für die Karwoche, einen Kapuziner begehrt, der seiner Gemeinde das Jubiläum predige. Solle mich also im heiligen Gehorsame aufmachen und diesen frommen Leuten das Evangelium verkünden gemäß den Worten Christi: »Euntes praedicate« – »Gehet hin und prediget«, wie es geschrieben stehet bei Matthäus am letzten.
Nach Zalow wäre ich nun schon lange ums Leben gerne gegangen, weil dasselbige unscheinbare Kirchlein die älteste christliche Kirche von ganz Böheim sein soll; denn sie wurde von Herzog Borziwoj bald nach seiner Taufe daselbst auf seinem Gute erbaut, da man zählte nach unseres Herrn Geburt 874 Jahre. Gleichwohl war mir heute dieser Auftrag nicht ganz nach der Mütze, indem er einen Strich durch meine Rechnung machte: hatte mir nämlich vorgenommen, den kleinen Abele oftmals zu besuchen und ihn selbst aus die heilige Taufe vorzubereiten. Darüber machte ich also meinem P. Guardian etliche Vorstellungen, wurde aber kurz und bündig mit der Frage abgefertigt, ob mir etwa das Seelenheil dieses Judenknaben, der ohnehin im Proselytenhause gut aufgehoben sei, mehr am Herzen liege als über sechshundert christliche Bauern von Rostok und Zalow.
Dagegen wußte ich nichts einzuwenden und nahm also in nomine Domini den Weg unter die Füße; konnte mir aber nicht versagen, erst im Proselytenhause vorzusprechen, obschon dasselbige keineswegs an meiner Straße lag. Ging demnach über die Karlsbrücke nach der Altstadt und sah bald den kleinen Abele vor mir stehen.
Der Knabe lächelte; doch merkte ich seinen rothen Augen wohl an, daß er in der Nacht mehr geweint als geschlafen hatte. Ich fragte ihn, und er sagte ehrlich: »Ja«, und auf mein »Warum?« antwortete er das eine Wort: »Die Mutter!« und dabei fielen zwei heiße Zähren aus seinen Augen auf meine Hand. Da ließ ich ihn ruhig sich ausweinen; denn es trösten die Thränen schier besser als menschliche Worte, und als er ruhig geworden, wies ich ihn auf die liebe Mutter im Himmel hin, welche er gestern so beweglich zu seiner Mutter erwählt. Ferner sagte ich ihm, er solle für die irdische beten, daß auch sie die Gnade der Bekehrung erhalte, und schloß endlich mit den ernsten Worten: »Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht werth.«
»Glaubt nicht, mein Vater,« antwortete er, »daß ich darum gesonnen sei, nach Hause zurückzukehren; aber verzeihet mir meine Traurigkeit und seid so gut, besuchet doch heute meine Mutter. Ich glaube, es wird Euch gelingen, auch sie zur Flucht aus dem Hause meines Vaters zu bewegen; denn nur weil sie den Vater fürchtet, wird sie keine Christin. Ihr wisset nämlich nicht,« sagte er traurig, »wie schrecklich zornig der Vater werden kann, und wie sehr wir ihn dann alle fürchten.«
Da nun der zornmüthige Mann nicht zu Hause war, entschloß ich mich auch zu diesem zweiten Umwege durch die Judenstadt. Wollte wenigstens den Versuch machen, ob die Mutter des Kindes unserer Religion wirklich so zugethan sei, wie der Knabe vorgab. Demnach sagte ich dem Knaben zu; da er mich aber des weitern anging, ich möchte ihn täglich besuchen, mußte ich ihm gestehen, wie und warum solches nicht möglich sei. Dabei zog ich, wohl sehend, wie meine Zeitung ihm das Wasser in die Augen trieb, aus meiner Kapuze eine Handvoll Heiligenbilder und ließ ihn auf gut Glück eines ziehen. Er zog sich die heiligen Blutzeugen Mauritius, Ursus und Victor von der Thebaischen Legion, und so berichtete ich ihm mit kurzen Worten noch dieser Märtyrer glorreichen Kampf, versprach ihn gleich nach meiner Rückkehr zu besuchen, sowie in der Zwischenzeit fleißig für ihn zu beten, und schied im Namen des Herrn.
Befahl ihn demnach in Gottes, seiner glorreichen Mutter und aller lieben heiligen Schutz und ging meiner Wege, gar wenig bedenkend, daß ich den Knaben in dieser Zeitlichkeit nicht mehr sehen sollte. Eine Magd, ein fromm einfältig Ding, bettelte mich um ein Bildchen an, das ich ihr gab, öffnete dann unter wiederholten Knixen und verschloß hinter mir die Thüre.
Vor dem Hause gewahrte ich einen Burschen, welcher nachlässig an der Mauer der gegenüberliegenden Wohnung lehnte, und weiß ich heute noch nicht, warum mir derselbe auf den ersten Blick auffiel, da ja solche Tagdiebe leider Gottes genug in unserer guten Stadt Prag umherlungern. Er bot mir die Tagzeit, die ich ihm, wiewohl nicht sehr freundlich, abnahm, da ich solche Kunden nicht ausstehen kann, und er trollte durch all die krummen und engen Gassen der Altstadt hinter mir drein, bis ich in die schmutzigen Winkel der Judenstadt einbog.
Es liegt aber die Judenstadt am untern Ende der Altstadt, unfern der Moldau, und wohnen daselbst, durch Thore und Mauern von der Christenstadt abgetrennt, an die achttausend Juden. Sie haben allda durch kaiserliches Privilegium mehrere Synagogen, unter denen die »Altneuschule« (weiß nicht, von wannen der Name) von ihnen schier wie ein großes Heiligthum angesehen wird, indem sie behaupten, dieselbe sei von den ersten Flüchtlingen nach Jerusalems Zerstörung erbaut worden. Kann aber nicht verschweigen, daß mir dieser Bericht aus vielen Gründen wenig glaubhaft scheint, wiewohl ich dem seltsamen, schier unheimlichen Bau ein hohes Alter nicht absprechen mag. Es hängt auch in dieser Synagoge eine gewaltig große Fahne vom Gewölbe herab; dieselbe hat Ferdinandus III. der Prager Judenschaft verehrt zum Lohne für die große Treue und Tapferkeit, welche dieselbe bei der Belagerung dieser Stadt durch die Schweden anno Domini 1648 an den Tag gelegt. Glaube aber, daß sie mehr für ihre eigenen Geldsäcke als für Kaiserliche Majestät so tapfer kämpften.
Als ich in die Nähe dieser Synagoge gekommen war, sah ich auf dem Schilde eines ziemlich großen Hauses einen Granatapfel gemalt und darunter den Namen »Abel Abele«. Fragte also den ersten besten im Gedränge, und der war kein anderer als derselbige Pflastertreter, welcher mir schon vorher aufgefallen, ob dieses das Haus des reichen Abele sei, was der Bursch freundlich bejahte, und so ging ich stracks auf die Thüre zu. Eine Magd öffnete und fragte sehr verwundert, was mein Begehren sei. Ob der reiche Abel Abele anwesend, forschte ich, worauf sie, wie ich erwartete, mit Nein antwortete; es sei niemand als die Frau zu Hause. Auf die weitere Frage, ob dieselbe willens wäre, ein Wort mit einem Kapuziner zu wechseln, welcher ihr Nachricht von ihrem Kinde bringe, meinte das Mädchen, daran sei nicht zu zweifeln, doch müsse es seine Herrin zuerst fragen. Hiermit ließ mich die Magd in der dunkeln Hausflur stehen. Da sind mir denn doch allerlei Bedenken gekommen, was mein P. Guardian zu diesem Abenteuer sagen würde, indem es mir jetzt doch etwas gewagt vorkam, so ohne alle Begleitung in das Haus eines erbitterten Juden einzudringen.
Da aber das Mädchen bald kam und mich einlud, die Treppe hinauf in eine Stube des Hinterhauses zu kommen, dachte ich: »Wer A sagt, muß auch B sagen«, empfahl mich meinem heiligen Schutzengel und folgte der Magd.
Fand also in einer mit gar kostbaren Geräthen schön gezierten Stube eine Frau in den mittlern Jahren, die viel Siechthum, vielleicht auch Kummer und Elend erlebt haben mochte – so wenigstens sah sie mir aus. Die schaute mich mit ihren rothgeweinten Augen fragend an und sagte: »Bringet Ihr Kunde von meinem Abel? O wenn Ihr wüßtet, was das Herz einer Mutter leidet, nie hättet Ihr mein Kind genommen!«
»Gute Frau,« sagte ich, von ihrem großen Schmerze gar sehr ergriffen, »glaubet mir, daß ich Euer Leid recht wohl verstehe; aber Gott pflegt diejenigen, so er liebt, durch Leiden zur Freude zu führen. Auch Euch ruft er, ich weiß es; Ihr glaubt, wie Euer gutes Kind, an Christum oder steht doch wenigstens diesem Glauben nicht ferne. Abel selbst erzählte mir –«
»Abel,« unterbrach mich die Frau, »Abel – also Ihr, Ihr habt mit ihm geredet; Ihr seid es wohl selbst, der ihn zur Flucht verführte!«
»Wohl redete ich vor einer halben Stunde noch mit Eurem lieben Knaben, und er ist es, der mich hierher schickt, Euch zu grüßen und Euch zu bitten, seinem Beispiele zu folgen, derweil Euer Mann abwesend ist.«
»Mein Kind! Mein Abel! Ihr, Ihr habt ihn mir genommen!« schluchzte sie.
»Nicht ich, gute Frau. Gott, der einst zu Abraham sagte: ›Verlaß dein Land und deine Sippe!‹ hat ihn gerufen, und Euer Knabe hatte den Muth, diesem Rufe zu folgen. O es ist ihm schwer geworden, Euretwegen und nicht wegen Geld und Gut, und nur der Gedanke, daß Maria, die Tochter Davids, auch Euch aus der Knechtschaft Aegyptens in das wahre Gelobte Land, verstehe in die Kirche ihres Sohnes, führen werde, gab ihm Kraft und Stärke zu dem Opfer, welches die Trennung von Euch ihm auferlegte. Folget also demselben Rufe der Gnade, welcher auch an Euch ergeht, wie hättet Ihr sonst Eurem Kinde das heilige Skapulier geben können?«
Aber noch immer war der Jammer von Abels Mutter zu groß, und in ihrer Aufregung konnte sie meine Trostworte nicht recht fassen. Ließ sie also selbst dieses und jenes von dem Knaben erzählen, wobei ihre Zähren reichlich flossen, und das tröstet, wie ich des öftern erfahren, mehr als alle noch so wohlgesetzten Zusprüche. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich aus ihrem Munde, welch mildes und mitleidiges Herz der Knabe vom lieben Gott erhalten und wie es schier von der Wiege an seine größte Lust gewesen, sein eigen Vesperbrod mit armen Kindern zu theilen.
Da sagte ich: »Sehet nun, liebe Frau, wie der grundgütige Gott diese kleinen Opfer Eures Kindes gar so reichlich und wunderbarlich belohnte.« Erzählte ihr demnach von der wunderbaren Einladung der Mutter Gottes. So sei es des Knaben heilige Pflicht gewesen, diesem Rufe der Tochter Davids zu folgen, und er habe das Opfer gebracht, um auch für sie die Gnade der Bekehrung von Gott zu erflehen, und täglich bete er auf seinen Knieen für sie und ihr Heil.
Jetzt wurde die unglückliche Mutter ruhiger, und ihr Herz schien sich der Gnade zu öffnen. Sie erzählte mir aus ihrem Leben, das der Herr gar rauh und dornenvoll gemacht hatte. Durch das Gesetz gezwungen, hatte der reiche Abele die arme Verwandte geheiratet, und wenn schon alle Judenweiber im Vergleiche mit den christlichen Frauen nur als Mägde, ja Sklavinnen behandelt werden, so war das bei der armen Sarah nur noch mehr der Fall. Oftmals erfuhr das ängstliche und furchtsame Wesen von ihrem Ehewirt die roheste Behandlung. Eine christliche Magd hatte sie mit der Wahrheit unserer heiligen Religion vertraut gemacht und halb und halb beredet, ihrem traurigen Lose zu entfliehen und sich taufen zu lassen. Da kam Abele hinter die Pläne seines Weibes; er peitschte die Magd aus dem Hause, schlug die Mutter seines Kindes grausam und verfolgte sie seither mit um so ingrimmigerem Argwohn und Haß, je mehr er mitunter gewahrte, daß sein einziges Kind zu den Christen hinneige. Was unter sothanen Umständen Sarah zu leiden hatte, kann sich männiglich vorstellen; ja sie kam dabei nahezu um den Verstand, indem einerseits ihr Gewissen sie anstachelte, mit dem Knaben der Gewalt des alten Abele zu entfliehen, andererseits beim bloßen Gedanken an des Genannten Grimm eine wahre Todesangst ihre Entschlüsse lähmte.
Solches erfuhr ich von der armen Frau; glaubte also das Eisen schmieden zu müssen, solange es glühte, und setzte ihr gewaltig zu, auch Himmel und Hölle in Bewegung, daß sie jetzo die günstige Gelegenheit der Abwesenheit ihres Mannes ergreife und alsbald zu ihrem Knaben in das Proselytenhaus flüchte. Ich selbst wollte sie sofort dorthin geleiten, und sie würde daselbst vor der Wuth ihres Mannes völlig gesichert sein. Schon war sie ziemlich entschlossen, und ich frohlockte bereits über den Sieg der Gnade; dachte auch an den Jubel, wenn ich dem lieben Knaben so rasch und unverhofft seine Mutter bringen würde: da sollte ich erfahren, daß ein solcher Seelengewinn nicht um so leichten Preis, wie mein eitel Gerede, zu erzielen sei.
Item: es riß die Magd unversehens die Stubenthüre auf und rief, wiewohl mit gedämpfter Stimme: »Der Herr kommt!« Männiglich kann sich unsern Schrecken vorstellen; doch hatte die Jüdin noch so viel Geistesgegenwart, daß sie rasch eine anstoßende Kammerthüre öffnete, mir winkte, dort hinein zu flüchten, und selbe, bevor ich recht zu mir selber gekommen war, hinter mir zudrückte. Es war auch die höchste Zeit; denn so mich der Jude in seinem ersten Grimm erblickt hätte, so glaube ich ganz gewiß, er hätte mich erwürgt.
Gewaltig erschrocken schaute ich mich in der kleinen Kammer um, ob ich etwa durch eine andere Thüre die Treppe gewinnen und ins Freie entkommen möchte, erblickte auch eine solche, aber sie war verschlossen, und unter dem einzigen Fenster, das übrigens fest vergittert war, gewahrte ich den großen Judenkirchhof, der allda mitten zwischen den Häusern in der Nähe der genannten Altneuschule gelegen ist. Hatte freilich für den Augenblick wenig Lust, die unzähligen allda aufgehäuften und mit hebräischen Inschriften bedeckten Grabsteine zu betrachten; dachte vielmehr, da ich nach keiner Seite ein Entkommen sah, an mein eigenes Grab und suchte meine arme Seele durch eine gute Reu und Leid auf den Hintritt vor ihren ewigen Richter vorzubereiten, wie ich denn nichts anderes als den Tod von der Hand des rasenden Juden erwartete. Erwog auch in meinem Herzen, ob dies gefährliche Abenteuer nicht als wohlverdiente Strafe von Gott über mich verhängt sei, weil ich ohne Vorwissen meines Guardians den kleinen Abele besucht und meinen Weg durch die Judenstadt genommen hatte, und verlobte ich mich der heiligen Jungfrau zu einem wöchentlichen Fasttag, wenn sie mich in Gnaden aus diesem schlimmen Handel erretten würde.
Während ich so in der Kammer theils an meine Flucht, theils auch an mein nahes Ende dachte, hörte ich nach wenigen Augenblicken nebenan die Thüre heftig öffnen und schließen, dann schrie eine rauhe Stimme: »Weib, wo ist mein Knabe?«
Das war der alte Abele, der ganz unvermuthet rasch von seiner Fahrt nach Venedig zurückkehrte. Er zog nämlich in Angelegenheiten seines Handels dorthin, ja noch viel weiter, bis Konstantinopel und Amsterdam, wie ich nachher vernommen habe, erfuhr derselbe gleich bei seinem Eintritte in die Judenstadt von seinem Stiefbruder, so der Rabbiner an der Altneuschule war, mit wenigen Worten, was sich gestern Abend mit seinem Kind begeben, und es begleitete ihn der genannte Rabbiner alsbald nach seinem Hause.
Dieser nun antwortete, da die Frau in ihren Aengsten keine Silbe herausbrachte: »Hab' ich es dir nicht gesagt? Die Baalspfaffen, die Jesuiter und Bettelmönche, haben dein Kind in das Haus des Verderbens geschleppt – dein Fleisch und Blut ist in den Händen Beelzebubs!«
Da hörte ich, wie der Mann mit einem Wuthschrei sein Gewand faßte und zerriß – das knirschte vernehmlich –, und dann machte er heftige Schritte durch das Zimmer; sonst war alles mäuschenstill. Doch konnte er seinen Grimm nicht lange bemeistern, und will ich hier sicher nicht alle die schrecklichen Flüche niederschreiben, die er zumeist in hebräischer Sprache ausstieß und die ich daher auch nicht völlig verstand, wofür ich Gott von Herzen danke. Gleichwohl habe ich genug gehört, daß mir die Haare zu Berg stiegen und ich mich mit dem heiligen Kreuz bezeichnete.
»Ha, die Goim!« schrie er unter anderem – das Wort bedeutet soviel als Heiden; so schelten nämlich die verstockten Juden uns ehrliche Christenleut – »ha, die Goim! Haben sie mein einzig Kind geraubt! Haben es die Baalspfaffen in ihren Netzen gefangen! Soll es den Nazarener, den Zimmermannssohn, anbeten – mein Abel, mein eigen Fleisch und Blut! Und o, ich kenne sie, diese Seelenjäger, diese Jesuiter und Bettelmönche – mein Gold, mein gutes rothes Gold, das ich sauer genug aus der Hand der Goim gewonnen, das der Herr in meine Truhen gelegt, auf dieses haben sie es abgesehen, dessen wollen sie sich bemeistern! Aber, so wahr ich lebe und in Abrahams Schoß zu fahren hoffe, es soll ihnen nicht gelingen! Keinen rothen Heller sollen ihre Finger berühren; eher will ich das letzte Goldstück in die Moldau werfen und mein Haus und Warenlager niederbrennen, als daß diese Baalspfaffen mein gutes Geld erhaschen sollten!«
So und in ähnlicher Weise schalt und raste der alte Abele, und es schämte sich der Filz nicht, sein eigenes schmutziges Laster der katholischen Klerisei anzuhängen, er, der sein ganzes Leben damit zugebracht hatte, einer ehrlichen Christenheit zum Nachtheile zu schinden und zu schaben. Aber so sind die Menschen stets geneigt, gerade ihre eigenen Sünden dem lieben Nächsten anzuhängen. Ich hatte jedoch damals wenige Zeit, solche oder ähnliche Erwägungen anzustellen, indem ich hörte, wie der Abele, nachdem er eine Weile in der Stube unter lautem Schelten hin und her gegangen, sich plötzlich in seiner Wuth auf sein Weib, die Sarah, stürzte, und half es wenig, daß diese mit lautem Jammern ihre Unschuld an der Flucht des Kindes betheuerte. Der Jude würde sie wohl in seinem Grimm erschlagen haben, wenn ich mich nicht ins Mittel gelegt und die arme Frau vor dem Allerschlimmsten bewahrt hätte.
Da ich nämlich ihr ängstliches Hilfegeschrei hörte, erfaßte mich der eine Gedanke, daß diese arme Seele jetzt in ihren Sünden ohne Taufe aus der Welt scheiden und vor ihren Richter treten müsse, vergaß so aller Todesfurcht und öffnete plötzlich die Kammerthüre mit dem Rufe: »Zurück, Unglücklicher! Willst du dein unschuldiges Weib ermorden? Da, morde mich; ich habe deinen Knaben in das Proselytenhaus geführt!«
Nicht daß solche Rede irgendwie zu meinem Lobe gereichen solle, da ich sie keineswegs mit überlegtem Muthe, sondern vielmehr aus blindem Antriebe, wie der heilige Schutzengel es mir eingab, geredet habe. Es ist aber kaum zu sagen, wie sehr die beiden Juden ob meines urplötzlichen Erscheinens erschrocken sind; ja sie wähnten schier, ich sei ein Gespenst, und ließ der alte Abele auch sofort von seinem Weibe ab. Da er jedoch sah, daß ich nur ein sterblicher Kapuziner sei, und hörte, daß ich seinen Knaben in das Proselytenhaus geführt, wandte sich alsbald sein Grimm gegen mich. Er sprang wie ein Tigerthier an meine Kehle, so daß ich meine Seele Gott befahl und mein letztes Stündlein gekommen glaubte, dieweil der Jude ein großer, breitschulteriger Mann, auch mir an Kräften weit überlegen war, obschon sein Haar und Bart schon stark ins Graue spielten. Da kam mir der Rabbiner, der seine Ueberlegung nicht so gänzlich verloren hatte wie sein rasender Bruder, zu Hilfe. Er riß ihn von mir los und sagte zu ihm: »Was nützt es dir, so du den Mönch erwürgst? Glaubst du, das könnte verborgen bleiben? Hat man ihn nicht in dein Haus gehen sehen? Soll die ganze Synagoge die bittere Frucht deiner Rache tragen? Ist es dir nicht nützlicher, wenn du ihn dahin bringst, den Knaben wieder herauszugeben?«
Wirklich brachten diese Worte den alten Abele etwas zur Besinnung, und nun begannen beide, bald mit Drohungen, bald mit versprechen, mich zu drängen, daß ich den Knaben wieder in ihre Hände spiele. Es hat mich aber Gott mit seiner Gnade väterlich vor einem so schmählichen Verrathe beschützt. Schließlich schnallte der Jude eine schwere Geldkatze los und schüttete die goldenen Ducaten auf den Tisch, so viele ich meiner Lebtag nicht geschaut, vermeinend, er könne so einen Kapuziner fangen, dem seine Regel auch nur ein Geldstück anzurühren verbietet! Sagte ihm also bloß den alten Spruch: Pecunia tua tecum sit in perditionem (»Dein Geld sei mit dir zum Verderben«, Apostelgeschichte am 8 ten), worauf sie mich, wiewohl mit den Zähnen knirschend, meines Weges gehen ließen, wahrscheinlich, weil nach Abweisung eines solchen Grundes in ihren Augen alle andern Gründe erfolglos scheinen mußten. Unter der Thüre noch sagte ich, sie sollen der Frau schonen; ich wollte bei der Obrigkeit Anzeige machen, und so würde eine Gewaltthat an ihr nicht ungerächt bleiben.
Gott, seiner gnadenreichen Mutter und allen lieben heiligen sei gedankt, die mir in dieser schweren Stunde schützend zur Seite standen! Daß ich frei aufathmete, als ich endlich wider Erwarten heil aus dem düstern Hause heraustrat, wird mir männiglich glauben. Zauderte auch nicht länger, sondern schritt an dem großen Judenkirchhof und der Synagoge vorüber rasch fürbaß und wurde erst etwas ruhiger, als ich das Stadtthor hinter mir hatte.
Da bemerkte ich auch, während ich etwas langsamer meines Weges ging, daß der junge Mensch, den ich schon heute dem Proselytenhause gegenüber und dann wieder in der Judenstadt gesehen, mir auf dem Fuße folge. Ich faßte denselben etwas näher ins Auge; da fiel mir auf, daß der Bursche in seinem Gesichte einem Juden so ähnlich sehe, wie ein Ei dem andern, während er doch einen ehrlichen Christenrock trug, und wollte ihn schon fragen, ob er ein Christ oder ein Jud sei, als er mir mit den Worten zuvorkam:
»Gott sei Dank, hochwürdiger P. Sebalde, daß ich Euch wiederum in Eurem Leibe vor mir sehe. Muß Euch schon sagen, daß ich in der letzten Stunde Euretwegen in nicht geringer Angst und Sorge war, ja auf dem Punkte stand, die Scharwache herbeizuholen. Sah ich Euch doch in das Haus des reichen Abele treten, und ich weiß wohl, daß dessen einzig Kind gestern Abend in das Proselytenhaus ging – auch ich bin in demselben seit Jahresfrist aus einem verstockten Israeliten durch Gottes Gnad' ein Christ geworden. Mein Name ist Rose, früher Abraham, jetzt aber durch Gottes Gnade Franciscus Rose, Ew. Hochwürden, nach Eurem glorwürdigen Erzvater von Assisi. War also in Furcht und Zittern und glaubte schier sicher, Euer Hochwürden hätten von der Hand des alten Abele und seines Bruders, des Rabbiners, die ich bald darauf in sichtbarer Erregung eintreten sah, den Martyrtod empfangen. Nun sei Gott ewig Lob und Preis, der Euch wie einen zweiten Daniel aus dieser Löwengrube errettete!«
»Da sieh, P. Sebalde,« sagte ich zu mir selber; »ei, ei, wie du wieder mit deinen freventlichen Urtheilen danebengeschlagen hast! Wann wirst du endlich den Spruch des Völkerlehrers befolgen: ›Nolite iudicare‹ – ›Urtheilet nicht‹? Hast du nun nicht in deiner Herzensbosheit diesen frommen Mitbruder in Christo, der in so großer Liebe um dich besorgt ist, einen Taugenichts und einen Pflastertreter genannt, ja ihn schier für einen Spion gehalten, und er hat inzwischen über dein Leben gewacht. – P. Sebalde, da nimm dich wieder selber bei der Nase!«
So schalt ich mich in meinem Herzen und redete dann, um mein Unrecht nach Kräften gutzumachen, gar liebevoll und zutraulich mit dem Burschen. Er ging eine gute Strecke mit mir, und ich erzählte ihm alles von dem kleinen Abele, seiner Mutter und seinem Vater, gab ihm auch den Auftrag, das ganze Abenteuer meinem P. Guardian zu melden, damit er nach seiner Weisheit der armen Sarah zu Hilfe käme. Das versprach er alles gern und fügte bei, er werde mit viel Freuden nach Rostok oder Zalow hinaus mir Kunde bringen, damit ich wisse, wie es um meinen lieben Knaben und dessen Mutter bestellt sei. Glaubte also, an dem jungen Burschen einen treuen Bruder gefunden zu haben, dem ich getrost die Hut über den kleinen Abele überlassen könnte, und ahnte nicht, daß ich drauf und dran war, den Bock zum Gärtner und den Wolf zum Schäferhund zu machen.
Ja, wenn man alles wüßte! – So aber schüttelten wir uns die Hände, und da im selben Augenblicke gerade von den Thürmen der Stadt zu Mittag der Englische Gruß geläutet wurde – hörte das herrliche Glockenspiel der Lorettokirche neben unserem Klösterlein ganz deutlich vom Hradschin herübertönen –, betete ich den »Engel des Herrn« vor, und er antwortete; dann schieden wir.
*
Ohne weitern Unfall bin ich zu dem alten, bettlägerigen Pfarrherrn von Rostok gekommen und wurde allda freundlich empfangen, auch mit einem guten Glas alten Ungarwein, so eine edle Gabe Gottes und nach dem heutigen Abenteuer für meine alten Gebeine ein sonderliches Labsal war, gastlich bewirtet. Dann gab es in den nächsten Tagen Arbeit mehr als genug, indem die Bauersleute der Umgegend infolge des Siechthums ihres Seelsorgers in ihren Christenpflichten schier saumselig, ja beinahe verwildert waren, nun aber anläßlich des großen, gnadenreichen Jubiläums dem mütterlichen Rufe der Kirche doch nachkommen wollten. Am meisten gaben mir die Christenlehren zu thun; denn ich mußte die liebe Jugend von mehreren Jahrgängen zur ersten Beicht und Communion vorbereiten, und ob mich die widerhaarigen Buben oder die Mägdlein, denen die Zunge nicht leichtlich stille steht, mehr auf die Geduldprobe stellten, will ich nicht entscheiden. Es wußten aber die wenigsten die zum Heile nothwendigen Stücke herzusagen, von den acht Seligkeiten und den neun fremden Sünden will ich gänzlich schweigen. Hab' ihnen aber doch mit der Gnade Gottes so viel vom Canisi eingetrichtert, daß fast alle zu den heiligen Sacramenten hintreten konnten.
Vor lauter Laufen und Rennen von Hof zu Hof, Predigen und Beichthören, Schule- und Kinderlehrehalten hatte ich den kleinen Abele schier vergessen. Da ging ich am heiligen Palmsonntag aus der Kirche ganz müde nach dem Pfarrhofe zurück. Ich hatte in der Predigt recht beweglich über den Jubel der unschuldigen Judenkindlein geredet, die da gerufen: »Hosannah dem Sohne Davids!« und über den giftigen Neid der Schriftgelehrten und Pharisäer, welche wollten, daß der Herr den Kleinen Stillschweigen auferlege – wobei mir urplötzlich, daß ich schier darob den Faden verloren hätte, der kleine Abele einfiel –, und siehe, da ich aus der Sacristei trete, steht am Gartenthürchen des Pfarrhofes der bekehrte Jude, welcher mir neulich eine so große Liebe bezeigt hatte.
Der grüßte mich über die Maßen freundlich mit dem katholischen Lobspruch, küßte mir ein über das andere Mal die Hand und nannte mich so oftmals »Hochwürdiger« und »lieber Pater Sebalde«, daß es mir beinahe zu viel wurde. Schrieb gleichwohl alles der übergroßen Ehrfurcht zu, die man bei den Neubekehrten oftmals vor dem heiligen Priesterstande findet, und schlug dieses Mal alle bösen Gedanken tapfer aus.
Wie er sagte, kam er eigens von Prag, um mich zu sehen und mir nebst vielen Grüßen ein Briefchen des kleinen Abel zu bringen. Das las ich sofort und war dadurch so gerührt, daß ich den Boten mit ins Pfarrhaus nahm und zu nicht geringem Aerger der Haushälterin meinen Imbiß mit ihm theilte.
Ob nun der Brief wirklich von dem kleinen Abele war, wie ich damals fest glaubte, oder ob der Erzschelm ihn selbst geschrieben, kann ich nicht sagen, meine aber jetzo schier das letztere. Er lautet aber folgendermaßen:
»Hochwürdiger und viellieber Pater!
Ich bin nun schon einige Wochen im Proselytenhause und habe es mit Gottes Gnade in der Erlernung des Canisi so weit gebracht, daß ich nach gestern glücklich bestandenem Examen, dem auch der hochwürdige Rector von Sanct Clemens beiwohnte, nächsten Karsamstag durch das Bad der Taufe Gott und der Kirche geboren werden soll. Freuet Euch und frohlocket mit mir! Damit aber mein Jubel am kommenden Samstag voll sei, müßt Ihr hereinkommen und Zeuge meines Glückes sein; saget nicht, das sei unmöglich, anerwogen mich solches sehr betrüben würde.
In der letzten Woche habe ich Eures Trostes sehr entbehrt; Ihr müßt nämlich wissen, daß mein Vater alles aufbietet, um meinen Entschluß zu erschüttern. Er hat auch dem Patron des Proselytenhauses und dessen Frau tausend Goldgulden geboten, so sie mich ihm ausliefern wollten, was aber diese frommen Leute nicht angenommen haben. Einmal drohte er mir, meine Mutter solle meinen Eigensinn entgelten; das hat mir bittere Zähren erpreßt, namentlich nachher auf meinem Kämmerlein. Viel Trost spendet mir der junge Rose, den Ihr mir zugeschickt und der Euch dieses Briefchen zustellt. Fast täglich besucht er mich und stärkt mich in meinen guten Entschlüssen, so daß ich ihn nach Euer Hochwürden für meinen besten Freund betrachte. Schicket mir durch denselben die erwünschte Antwort und ermangelt nicht, nächsten Samstag zu guter Stunde einzutreffen, damit voll sei die Freude
Eures kleinen Abel,
eines Kindes der lieben Mutter Gottes.
Datum: Prag am Samstag in der Passionswoche a. D. 1701.«
Das Brieflein gefiel mir über die Maßen wohl, und ich überlegte hin und her, wie ich es anstellen könnte, um auf den Karsamstag nach Prag zu kommen. Ja, wäre es ein anderer Tag gewesen, so hätten mich meine alten Beine schon hineingetragen und zeitig wieder zurückgebracht! Jetzt aber fiel mir kein anderes Auskunftsmittel ein als ein Brief an meinen P. Guardian, in welchem ich denselben auf das beweglichste bat, er möge meinem Herzen nach den Mühsalen der heiligen Fastenzeit diese trostreiche Osterfreude gnädiglich zuwenden, indem ja für den einen Karsamstag Morgen der alte P. Modestus zur Noth sich behelfen könnte; ich würde ihn auf einem Bauernwägelein holen lassen. Setzte mich also nach Tische hin und schrieb das alles mit eindringlichen Worten nieder, anstatt der lieben Jugend Christenlehre zu halten. Dann ließ ich dem Rose einen guten Abschiedstrunk credenzen, schenkte ihm einige Gnadenpfennige und suchte für den kleinen Abel das schönste Bild aus meinem Brevier, eine Mutter Gottes von Alt-Oetting, gar säuberlich auf Pergament gemalt und rundum zierlich vergüldet. Auf die Rückseite schrieb ich den schönen Spruch des heiligen Jünglings Stanislai Kostkä: » Mater Dei, mater mea«, das heißt: »Die Mutter Gottes ist meine Mutter«, und ließ so den Erzschelm mit Brief, Bild und Gnadenpfennigen im Namen des Herrn laufen.
Will nämlich nur gleich hier erzählen, was dieser Rose für ein sauberes Pflänzchen gewesen ist; als es zu spät war, habe ich alles gehört. Es hat derselbe von Kindesbeinen an nicht viel getaugt, war auch in Wien, nicht älter als sechzehn Jahre, seiner langen Finger wegen vom Henker gestäupt und aus der Stadt verjagt worden. Er strich nun hier und dort im Lande umher und kam endlich krank und elend auch nach Böheim und Prag. Daselbst hörte er, weiß nicht von wem, von dem Proselytenhaus und daß dasselbe seiner Stiftung gemäß jeden Juden aufnehmen und verpflegen müsse, der sich zum Christenthum bekehren wolle. Das war ihm in seiner schlimmen Lage ein gebratenes Hühnchen; besann sich also nicht lang, sondern meldete sich und wußte die Augen so fromm zu verdrehen – wie ich solches ja auch selber an ihm erfahren –, daß man ihn aufnahm, hegte und pflegte, und daß alle meinten, man habe an ihm – ich weiß nicht was für ein echtes Goldkorn gefunden. Ja der Spitzbube ging in seiner heillosen Heuchelei so weit, daß er sacrilegischerweise das heilige Taufwasser über sich gießen ließ; meinte wohl, man würde ihm nunmehr Geld und Gut genug geben. Da man ihn aber statt dessen nur einem christlichen Kaufherrn als Laufburschen empfahl, entschloß er sich, eine günstige Gelegenheit abzuwarten und mit dem ersten besten Raube, der ihm gelingen würde, auf Reisen zu gehen und sein Glück anderswo, sei es unter den Juden oder unter den Christen, zu versuchen.
So war der Rose gestimmt, als er zufällig an jenem Abende mich zugleich mit dem Rector von Sanct Clemens den kleinen Abele in das Proselytenhaus führen sah. Ob er nun den Kleinen zufällig kannte oder von andern erfuhr, daß es der einzige Sohn des reichen Abel Abele sei – kurz und gut, er faßte augenblicklich den Plan, die Sache nach der Weise des Judas Iskariot auszubeuten. Rose wohnte dem Proselytenhause gegenüber. Als er mich nun des folgenden Tages daselbst vorsprechen sah, beschloß er alsbald, meine einfältige Gutmüthigkeit, welche der durchtriebene Bursche mir wohl am Gesichte absah, zu seinem teuflischen Unternehmen zu mißbrauchen. Der Geselle nestelte sich also an mich fest, und daß es ihm völlig gelungen ist, mich hinter das Licht zu führen, habe ich schon oben des weitern mitgetheilt. Gott verzeihe dem getauften Juden seine Lügen, mir aber meine Leichtgläubigkeit!
Als er von mir weggegangen, begab sich der Erzschelm geraden Weges zum alten Abele und machte sich anheischig, dessen Kind, sei es durch List oder Gewalt, aus dem Proselytenhause fortzubringen und in die Hände des Vaters zu überliefern. Und sie wurden handelseinig, daß der Abele ihm in derselben Stunde vor Zeugen zweitausend Goldgulden zu bezahlen versprach, in welcher er ihm den Knaben vor dem Empfange der Taufe heil und gesund überliefere. »Beim Gott Abrahams!« schwor der Abele, »ich will Euch das Geld geben; so er aber schon getauft und ein Nazarener ist, sollt Ihr keinen rothen Heller bekommen!«
Alles war demnach schon lange geplant und abgesprochen, als der liederliche Judas am Palmsonntag den Brief brachte und ich ihm voll Vertrauen das Pergamentbildchen mit dem Spruche des hl. Stanislaus gab; hatte auch keine Ahnung, zu was für einem teuflischen Verrathe er selbiges gebrauchen würde. Inzwischen wartete ich von Tag zu Tag auf eine Antwort meines Guardians, und in meinem Leben ist mir die Karwoche noch nie so lange geworden. Es kam aber kein Brief. Das legte ich mir schier günstig aus, indem ich dafür hielt, der alte P. Modestus werde statt eines Briefes persönlich kommen. Und nun denke sich männiglich meinen Schrecken, da am Karfreitag Nachmittag, wo ich schon des Müllers Wägelein für den kommenden Morgen bestellt hatte, plötzlich ein Bub mir folgendes Schreiben brachte:
»Dem P. Sebaldo wünscht P. Honorius, derzeit durch Gottes Zulassung Guardian, Heil im Herrn!
Lieber und hochwürdiger Pater!
Aus Eurem Briefe habe ich gesehen, was mir schon bei Eurer Abreise auffiel, daß Ihr mit Bezug auf das kleine Judenbüblein Namens Abele wohl einen Zelum, einen Eifer, aber non secundum scientiam, nicht gemäß der Klugheit, habet. Es hat nun dem grundgütigen Gott gefallen, Euern geistigen Star zu stechen, will sagen, Euch in schmerzlicher Weise das geistige Auge zu öffnen. Der bewußte Judenknabe nämlich, den Ihr in Eurer Blindheit dem Wohle einer ganzen christlichen Gemeinde schier vorgezogen habt, ist heute in der Frühe, während der Patronus des Proselytenhauses zusamt seiner Ehegattin bei Sanct Veit dem Gottesdienste beiwohnte, heimlich entsprungen und zu seiner saubern Sippe zurückgekehrt, wie das leider schon viele andere Juden aus demselben Haus vor ihm thaten. Und ob er nun von Anfang heuchelte oder erst später durch den diesem Volke angeborenen Wankelmuth zum Falle kam, will ich nicht untersuchen. Mit einem Worte: es hat sich hier wieder bewahrheitet, was Gott schon durch den Propheten Isaias beklagte: › Vocavi et renuistis‹ – ›Ich hab' gerufen, und ihr habt nicht gewollt!‹
Euer Hochwürden Desiderium, morgen hierher zu kommen, braucht mithin nicht mehr in Consideration gezogen zu werden, und zeige ich Euer Hochwürden nur an, daß bis auf weiteres – usque dum dicam tibi, Matthäus am zweiten – auf Eurem Posten zu verbleiben habt. Vale!
Datum in unserem Klösterlein zu Prag,
am heiligen Karfreitag a. D. 1701
Daß mich dieser Brief nicht anders anmuthete, als wenn der feurige Donnerkeil vor meinen Füßen in den Boden gefahren wäre, brauche ich hier nicht mit vielen Worten darzuthun. Ich mußte ihn erst ein paarmal lesen, bevor ich seinen Inhalt begriff. Daß der kleine Abel am Vorabend seiner heiligen Taufe davongelaufen sei, konnte ich mir nicht reimen, und doch – da stand es schwarz auf weiß! Sollte er wirklich zum Falle gekommen sein? Hatte ihn vielleicht der Gedanke, daß seine Taufe von dem harten Vater an der Mutter grausam gerächt würde, zum Wanken gebracht? Oder sollte List und Betrug im Spiele und der Knabe gegen seinen Willen in die Gewalt seiner Sippe gerathen sein? Alle diese Gedanken gingen mir wie ein Mühlrad im Kopfe herum, und ich konnte zu keiner Ruhe kommen; nur wollte es mir immer mehr scheinen, der Knabe müsse unschuldig und die Sache nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Setzte mich also in tiefer Nacht, sobald ich aus dem Beichtstühle heimgekehrt war, hin und schrieb, wiewohl todmüde, in diesem Sinne an meinen P. Guardian, an den Patron des Proselytenhauses, an den Rector des Jesuitencollegii und endlich an den Rose, dem ich noch kein Titelchen mißtraute, sie sollten sich fleißig informiren, ob der Knabe nicht gegen seinen Willen durch Lug und Trug in die Judenstadt gebracht und daselbst mit Gewalt festgehalten werde. Und hat mich der vorletzte Brief viel Zeit und manche Prise gekostet, weil ich dem Jesuiten in etwas zierlicherem Latein schreiben wollte, als sonst bei mir gang und gäbe ist.
Ja, wenn meine Briefe etwas genutzt hätten! So aber legten die guten Leute dieselben beiseite. P. Guardian antwortete gar nicht; ebensowenig der Rose. Die Jesuiten schrieben freundlich, und der Vorsteher des Proselytenhauses sogar ausführlich, wie dem zuverlässigen Zeugnisse der Magd zufolge der Knabe durch das Fenster des Erdgeschosses gesprungen und mit einigen Juden, so ihn erwarteten, auf und davon geflohen sei. Ich mußte schließlich selber glauben, daß der kleine Abele der Versuchung zum Opfer gefallen, und konnte nichts anderes thun, als ihn der Gnade und Barmherzigkeit Gottes empfehlen.
Und derweil ich so mit halb bitterem, halb wehmüthigem Gefühle des armen Judenknaben gedachte, bestand derselbe die harte Probe eines ebenso langsamen als grausamen Martyriums – just zu der Zeit, da wir ihn für einen Abtrünnigen oder Apostaten hielten. O was sind wir armselige Menschlein doch gar so große Thoren, wenn wir dem Allwissenden, der allein richten und urtheilen kann, so naseweis ins Handwerk pfuschen!
Der Rose, der Judas Iskariot, hat das arme Lämmlein den reißenden Wölfen überliefert, und ich selber mußte dem Unmenschen mit meinem Bildlein und Gnadenpfennig Thür und Thor öffnen. Das gab sich so: Natürlich kannte er als früherer Hausgenosse die Magd des Proselytenhauses und wußte recht wohl, welch simples Ding sie sei. Darauf baute er seinen Plan und lauerte auf den Augenblick, wann der Patronus und seine Frau zusammen einen Ausgang machen würden; mit der Grethe wollte er dann schon fertig werden.
Doch wäre ihm der Streich beinahe mißglückt. Es blies nämlich in jenen Tagen ein überaus kalter Nordwind und hielt die Gemahlin des Patronus, welche gerade verschnupft war, in der warmen Stube fest, und der Rose dachte schon daran, in der Nacht vom Karfreitag auf den Karsamstag mit Hilfe einiger verwegener Burschen einen Gewaltstreich zu wagen; denn er war völlig entschlossen, die zweitausend Goldgulden zu gewinnen und somit den Knaben vor seiner Taufe in die Hand des Vaters zu liefern. Da kam ihn: in letzter Stunde noch die große Frömmigkeit der ehrsamen Matrone zu statten, indem sie am heiligen Karfreitag es nicht über sich bringen konnte, am behaglichen Ofen zu sitzen, während in den Kirchen der blutige Kreuzestod Christi gefeiert wurde, und daher ihren Ehewirt nach Sanct Veit geleitete.
Kaum hatte der Rose, welcher, wie der höllische Drache die Himmelspforte, die Thüre des Proselytenhauses umlauerte, die beiden auf die Gasse hinaustreten und den Weg nach Sanct Veit einschlagen sehen, als er in seiner Bosheit aufjubelte und sich des Sieges schier sicher fühlte. Gleichwohl schlich er ihnen eine gute Strecke weit nach, um seiner Sache ganz gewiß zu sein, und bog dann, als er sie untrüglich den Weg nach Sanct Veit nehmen sah, in ein kleines Gäßchen, in welchem nahe an der Judenstadt allerlei Gesindel wohnt, wechselte daselbst mit einem Bettelweibe ein paar Worte und eilte, so rasch er nur konnte, nach dem Proselytenhause zurück.
Auf sein heftiges Klopfen öffnete, wie er erwartet hatte, die Magd das Schiebfensterlein neben der Thüre.
»Ach, liebe Grethe,« sagte der Erzschelm, »das ist gut, daß Ihr da seid, da nehmet diesen Gnadenpfennig, er ist von dem Kapuzinerpater Sebaldo und an dem hochheiligen Hause von Loreto angerührt.«
»Don dem P. Sebaldo!« sagte das einfältige Mensch, knixte und küßte gar ehrfurchtsvoll die Medaille.
»Freilich, von dem P. Sebaldo – und er schickt Euch einen schönen Gruß. Aber jetzt machet rasch auf; sehet Ihr denn nicht, wie warm ich mich gelaufen habe, und soll ich da draußen in dem eisigen Wind mir ein Siechthum holen?«
»Eigentlich darf ich in Abwesenheit der Herrschaften niemanden öffnen, aber Euch, und namentlich da Ihr von P. Sebaldo kommt und mir den schönen Gnadenpfennig bringt und den Gruß, kann ich doch nicht in der grimmigen Kälte stehen lassen! Also rasch herein und wärmet Euch in der Küche!« Richtig, die dumme Grethe machte ihm auf! Dann fragte sie: »Und wie geht es dem guten P. Sebaldo? Wird er bald wieder einmal hier in Prag predigen oder sitzt er noch immer draußen bei den Bauern in Zalow?«
»Für den Augenblick ist er hier in Prag,« log der heillose Mensch, »aber nur für ein Stündchen. Nun möchte er rasch den kleinen Abele auf einige Augenblicke sehen und sprechen, und da es ihm rein unmöglich ist herüberzukommen, hat er mich geschickt, daß ich den Knaben zu ihm ins Klösterlein hole – ei du mein alles, was ich gelaufen bin!«
»wie? Der P. Sebaldus wünscht, daß der Knabe zu ihm hinauf komme? Aber das geht nicht, das darf ich nicht erlauben; solange die Herrschaft außer Hauses ist, darf niemand über die Schwelle! Ihr müßt warten, bis der Herr oder die Frau heimkommen.«
»Aber liebe, gute Grethe! Die Herrschaft ist gewiß im Gottesdienst, und der wird vor elf Uhr nicht beendet sein, während der P. Sebaldus schon vor zehn Uhr wieder fort muß. Was würde der hochwürdige P. Sebaldus von Euch denken, wenn ich ohne den Knaben käme?«
»Ja, was würde er von mir denken! I du meine Güte, was wird er denken? Ach, daß doch mir immer solche Geschichten passieren müssen – aber ich darf nicht!«
»Er wird von Euch denken, daß Ihr entweder ihm oder mir, seinem Boten, nicht getraut habt! Nehmt doch nur Vernunft an, der Knabe ist ja in guten Händen, wir kennen uns ja.«
»Freilich, wir kennen uns, und er wäre in guten Händen – aber es geht nicht; ich glaube, die Herrschaft würde mich vor die Thüre setzen!«
»Warum nicht gar! Die Herrschaft wird gar nichts davon merken; jetzt ist es halb neun, vor elf oder halb zwölf kommt die Herrschaft nicht zurück, und um zehn Uhr, spätestens halb elf, bringe ich den Knaben wieder hierhin. Geschwind, beste Grethe, holet den Jungen und machet dem alten P. Sebaldo die Freude, daß er ihn zum mindesten heute auf einen Augenblick sehen kann, da er morgen bei des Knaben Taufe nicht mehr hier ist.«
»Ja, wenn ich wüßte, daß Ihr mit dem Knaben vor der Herrschaft zurück wäret –«
»Ich will Euch nie mehr unter die Augen treten, wenn ich ihn auch nur eine Minute zu spät bringe.«
»Und daß es nicht von dem Knaben verrathen würde –«
»Meine Hand darauf, der Knabe soll reinen Mund halten!«
»In Gottes Namen also – auf Eure Verantwortung hin!« Und die einfältige Gans rief den kleinen Abele und sagte ihm, er solle geschwind mit dem Rose zum Kapuzinerkloster hinauflaufen, wo ihn der P. Sebaldus erwarte, und sich ja sputen, daß er zeitig wieder zurückkäme.
Das unschuldige Lämmlein hörte auch nicht eher meinen Namen und sah das Pergamentbildchen mit dem von meiner Hand geschriebenen Spruche, welches es gleichsam wie ein Pfand meiner Gegenwart hinnahm, als es sich voll Freuden bereit erklärte, mit dem reißenden Wolfe zu gehen, flugs in sein wollenes Wintermäntelchen schlüpfte und an der Hand des Judas Iskariot sein sicheres Asyl verließ. Und so wurde der kleine Abele zur selben Zeit, da man in den Kirchen das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi und wie er durch einen Kuß verrathen wurde, feierlich sang, ebenfalls von einem falschen Freund mit scheinbarer Freundlichkeit um des verwünschten Geldes willen verkauft und verrathen, war mithin auch in diesem Punkte seinem göttlichen Meister ähnlich.
Der Jude wählte unter dem Vorwande besonderer Eile die kleinsten und abgelegensten Gäßchen, bis er sein unschuldiges Opferlamm an das elende Häuschen des alten Bettelweibes gebracht hatte. »Ach,« sagte er dann, »hier wohnt eine arme, kranke Person, der wollen wir doch rasch ein kleines Almosen reichen,« und lockte den willig folgenden Knaben in die düstere Hausflur. Daselbst fiel er unversehens über denselben her, band ihm mit einem Tuche den Mund zu, daß er kaum einen halb erstickten Schrei ausstoßen konnte, und warf mit Hilfe des alten Weibes das arme, wimmernde Kind, an Händen und Füßen geknebelt, in ein dunkles Kellerloch. Also ließen sie den kleinen Abele hilflos liegen, ja verspotteten ihn in schrecklicher Weise (wie das Bettelweib später gestand), sagend: der Nazarener würde ihm zweifelsohne zu Hilfe kommen; da derselbe aber heute gerade ans Kreuz genagelt sei, so möge er ihn, wie billig, entschuldigen und sich gedulden, bis es ihm einmal gelegener wäre und er sich seines Unfalles annehmen könne. Mit solchen und ähnlichen Lästerreden schlug der gottlose Verräther die Fallthüre über seiner Beute zu und traf die nöthigen Maßregeln, um das arme Kind mit Einbruch der Dunkelheit in das Haus des alten Abele zu liefern.
O du liebe Seele, wie mag es dir den ganzen Tag über in dem Kellerloche um dein junges Herz gewesen sein! Dein heiliger Schutzengel hat dich wohl getröstet und auf den Kampf gerüstet, welcher dir nun bevorstand!
Inzwischen war der alten Grethe gar schwül zu Muthe. Schon sah sie die Nachbarsleute aus der Kirche zurückkommen, und noch immer wollte der Rose mit dem Knaben sich nicht zeigen. Endlich kam auch die Herrschaft; aber der kleine Abele war nicht zu sehen. Die arme Person ist am selbigen Tage, wie sie mir nachher gestanden hat, vor Schrecken und Angst schier unweise geworden. Als die Essenszeit da war, konnte des Knaben Abwesenheit nicht mehr länger verborgen bleiben; jetzt legte sich das einfältige Ding aus übergroßer Herzensangst aufs Lügen und gab vor, der Abele müsse hehlings, während sie in Küche und Keller hantirte, entwischt und davongelaufen sein, wie das leider schon oftmals mit den unbeständigen Juden geschehen. Bei dieser unwahren Rede verblieb sie auch bei mehrfachem Fragen, und ob nun der Patronus und seine Gattin der Magd wirklich glaubten oder zur Vermeidung gerechten Tadels sich bloß diesen Anschein gaben: sie meldeten alsbald sowohl nach Sanct Clemens als nach unserem Klösterlein, es sei der kleine Abele während des Gottesdienstes hinterlistigerweise entsprungen, wie mir denn auch sofort P. Guardian schriftlich mittheilte. Und hätte die leidige Menschenfurcht ein offenes Geständniß der Magd nicht verhindert oder P. Guardian mein Schreiben mit größerem Glauben gelesen, so wäre mit obrigkeitlicher Macht und Weisheit ein großes Verbrechen wohl noch zu hindern gewesen. Allein das sollte nach Gottes Zulassung nicht geschehen, zweifelsohne weil unser Herr durch das Blutzeugniß eines unschuldigen Kindes viel mehr verherrlicht, als durch die Bosheit aller höllischen Scharen verunglimpft wird.
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Seit ich das letzte Kapitel niederschrieb, sind schon etliche Tage verflossen, und es wollte mir gar nicht glücken, was nun kommen muß, ordentlich aufs Papier zu bringen, auch schier mehr geweint und gebetet als geschrieben; es waren aber keine bittern Thränen, sondern sie flossen gar mild und tröstlich, halb aus Reu und Leid, daß ich dem guten Knaben gerade zu der Zeit, wo er so grausam litt, in meinem Herzen so großes Unrecht that; halb auch aus Trost ob seines schönen Triumphes und aus Sehnsucht, bald mit ihm und allen lieben Heiligen im Himmel vereint zu werden. Dann ging ich gestern Nachmittag mit dem P. Guardian zum Sanct-Magdalenen-Kloster, wo die büßenden Frauen weilen, und ließ mir nochmals alles genau erzählen, wie es sich zutrug und von den noch lebenden Zeugen bekräftigt wird, und will es nun in aller Einfalt niederschreiben, wobei ich jedoch bemerke, daß man den Reden und Widerreden keinen so steifen Glauben schuldet, wie den factis oder Tatsachen, indem bei den erstern, wie billig, erwogen werden muß, daß sie sich nicht so kräftig dem Gedächtnisse einprägen wie die letztern und somit bei ihnen leichter etwa ein Irrthum unterlaufen kann.
Und wie ich nun so schreibe, scheint der helle, warme Frühling durch mein offenes Fensterchen in die kleine Zelle herein, und vom Klostergarten herauf, wo ich das liebe Kind noch vor dem Bilde der schmerzhaften Mutter zu sehen glaube, tönt der kräftige Finkenschlag. Neben dem Kapellchen steht der alte, halbdürre Birnbaum und trägt ein paar Blüthen; die sind frisch und lieblich, als wäre er noch jung, und ich denke: was braucht denn der alte Stumpf noch zu stehen, wenn der Sturmwind das junge Bäumchen geknickt hat?
Aber auch sothaner Gedanke ist thöricht – das steht ja alles bei Gott!
Es war also am Karfreitag Abend um die Zeit, da man schon in der Domkirche in wieder etwas freudenreicherem Tone die Antiphon anstimmte: » In pace in idipsum dormiam et requiescam« – »Im Frieden, ja im Frieden will ich schlafen und ruhen«. Der Herr hatte den Kampf überstanden, bei seinem jugendlichen Jünger aber hub er jetzo an. Der Rose zog den von Kälte halb erstarrten Knaben aus dem Kellerloche hervor, bedrohte ihn mit augenblicklichem Tode, wenn er einen Laut von sich gebe, und schleppte ihn durch die dunkle Nacht in die nahe Judenstadt und dann auf dem geradesten Wege nach seinem väterlichen Hause.
Der alte Abele war zeitig von dem guten Erfolge des Rose benachrichtigt und erwartete mit seinem Bruder, dem Rabbiner, den Knaben. Nach der jüdischen Weise, die Tage zu zählen, war der Sabbat schon angebrochen; der Mann hatte daher, um nicht gegen das Gesetz zu fehlen, bereits vorher auf einem Seitentischchen den Verrätherlohn zurechtgelegt, daß ihn Rose, wenn er den Knaben brächte, nur einstecken könne. Von der Stubendecke herab hing die brennende Sabbatlampe, und sie standen darunter und nestelten schon eine gute Weile an ihren Gebetsriemen; werden aber nicht sonderlich in der Stimmung gewesen sein, Gott ein wohlgefälliges Gebet darzubringen, indem ihre Kerzen grimmigen Zornes übervoll waren.
Da klopfte man an die Hausthüre. »Sie sind es,« sagte die Magd, die später über alles gerichtliches Zeugniß ablegte; denn Abeles Weib, Sara, war nicht zugegen. Mißtrauisch hielt sie der Jude seit dem Entweichen des Kindes in einer Kammer eingesperrt.
Gleich darauf brachte Rose den Knaben in die Stube. Wiewohl derselbe in seinem Herzen auf das Schlimmste gefaßt war, zitterte er dennoch beim Anblicke des grimmigen Vaters heftig. Doch sagte der alte Abele vorläufig keine Silbe zu seinem Söhnchen, als daß er ihn fragte, ob er etwa schon getauft sei. Da sowohl der Knabe als der elende Blutverkäufer dieses verneinten, deutete der Alte nach dem Nebentischchen. Sofort zählte und strich Rose seinen Judaslohn ein und reiste in selbiger Nacht noch schleunig ab. Es soll sich der Erzschelm, wie einige meinen, nach Venedig oder, wie andere glauben, nach den Niederlanden, ja sogar nach der Neuen Welt geflüchtet haben. Dem mag nun sein, wie ihm wolle; wenn selbiger auch dem Arme menschlicher Gerechtigkeit entwischt, dem Racheschwert des göttlichen Gerichtes wird er sicher nicht entgehen, es sei denn durch aufrichtige Buße, ansonst er den höllischen Gluthen gleich seinem Vorbilde Judas Iskariot für alle Ewigkeit verfallen wird.
Als nun der Rose die Stube verlassen, sagte der Rabbiner zu seinem Bruder: »Gepriesen sei der Herr, der dein Kind aus der Gewalt Pharaos und den Banden Aegyptens befreit hat, bevor es das Mal der Schmach empfing.« Er meinte das gnadenreiche Taufwasser. »Jetzt mußt du das mißleitete Schäflein mit Milde und Nachsicht wieder der Herde Israels gewinnen; es hat ja auch der Herr unsere Väter, die ihn verkannten und dem Moloch und den Greueln der Völker nachliefen, in Gnaden ausgenommen, sobald sie sich ihm wieder zuwandten.«
»Ei ja, meinst du, es freue mich, mein eigenes Blut zu verderben?« sagte der alte Abele, »wenn er dem Nazarener entsagen und dem Glauben unserer Väter treu bleiben will, verzeihe ich seinen Frevel und den ängstigenden Kummer, den er auf mein greises Haupt häufte. So er aber auch jetzt noch entschlossen ist, den gekreuzigten Zimmermannssohn anzubeten, werde ich ihn, so wahr meine Seele lebt, lieber wie einen Hund mit diesen meinen Händen erwürgen als ihn unter den Goim wissen!«
Bei diesen Worten bebte der unselige Mann vor Wuth, seine Züge verzerrten sich und sein Auge rollte wild, daß die Magd behauptete, nie in ihrem Leben habe sie etwas Gräßlicheres gesehen. Dagegen bot der unschuldige Knabe einen gar rührenden Anblick. Noch waren seine Hände fest gebunden, und er stand schier da wie der kleine Isaak, nur daß sein verblendeter Vater mit dem Patriarchen Abraham gar wenig Aehnlichkeit hatte. Sein Auge, aus welchem der Schmerz große Thränen tropfen ließ, blickte offen und ehrlich zu dem zürnenden Manne; es war nicht anders, als ob die unschuldige Seele theils mit großen Aengsten, theils mit entschlossener Festigkeit aus ihm hervorschaue. Der Blick ging dem Vater doch etwas zu Herzen; in milderem Tone sagte er: »Löset ihm die Hände!«
»Ich danke Euch, Vater, und bitte, verzeihet den Kummer, den ich Euch bereitet habe,« bat der Knabe und hob die Hände flehend empor.
»Verzeihen? Das muß erst verdient werden, und bis dahin sollst du mich nicht mehr Vater nennen. Ha, Bube, was hast du gethan!« fuhr er dann wieder fort, während der Zorn neu aufloderte. »Bist du nicht hinübergelaufen zu den Todfeinden deines Volkes, welche die Söhne Israels seit Jahrhunderten in den Staub treten? Hast du nicht meinen ehrlichen Namen vor allen Kindern unseres Volkes zur Parabel gemacht, daß sie die Köpfe über mich schütteln, und Kinder und Kindeskinder sich das Gericht erzählen werden, welches der Herr in seinem Grimme durch dich über mein Haus verhängte?«
Da sah der gute Knabe wohl, wie weit sein Vater davon entfernt sei, ihm zu verzeihen, und er sagte traurig: »Daß doch der barmherzige Gott Eure Augen öffnen möchte! Ihr würdet dann den Willen des Herrn erkennen, und daß ich, um ihm zu gehorchen, Euch den Gehorsam versagen muß.«
»Wie? Du willst mir den Gehorsam versagen und wagst es, mich dennoch um Verzeihung zu bitten?«
»Ihr werdet mir verzeihen, sobald Ihr erkennt, wie ich jetzo erkenne, daß Jesus von Nazareth der von Moses und den Propheten verheißene Messias ist.«
Fest und bescheiden sagte der Knabe diese Worte und zeugte so für Christum, den Herrn. Da ereignete sich aber, was schon bei dem Zeugnisse des heiligen Erzmartyrers Stephanus sich zugetragen. Die verstockten Juden hielten sich die Ohren zu, und der alte Abele schrie voll Wuth, ob er diese Lästerung etwa von seiner Mutter zuerst vernommen.
»Von meiner Mutter,« antwortete der kleine Abele, »aber nicht von Sarah, meiner irdischen Mutter, sondern von meiner himmlischen Mutter, der Tochter Davids, der seligsten Jungfrau Maria.«
Nun kannte der Grimm des verblendeten Mannes keine Grenzen mehr. »Von dem Zimmermannsweibe!« schrie er. »O es ist klar, die Baalspfaffen haben ihn behext! Aber ich will ihm den Teufel der Lästerung austreiben!« Und mit diesen Worten warf er sich über das weinende Kind her, riß ihm die Kleider vom Leibe, faßte einen Lederriemen und begann den Rücken des unschuldigen Bekenners so grausam zu zerfleischen, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen. Als er endlich athemlos einhielt, lag der kleine Abel, braun und blau geschlagen, ja mit Blut überronnen, wimmernd und wehklagend am Boden und hätte vielleicht in derselben Nacht noch seine Seele ausgehaucht, wenn sich nicht in dem Herzen des Rabbiners ein Fünklein Menschengefühl geregt hätte, zugleich mit der Hoffnung, des Knaben Standhaftigkeit durch andere Mittel und Wege doch noch zum Falle zu bringen.
Der Rabbiner wandte sich also an seinen Bruder mit der Bitte, des Kindes Leben zu schonen und ihm den Knaben zu überlassen; in wenigen Tagen wolle er seinen Trotz brechen und ihn reuevoll dem Vater zuführen. Darein willigte der alte Abele nach einiger Hin- und Herrede, verschwor sich aber zugleich hoch und heilig, daß nur das Blut und Leben des ungeratenen Kindes seinen gerechten Grimm zu sühnen vermöge, falls auch dieser letzte Versuch fruchtlos bliebe. Nie und nimmer könne er den Gedanken ertragen, sein eigen Fleisch und Blut auf seiten der Nazarener und sein mühsam erworbenes Geld in den Händen der Goim zu sehen.
Es trug demnach der Rabbiner das weh- und wundgeschlagene Kind nach seiner eigenen Wohnung, hegte und pflegte es daselbst die ersten Tage mit anscheinend großer Liebe, um sein Herz für sich zu gewinnen. Als sich aber der kleine Abele etwas erholt hatte, zog der Mann schon andere Saiten auf und versuchte es zunächst mit aller Macht der Ueberredung und Lüge, den Glauben an die Gottheit Jesu zu erschüttern und zu vernichten. Er suchte aus vielen Stellen der Propheten darzulegen, daß der wahre Messias das Reich Juda herstellen und über alle Reiche der Welt erheben müsse; das alles habe der Nazarener nicht gethan und könne folglich auch nicht der wahre Gott sein. Dagegen stritt der kleine Abele, wie nachher der Rabbiner selber bekannt, mit vielen guten Gründen, welche ihm zweifelsohne der Heilige Geist selber eingab, daß solches alles billigermaßen von einem geistlichen Reiche zu verstehen sei. Und sothanes Reich hätten die von Jesu gesandten Apostel wirklich gegründet, aufgerichtet und über die ganze Welt ausgebreitet, und dem geistigen Scepter Judä seien die Könige von Saba und von den Inseln, verstehe die Herrscher der entlegensten Reiche, unterworfen. Ferner erinnerte er, daß der Messias nach dem Zeugnisse des gleichen Propheten, vornehmlich Isaiä am dreiundfünfzigsten, ein Mann der Leiden und der Schmerzen sein müsse, der für die Sünden seines Volkes des Todes sterben würde, was alles bei Jesus von Nazareth eingetroffen, der nicht nur gestorben, sondern zum Zeugnisse seiner Gottheit von den Todten auferstanden sei. Endlich schloß der Knabe, wie sein Oheim selber zugestehe, sei die Herrschaft schon viele hundert Jahre von Juda gewichen; es habe aber der Erzvater Jakob auf seinem Todesbette im Lande Gessen seinem Sohne geweissagt, daß das Scepter nicht von Juda weichen werde, bis da komme, der geschickt werden solle, was wiederum darthue, wie thöricht die Juden jetzt noch auf einen Heiland harrten.
Und das alles brachte der Knabe, theils wie er es im Unterrichte des Proselytenhauses gehört, theils wie es ihm, woran ich nimmer zweifle, der heilige Geist eingab, mit so viel Festigkeit vor, daß der in den jüdischen Schriften wohl bewanderte Rabbiner nicht viel Gescheites dagegen zu sagen wußte. Dafür wurde er aber nur um so zornmüthiger gegen den gotterleuchteten Knaben, je offenbarer sein hartes Herz der erkannten Wahrheit widerstrebte und sich gegen den Ruf der Gnade, welche so lieblich von den Lippen des Kindes erscholl, aus Bosheit verhärtete. So wuchs tagtäglich in seiner Brust der Haß gegen den Neffen; bald suchte er ihn nicht mehr durch Schmeicheleien und Gründe, sondern durch Drohungen, ja durch grausame Schläge und die noch viel grausamere Pein des Hungers und Durstes zu bewältigen.
O was waren das schwere Stunden und Tage, welche der kleine Abele in dem kalten und dunkeln Dachkämmerlein verlebte! Mit Recht sagt man: »Der Hunger thut weh,« und das habe ich in meinem Leben das eine oder andere Mal erfahren, wiewohl nicht lange Zeit, indem der grundgütige Gott mein kleines Kreuz nach meinen schwachen Kräften abmaß. Aber dieses auserwählte Kind, an dem der Herr die Stärke seiner Gnade hat offenbaren wollen, hat die Hungerpein zugleich mit täglichen Peitschenhieben drei lange Wochen heldenmüthig ertragen, und ist seine Standhaftigkeit um so mehr zu preisen, als der Rabbiner ihm täglich einigemal köstlich zubereitete Speisen mit der Einladung versetzte, sich daran gütlich zu thun, falls er den verhaßten Nazarener abschwören und ein Jude bleiben wolle. Der Knabe weinte wohl bitterlich und flehte um Barmherzigkeit, konnte aber nicht dazu gebracht werden, daß er um ein Linsenmus den Anspruch auf das himmlische Erstgeburtsrecht verkauft oder verrathen hätte. So trug der Rabbiner die Speisen wieder weg und gönnte ihm kaum eine Krume schimmeligen Schwarzbrodes, mehr zur Verlängerung seiner Qual als zur Stillung seines Hungers.
Nach drei Wochen war der gute Knabe so schwach und hinfällig, daß er mehr einem Todten als einem Lebenden glich. Jetzt erklärte der Rabbiner seinem Bruder rund heraus, er sei nicht im stande, den Eigensinn des Jungen zu beugen; derselbe sei übrigens schon halb verhungert und werde es nicht mehr lange treiben. Da knirschte der alte Mann vor Wuth, und ein schrecklicher Entschluß, über den er die letzten Wochen in seinem Grimme gebrütet hatte, kam mit Hilfe des höllischen Feindes zur Reife. Doch sagte er dem Rabbiner noch nichts und bat ihn nur, den Knaben nach Einbruch der Nacht in sein Haus zurückzubringen, indem er gesonnen sei, den Starrkopf gründlich zu brechen. Dabei schaute er seinen Bruder mit einem so schrecklichen Blicke an, daß dieser wohl ahnte, um was es sich handle.
Dennoch brachte der Rabbiner den Knaben nach der Wohnung des alten Abele; er mußte ihn schier tragen. Der Vater öffnete die Hausthüre und verschloß sie sorgfältig; dann führte er sein Kind in dieselbe Kammer, in welcher ich einst verborgen war und wo ihn die Mutter erwartete, hierauf winkte er seinem Bruder und trat mit diesem, ohne eine Silbe gesprochen zu haben, in die anstoßende Stube.
Wie mir das unglückliche Weib gestern noch erzählte, hatte sie der Mann gegen Abend aus ihrer Kammer herabgeholt und ihr unter schrecklichen Drohungen den Befehl gegeben, den Knaben, an dessen Verderben sie schuld sei, zum Gehorsam gegen den Vater zu bewegen. Nach dem ganzen Wesen des Gatten erwartete sie im Falle des Mißlingens eine neue grausame Züchtigung für den Knaben; doch hatte sie keine Ahnung von dem, was bevorstand.
»O wie bitterlich weinte ich!« erzählte die arme Sarah mir und dem P. Guardian, dieweil die Erinnerung ihr aufs neue reichliche Thränen entlockte; »wie bitterlich weinte ich, da ich nach fast zwei Monaten meines Kindes ansichtig wurde und dasselbe in einem so elenden Zustande sah, daß es sich kaum auf den Füßen halten konnte! Nur an den lieben Augen konnte ich es erkennen. Ich zog den Knaben an seiner vor Schwäche und Fieber zitternden Hand an mich und begann mit allen Worten, die ein Mutterherz finden kann, zu bitten und zu flehen, wer ihn denn so bezaubert habe, daß er auch nicht mehr ein bißchen Liebe zu mir hege und so gänzlich entschlossen sei, mein Glück und das Glück seines Vaters zu vernichten. Er hatte aber auf alle meine Bitten und Beschwörungen keine andere Antwort als Thränen und sagte, er könne meinem und seines Vaters Wunsche nie und nimmer entsprechen, da derselbe dem göttlichen Willen schnurstracks zuwiderlaufe; wunderbarerweise habe ihm ja die Tochter Davids befohlen, sich taufen zu lassen.
»›Ach,‹ sagte ich, ›siehst du denn nicht, daß das alles eitel Trug und Täuschung ist? Dein Vater wird ja in Ewigkeit nicht zugeben, daß du die Taufe empfangest.‹
»›Und ich will eher sterben als Gott ungehorsam sein,‹ entgegnete mein Kind.
»Da riß sein Vater die Thüre auf und sagte: ›Du hast es gesprochen; ja, sterben sollst du eher als dem Nazarener angehören!‹ Dann wandte er sich an den Rabbiner und sagte: ›Wie hat der Herr Gott Israels durch den Mund seines Knechtes Moses uns befohlen? Hat er nicht gesagt: ›Wenn ein Mann einen halsstarrigen und frechen Sohn zeugte, der des Vaters oder der Mutter Befehl nicht hört und der, obwohl gestraft, nicht gehorchen will, so sollen sie ihn nehmen und zu den Aeltesten der Stadt führen und zur Gerichtspforte und sollen sagen: dieser unser Sohn ist frech und halsstarrig und verschmäht, unsere Mahnungen zu hören‹ – und wie soll nach des Herrn Wort des Ungehorsamen Urtheil lauten? Sprich es aus, du, der du ein Lehrer in Israel bist!‹ wandte er sich mit heiserer Stimme an den Rabbiner.
»Und dieser sagte: ›Steinigen soll ihn das Volk der Stadt, und er soll sterben, damit das Uebel aus eurer Mitte entfernt werde und ganz Israel es höre und zittere – so sagt der Herr durch den Mund seines Knechtes Moses im Buche Ele Haddebarim.‹ (Es meinte der Rabbiner das Buch Deuteronomium am 22. Kapitel, 18. – 21. Vers.)
»›So sagt der Herr, und ich sage: Amen – des Herrn Wort bleibe ewiglich! Wir wollen es nach Möglichkeit erfüllen. Daß das ganze Volk dich steinige nach dem Gesetze, haben die verhaßten Nazarener unmöglich gemacht; aber wir wollen des Herrn Wort vollziehen, so gut wir können, und zum letztenmal frage ich dich: willst du deinen Eltern gehorchen oder sterben?‹ – So redete in schrecklichem Zorne mein Mann.
»Der Knabe aber flehte: ›O Vater, ladet doch nicht mein Blut auf Eure Seele –‹
»›Du willst nicht?‹ schrie der Vater, ›so ist dir in dem Gesetze Mosis dein Urtheil gesprochen – getauft sollst du niemals werden!‹
»›In meinem Blute wenigstens, und mein Herr Jesus Christus wird meinen Willen für die That hinnehmen!‹
»So sagte das Kind gar mild und fest entschlossen. Ich werde diese seine Worte nicht vergessen, auch wenn ich hundert Jahre alt würde; denn es waren die letzten, welche ich von den Lippen meines Abel hörte. Er hatte sie kaum gesprochen, so rissen sie ihn von mir los; ich wollte um Hilfe schreien, aber mein Mann stieß mich, von seinem Grimme überwältigt, hart auf ein Ruhebett nieder, mich mit dem Tode bedrohend, wenn ich einen Laut von mir geben würde. Auch die Magd, welche sie herbeiriefen, wurde mit der gleichen Drohung geschreckt. Dann gingen sie mit dem Knaben und schlossen die Kammerthüre hinter uns ab.
»Uebrigens würde, wenn wir auch nicht vor Todesangst geschwiegen, von den Kammern unseres Hinterhauses, das zwischen Warenschoppen versteckt liegt und nur auf den großen Begräbnißplatz einen Ausblick bietet, wohl niemand unsern Hilferuf gehört haben. Freilich, wenn ich das Schreckliche hätte glauben können, so würde mich auch die Furcht vor dem Tode nicht abgehalten haben, wenigstens einen Versuch zur Rettung meines Kindes zu unternehmen; so aber glaubte ich, es handle sich nur darum, durch die bloße Zurüstung zum Tode den Willen des Knaben zu beugen.
»Wir hörten sie die Bodentreppe hinansteigen und eine über uns gelegene Kammer öffnen und verschließen. Dann drang ein lauter Schrei an unser Ohr, dem gedämpfte Klagelaute folgten. ›Ach Gott, sie verstopfen ihm den Mund,‹ jammerte die Magd; ›ich fürchte, sie werden ihn grausam peitschen; der Herr war so schrecklich grimmig, wie ich noch nie einen Menschen sah!‹ – Aber, gerechter Gott, wir hörten nicht das Klatschen der Peitsche, nein, das waren – Hammerschläge – ganz deutlich Hammerschläge – und dazwischen ersticktes Wimmern und Klagen – und wieder Hammerschläge – und zum dritten- und viertenmal Hammerschläge!
»›Was haben sie nur zu hämmern?« fragte die Magd. Da, mit einemmal wurde es mir klar, und ich schrie: ›Gott Abrahams – sie kreuzigen ihn!‹ und als Bestätigung meiner gräßlichen Ahnung tropfte es erst langsam und dann immer rascher durch die Dielen zu unsern Häupten in die Kammer herab. Die Magd leuchtete hin und sagte entsetzt: ›Das ist Blut – rothes warmes Blut!‹ – –
»Was weiter geschah, weiß ich nicht zu sagen.
»Als ich wieder zu mir kam, war es heller Tag. Ich lag auf meinem Bette, und mein Mann stand vor mir. Sein Gesicht war schrecklich bleich und sein Auge unstät, daß ich meinte, er habe den Verstand verloren. Ohne mich anzusehen, sagte er, der Knabe sei heute Nacht gestorben. Voll Abscheu wandte ich mich von ihm ab und sagte: ›Mörder!‹ Da zuckte er zusammen, drückte seine Linke auf meinen Mund und würgte mich mit der Rechten in die Kissen hinein; in heller Todesangst versprach ich zu schweigen, und der Schreckliche ließ von mir ab.
»Er hieß mich aufstehen und das Trauergewand anlegen; ich that alles, was er wollte. Ich sah den Knaben; sie hatten ihn gewaschen und in das lange Todtenhemd gekleidet; das deckte seine blutigen Füße, und die großen Aermel bargen seine Hände. Sein Antlitz war gar mild und ruhig. Die Klageweiber kamen, und auch die Nachbarn und Freunde kamen, und keiner fragte, woran der Knabe gestorben sei; denn sie ahnten die Wahrheit und scheuten den Zorn meines Mannes. Der Todtengräber bereitete auf dem alten Begräbnißplatze unter einer grünen Fliederstaude das Grab; ich sah ihn von meinem Fenster aus schaufeln. Und dann trugen wir ihn hinaus und gruben ihn ein am späten Nachmittage, eine Stunde vor dem Anbruche des Sabbats. Mein unglücklicher Mann meinte wohl, keiner werde es wagen, gegen den reichen Abele ein Wort zu reden; aber der Spruch des Herrn mußte sich bewahrheiten: ›Das Blut deines Bruders Abel – ja deines Kindes Abel – schreit zu mir um Rache!‹«
So erzählte mir gestern glaubwürdig die Mutter, und ich habe es aufgeschrieben, so gut ich mich ihrer Worte erinnern kann, wirklich und wahrhaftig ist der kleine Abele mit seinem göttlichen Meister gekreuzigt worden. Ich selbst bin neulich mit Bruder Kunibert im Hause des Abele auf der Bodenkammer gewesen und habe die großen Blutflecken, welche an der Wand, namentlich aber auf dem Fußboden zu sehen sind, kniefällig und mit andächtigen Küssen verehrt. Was aber des weitern bei seiner Kreuzigung sich zugetragen, hat man nie mit Sicherheit erfahren können, und somit kann ich die letzten rührenden Worte, welche er etwa an seinen Vater und Oheim richtete, nicht hersetzen. Nur so viel hat der Rabbiner kurz vor seinem Tode gestanden, daß sie dem Knaben, als sie ihn schon festgenagelt hatten, nochmals das Leben angeboten, wofern er Christum verläugnen wolle, daß er aber betheuert habe, er wolle lieber mit Christo sterben als ohne Christum leben. In dieser weise ging seine glorreiche, in dem eigenen Blute getaufte Seele nach nicht gar zu langem Todeskampfe in die ewigen Freuden des Himmels ein. Lieber, du kannst dir wohl denken, wie die liebe Mutter Gottes ihr Kind mit aller Huld und Güte aufnahm und an ihrer Hand zum Throne ihres göttlichen Sohnes geleitete, mit dem es fürderhin herrschen wird von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
O du unschuldiger, heiliger Blutzeuge, bitte für uns!
Es hat sich aber dieser heilige Knabe gewürdigt, in derselben Nacht, in welcher er litt, mir im Traume zu erscheinen. Er trug ein überaus glänzendes Kleid, weiß nicht, aus was für einem Stoffe, und rothe Rosensträuße in seinen Händen. Damit winkte er mir, milde lächelnd, und sagte: » P. Sebalde, warum habt Ihr an mir gezweifelt?« worauf ich alsbald erwachte; da schlug die Kirchenuhr von Zalow die zweite Stunde nach Mitternacht. Rieb mir also die Augen, wunderte mich des seltsamen Traumes, erhob mich von meinem Lager und begann bei dem klaren Mondschein, der die großen Buchstaben meines Breviers deutlich sehen ließ, die Matutin des heiligen Märtyrers Pankratius zu beten. Dabei störte mich aber mehr als einmal der Gedanke an den Traum.
Ja, P. Sebalde, warum hast du gezweifelt?
Und noch glaubte ich nicht, sondern redete mir alles als ein eitel Traumbild aus.
*
Also träumte ich in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag vor dem Sonntag »Jubilate« (dem dritten nach Ostern), da man das Evangelium liest: »Ueber ein Kleines und ihr werdet mich nicht mehr sehen, und abermals über ein Kleines und ihr werdet mich wieder sehen« (Johannes am sechzehnten).
Und wie ich nach der Predigt über diesen Text von der Kanzel herabkam und der Morgengottesdienst zu Ende war, traf ein Bote mit einem Briefe meines P. Guardian ein des Inhalts: »Kommt morgen nach Prag zurück,« so daß die Bauern von Zalow meinten, ich hätte über mich selber gepredigt: »Ueber ein Kleines und ihr werdet mich nimmer sehen.«
Kann übrigens nicht sagen, daß dieser Brief mir sonderliches Herzeleid verursacht hätte, indem ich zeitlebens lieber bei meinen Brüdern im Kloster als auf einer Expositur weilte, und machte ich mich daher des andern Tages bei guter Stunde per pedes Apostolorum auf den Heimweg. Es hatte mir zwar der Schulze, den ich schon manche Jahre her kenne, sein Wägelein angeboten; da aber das Frühlingswetter gar schön war, lehnte ich dankend ab und bat ihn, er möge lieber nach der Erntezeit einspannen und uns hereinfahren, was etwa die Bauern unserem Klösterlein aus Liebe zu Gott schenken wollten. Des war er gerne zufrieden, und ich ging in nomine Domini meiner Wege.
Wenn ich aber so einsam durchs Feld wandle, gehe ich nicht rasch, sondern gemächlich und sehe mir dieses und jenes an und mache mir meine Gedanken darüber, und oftmals hat ein solcher Gang meiner Seele besser gethan als eine lange Meditation, wie auch unser heiliger Vater Franciscus über eine einfältige Feldblume in die göttliche Liebe verzückt werden konnte. Nun, so weit ist es bei mir freilich nicht gekommen! Wandelte also durch den schönen Frühlingstag, sah die blühenden Bäume und die hellgrünen Saatfelder und hörte darüber in dem lieblichen blauen Himmel gar munter die Vögel jubiliren und musiciren. Und weiß ich nicht, wie es kommt, daß mich gerade die fröhliche Lenzzeit, welche mich in jungen Tagen so sehr freute, fast eher trüb und traurig stimmt. Muß eben immer daran denken: wartet nur, ihr Blümlein und ihr Bäume und ihr Wiesen und Felder; es währt gar nicht lange, und ihr alle seid abgeblüht und blattlos und kahl und öde! Ach wie vieles habe ich in meinem Leben fruchtlos hinwelken sehen! Und in meinem eigenen Herzen, wie sproßte und blühte einst alles, wo jetzo nur mehr ein leeres Stoppelfeld ist - und daß die Ernte nur in die himmlischen Scheunen eingeführt und nicht etwa als Brennstoff für das Fegfeuer aufgespeichert wäre! Da kommt mir inmitten der fröhlichen Frühlingszeit das Trauern näher als das Jubeln; weiß nicht, lieber Leser, der du dereinst dieses Geschreibsel etwa zu Gesichte bekommst, ob es dir auch so geht – bete ein Vaterunser für mich!
Unter solchen und ähnlichen Gedanken war ich zu der Stelle gekommen, wo der Aumetitzerbach in die Moldau fällt, und die Fähre ist. Daselbst traf ich den Fährmann in heftigem Wortwechsel mit einem schon ziemlich betagten Juden, den er, weiß nicht warum, überzusetzen weigerte. Da fiel mir ein, ich könnte dem Streit dadurch ein Ende machen, daß ich mich selber hinüberfahren ließe; denn ob ich auf dem einen oder dem andern Ufer nach Prag zurückkehrte, so konnte ich doch noch vor Mittag auf dem Hradschin sein, und ich kann es nun einmal in der Seele nicht ausstehen, wenn zwei Menschen dem Teufel die Freude machen und sich zanken und schmähen. Trat also hinzu und fragte den alten Michel, den ich wohl kannte, ob er mich um Gotteslohn überfahren wolle. Des war er zufrieden, und da ich ins Schiff gestiegen, winkte ich dem Juden, daß er mir folge, und wiewohl das den Fährmann etwas ärgerte, wagte er doch nichts dagegen einzuwenden, nur daß er darauf bestand, der Jude müsse bezahlen.
»Das ist nicht mehr als billig,« sagte ich, »und damit Ihr auch von mir einen kleinen Nutzen habet, will ich Euch aus dem Evangelio eine schöne Geschichte erzählen.«
Erzählte ihm also die Geschichte vom barmherzigen Samaritan, wobei der Jude schier besser aufmerkte als der Christ. Und als wir am jenseitigen Ufer landeten, gesellte sich der erstere mir bei, und wir gingen selbander Prag zu. Dabei kamen wir in ein Gespräch, und ich fragte meinen Mann, welches Geschäft er betreibe. Da gestand er, wiewohl nicht gerne, er sei ein Todtengräber. Es sind nämlich die Todtengräber bei den Juden verachtet, ja schier gehaßt. Ich forschte nun, ob in letzter Zeit viel Volk in der Judenstadt gestorben sei; denn vor nicht so langer Frist war daselbst ein großes Sterben. Er sagte nein, sie hätten in der ganzen Woche nur ein altes Weib und einen Knaben von etwa zwölf Jahren begraben.
»Wie hieß der Knabe?« fragte ich, indem das gleiche Alter mich an den unglücklichen Abele erinnerte.
»Das kann Euch gleichgiltig sein – wenn er nur in Abrahams Schoß ruht.«
»Wenn er in Abrahams Schoß ruht, so wird mir das nicht gleichgiltig, sondern sehr erfreulich sein. Ich kenne übrigens den einen oder andern Judenknaben von diesem Alter.«
»Nun, es war des reichen Abele Kind –«
»Des reichen Abel Abele Kind?« rief ich und blieb stehen.
»Ja, des reichen Abel Abele – habt Ihr das gekannt?«
»Und wißt Ihr, daß der Knabe Christ werden wollte?«
»Habe davon gehört – er hat es aber bereut und ist zu seinem Vater zurückgekehrt.«
»That er es freiwillig?«
»Nun, wie hätte man ihn zwingen können?«
»Und ist jetzt todt und gestorben, ich meine eines natürlichen Todes gestorben?«
»Nun, wie soll er sonst gestorben sein? Es wird doch der alte reiche Abele sein einzig Kind nicht erschlagen!«
Der Todtengräber sagte die letzten Worte etwas unsicher. Ich drängte ihn mit unterschiedlichen Fragen, doch war nichts weiter aus dem Manne herauszubringen; dann erzählte ich ihm alles, was ich von dem Kinde wußte, und meinen sonderbaren Traum vom letzten Donnerstag nachts. Das schien ihn sehr zu erschüttern, und vielleicht hätte er denselben Abend noch gestanden. Es kam aber ein Trupp Wanderer des Weges; da brach er ab, dankte mir für meinen Freundesdienst und bog rasch in einen Seitenpfad.
» P. Sebalde, warum habt Ihr an mir gezweifelt?« Diese Frage wollte nun nach sothaner unerwarteter Mittheilung von dem Tode des lieben Knaben nicht mehr aus meinem Sinn, und schon glaubte ich für meine Person steif und fest an den glorreichen Martyrtod des kleinen Abel.
In unserem Klösterlein auf dem Hradschin angekommen, eilte ich auf die Zelle meines P. Guardian. Derselbe schloß mich mit großer Liebe in seine Arme, gab mir seinen Segen und fragte nach den Erlebnissen in den letzten Wochen. Ich erzählte ihm also alles und pries Gott, daß er sich gewürdigt habe, durch mich, seinen unwürdigen Diener, ein weniges zu seiner Ehre in den Gemeinden von Rostok und Zalow zu wirken.
Dann kam die Rede auf den kleinen Abele und ich erzählte meinen Traum und mein Zwiegespräch mit dem jüdischen Todtengräber, fand aber bei P. Honorio wenig Glauben. Ja, selbiger wurde schier ungehalten und sprach: » P. Sebalde, lasset das jetzt gut sein von wegen des davongelaufenen Judenbübleins! Was den Traum angeht, halte ich ihn für ein eitel nächtlich Phantasma, so entweder aus Eurem dicken Geblüt oder auch aus der List des Teufels hervorging, indem Ihr ja selbst gesteht, daß es Euch nachher beim Brevierbeten störte, was aber das Zwiegespräch mit dem jüdischen Todtengräber angeht, will es mir nicht recht gefallen, daß Ihr mit solchen Persönlichkeiten, die auch unter den Juden schlecht angeschrieben sind, auf offener Landstraße vertraulich zusammengeht, und versehe ich mich in Zukunft in diesem Punkt von Euch eines Bessern!«
So ließ er mich mit meinem Glauben an den Martyrtod des kleinen Abele gründlich abfahren, und ich nahm mir vor, denselben gegen niemanden mehr zu verrathen, da ich keine Lust verspürte, mich dafür auslachen zu lassen. Gleichwohl bin ich diesem Vorsatze schon in der nächsten Stunde untreu geworden, indem ich mein Herz vor dem alten Bruder Kunibert ausschüttete, und diese einfältige Seele schenkte mir Glauben und sagte, er werde von nun an in seinen Gebeten den Knaben der Schar der heiligen Blutzeugen beizählen.
Und dabei wäre es schier geblieben, nämlich daß wir zwei allein auf Gottes Erdboden ihm diese Ehre erwiesen hätten. Allein Gott sorgte dafür, daß die Glorie seines Dieners in Prag und ganz Böheim bekannt wurde.
Am späten Abende desselben Tages noch rief mich Bruder Kunibert in die Pförtnerstube; es sei nämlich der Jude da, mit dem ich heute früh bei Rostok über die Moldau gefahren.
Richtig, da stand der alte Todtengräber und zupfte sich vor Verlegenheit an seinem gelbweißen Barte! Dann sagte er nach einigem Räuspern, er habe etwas auf dem Herzen, und so ich ihm Schutz und Sicherheit verspreche, wolle er mir alles sagen. Konnte mir schon denken, was es sei, und sagte ihm, soviel ich dessen vermöchte, meine Hilfe und Fürsprache zu. Darauf rückte er allmählich heraus, wie er den alten Abele schon lange Jahre kenne und viel von seiner Härte und seinem Stolze zu leiden gehabt, und wie der junge Abele, von dessen Tode er mir heute Morgen geredet, von Jugend auf ein ganz anderes Wesen gezeigt habe.
»Vor Jahresfrist,« erzählte er, »war ich krank und bettlägerig; da ist der kleine Abel täglich zu mir gekommen und hat mir manchmal einen Apfel oder sonst etwas, das er sich vom Munde absparte, gar liebreich geboten. Das ist mir heute Morgen, als ihr mir den Traum erzähltet, recht schwer aufs Herz gefallen. Ich habe darauf in der Nachbarschaft etwas Umfrage gehalten, was man über den Tod des Knaben denke, und gefunden, daß männiglich einerlei Meinung sei, daß nämlich derselbe keineswegs eines natürlichen Todes gestorben, daß aber aus Furcht vor dem alten Abele niemand darüber zu reden wage. Ich weiß ganz sicher, daß sie den Knaben vor ungefähr einem Monat durch List in das Haus seines Vaters zurückbrachten; von da führten sie das Kind in die Wohnung seines Oheims, eines Rabbiners an der Altneuschule, und dieser ließ es drei Wochen lang bei Wasser und Schwarzbrod hungern. Der Knabe blieb aber bei seinem Willen; da schleppten sie ihn nächtlicherweile wieder zu dem Abele zurück, und ich habe allen Grund, zu glauben, daß sie ihn alsbald kreuzigten. Es hat nämlich ein Bekannter von mir, der zufällig in jener Nacht an dem Hause vorbeikam, einen lauten Schrei und deutliche Hammerschläge gehört, und am andern Morgen wurde ich zu Abele gerufen, wo ich ganz unerwartet den Auftrag erhielt, schleunig für den Knaben das Grab zu bereiten.«
So erzählte der Todtengräber. Ich stellte ihm nach Kräften vor, wie er es dem gottseligen Knaben schulde, sein Zeugniß laut und ungescheut vor den Gerichten zu wiederholen; davon wollte er aber nichts hören, und erst nach langem Zaudern brachte ich ihn dahin, daß er die Angelegenheit auch dem P. Guardian mittheilte.
Bruder Kunibert holte diesen, und er ließ sich haarklein alles von dem alten Juden erzählen, stellte auch manche verfängliche Frage an ihn; denn er traute ihm nicht sonderlich. Schließlich schwieg P. Honorius eine gute Weile, nahm bedächtig ein paar Prisen, drehte die Dose zwischen seinen Fingern und sagte: »Ob Eure Geschichte auf Wahrheit beruht oder nicht, läßt sich gar leicht ergründen. Ich bringe die Sache gehörigen Ortes zur Anzeige, man öffnet das Grab des jungen Abele, und wenn er wirklich von seinem Vater erschlagen oder, wie Ihr glaubt, gar gekreuzigt wurde, so muß sich das an den Wundmalen annoch erkennen lassen.«
Dem stimmte ich lebhaft bei, und nach vielem Zureden gab sich der Todtengräber endlich zufrieden, indem P. Guardian ihm vorderhand einen Zufluchtsort im Kloster anbot und versprach, er werde ihm für sein ferneres Fortkommen in einer andern Stadt mit Rath und That behilflich sein, wenn sich alles seiner Aussage gemäß verhielte. Es wurde ihm gleich die kleine Fremdenstube eingeräumt, übrigens dem Bruder Kunibert aufgetragen, auf den Juden ein scharfes Auge zu haben; denn wenn wir Kapuziner auch kein Geld besitzen, so wird doch in unserer Sacristei nebst andern reichen Kirchengefäßen die berühmte Monstranz der Santa Casa mit den 6666 Diamanten aufbewahrt, und P. Guardian traute dem Kunden doch nicht völlig.
Dann befahl mir der letztere, ihn sofort nach Sanct Clemens zu begleiten, wie er nämlich gleich zu Anfang die Geschichte des kleinen Abele nicht auf seine und der Kapuziner Verantwortung allein laden wollte, so hielt er auch jetzt für gut, vor allem den Rector der Jesuiten um seine Meinung und Ansicht zu fragen, warfen also in aller Eile das Schultermäntelchen um und gingen zu den Jesuiten.
Wiewohl es schon etwas spät war und der Bruder Pförtner ein saures Gesicht machte, kam der hochwürdige P. Rector sofort ins Sprechzimmer oder Allocutorium, wie sie ihre Pförtnerstube nennen, und hörte unsere wundersame Märe, wovon ihm einiges zwar nicht leicht glaublich, aber nichts unmöglich vorkam. Dann fragte er, ob wir von der Geschichte schon anderweitig geredet, so daß sie ruchbar werden könne, und da ich gestehen mußte, daß außer uns zweien auch der Bruder Kunibert darum wisse, hielt er es für besser, den gleichen Abend noch bei der geistlichen Obrigkeit die Sache anhängig zu machen. So fuhr der P. Rector mit dem P. Guardian spornstreichs zum Erzbischof. Ich aber eilte nach Hause, um dem Bruder Kunibert und allen andern vorderhand strengstes Silentium aufzulegen. Dann wartete ich an der Pforte auf die Rückkehr des Guardians. Erst spät in der Nacht kam er, befriedigte aber meine Neugierde keineswegs, sondern hieß mich zur Ruhe gehen, indem ich am folgenden Tage alles erfahren würde.
Mußte mich also gedulden. Es hatte aber der Erzbischof, wie ich später erfuhr, die beiden freundlich vorgelassen und war nach umständlicher Kenntnißnahme des wunderbaren Vorfalles sofort mit denselben im eigenen Wagen zum Grafen Thurn, dem Stadtobersten, gefahren, um die Hilfe des brachium saeculare, will sagen: weltlicher Gewalt, anzurufen. Nachdem daselbst die ganze causa criminalis referirt und durchberathen war, beschlossen der Erzbischof und der Herr Graf Thurn einhellig, sie wollten mit der Gefangennahme der muthmaßlichen Uebelthäter bis zur Morgenfrühe warten, inzwischen aber die Thore der Stadt, namentlich der Judenstadt, strengstens bewachen lassen. Mit Tagesanbruch solle dann ein Theil der Scharwache nach dem Hause des alten Abele und des Rabbiners ziehen, ein anderer Theil das Grab des Knaben öffnen, während gleichzeitig ein ganzes Regiment die Judenstadt umzingeln werde.
Alles das wurde, wie mit großer Heimlichkeit und Weisheit vorbereitet, so mit vollständigem Erfolge ausgeführt. Ich hatte kaum die Frühmesse gelesen, als ein Theil der Scharwache vor unser Kloster kam und ich zusamt dem Todtengräber Befehl erhielt, dieselbe nach dem Grabe des jungen Abele zu begleiten. Als wir eben in die Judenstadt einmarschirten, begegnete uns die andere Compagnie, den alten Abele, sein Weib und seine Magd in ihrer Mitte; sie führten dieselben nach dem Stadtgefängnisse. In den Straßen war viel Volk zusammengelaufen. Da sie nun einen Juden und einen Kapuziner zusamt mehreren Gerichtspersonen, von Bewaffneten umgeben, einherziehen sahen, meinten sie, es werde ein armer Schächer zum Galgen geführt, und schlossen sich uns haufenweise an. So kamen wir, von vielen Hundert begleitet, nach dem großen Begräbnißplatze bei der Altneuschule. Unter einem Fliederbusch, mitten zwischen alten Grabsteinen, fanden wir den frisch aufgeworfenen Hügel; der Hauptmann ließ ihn von seinen Soldaten umstellen, und alsbald begann der Todtengräber auf Befehl der Gerichtsherren zu schaufeln und zu graben.
Wie männiglich denken kann, stunden wir in großer Erwartung daneben; denn sofort mußte sich zeigen, ob uns der alte Todtengräber etwa gehänselt habe. Es banden sich auch einige ihre Schnupftüchlein vor die Nase, da nach dem Zeugnisse des Juden die Leiche, wie weiland der todte Lazarus, schon den vierten Tag im Grabe lag. O du liebe Zeit, das war freilich nicht nöthig, und nahmen dieselben ihre Tüchlein bald herunter, als mit einemmal ein überaus süßes, wunderbares Duften aus dem Grabe emporstieg. Jetzt stellte der Jude die Schaufel beiseite und räumte mit den Händen die letzte Erde vorsichtig weg; denn er war bei dem Todten angekommen, und schon trat die Leinwand, mit welcher sie ihn statt eines Sarges bedeckt, stellenweise sichtbar hervor. Der Todtengräber bat nun die Gerichtsdiener um Hilfe, die Leiche emporzuheben, und da diese zauderten, trat ich selbst hinzu und hob mit ihm meinen kleinen Freund aus dem Grabe. Wir entfernten die äußern Hüllen, welche von dem feuchten Boden beschmutzt waren; ich selbst kniete mich nieder und löste das Schweißtuch, mit dem sie nach jüdischem Gebrauch das Angesicht des Knaben verhüllt hatten. Da schaute es mich an, und alle Umstehenden brachen in einen Ruf der Verwunderung aus; denn das war nicht ein entstelltes Leichengesicht, sondern das Antlitz eines leicht und lieblich Schlummernden. Eine solche Schönheit und ein solch verklärtes Wesen habe ich niemals, auch nicht in einem Gemälde gesehen. Als ich ihm die schwarzen Locken aus der reinen Stirne strich, meinte ich, die Augenlider müßten sich öffnen, und von den frischen, rothen Lippen hörte ich die Frage: P. Sebalde, warum habt Ihr an mir gezweifelt?
War übrigens nicht der einzige, der in laute Rufe einer freudigen Trauer und in trostreiche Thränen ausbrach. Und als nun erst einige andere Binden gelöst waren, wozu sich nunmehr nicht nur die Gerichtsdiener, sondern die anwesenden Richter, ja der Hauptmann der Scharwache herbeidrängten, und man an den Stellen der Hände und Füße frisches rothes Blut durch die Leinwand dringen sah, und erst, da wir eine Hand des Knaben gänzlich losgewickelt hatten und die grausame Nagelwunde, aus der reichliches Blut floß, mit unsern Augen erblickten: da erhob sich rundum ein Rufen und Seufzen, ein Weinen und Schluchzen des andrängenden Volkes, daß ich all mein Lebtag nichts Aehnliches gehört. Ja sie hätten uns beinahe zusamt den Herren vom Gerichte erdrückt und in das offene Grab hineingedrängt, wenn die Soldaten nicht rundum mit vorgehaltenen Piken solches verhütet hätten. »O seht doch den heiligen Knaben! O schaut seine blutigen Male! O des grausamen Vaters, der sie ihm geschlagen!« So und ähnlich scholl es von allen Seiten.
Auch der alte Todtengräber kniete ganz zerknirscht bei dem Todten nieder, schlug an seine Brust und bekannte laut, daß derjenige, für den dieser Knabe gestorben, wahrlich der echte Messias sein müsse; denn diese Erhaltung der Leiche sei ein offenbares Wunder der göttlichen Allmacht.
Als der erste Sturm der Begeisterung sich etwas gelegt hatte, beschlossen die Gerichtspersonen, den todten Knaben für den Augenblick in sein nahes väterliches Haus zu schaffen. Daselbst nahmen sie ein vorläufiges Protokoll über den ganzen ebenso erschrecklichen als trostreichen Vorfall auf, unter welches auch ich meinen Namen setzte. Dann eilten sie mit demselben nach dem Palaste des Erzbischofs; ich aber blieb bei dem todten Abel, und die Wachen wehrten dem andringenden Volke.
Schon war die Kunde von dem Geschehenen den Gerichtspersonen vorangeeilt; sie trafen daher um den hochwürdigsten Herrn Erzbischof nicht nur eine große Zahl der Herren Canonici und Kapitulares, sondern auch den Stadtobersten mit vielen aus den Räthen der Stadt versammelt. Nach Anhörung des Protokolls beschlossen auf den Antrag des Erzbischofs alle einhellig, sowohl zur Sühne des geschehenen Frevels als zur allgemeinen Auferbauung den wunderbar erhaltenen Leib des Knaben in feierlicher Procession abzuholen und vorläufig in der großen Halle des Rathhauses auszustellen. Sofort wurde dieser Beschluß unter Trommelschlag in den Straßen Prags verkündet, damit männiglich wisse, wann und wo sich die verschiedenen Zünfte und Innungen dem besagten Zuge einzureihen hätten. Und ist diese Procession mit großer Pracht und Herrlichkeit am Nachmittag gehalten worden, wie ich zum Schlusse dieser wahrhaftigen Geschichte, dem lieben kleinen Abele zu Ehren noch aufschreiben will.
Gleich nach ein Uhr gaben die Glocken von Sanct Veit, denen das feierliche Geläute aller Kirchen und Thürme beistimmte, das Zeichen, daß der hochwürdigste Erzbischof mit seinem Kapitel die Domkirche verlassen habe. Ich hatte bis dahin bei dem todten Knaben im Hause des Abele mit noch andern Geistlichen, welche sich im Laufe des Vormittags eingefunden, gewacht und gebetet. Jetzt traten wir an das Fenster und sahen die fast endlose Procession die lange Gasse herabkommen, vorauf die kleinen Knaben und Mädchen mit ihren Lehrern und Lehrerinnen, dann die Schüler der Gymnasien, vorab die von Sanct Clemens mit den Bannern und Bändern der marianischen Congregationen, ferner die Studiosen der Hochschule zusamt dem corpus doctum und den Pedellen. Ihnen folgte in langen Reihen singend und betend die Geistlichkeit, vorauf die Kapuziner, und es hat sich's der alte Bruder Kilian, der schier blind ist und geführt werden muß, diesmal nicht nehmen lassen, zum letztenmal in seinem Leben das Kreuz vorzutragen. Hinter dem Ordensclerus schritt der Weltclerus und endlich, umgeben von dem Domkapitel, der Erzbischof selbst. Unmittelbar vor ihm trugen acht adelige Jünglinge aus dem Rathe der marianischen Congregation einen mit rothem Sammet ausgeschlagenen und mit Blumen zierlich umwundenen Schrein, der bestimmt war, den jugendlichen Blutzeugen aufzunehmen. Dem hochwürdigsten Herrn schlossen sich an der Stadtoberst und die Räthe der Stadt, der Adel und die Bürgerschaft, und in unabsehbaren Reihen die Zünfte und Gilden mit ihren Fahnen und Zeichen.
Als der hochwürdigste Erzbischof das Haus erreicht hatte, trat er ein und mit ihm der Graf Thurn, die Räthe und das Domkapitel; von der übrigen Geistlichkeit drängten nach, so viele die Stube und die anstoßenden Kammern fassen konnten. Da nun der hochwürdigste Herr und sein Gefolge an den Händen und Füßen des gar lieblich daliegenden Knaben die Wundmale gewahrten, welche er für seinen Herrn und Heiland empfangen hatte, konnte sich keine Seele der Thränen heiliger Rührung länger enthalten, und alle knieten nieder und küßten nach dem Beispiele des Oberhirten die mit den Malen Christi bezeichneten Glieder.
Dabei ist noch ein anderes Wunder zu vermelden. Als nämlich der Leibmedicus Sr. Erzbischöflichen Gnaden das frische und blühende Aussehen des Blutzeugen und die Biegsamkeit seiner Glieder, gleich als wäre das Leben noch in ihnen, nicht genug bewundern konnte, bat er zu noch größerer Bekräftigung des Wunders um die Erlaubniß, eine Ader desselben öffnen zu dürfen. Der Herr Erzbischof willigte ein, und kaum hatte das Messer den Arm geritzt, schoß auch das Blut so frisch empor, als ströme es aus einem lebendigen Leibe. Alles beeilte sich, sein Tüchlein in das Blut zu tunken, und auch ich war so glücklich, eine Reliquie davon zu erhaschen.
Darauf fragte der Erzbischof, ob etwa einer der anwesenden Geistlichen sich getraue, über das Martyrium dieses gottseligen Knaben einige Worte der Erbauung an das versammelte Volk zu richten, worauf ich, erwägend, daß nicht leicht ein anderer so viel von der Geschichte wisse, dem hochwürdigsten Herrn zu Füßen fiel und erklärte, mit seinem Segen und Gottes Gnade wolle ich das wohl thun. So habe ich dann fast eine Stunde vom Fenster aus an das in der Gasse stehende Volk geredet, was mir der Geist Gottes auf die Zunge legte, und es war nicht schwer unter solchen Umständen, reich und arm nicht nur zu Thränen, sondern auch zur Buße und Bekehrung zu bewegen. Ich bin aber nicht so einfältig, solches der Kraft meiner Rede beizumessen, indem die vier Wundmale des Knaben viel lauter und eindringlicher predigten als der beste Prediger der Christenheit.
Als die Predigt zu Ende war, trugen wir den heldenmüthigen Knaben unter dem Geläute aller Glocken nach dem großen Rathhause in der Altstadt und bahrten ihn daselbst vorläufig auf einem reich mit Sammet und Seide, Silber und Gold gezierten Paradebette auf, damit die ganze Bürgerschaft Prags Gelegenheit habe, die wunderbare Leiche zu sehen und ihre Wundmale zu betrachten. Vier Wochen lang lag sie daselbst, Tag und Nacht umringt von Mitgliedern der verschiedenen Orden und von einer Abtheilung Soldaten bewacht. Es ist gar nicht zu sagen, wie groß nicht nur der Andrang der Bürgersleute und der Bauern aus vielen Stunden im Umkreise war, sondern wie auch der höchste Adel, sowohl Herren als edle Frauen, sich herbeidrängten. Ich selbst habe mehr als einmal gesehen, wie die Offiziere mit ihren Degenbändern und die adeligen Fräulein mit ihren Kleiderschleifen das Paradebett bedeckten.
Als diese vier Wochen verflossen, war der frommen Begierde des Volkes zwar keineswegs Genüge gethan; der hochwürdigste Herr Erzbischof hielt aber doch dafür, daß man den wunderbar erhaltenen Leib zur Ruhe bestatten solle, bis die Kirche die Sache weiter geprüft habe und die Verehrung auf den Altären erlauben würde. So wurde der Leib des kleinen Abele in einen kostbaren Sarg gelegt und abermals der Erde übergeben. Und bei dem Begräbnisse habe ich den Entschluß gefaßt, seinen Kampf und glorreichen Sieg mit meinen einfältigen Worten niederzuschreiben, wie ich es jetzo unter der Beihilfe der göttlichen Gnade glücklich zu stande brachte.
Nur erübrigt noch, daß ich kurz das Schicksal seiner unglücklichen Sippe erwähne. Die Magd und die Mutter, welche ja beide an dem Tode des Knaben unschuldig, gestanden sofort alles ein und baten um die Gnade der heiligen Taufe, indem sie beim Anblick des wunderbar erhaltenen Leichnams die Wahrheit unserer heiligen Religion nicht mehr länger verkennen konnten. Jetzt sind sie im Magdalenenkloster und bereiten sich auf den würdigen Empfang der heiligen Taufgnade vor. Nicht so ging es dem alten Abele. Da er sich seines Verbrechens unwiderleglich überführt sah, warf sich der unselige Mörder der Verzweiflung gänzlich in die Arme und raste dergestalt, daß ich schier glaubte, ein böser Geist habe den Leib des alten Sünders in Besitz genommen. In dieser schrecklichen Seelenstimmung ist er des Todes des Judas Iskariot gestorben; sie fanden ihn eines Morgens am Eisengitter seines Gefängnisses erhängt.
Der Rabbiner gestand alles und wurde von dem hochnothpeinlichen Gerichte verurtheilt, daß er am Rad sein Leben enden müsse; doch solle er zum Tode durch das Schwert begnadigt werden, falls er sich bekehren und die Taufe verlangen würde. Das, sowie alle Ermahnungen und geistlichen Zuspruch, lehnte er kalt ab. Es wurden ihm also vom Henker die Glieder gebrochen und aufs Rad geflochten; daran lebte er bis an den dritten Tag. Die ganze Zeit über wurde für sein Seelenheil in allen Klöstern und Kirchen Prags, zumeist aber am Grabe des kleinen Abele gebetet, und wirklich zeigte diese liebe Seele die Macht ihrer Fürsprache am Throne Gottes, indem sie ihrem Peiniger die Gnade der Bekehrung erflehte. Als ich mich am dritten Morgen dem Rade nahte, bat mich der arme Schächer mit schon brechender Stimme um die Gnade der Taufe, welche ich ihm dann auch eilig spendete. Kurze Zeit nachher verlor er das Bewußtsein und starb. R. I. P.
Du aber, lieber unschuldiger Blutzeuge, bitte für den armen P. Sebaldum und sage deiner gnadenreichen Mutter im Himmel, ihr zu Ehren hätte ich diese Blätter vollgeschrieben. Sie hat ja dir die große Gnade christlicher Starkmuth bei ihrem göttlichen Sohne erfleht; sie wird auch mir, wenn du mit mir vereint bittest, den endlichen Sieg und die ewige Krone, vorher aber die Gnade der Treue in den mancherlei Leiden und Prüfungen dieses Erdenlebens, gnadenreich erflehen; denn nur wer mit Jesus gelitten hat, wird auch mit ihm verherrlicht werden. Amen.
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In der vorstehenden Erzählung folgten wir im wesentlichen den Angaben eines Briefes, der in England in der Bibliothek von Stonyhurst aufbewahrt wird. Derselbe stammt von der Hand eines Engländers, welcher zur Zeit der mitgetheilten Ereignisse sich an Ort und Stelle in Prag in dem berühmten Colleg Sanct Clemens befand. Unser Gewährsmann sah den Knaben, von dem er uns erzählt, als derselbe bei dem Rector von Sanct Clemens um die Aufnahme in das Proselytenhaus nachsuchte und da später seine Leiche in der großen Halle des Rathhauses ausgestellt war. Von diesem Zeugen haben wir also die wunderbare Berufung des Knaben durch die Mutter Gottes, seine listige Entführung aus dem Proselytenhause, sein Martyrium in der Wohnung des Rabbiners, seine Kreuzigung, die Entdeckung des Verbrechens durch die Angaben des Todtengräbers und endlich die außerordentliche Erhaltung seiner Leiche, so daß wir im wesentlichen dem uns vorliegenden Briefe treu folgten und nur den Rahmen und die unwesentliche Ausschmückung des uns vorgezeichneten Bildes beifügten. Das Fragment des Briefes bricht mit dem Selbstmorde des alten Abele (Abely) mitten im Satze ab, so kommt es, daß wir den Namen unseres Gewährsmannes nicht kennen, indem zugleich mit den letzten Zeilen, die wahrscheinlich das Ende des Rabbiners berichteten, auch die Unterschrift fehlt.