Johanna Spyri
Heimatlos
Johanna Spyri

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Am Silser- und am Gardasee.

Erstes Kapitel.

Im stillen Hause.

Im Ober-Engadin, an der Straße gegen den Maloja hinauf, liegt ein einsames Dörfchen, das heißt Sils. Da geht man von der Straße querfeldein, und hinten, ganz nahe an den Bergen, liegt ein kleiner Ort, der heißt Sils-Maria. Da standen zwei Häuschen einander gegenüber, ein wenig abseits im Felde. Die hatten beide uralte hölzerne Haustüren und ganz kleine Fenster tief in der Mauer drinnen. Beim einen Haus war ein kleines Stück Garten, da wuchs Kraut und Kohl und es standen auch vier Blumenstöcke darin, die sahen aber mager aus und aufgeschossen wie das Kraut. Beim anderen Häuschen war gar nichts als ein kleiner Stall neben der Tür; da krochen zwei Hühner aus und ein. Dies Häuschen war noch ziemlich kleiner als das andere, und die hölzerne Tür war schwarz vor Alter.

Aus dieser Tür trat jeden Morgen um dieselbe Zeit ein großer Mann, der mußte sich bücken, um hinauszukommen. Der große Mann hatte ganz glänzend schwarze Haare und schwarze Augen, und unter der schön geformten Nase fing gleich ein so dichter, schwarzer Bart an, daß man vom übrigen Gesichte nichts mehr sah als die weißen Zähne, die zwischen den Barthaaren durchblitzten, wenn der Mann einmal sprach; aber er sprach sehr wenig. Alle Leute in Sils kannten den Mann, aber niemand nannte ihn bei einem Namen, er hieß bei allen nur »der Italiener«. Er ging regelmäßig den schmalen Weg querüber gegen Sils hin und den Maloja hinauf. Dort wurde viel an der Straße gebaut, und da hatte der Italiener seine Arbeit. Ging er aber nicht den Weg hinauf, so ging er hinunter, dem Bade St. Moritz zu; dort baute man Häuser, und er fand auch seine Arbeit. Da blieb er den Tag über und kehrte erst am Abend wieder ins Häuschen zurück. Gewöhnlich, wenn er am Morgen aus der Tür trat, stand hinter ihm ein Büblein; das stellte sich auf die Türschwelle, wenn der Vater draußen war, und schaute mit den großen, dunklen Augen lange hinaus dem Vater nach, oder sonst wohin, man hätte nicht sagen können, wohin, denn es war, als ob die dunklen Augen über alles wegschauten, was vor ihnen lag, und auf etwas hin, das niemand sehen konnte.

Am Sonntagnachmittag, wenn die Sonne schien, dann traten die beiden auch manchmal miteinander aus dem Häuschen und gingen nebeneinander her die Straße hinauf. Und wenn man sie so ansah, so sah man ganz dasselbe vor sich in den zwei Gestalten, nur bei dem Büblein alles im kleinen, aber es war ganz wie vom Vater abgeschnitten, bis auf den schwarzen Bart, den hatte es nicht, sondern ein schmales, bleiches Gesichtchen war da zu sehen, mit dem schöngeformten Näschen in der Mitte, und um den Mund herum lag etwas Trauriges, wie wenn er nicht lachen möchte. Das konnte man beim Vater nicht sehen vor dem Bart.

Wenn nun die beiden so nebeneinander hergingen, dann sagte keiner ein Wort zu dem anderen; meistens summte der Vater leise ein Lied, manchmal auch lauter, und das Büblein hörte zu. Wenn es aber regnete am Sonntag, dann saß der Vater daheim im Häuschen auf der Bank am Fenster, und das Büblein saß neben ihm, und sie sagten wieder nichts zueinander. Aber der Vater zog eine Mundharmonika hervor und spielte eine Melodie nach der anderen, und das Büblein hörte aufmerksam zu. Manchmal nahm er auch einen Kamm oder ein Baumblatt und lockte Melodien daraus hervor, oder er schnitt ein Stück Holz zurecht und pfiff darauf ein Lied. Es war, als gäbe es keinen Gegenstand, dem er nicht Musik entlocken könnte. Aber einmal hatte er eine Geige mit nach Hause gebracht, die hatte das Büblein so entzückt, daß es sie nie wieder vergessen konnte. Der Vater hatte viele Lieder und Melodien darauf gespielt und das Büblein unverwandt zugeschaut, nicht nur zugehört; und wie der Vater die Geige weggelegt hatte, da hatte sie das Büblein leise genommen und probiert, wie man die Melodien herausbringe. Und es mußte es so gar schlecht nicht gemacht haben, denn der Vater hatte gelächelt und gesagt: »So komm!« und hatte seine großen Finger auf die kleinen gelegt mit der linken Hand, und mit der rechten die Hand des Bübleins mitsamt dem Bogen in die seinige genommen, und so hatten sie eine gute Zeitlang fortgegeigt allerlei Melodien.

Die folgenden Tage, wenn der Vater fort war, hatte das Büblein fort und fort probiert und gegeigt, bis es eine Melodie herausgebracht hatte; aber da war auf einmal die Geige wieder verschwunden und kam nie wieder zum Vorschein. Zuweilen, wenn sie so zusammensaßen, fing der Vater auch an zu singen, erst nur leise und dann immer deutlicher, wenn er einmal daran war. Dann sang das Büblein auch mit, und wenn es die Worte nicht recht mitsingen konnte, so sang es doch die Töne; denn der Vater sang immer italienisch, und es verstand vieles, aber es war ihm nicht so recht bekannt und geläufig zum Singen. Da aber war eine Melodie, die konnte es besser als alle anderen, denn der Vater hatte sie vielhundertmal gesungen.

Sie gehörte zu einem langen Lied, das fing so an:

»Una sera
In Peschiera
« –

Es war eine ganz wehmütige Melodie, die einer zu der kurzweiligen Romanze gemacht hatte, und sie gefiel dem Büblein besonders wohl, so daß es sie immer mit Freuden und ganz andächtig absang, und es tönte gut, denn das Büblein hatte eine helle, glockenreine Stimme, die floß so schön mit des Vaters kräftigem Baß zusammen. Auch jedesmal, wenn dieses Lied zu Ende gesungen war, klopfte der Vater den Kleinen freundlich auf die Schulter und sagte: »Bene, Enrico, va bene.« So nannte aber nur der Vater den Knaben, bei allen anderen Leuten hieß er nur »Rico«. Da war auch noch eine Base, die mit in dem Häuschen wohnte, die flickte und kochte und alles in Ordnung hielt. Im Winter saß sie am Ofen und spann, da mußte Rico immer nachdenken, wie er seine Gänge einrichten könne, denn sobald er die Tür aufmachte, sagte die Base: »Laß doch einmal diese Tür in Ruh', es wird ja ganz kalt in der Stube.« Er war dann oft lange allein mit der Base. Der Vater hatte in der Zeit irgendwo unten im Tale Arbeit und blieb viele Wochen lang fort.

 


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