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Von den beiden Hauptbestandteilen jedes größeren Gedichtes, Handlung und Rede, ist es wohl immer die Handlung, welche den Genießenden, sei er Leser oder Hörer, interessiert. Wenigstens den modernen, denn bei den Griechen und Römern, gemäß ihrer dialektischen Geistesbildung, scheint das Umgekehrte der Fall gewesen zu sein, wie ja auch der moderne Franzose, bei welchem die höhere Bildung noch in der Renaissance-Antike wurzelt, jedes Geschehen als Anlaß zu einem Wort betrachtet.
Aus dem überwiegenden Interesse des Genießenden für den Handlungsbestandteil hat man nun auch auf einen inneren Vorwert der Handlung schließen wollen, woraus dann im Drama durch möglichste Verkürzung der Reden der berüchtigte Laubesche Telegrammstil erwuchs. Diese Ausschreitung darf heutzutage, vornehmlich durch das Verdienst der Realisten, für überwunden gelten; nicht jedoch die Neigung zur Hintansetzung der Reden überhaupt, so daß ein Wort hierüber schwerlich überflüssig sein wird.
Unter den mannigfachen Gründen, warum der direkten Rede, trotzdem sie doch entschieden weniger interessiert, in jedem größeren Gedicht gleichwohl ein ganz beträchtlicher Raum muß gestattet werden, ist einer, der nach meinem Dafürhalten noch nicht genügende Beachtung gefunden hat. Die direkte Rede besitzt unter anderem auch Mäßigungswert, sie zähmt, indem sie die Phantasie bei einer gegebenen Szene zu verweilen zwingt, die dem Dichter unwillkommene, unkünstlerische, rein sachliche Neugier, und zwar kommt hierbei gerade die räumliche Ausdehnung der Rede, ihr Zeitwert, ihr äußeres Proportionalverhältnis zur Ausdehnung der Handlungselemente in Betracht. Ein Drama, in welchem die direkte Rede räumlich der Handlung nicht das Gegengewicht hält, gerät barbarisch, ein Epos phantastisch.
Beim Epos erhöht außerdem die direkte Rede die Wahrscheinlichkeit der Erzählung; denn die Illusion einer Person, die in direkter Rede meine Sprache spricht und meine Logik denkt, ist stärker als die Illusion einer Person, von der nur eine Handlung erzählt oder nur der ungefähre Hauptinhalt ihrer Worte in indirekter Rede mitgeteilt wird. Ob freilich das gewaltige Übergewicht, welches Homer der direkten Rede gegenüber der Handlung gönnt (so gewaltig, daß bei ihm öfters die Handlung nur als Einleitung oder Nachschlag der Reden Platz findet), ob solch ein Übergewicht als ewig vorbildlich gelten dürfe, scheint mir zweifelhaft. Das muß wohl den nationalen Eigentümlichkeiten zugezählt wenden, wie die Reden des Thukydides.
Uns Neuen aber könnte ein wenig von dieser Redezucht in der Poesie nicht schaden.