Johanna Spyri
In sicherer Hut
Johanna Spyri

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4. Kapitel.
Eine Schreckensnacht

Am folgenden Tag, um die Zeit, da Frau Feland wie gewöhnlich ausruhen mußte, schritt Fräulein Hohlweg mit dem großen Korb dem schönen Schattenplätzchen nahe der Wohnung zu, um das gemütliche Strick- und Lesestündchen abzuhalten. Ella saß schon ruhig auf ihrem Moosplätzchen. Rita stand vor ihr und erzählte mit großem Eifer von einem Busch im Wald mit roten flammenden Blumen, die leuchteten weithin durch die Bäume. Ihre Augen wurden dabei immer größer und glänzender, denn je mehr sie davon redete, desto deutlicher sah sie alles vor sich. Und es war, als sei sie schon auf dem Weg mitten im Wald.

Fräulein Hohlweg stellte eben den großen Korb hin und sagte: »Setz dich nun, Rita, und sei still, ich habe euch etwas Schönes vorzulesen.« Aber Rita war so erfüllt von ihren Blumen und dem Wald und all den Dingen, die sie vor Augen hatte, daß die Ermahnung vergeblich war. –

»Ich muß geschwind zum Papa, ich habe ihm so viel zu sagen,« versicherte Rita und lief auf das Häuschen zu. Das war jeden Tag das gleiche. Immer meinte Rita, wenn sie sich hinsetzen sollte, dem Papa schnell etwas Besonderes sagen zu müssen. Heute jedoch hatte sie es noch eiliger als sonst. Als schon eine gute Weile vergangen war und das Kind nicht zurückkehrte, wurde Fräulein Hohlweg unruhig und sagte: »Geh schnell hinein, Ella, und rufe Rita, daß sie ja nicht Mama aufweckt. Papa muß auch schon fort sein, er sagte ja bei Tisch, daß er einen langen Weg vorhabe.«

Ella lief hinein, kam aber so lange nicht wieder, daß auch Fräulein Hohlweg ins Haus ging. Es war ganz still drinnen. In der Wohnstube war kein Mensch, in der Küche auch niemand. Das Fräulein stieg die kleine Treppe hinauf und öffnete leise die Schlafkammer der Kinder, auch da war niemand. Durch die offene Tür konnte man ins Zimmer der Eltern sehen. Frau Feland lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett, sie war allein im Zimmer.

Fräulein Hohlweg trat wieder hinaus. Jetzt kam Ella vom Dachboden herunter und erzählte, daß sie Rita im ganzen Häuschen, in allen Winkeln gesucht habe. Auch im Kämmerchen von Kaspars Frau war Rita nicht zu finden. Das Fräulein lief die Treppe hinunter zu dem Stall, dort war etwas zu hören. Kaspars Frau stand drinnen und machte den Geißen das Stroh zurecht. Auf die Frage nach der kleinen Rita antwortete sie nur, vor nicht langer Zeit habe sie das Kind ins Haus kommen gesehen. Wo konnte aber Rita nachher hingegangen sein?

Fräulein Hohlweg und Ella durchsuchten noch einmal das ganze Haus, dann ringsumher alle Ecken und Winkel. Die Frau half tüchtig mit, denn sie sah, daß das Fräulein Angst hatte. Aber nirgends war eine Spur von dem Kind zu entdecken. Die Frau lief zu dem Nachbarhäuschen hinüber, vielleicht hatte man dort Rita gesehen. Aber niemand war zuhause, die Haustür war geschlossen. Da fiel der Frau ein, daß Martin heute hoch oben bei den Felsen sein Heu machte und daß ihm alle Hausgenossen helfen würden. Mit dieser Nachricht kam sie zurück.

Fräulein Hohlweg war sonst schon furchtsamer Natur, jetzt wurde sie immer unruhiger. »Ach, wenn ich doch dem Kind gleich nachgelaufen wäre!« jammerte sie wohl hundertmal. Aber das half nun nichts. Was war zu tun? Wo sollte man Rita suchen? Konnte sie vielleicht den Leuten zu dem Felsen hinauf nachgelaufen sein? Vielleicht mit dem kleinen Jungen, mit dem man sie gestern gesehen hatte? Je mehr Fräulein Hohlweg darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihr. Wenn man jetzt nur gleich jemanden hinaufschicken könnte, meinte sie, bevor man der Mutter von der Sache erzählen müßte.

Kaspars Frau wollte bei den Felsen nachsehen und so schnell wie möglich wiederkommen. Aber der Weg sei weit und mühsam, sie brauche mehr Zeit, als man denke, wenn man so hinaufschaue. Fräulein Hohlweg versprach ihr die beste Belohnung, wenn sie nur laufen und dadurch Frau Feland vor dem Schrecken bewahren wolle. Sie hoffte ganz sicher, die Frau werde Rita mit nach Hause bringen. Aber der Weg war länger, als das Fräulein dachte. Und lange bevor die Frau zurück sein konnte, kam Frau Feland aus ihrem Zimmer herunter und wollte mit den Kindern einen Gang machen. Nun mußte alles berichtet werden.

Im ersten großen Schrecken wollte die Mutter gleich selbst hinaus, um nach dem Kind zu suchen. Aber Fräulein Hohlweg war so sicher, Rita müsse mit dem kleinen Jungen fortgelaufen sein und die Frau wurde sie zurückbringen, daß Frau Feland sich auch beruhigte und auf die Rückkehr der Frau warten wollte. Sie hatte aber keinen ruhigen Augenblick. Sie lief von einem Fenster zum anderen, dann wieder vor die Haustür, dann um das Häuschen herum. Die Zeit wurde ihr so lang.

Endlich, nach zwei langen Stunden, kam die Frau zurück, keuchend und glühend vor Anstrengung. Aber sie kam allein, ohne Rita. Martin war mit seiner ganzen Familie am frühen Morgen zum Heusammeln zu den Felsen hinaufgegangen und oben geblieben. Seit gestern hatte niemand das Kind gesehen. Auch auf dem Weg hatte die Frau hier und dort nach ihm gefragt, aber es war keine Spur von ihm zu entdecken.

Jetzt brach die Mutter in großen Jammer aus.

»Oh, wenn nur mein Mann da wäre!« rief sie. »Wo finden wir Leute, um das Kind zu suchen? Was müssen wir tun? Gute Frau, was können wir tun?«

Die Frau wollte in die umliegenden Hütten laufen und die Leute fragen, ob sie beim Suchen helfen würden, bevor es Nacht werde. Man müsse dem wilden Waldbach nach- und ins Gehölz hinaufgehen. »Wenn nur nicht alle oben beim Heu wären«, jammerte sie. Aber sie machte sich sofort auf den Weg. Ella, die nun begriff, was mit Rita geschehen sein könnte, fing zu weinen an.

»O Mama, wenn Rita in den Bach hineingefallen wäre, der so schrecklich tost, oder wenn sie im Wald wäre und den Weg nicht mehr finden könnte!« schluchzte sie. »Oh, wir wollen gleich in den Wald gehen, sie hat sicher furchtbare Angst.«

Das dachte auch die Mutter. Sie nahm Ella bei der Hand und eilte zu dem Gehölz hinauf, so schnell, wie sie früher nicht hätte laufen können. Fräulein Hohlweg rannte hinter ihnen her, sie wußte vor Angst kaum mehr, was sie tat. Eine Stunde nach der anderen verging. Nach allen Seiten hin liefen suchende Frauen und Kinder, aber keine Spur von Rita wurde entdeckt. Es war Nacht geworden.

Frau Feland war bis jetzt kreuz und quer durch das Gebüsch gelaufen, sie konnte nicht mehr. Sie kehrte mit Ella zu der Wohnung zurück und brach erschöpft zusammen. Fräulein Hohlweg, die ihr auf Schritt und Tritt gefolgt war, stand ratlos da und sah aus, als wäre auch sie dem Umfallen nahe. Ella saß still weinend neben der Mutter.

Jetzt kehrte Herr Feland zurück. Als er von seiner Frau in wenigen Worten vernommen hatte, was vorgefallen war, trug er sie sofort hinauf in die Schlafkammer. Er bat sie, völlig ruhig zu bleiben, er werde alles tun, um das Kind zu finden. Auch Fräulein Hohlweg und Ella sollten sich schlafen legen. Wenn Rita gefunden worden war, werden sie davon in Kenntnis gesetzt werden.

Nun ging Herr Feland zu dem Häuschen des Martin hinüber, denn auch sein erster Gedanke war, Rita sei mit dem neuen Freund von gestern weggelaufen. Martin trat gerade aus der Haustür. Er hatte schon gehört, daß ein Kind verloren sei, und wollte eben kommen, um suchen zu helfen. Auf Herrn Felands Fragen erzählte er ihm, wie er vom frühen Morgen an mit Frau und Kindern fort gewesen sei. Sie hätten die Rita nirgends gesehen.

Herrn Felands Gedanke war nun, Rita sei allein ausgezogen, entweder irgendwo in die Felsen hinauf oder tief in den Wald hinein. Er ordnete nun an, Martin solle alle Männer der Nachbarschaft herbeiholen und sie mit guten Laternen ausrüsten. Dann sollten die einen zu den Felsenhöhen hinaufsteigen und überall herumsuchen, die anderen das Gehölz nach allen Richtungen durchstreifen. Den letzteren wollte Herr Feland sich selbst anschließen, und er war entschlossen, das Suchen fortzusetzen, bis sein Kind gefunden sei. So zogen die Männer in die Nacht hinaus, und Frau Feland hörte, wie eine Stunde nach der anderen unten an der alten Wanduhr schlug. Aber so langsam, so schleichend ging die Nacht dahin, wie Frau Feland noch keine in ihrem Leben durchwacht hatte. Sie schloß kein Auge. Bei jedem fernen Ton, der an ihr Ohr drang, fuhr sie auf und sagte sich: »Nun kommen sie und bringen das Kind. Aber wie, lebend oder tot?« Aber sie kamen nicht.

Von Zeit zu Zeit kam Ella leise herübergetrippelt. Sie wollte sehen, ob die Mutter schlafe, denn auch sie konnte vor Angst keine Ruhe finden. Wenn sie dann auch die Mutter wieder wach fand, bat sie immer wieder: »O Mama, wollen wir nicht noch einmal beten, daß der liebe Gott die Rita beschütze und bald heimbringe?« Das wollte die Mutter jedesmal gern. Ella kniete dann an ihrem Bett nieder und betete und flehte zum lieben Gott, daß er doch Rita vor allem Unglück behüten und dem Papa den Weg zu ihr zeigen wolle. Dann ging Ella wieder still in ihre Kammer zurück.

Die Nacht verging. Schon stieg die Sonne strahlend hinter den Bergen empor und leuchtete auf Wald und Wiesen, als hätte sie lauter Freude zu verkünden.

Frau Feland sank erschöpft auf ihre Kissen zurück. Endlich überwand die Müdigkeit Kummer und Sorge. Ein leiser Schlummer entrückte die verängstigte Mutter für kurze Zeit der qualvollen Ungewißheit und Erwartung.


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