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Die Herbsttage wurden immer rauher. Noch öfter mußten Jos und Feieli zu dem Wald hinaufsteigen und dürre Zweige sammeln. Aber die Arbeit wurde dem Feieli immer schwerer, und der Jos sagte jetzt gewöhnlich, sobald sie ans dichte Holz kamen: »Bleib du nur da im Sonnenschein und setze dich dort an den Baum, ich will schon genug Holz zusammenbringen.« Und das Feieli schaute ihn mit seinen sprechenden Augen dann so dankend an, daß er für alle Mühe belohnt war. Er hätte gern noch mehr für sie getan, denn er konnte sehen, wie schwach es war, wenn es auch nicht klagte.
Dann kam der Winter. Da war nun keine Rede davon, daß das Feieli auch nur ein einziges Mal den langen Weg zur Schule hinauf machen konnte. Es hatte nun vom Morgen bis zum Abend die Buben zu beaufsichtigen, damit sie nicht aus der Stube huschten und hinunter zum Wasser liefen. Es hatte aber nicht mehr die Kraft, mit ihnen fertig zu werden, und konnte sie nur zurückhalten, indem es die Tür zuriegelte und den Schlüssel hoch oben an einen Nagel hing. Da es sich aber den ganzen Tag immer mit den Buben beschäftigen mußte, war es am Abend so müde, daß es sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Aber dann kam immer noch die Zeit, auf die es sich den ganzen Tag gefreut hatte, und die es seine Müdigkeit vergessen ließ. Dann kam der Jos nach Hause, und seine Anwesenheit wirkte so beruhigende auf die Kleinen, daß sie sich gleich still hinter den Tisch setzten, die kleinen Finger ineinander hakten und probierten, wer der Stärkere sei. Die Mutter kochte draußen das Abendessen, und so im Halbdunkel setzten sich dann Jos und Feieli in einen Winkel und fingen an, ihre Zukunftspläne zu besprechen. Und über beide kam dabei eine solche Freude, daß sie alles um sich her vergaßen.
Manchmal kam der Jos ein wenig traurig nach Hause und meinte, es werde doch aus allem nichts. Es gebe auf der ganzen Welt keinen Weg, auf dem er zu seinem Ziel kommen könne. Aber dann wurde das Feieli doppelt eifrig und sagte so zuversichtlich, der liebe Gott wisse bestimmt einen, sie müßten nur noch ein wenig warten, der Mutter Silvia sei es genauso gegangen. Dann wurde der Jos wieder freudig und zuversichtlich. Wenn dann das Feieli seinen bösen Husten hatte und ganz elend davon wurde, dann wußte der Jos so prachtvoll zu schildern, wie es einmal sein werde, wenn das Feieli mit ihm im warmen Sonnenschein auf dem großen stillen Wasser umherfahre. Dort wurde es sicher ganz gesund werden und nie mehr husten müssen. Seine Worte überzeugten das Feieli so sehr, daß es glaubte, schon jetzt keinen Husten mehr zu haben.
Der Winter war lang, aber endlich nahmen die kalten Tage doch ein Ende. Der warme Föhn brauste wieder hinter den Bergen hervor und wehte die großen Schneemassen in alle tiefen Schluchten und Wasser hinein. Der Wetterbach schwoll hoch an und rauschte noch wilder daher, und an den hohen Steinblöcken im Felsensprung spritzten die Wellen so hoch empor, daß alle Fensterscheiben am Flößerhäuschen davon benetzt wurden.
Auf der schmalen Bank am Häuschen saß jetzt das Feieli im Frühlingssonnenschein und schaute nachdenklich zu, wie die hohen Wasserwogen dahinrollten. Nebenan unter dem Fichtenbäumchen zappelten und schrien die kleinen Buben vor Freude über die Wasserspritzer, die sie trafen, und dann vor Zorn, daß sie ihnen nicht entgegenlaufen und sich immer mehr bespritzen lassen konnten. Aber die Mutter hatte jetzt eingesehen, daß das Feieli viel zu schwach war, die Buben zu beaufsichtigen. Sie hatte daher beschlossen, daß sie von früh morgens bis abends am Fichtenbäumchen festgebunden blieben. Inzwischen sollte das Feieli in der Sonne auf der Bank sitzen, damit es wieder zu Kräften komme. Auch dem Feieli war der erfrischende Schaum des Bergwassers höchst willkommen, wenn er ihm Gesicht und Hände benetzte. Es trank die kalten Tropfen alle begierig auf, denn es litt jetzt immer an einem brennenden Durst. Viel Wasser nacheinander konnte es nicht trinken, es wurde zu elend davon, und etwas anderes hatte es nicht. Die Milch mochte es auch nicht, die löschte ihm den Durst nicht. Es meinte, wenn nur die sauren Äpfel reif wären, die würden seinen Durst am besten löschen. Jos war auch schon zu allen Bauern am Schneerücken gelaufen und hatte nach sauren Äpfeln gefragt, aber es waren keine mehr zu bekommen. Dann tröstete der Jos das Feieli mit der Hoffnung, die Erdbeeren würden gewiß bald reif, wenn die Sonne so warm scheine. Er sah auch jeden Tag nach ihnen, ob sie blühten und wollte die allerersten bringen, noch ganz unreif, wenn sie so recht sauer seien.
Aber auch dieser feine, kalte Wassersprudel erfrischte das Kind für einen Augenblick in seinem heißen Durst. So saß das Feieli an einem sonnigen Morgen wieder auf seiner Bank und schaute nachdenklich auf die brausenden Wellen hinab, die in wilden Sprüngen einander jagten und in die Tiefe stürzten. Es hörte nicht, daß die Mutter Silvia von oben herunterkam und sich zu ihm auf die Bank niedersetzte. »Feieli«, sagte sie, ihm freundlich auf die Schultern klopfend, »an was denkst du, wenn du so aufmerksam auf das rollende Wasser hinunterschaust?« Das Kind fuhr bei der unerwarteten Bewegung leise zusammen, aber es schaute erfreut der Mutter Silvia in die Augen, denn es war immer froh, sie zu sehen. Es fühlte sich in ihrer Nähe geborgen. »Ich habe an etwas gedacht, das Sie mir gesagt haben«, erwiderte das Feieli. »Wissen Sie noch, Mutter Silvia, wie Sie von dem dunklen Bach gesprochen haben, wo man drüber muß und auf der anderen Seite kann man schon das sonnenhelle Wasser sehen?«
Die Mutter Silvia nickte bejahend. »Und was hast du dir dann dabei gedacht?«
»Ich habe gedacht, wenn die Wellen so sind wie hier im Wetterbach und es dann noch dunkel ist, dann ist es zum Fürchten. Muß man sich sehr fürchten, Mutter Silvia, wenn man hinüber muß?« fragte das Kind und richtete erwartungsvoll seine großen, ernsthaften Augen auf die Alte. »Feieli«, sagte diese langsam, »ich will dir etwas sagen. Du weißt, daß unser Herr Jesus auf die Erde gekommen ist, um uns aus allem Elend zu helfen und daß er für uns alle gestorben ist. So weiß er am besten, wie schwer es ist, durch den dunklen Bach zu kommen, und er will uns helfen. Weißt du, weiter unten, wo der Wetterbach noch breiter wird, dort liegt ein Schifflein auf der anderen Seite, das ist an einem starken Seil festgemacht. Und wenn es nun herüberkommt, so wird es wohl von den wilden Wellen auf- und niedergeworfen, aber siehst du, es kann ihm nichts Böses begegnen. Es kann nicht versinken, das starke Seil hält es über der Tiefe wie eine feste Hand. Wenn wir nun hinüberfahren müssen, dann können wir dem Fährmann drüben zurufen: Komm, bring uns doch in deinem sicheren Schiffchen hinüber! Siehst du, Feieli, so geht es, wenn wir über den dunklen Bach in die stille Ewigkeit hinüberfahren sollen. Dann dürfen wir unseren Herrn Jesus so anrufen und bitten: ›O komm doch und halte du mein Schifflein fest und führe mich hinüber!‹ Dann sind wir sicher und haben nichts zu fürchten.« Das Feieli war mit angehaltenem Atem den Worten der Mutter gefolgt. Jetzt atmete es tief auf und sagte: »Oh, das ist gut!«
Da hörte man Stimmen und Schritte oben vom Felsenweg herunterkommen. Die Mutter Silvia stand auf. Sie sagte: »Es kommen Leute daher, da können wir doch nicht mehr miteinander reden, ein andermal will ich wiederkommen und sehen, wie es dir geht.« Dann drückte sie dem Feieli die Hand und ging.
Es geschah dann und wann an schönen Frühlings- und Sommertagen, daß von der anderen Seite vom Schneerücken aus dem großen Tal Leute herüberkamen, um den wilden Wetterbach beim Felsensprung anzusehen und weiter unten noch das Höllenloch zu besuchen. Das war eine Höhle, die tief in einen Felsen hineinführte. Sie war so dunkel, daß man mit einem brennenden Wachskerzchen in der Hand darin herumgehen mußte, wenn man sich nicht überall an den Felsenspitzen stoßen und verletzten wollte.
Eine solche Gesellschaft mußte es sein, die jetzt von oben herunterkam. Es waren mehrere Knaben und Mädchen und hinter ihnen eine Frau, die unterhielt sich mit dem Jos, den sie wohl auf dem Weg getroffen hatte. Die Knaben rannten sogleich alle auf das Wasser zu und kletterten auf die hohen Steine darin. Die Mädchen liefen zu dem Fichtenbäumchen und schauten sich mit Staunen und Lachen die zwei kleinen, festgebundenen Buben an, die jetzt ganz stumm mit weit aufgerissenen Augen dastanden und die ungewohnte Erscheinung anstarrten. Die Frau hatte den Jos ins Haus hineingeschickt und trat jetzt zum Feieli. Sie setzte sich zu ihm, schaute teilnehmend das blasse Gesichtchen an und fragte, ob ihm etwas fehle, ob es Schmerzen habe? Das Feieli antwortete, es tue ihm nichts weh, es sei nur so schwach, und nun säße es in der Sonne, daß ihm die Kraft wiederkomme.
Jetzt kam Jos heraus und berichtete, die Mutter erlaube, daß er der Gesellschaft den Weg zum Höllenloch zeige. Sie könnten aber nicht dem Wasser nachgehen, weil der Wetterbach jetzt zu wild sei, man müsse erst hoch in den Wald hinaufsteigen, und das sei sehr viel weiter. Sofort rief die Frau nun ihre Kinder zusammen. Jos mußte einen großen Korb auf den Rücken nehmen, denn man hatte das Mittag- und Abendessen darin eingepackt. Dann machte sich die Gesellschaft wieder fröhlich auf den Weg. Die Frau schaute sich aber noch einmal voller Teilnahme nach dem blassen Kinde um. Es mußte ihr sehr leid tun, denn als sie eben in den Wald traten, schaute sie noch einmal zurück und blieb eine kleine Weile stehen. Dann rief sie den Jos an ihre Seite und fing an mit ihm von seiner Schwester zu reden. Sie fragte, ob das Kind schon lange krank sei, was ihm fehle und ob es nie über Schmerzen klage. Da erzählte Jos ausführlich alles, was er wußte. Das Feieli sei nach und nach so geworden, zuerst hätte es beim Holzlesen im Herbst furchtbar gehustet, dann habe sie über einen brennenden Durst geklagt. Auch erzählte er, wie er bei allen Bauern am Schneerücken saure Äpfel gesucht und keine gefunden habe. Jetzt könne er kaum erwarten, daß die Erdbeeren groß werden. Dann würde er dem Feieli welche heimbringen. Die werden ihm dann schon den Durst ein wenig löschen, besonders die unreifen. Während des Gesprächs war die Gesellschaft unversehens beim Höllenloch angekommen, der Jos wollte nun gleich umkehren und davonrennen, aber die Frau hielt ihn zurück. »Wart Junge, wart«, sagte sie freundlich, »du hast etwas für dich verdient, hier.« Und er bekam ein schönes Silberstück in die Hand gedrückt. »Und dann sollst du dem kranken Schwesterchen noch etwas mitbringen. Ihr Kinder könnte euer Butterbrot ohne die Johannisbeeren essen, das meint ihr doch auch?« Die Kinder stimmten alle zu, daß das Feieli die Johannisbeeren bekomme, und die Mutter holte einen steinernen Topf aus dem Korb und gab ihn dem erstaunten Jos.
»Ist es für den Durst?« fragte er. Als sie es bejahte, wurde er vor Freude ganz rot. Jetzt rief er nur noch eilig: »Danke Gott tausendmal!« Dann lief er mit seinem Topf im Arm davon und hörte nicht zu rennen auf, bis er wieder im Felsensprung angekommen war. Noch saß das Feieli auf der Bank, die Buben waren nicht mehr da. Es war Mittagszeit. Gewiß hatte es wieder keinen Hunger, die anderen mußten drinnen beim Essen sitzen. »Für den Durst, Feieli, für den Durst!« rief ihm von weitem schon der Jos zu und hob seinen Topf hoch in die Luft. Ganz verwundert schaute es ihm entgegen. Jetzt war er da. Aber er stürzte noch ins Haus, er mußte doch einen Löffel haben. Endlich konnte er den Topf aufmachen und hervorholen, was dem Feieli guttun sollte. Auf dem Löffel lag eine dunkelrote Masse, die ganz durchsichtig in der Sonne funkelte. Das Feieli hatte so etwas noch nie gesehen, wie weiches, rotes Eis war es anzuschauen. Mit Verlangen führte es jetzt den Löffel an den Mund und nippte daran. Dann steckte sie einen Löffel voll in den Mund.
»Ist's gut, Feieli?« fragte hocherfreut der Jos, der wohl gesehen hatte, mit welchem Verlangen die trockenen Lippen an dem roten Saft sich erfrischten.
»Oh, es ist das Beste, was ich bekommen habe, solange ich lebe. Das macht so kühl und wohl! Es hat mir fast ganz den Durst gelöscht.« Das Feieli hatte ganz rosige Wangen in diesem Augenblick, denn die kleinste Anstrengung brachte ein flüchtiges Rot auf sein Gesicht.
»Das macht dich gewiß ganz gesund, Feieli!« frohlockte der Jos. »Nimm noch ein wenig, komm.« Und er tauchte nochmals den Löffel in den Topf und brachte ihn ganz voll heraus. »Meinst du?« fragte das Kind zaghaft, »man darf vielleicht nicht soviel davon essen.«
»Der ganze große Topf gehört ja dir, Feieli«, sagte Jos triumphierend, »komm, nimm den noch, und dann noch einen!«
Jetzt ergriff das Feieli den Löffel wieder und schaute erst die schimmernd rote, durchsichtige Masse mit Freude an. Daß es sich noch einmal daran erfrischen durfte und nachher immer noch mehr haben sollte, bis der ganze große Topf leer war, das konnte es gar nicht fassen. Eben wollte es wieder nippen, da hielt es den Löffel noch zurück. »Nein, versuch du es jetzt einmal, Jos, du mußt auch davon essen. Probier, wie gut es ist!« Aber um keinen Preis der Welt hätte der Jos etwas davon genommen.
»Nichts! nichts!« sagte er abwehrend, »das reicht gerade so lange, bis die Erdbeeren kommen, und dann kommen die Pflaumen und nachher die sauren Äpfel. So sollst du jetzt gar keinen Durst mehr leiden, Feieli, das ganze Jahr über.« Mit dem höchsten Genuß schaute er jetzt zu, wie das Feieli auch den zweiten Löffel begierig schlürfte und sich dann ganz befriedigt an die Mauer lehnte. Nun deckte er sorgsam das Papier wieder auf den Topf und band ihn zu.
»Du mußt jetzt hineingehen zum Essen, du bekommst wegen mir gewiß alles kalt«, sagte das Feieli fürsorglich. »Aber versprich mir noch etwas, Jos: Nicht wahr, heute abend willst du aufpassen, daß du die Leute zurückkommen siehst, und dann zu der Frau gehen und ihr sagen, ich laß ihr vielmals danken. Sie habe mir das Allerbeste gegeben, das es nur gibt.« Der Jos versprach's und ging nun in die Stube, um seine kalten Kartoffeln zu essen. Aber sie schmeckten ihm so gut wie noch nie, denn er sah immer das Feieli vor sich, wie verlangend es den kühlenden Saft geschlürft hatte. Dazu lobte ihn die Mutter und sagte ihm so freundliche Worte wie selten. Er hatte ihr sein großes Silberstück übergeben, und sie sagte, er sei gewiß recht ordentlich und anständig zu der Frau gewesen, sonst hätte er nicht so viel bekommen.
Jos konnte am Abend die Gesellschaft nicht entdecken. Sie mußten ihren Weg oben durch den Wald genommen haben und nicht mehr zum Felsensprung hinabgestiegen sein. Das tat dem Feieli so leid, daß es nicht darüber hinwegkommen konnte. Jeden Tag, wenn es sich an dem kühlenden Fruchtsaft erfrischte, mußte der Jos aufs neue versprechen, daß er der Frau in seinem Namen tausendmal danken wollte, wenn er sie vielleicht einmal auf dem Schneerücken oder im Tal antreffe. Jos versprach dem Feieli fest, den Dank auszurichten, aber er traf die Frau nie. So konnte er Feielis Auftrag nicht ausführen, so gern er es auch getan hätte.