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Das lebendige Wasser des Wetterbachs, der immer rauschend dahinzog, hatte auf den Jos von jeher einen großen Eindruck gemacht. Er hatte schon als kleiner Junge aus jedem Stückchen Holz ein Schiffchen gezimmert und die großen Blätter der Haselnußstaude als Segel darauf gebunden. Ebenso übte der Bach auch einen starken Einfluß auf die kleinen Brüder aus, nur in anderer Weise. Der fünfjährige Bartli und der vierjährige Töffeli waren immer aus allen Kräften bemüht, zu den tosenden Wellen hinunterzugelangen. Deshalb mußte man ständig auf sie aufpassen. Denn wären sie einmal dahin gekommen, so wären sie auch sicher hineingefallen und augenblicklich fortgeschwemmt und verloren gewesen.
So hatte die Mutter Marthe eine Erfindung gemacht, damit die Buben ohne Gefahr draußen bleiben konnten und doch nicht immer beaufsichtigt werden mußten. In der Nähe des Häuschens stand ein kleiner Fichtenbaum, festgewurzelt im Felsengrund, so daß er viel Rütteln und Schütteln vertragen konnte, ohne zu wanken. Hierher führte die Mutter morgens ihre kleinen Buben, band jedem eine dicke Schnur um das eine Bein, und knöpfte das andere Ende an dem Fichtenbaum fest. Wenn dann die Buben zum Wasser hinunter wollten, so ging es wohl ein paar Schritte weit, dann aber blieben sie stecken. Dann erhoben sie ein furchtbares Geschrei, das aber niemand stören konnte, denn der Wetterbach war noch viel lauter und übertönte sie. Dann zappelten sie hin und her und stießen mit dem einen Fuß in ihrem großen Zorn in die Luft hinein. Wenn aber alles nichts half und der Fichtenbaum sie doch nicht losließ, so setzten sie sich schließlich auf den Boden und fingen mit Sand und Steinen zu spielen an. Dann dachten sie auf einmal wieder an das Wasser, und das Geschrei fing von vorne an.
An Regentagen aber, wenn sie nicht draußen sein konnten, hatte das Feieli die schwere Aufgabe, sie in der Stube zu beaufsichtigen. Jeden Augenblick entwischte einer zur Tür hinaus und war schon halb den Abhang hinunter gerannt, bevor das Feieli ihn erreichte. Und dann war meistens der zweite auch schon nachgelaufen, und es hatte alle seine Kräfte aufzubieten, um sie beide zu halten und wieder zurückzubringen. Es geschah auch nicht selten, daß sie das zartgebaute Feieli zu Boden rissen. Wenn aber der Jos von weitem so etwas sah, dann lief er in solchem Zorn auf die Buben zu, daß sie sich voller Schrecken hinter das Feieli niederduckten. Aber er zog sie hervor und rüttelte und schüttelte sie so lange, bis das gute Feieli für sie bat, er möge sie nun gehenlassen, sie würden jetzt wieder brav sein. Sie waren dann auch ganz zahm und verhielten sich ruhig, solange Jos in der Nähe war. Kehrte er ihnen den Rücken zu, so ging es bei den beiden bald wieder los. Dem Feieli war der Bruder ein großer Trost und Halt, denn es hatte doch das Gefühl, einen Beschützer in der Nähe zu haben, wenn es sich nicht mehr zu helfen wußte.
Der Morgen nach dem kühlen Abend, als Jos und Feieli ihr Holz gesammelt hatten, war ein heller Sonntagmorgen. Schon früh hatte die Mutter den Bartli und den Töffeli an ihren Ort bringen und festbinden können. Nun putzte sie die Fenster, und das Feieli half mit und rieb aus Leibeskräften an den trüben Scheiben herum. Eben jetzt trat die alte Silvia aus ihrem Häuschen und kam den schmalen Weg herunter. Das Sonntagskäppchen saß so hübsch auf den weißen Haaren, und die frische Schürze auf dem dunklen Festtagsrock war so reinlich anzusehn, daß jeder seine Freude daran haben mußte. Beim Flößerhäuschen blieb sie stehen, schaute einen Augenblick dem Treiben zu. Dann sagte sie:
»Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Marthe. Wissen Sie auch, daß heute der Tag des Herrn ist? Ich meine, Sie dürften auch einmal daran denken und Ihre Arbeit ein wenig einstellen.«
»Gott dank Euch, Mutter Silvia«, antwortete Marthe. »Sie brauchen aber nicht so streng mit mir zu sein. Sie wissen ja, wie unsereins die Woche über von früh bis spät so viel zu tun hat, daß man keinen Finger stillhalten kann. Und dann ist nur das Nötigste getan, damit auch jeder etwas auf dem Leib hat und keinen Hunger leidet. Wenn ich aber etwas sauber machen will, so muß ich den Sonntag dazu nehmen. Ich möchte wissen, wie ich noch zwei Stunden weit in die Kirche gehen könnte.«
»Ich will jetzt nicht gerade von der Kirche reden. Es ist wahr, daß wir es schwer haben, hinzukommen«, bestätigte die Mutter Silvia. »Aber am Sonntag könnten Sie doch den lieben Gott etwa um Kraft für die kommende Woche bitten und ihm danken, daß er es Ihnen in der vergangenen hat gutgehn lassen. Sie sind eine brave Frau, Marthe, aber es fehlt Ihnen doch etwas, und darum kommen Sie zu keiner Ruhe. Es heißt: Bete und arbeite. Sie tun aber nur das zweite, vom ersten wissen Sie nichts. Und Sie könnten es doch wohl brauchen, es bringt den Segen auf die Arbeit und Ruhe und Frieden für den Feierabend.«
»Ich denke, der liebe Gott wird nicht so unzufrieden mit mir sein, wenn ich tue, was ich kann. Er weiß ja wohl, wie schwer ich's habe«, gab die Marthe zurück.
»Ja, Marthe, Sie tun so, als ob das Beten eine Last wäre«, sagte die Mutter Silvia ernsthaft. »Es ist eine Wohltat, daß wir zu unserem Gott beten und von ihm uns Trost und Kraft für das harte Leben erflehn dürfen. Es ist tröstlich zu wissen, daß er uns beisteht, wenn uns kein Mensch helfen kann. Die Stunde kann noch kommen, da Sie erfahren, was es für uns bedeutet, einen barmherzigen Gott anrufen zu können. Wissen Sie, Marthe, das Schwerste in diesem Leben ist nicht die Arbeit. Und wäre sie noch so hart, wenn man sie nur mit gesunden Gliedern verrichten kann. Es gibt noch ganz anderes zu ertragen. – Aber was hat denn das Feieli?« unterbrach die Alte plötzlich ihren Gedankengang, indem sie zur Seite blickte, wo das Kind an das Fenster lehnte und beide Hände gegen die Brust gedrückt hielt. Es sah schneeweiß aus.
»Ist dir nicht wohl?« fragte die Mutter jetzt auch besorgt. »Ich habe vorher nie gesehen, daß dir etwas fehlt. Man kann ja nicht alles merken, wenn man immer alle Hände voll zu tun hat. Wo tut's dir weh? Geh ein wenig zu den Buben, du kannst etwas mit ihnen spielen. Such ihnen Steinchen und rote Blätter.«
Das Feieli wollte gleich gehen, aber die Mutter Silvia sagte: »Die sitzen ja still da drüben. Laßt das Kind ein wenig Sonntag haben. Laßt es eine Strecke mit mir gehn, die Morgensonne wird ihm guttun. Ich gehe den Schneerücken hinauf, so weit, bis ich die Glocken von oben läuten höre. Bis hinauf zur Kirche kann ich nicht gehen, aber die Glocken will ich hören, es bringt mir den Sonntag ins Herz.«
Marthe willigte ein, und Feieli kam leise heran. Aber die Mutter Silvia schüttelte den Kopf: »Nicht so, Feieli, nicht so! Geh hinein und zieh dein Sonntagsröcklein an und deine guten Schuhe, sonst kommen dir keine Sonntagsgedanken. In den Alltagsfetzen schleppt man das Alltägliche mit sich herum. Geh nur, ich warte!«
Es war ein freudiger Ausdruck auf Feielis Gesicht gekommen. Es wollte so gern einmal Sonntag haben und ordentlich angezogen sein, aber es stand still und schaute fragend zu der Mutter hinüber.
»Ja, so geh, wenn's doch die Mutter Silvia haben will«, sagte sie. Und als das Kind fröhlich weggelaufen war, fügte sie hinzu: »Es wundert mich nur, daß Sie auf die Kleider so viel Wert legen, die paar Schritte weit werden Ihnen nicht viel Leute begegnen.«
»Das tu ich nicht wegen der Leute«, entgegnete Mutter Silvia, »aber der Sonntag ist ein Festtag, und was sich die Woche über an Schmutz angesetzt hat, das gehört nicht in den Feiertag. Und das saubere äußere Kleid wirkt auch manchmal auf das Innere zurück. Binde ich meine saubere Schürze am Sonntagmorgen um, so muß ich gleich denken: Bist du jetzt auch so fleckenlos nach innen wie nach außen? Und das treibt mich, ein Sonntagsgewand für meinen ganzen Körper zu suchen, das ist ein großer Segen, den mir der Sonntagsrock bringt.«
»Hört, Mutter«, sagte Marthe ein wenig eilig, »ich habe nun einmal nicht so viel Zeit, über das alles nachzudenken. Sie mögen in manchem schon recht haben, aber Sie müssen bedenken, was ich alles zu arbeiten habe.«
»So behüte Sie Gott, Marthe! Wenn ich Ihnen in etwas beistehen kann, so ruft mich. Kräfte habe ich nur wenige, aber der Wille ist gut.« Damit trippelte die Alte fröhlich den Felsenpfad hinauf, gefolgt von Feieli, das nun in seinem Sonntagsröckchen so ordentlich und sauber aussah, wie ein frisch erwachtes Frühlingsblümchen. Aber es war ein sehr zartes Blümchen, dem der erste Windstoß alle Blättlein verwehen konnte. Eine Zeitlang gingen die beiden schweigend hintereinander her. Mutter Silvia wollte wohl gern ein wenig ihren Sonntagsgedanken nachgehen, das Feieli mochte über etwas nachdenken, es schaute mit seinen großen Augen ganz ernsthaft vor sich hin. Als sie an die Stelle kamen, wo der Felsenpfad in den breiteren Weg einmündet, konnten die beiden nun nebeneinander gehen. Mutter Silvia schaute ein paarmal zu dem Kind hin, dann sagte sie: »Feieli, was denkst du in deinem Herzen, wenn wir so schweigend miteinander wandern?«
»Ich denke den ganzen Tag und die ganze Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, immer das gleiche«, antwortete das Kind.
»So? Und was denn?« fragte die Alte weiter.
»Immer denke ich, was ich machen könnte, daß der Jos ein Mechaniker wird«, sagte das Feieli.
Darüber mußte die Mutter Silvia sich sehr wundern. Sie hatte noch gar nichts davon gehört und fragte nun das Feieli, wie denn der Jos zu dem Wunsche komme, und was Vater und Mutter dazu sagen? Nun erzählte ihr das Kind, wie Jos von jeher Schiffe gemacht und alles ausgedacht habe. Wie sie allein schwimmen könnten, und wie er schon eine Maschine nachgemacht habe, die wirklich die Schiffe vorwärts treibe. Bei der Erzählung wurde das Feieli immer eifriger, seine Augen glänzten immer feuriger, und zuletzt sagte es mit einem Ausdruck brennenden Verlangens: »Meinen Sie, daß er es werden kann, Mutter Silvia?«
Sie antwortete aber nicht gleich, sondern sagte, erst müsse man doch wissen, wie Vater und Mutter darüber denken. Da berichtete ihr das Kind, daß sie beide bis jetzt nicht den Mut gehabt hätten, Vater oder Mutter zu fragen. Denn am Abend, wenn der Vater heimkomme, sei er müde und rede kein Wort mehr, und die Mutter habe nie Zeit für ein Gespräch. Und Jos habe auch gesagt, wenn er nur einmal zur Mutter Silvia hinüber könnte und fragen, was sie meine.
Die alte Mutter sagte, zuerst müsse man mit dem Vater und der Mutter reden und hören, ob sie einverstanden seien. Dann könne man erst weiter denken. Aber das Feieli war nicht zufrieden mit der unbestimmten Antwort. Es schwieg eine Weile, dann schaute es mit demselben brennenden Verlangen zu der Alten auf und fragte wieder: »Mutter Silvia, aber glauben Sie, daß der Jos ein Mechaniker werden kann?«
Als die alte Mutter das große Verlangen in Feielis Augen erblickte, ging es ihr zu Herzen. Sie konnte es nicht aussprechen, daß sie wenig Hoffnung in der Sache hatte, ermunternd sagte sie: »Siehst du, Feieli, wenn das ein guter Weg für den Jos ist, kann ihn der liebe Gott schon ermöglichen, das können wir aber nicht wissen. Und vor allem muß der Junge mit Vater und Mutter reden. Jetzt wollen wir aber still sein und zuhören, wie schön es läutet.«
Vom Schneerücken herunter hörte man jetzt die Sonntagsglocken erklingen, und durch die weite Stille trug der Wind die Töne so hell und deutlich herunter, als kämen sie ganz aus der Nähe. Mutter Silvia faltete die Hände und blieb stehen, bis der letzte Ton verhallt war. Das war ihr sonntäglicher Kirchgang, bis sie der hohe Schnee daran hinderte, so weit zu kommen.
Jetzt öffnete sie die gefalteten Hände und sagte: »Nun wollen wir wieder zurückgehen, Feieli.«
Als sie nun wieder nebeneinander hergingen, sagte sie nach einer Weile: »Hast du denn auch schon daran gedacht, wie schön es sein muß, wenn wir einmal zu dem langen, friedvollen Sonntag eingehen in die Ewigkeit, wo keine Unruhe und kein Leid mehr ist?«
Das Feieli antwortete, daran habe es noch nie gedacht. Aber wenn ihm etwas weh tue und es zuhause keine Ruhe finden konnte, so denke sie an den Jos – sie freue sich darauf, wenn er einmal Mechaniker sei, dann wollen sie zwei zusammen leben und miteinander auf dem stillen Wasser fahren.
»Wir wollen jetzt noch ein wenig darüber hinaus denken, Feieli«, sagte Mutter Silvia, nachdem sie dem Kind aufmerksam zugehört hatte. »Und weil du immer an den Jos und seine Schiffe denkst, so will ich dich ein Sprüchlein von einem Schiffchen lehren, das sage ich mir oft vor, und es macht mich fröhlich in meinem Herzen. Es heißt so:
›Muß zuletzt mein Schifflein noch
In die dunkeln Fluten sinken,
Seh ich schon von drüben doch
Sonnenhelle Wasser blinken,
Weiß, nun ist es nicht mehr weit
Nach der stillen Ewigkeit.‹
Feieli mußte das Verschen nachsagen. Und als sie wieder unten am Felsensprung angekommen waren, wollte Mutter Silvia es noch einmal hören, und Feieli sagte es, ohne steckenzubleiben. Dann nahm sie Abschied von dem Kind und ging zu ihrem Hüttchen. Feieli aber lief so schnell es konnte den Abhang hinunter, denn es wollte nicht länger warten, bis es wieder mit dem Jos zusammen war. Es mußte ihm ja berichten, was die Mutter Silvia gesagt hatte, daß der liebe Gott schon helfen könne, nur müsse man zuerst mit Vater und Mutter reden. Jos stand schon hinter dem Fichtenbäumchen und schaute nach dem Feieli aus. Er lief ihm entgegen und zog es schnell in die Gebüsche hinein. Hinter den großen Brombeersträuchern setzte er sich dann auf den Boden und nahm seine Schiffsmaschine aus der Tasche, er hatte etwas Neues daran erfunden. Das Feieli setzte sich ganz nahe zu ihm hin und betrachtete mit dem größten Erstaunen die Erfindung. Jos erklärte ihm, nun werde noch ein hölzerner Kasten in das Schiff hineingezimmert, da komme dann die Maschine hinein. Und wenn zuletzt noch das Ding erfunden sei, wo der Dampf hineinkomme, dann könnte das Schiff ganz leicht den Wetterbach hinauffahren, den spritzenden Wellen entgegen. Aber das war eigentlich nicht sein höchstes Ziel, er hatte noch ganz andere Fahrten im Sinn. Nun schilderte er dem Feieli mit Eifer die selbst arbeitende Schiffsmaschine, und so feurig wurden seine Worte und seine Augen dabei, daß das Feieli auch ganz aufgeregt wurde und schnell vom Boden aufstand.
»So komm«, sagte es und nahm ihn bei der Hand, »wir wollen noch heute den Vater und die Mutter fragen. Die Mutter Silvia hat gesagt, der liebe Gott könne dir schon helfen, aber zuerst müsse man zu den Eltern gehn.«
Jos stand ein wenig zögernd auf. Noch nie hatte er von seinen stillen Plänen ein einziges Wort zum Vater oder zur Mutter zu sagen gewagt. Denn er hatte das bestimmte Gefühl, daß er auf Widerstand stoßen würde. Aber nun, da er das Feieli so zuversichtlich sah und von ihm hörte, daß auch die Mutter Silvia die Sache nicht für unmöglich hielt, wurde auch er mutig. Er erfaßte Feielis Hand, und stumm vor Erwartung stiegen sie zusammen zum Häuschen hinab, um die große Frage Vater und Mutter vorzulegen.