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Bleich und verstört schritt Herr Feland durch den goldenen Morgenschein seiner Wohnung zu, und an seinen Kleidern war's zu sehen, daß er durch viele Dornen und stechendes Gestrüpp gedrungen war. Frau Feland hatte gleich seinen Schritt gehört und angstvoll rief sie: »Bringst du das Kind?« Er trat näher, setzte sich an ihr Bett, legte den Kopf in seine Hände und sagte fast tonlos: »Ich komme allein. Ich kann nicht mehr hoffen, nicht mehr denken. In welchem Zustand werden wir das Kind nach der langen Nacht wiederfinden, ganz oder halb tot?«
»O nein, Papa«, rief Ella schluchzend, die leise hinzugekommen war, »der liebe Gott hat gewiß unsere Rita beschützt. Mama und ich haben ihn in der Nacht so viel darum gebeten.«
Der Vater stand auf. »Wir haben die ganze Nacht das Gehölz nach allen Richtungen durchzogen, da kann das Kind nicht sein. Nun wollen wir zu den Schluchten des Waldbaches hinuntersteigen.«
Mit zitternder Stimme hatte der Vater diese Worte gesprochen. Die Vermutung, das Kind sei in den wilden Waldbach gestürzt, wurde ihm mehr zur Gewißheit. Herr Feland hatte angeordnet, den Männern bei Martin ein gutes Frühstück zu bereiten, dann sollten sie alle weiter suchen helfen. Da es nun hell war, konnte man auch besser in die Schluchten und Tiefen hinabsteigen. Als Herr Feland bei Martin eintrat, saßen die Männer noch am Tisch und besprachen eifrig, was nun zu tun sei. Der Seppli stand neben seinem Vater und sperrte Augen und Ohren weit auf.
Herr Feland setzte sich neben Martin. Eine Stille trat ein, denn alle sahen es ihm an, welche Angst er um seine Tochter ausstand. Plötzlich sagte der Seppli trocken: »Ich weiß schon, wo sie ist.«
»Du mußt nicht so dumm reden, Seppli«, sagte ihm der Vater in seiner sanftmütigen Weise, »du warst ja oben beim Heu, als sie sich verlaufen hat. Du kannst nichts davon wissen.«
Herr Feland fragte nach Seilen und anderen notwendigen Dingen, und während darüber verhandelt wurde, sagte Seppli halblaut, aber ganz hörbar: »Ich weiß doch, wo sie ist.«
Herr Feland stand auf, faßte ihn bei der Hand und sagte: »Junge, sieh mich an und sag mir's. Weißt du etwas von dem Kind?«
»Ja«, war die kurze Antwort.
»So sprich doch, Junge! Hast du das Kind gesehen? Wo ist sie hingegangen?« fragte Herr Feland in wachsender Aufregung.
»Ich will's zeigen«, antwortete der Seppli und ging zur Tür. Alle standen auf. Sie sahen einander an. Keiner wußte, ob Ernst gemacht werden sollte mit dem unnützen Gang. Herr Feland aber ging ohne Zögern dem Buben nach.
»Seppli, Seppli«, sagte der Vater Martin warnend, »ich meine fast, du versprichst, was du nicht halten kannst.«
Der Seppli aber trottete weiter, Herr Feland folgte, die Männer kamen zögernd nach.
Als der Junge auf das Gehölz zusteuerte, standen sie still und einer sagte: »Es ist ja ganz unnütz, dahin dem Buben zu folgen. Wir haben alle Plätze durchsucht und nichts gefunden. Wir gehen nicht.« Martin berichtete das Herrn Feland und sagte, daß er selbst dem Buben nicht traue. Seppli marschierte indes immer weiter, und auch Herr Feland und Martin entschlossen sich zu folgen. Seppli wanderte unentwegt weiter in das Gehölz hinein. Plötzlich bog er links ab zu den alten Tannen, wo man bald etwas Rotes durchschimmern sah. Der Seppli steuerte gerade darauf los, mitten durch Gestrüpp und stechende Distelbüsche bis zu einem lichten Plätzchen. Dort standen mehrere große Büsche hintereinander, alle mit roten Blumen bedeckt. Hier blieb er stehen und schaute ein wenig verblüfft umher. Er hatte offenbar erwartet, Rita da zu finden. Dann setzte er entschlossen seinen Weg fort. Die Blumenbüsche wurden seltener, aber immer größer. Bei jedem stand der Seppli einen Augenblick still und schaute rundum, dann ging er weiter, immer nach links.
»Nein, Seppli, jetzt geht's nicht weiter«, rief der Vater, »dort kommen wir an die große Felswand.«
Aber in demselben Augenblick schimmerte es wie Feuer durch die Bäume. Die Sonne glühte auf einem über und über mit den roten Blumen bedeckten Strauch. Der Seppli lief schnell darauf zu, war dann aber dicht an der Felswand, die schroff und steil in den tiefen Abgrund führte. Seppli sah sich um und über die Blumen den Felsen hinab. Dann ging er zurück. Herr Feland stand hoffnungslos hinter ihm. Der Weg hörte auf, und das Kind war nicht gefunden.
Martin faßte den Buben bei der Hand und wollte ihn von der gefährlichen Stelle zurückziehen, da sagte der Seppli in seiner trockenen Art: »Da unten liegt sie.« Herr Feland stürzte vor, beugte sich über den Abgrund – eine Totenblässe überzog sein Gesicht. Er trat zurück, am nächsten Baum mußte er sich festhalten, so zitterten ihm die Knie. Er winkte Martin. Dieser hielt den Seppli noch fest an der Hand. Jetzt trat er an den Rand und schaute in die Tiefe. Hier und da hing einiges Gebüsch am Abgrund. Tief unten hatte der Fels einen kleinen Vorsprung wie eine schmale Platte. Hier lag, ganz an den Felsen angeschmiegt, regungslos ein kleines Wesen, das Gesichtchen an den Stein gedrückt.
»Gott im Himmel, es ist wahr, da liegt sie!« rief Martin erschüttert, »aber ob lebendig oder...« Er sprach das Wort nicht zu Ende, ein Blick auf Herrn Feland schloß ihm die Lippen. Dieser sah aus, als könnte er selbst gleich tot hinfallen. Doch er faßte sich.
»Martin«, sprach er tonlos, »es ist keine Zeit zu verlieren. Eine Bewegung, und das Kind liegt im Abgrund. Wer steigt hinunter? Wer holt es?«
Die anderen Männer kamen jetzt auch heran. Hoffnungslos aber neugierig waren sie dem kleinen Führer doch noch gefolgt. Auch sie schauten jetzt, einer nach dem anderen, die Felswand hinunter.
»Hört, ihr Männer«, sagte Herr Feland mit bebender Stimme, »es ist kein Augenblick zu verlieren. Wer will es tun? Wer hilft, wer wagt es?«
Die Männer blickten einander an, alle jedoch blieben stumm. Einer trat wieder an den Rand, schaute hinunter, kehrte dann um, zuckte mit den Schultern und ging fort.
»Wenn man nur bestimmt wüßte, daß sie noch lebendig ist«, sagte ein anderer. »Aber man wagt sein Leben, und vielleicht nur, um ein totes Kind zu holen.«
»Wer weiß, ob das Kind nicht lebt«, rief Herr Feland fast außer sich, »und wenn es sich bewegt, ist es unrettbar verloren! Oh, ist es nicht möglich?«
»Es wäre schon lange unten, wenn es noch lebte, so still liegt kein Kind«, sprach einer. »Und, Herr, wenn man dort hinabrollt, dann hilft auch der beste Lohn nichts mehr.«
Mit einem Schulterzucken trat einer nach dem anderen zurück. Herr Feland schaute verzweifelt um sich. Es war keine Aussicht mehr auf Hilfe. »Ich will es selbst tun«, rief er außer sich, »sagt mir nur, wie?«
Jetzt trat Martin zu ihm heran.
»Nein, Herr«, sagte er ruhig, »das geht nicht, dann sind beide verloren, das ist sicher. Aber ich will's tun mit Gott. Ich habe auch Kinder, ich weiß, wie es dem Herrn zumute sein muß.« Noch während er sprach, hatte er das große Seil an dem Stamm der alten Tanne festgemacht. Denn er hatte beschlossen, das Kind dem Vater heraufzuholen, sei es nun tot oder lebendig. Jetzt nahm er seine Mütze ab, betete leise, faßte fest das Seil und glitt die Felswand hinab.
Er kam bei der schmalen Felsplatte an. Mit der Linken hielt er mit aller Kraft das Seil, mit den bloßen Füßen suchte er sich an dem Felsen festzuklammern, um mit der Rechten das Kind hochheben zu können. Vorsichtig kam er näher, denn war das Kind am Leben und erschrak vor ihm – nur eine rasche Bewegung, und noch im letzten Augenblick war es verloren. Es lag ohne Regung da. Martin bückte sich und legte seine breite, feste Hand auf das Kind. In demselben Augenblick wollte es sich rasch umwenden und wäre dann unrettbar hinabgestürzt. Aber Martins Hand lag fest auf ihm. Den Kopf konnte es umdrehen. Ein paar große, verwunderte Augen schauten den Mann an.
»Gott sei Lob und Dank!« sagte Martin tief aufatmend. »Bete auch, Kleines, wenn du noch reden kannst!«
»Ja, ich kann schon noch reden. Gott sei Lob und Dank!« sagte das Kind mit ganz frischer Stimme.
Martin schaute in höchster Verwunderung auf das völlig unverletzte Kind.
»Du mußt unserem Herrgott besonders lieb sein, an dir hat er ein Wunder getan. Das mußt du dein Lebtag nicht vergessen, Kleines«, sagte er andächtig. Dann hob er mit seiner festen Rechten das Kind zu sich empor. »So, nun mußt du mich mit beiden Armen um den Hals fassen, aber recht fest, so, als wenn ich der liebe Papa wäre. Denn du siehst, ich kann dich nicht halten. Ich habe mit beiden Händen genug zu tun, daß wir hinaufkommen.«
»Ja, ja, ich will schon festhalten«, versicherte Rita und umklammerte den Martin so fest, daß er kaum atmen konnte. Aber wie froh war er!
Er begann nun die Felswand hinaufzuklettern. Es war keine leichte Arbeit. Das Blut lief ihm von Händen und Füßen herunter. Manchmal mußte er einen Augenblick ausruhen. Oben standen Herr Feland und die Männer und schauten mit angehaltenem Atem hinunter, wie der Mann über dem Abgrund schwebte. Wird er die Anstrengung aushalten? Wird er heraufkommen? Oder wird ihn die Kraft verlassen? Wird er ausgleiten und mit dem Kind in die dunkle Tiefe stürzen?
Näher und näher kamen sie – nur noch das letzte, furchtbar steile Felstück – da –
»Gott sei gedankt!« rief Martin atemlos, als er den letzten Schritt über den Rand tat. Er nahm das Kind von seinem Hals und legte es dem zitternden Vater in die Arme.
Herr Feland mußte sich setzen. Er hielt sein Kind und schaute es stumm an, als könnte er sein Glück noch nicht fassen.
»O Papa, ich bin so froh«, sagte Rita und schlang beide Arme liebkosend um seinen Hals. »Aber ich wußte schon, daß du mich am Morgen holen würdest.«
Martin war an die Seite getreten. Mit gefalteten Händen schaute er auf Vater und Kind, und vor Freude liefen ihm jetzt die Tränen über das gebräunte Gesicht herab. Seppli hatte sich an ihn geschmiegt und hielt ihn fest, denn er hatte begriffen, daß der Vater in großer Gefahr gewesen war.
Jetzt trat Herr Feland, sein Kind auf dem Arm, zu Martin heran. Er streckte dem Retter seine Hand entgegen. »Sie begreifen sicher, Martin, daß ich jetzt erst tue, was ich zuallererst hätte tun sollen«, sprach er mit bewegter Stimme. »Ich danke Ihnen, wie nur einer danken kann, dem das Leben wiedergegeben ist. Ich vergesse es nie, daß Sie Ihr Leben gewagt haben, um mein Kind zu retten.«
Die beiden Männer drückten einander die Hände, und Martin sagte treuherzig: »Es ist mir ein schöner Lohn, daß ich Ihnen das Kleine so ohne Schaden zurückbringen konnte.«
»Ich sehe Sie heute noch einmal, jetzt müssen wir zur Mutter«, sagte Herr Feland und trat den Rückweg an. Seine Kleine hielt er fest im Arm. Martin, seinen Seppli an der Hand, und die anderen folgten.
Als sie nun so zusammen durch den Wald gingen, sagte Martin zu seinem Buben: »Jetzt sag mir, Seppli, wie wußtest du, daß die Kleine sich gerade dahin verlaufen hatte?«
»Weil sie zu den roten Blumen wollte«, erwiderte Seppli.
»So? Aber wie wußtest du denn, daß sie gerade dort bei dem Felsen sein konnte?«
»Weil sie nicht beim ersten Busch war, mußte sie weitergegangen sein, weil dann immer noch schönere Blumen kommen. Und der allerschönste Busch ist zuletzt am Felsen. Aber ich wußte nicht, daß sie hinabgefallen war«, berichtete der Seppli.
Jetzt war Herr Feland bei seiner Wohnung angekommen. Er trat ein und öffnete die Tür des Schlafzimmers. Ella saß noch am Bett und hielt die Hand der Mutter fest. Diese lehnte erschöpft ihren Kopf in die Kissen, die Augen waren geschlossen. Herr Feland trat heran und setzte Rita mitten auf das Bett der Mutter.
»Guten Morgen, Mama! Hast du auch gut geschlafen?« rief Rita fröhlich, wie sie es jeden Morgen tat, wenn sie kam, die Mutter zu umarmen. Diese öffnete die Augen und starrte ihr Kind an. Dann plötzlich drückte sie es fest an ihr Herz, und Freudentränen strömten ihr aus den Augen. Sie konnte kein Wort sprechen, nur immer wieder dem lieben Gott in ihrem Herzen danken.
Ella hielt die kleine Schwester bei der Hand und rief: »Bist du wieder da, Rita? Wo warst du denn die ganze Nacht so allein?«
Der Vater berichtete, wie und wo er Rita gefunden und wie Martin sein Leben gewagt hatte, um das Kind zu retten. Ein Schauer überlief die Mutter bei der Schilderung. Sie drückte das Kind noch einmal fest an sich, als sie sich die furchtbare Gefahr vorstellte, in der es die ganze Nacht hindurch geschwebt hatte.
»Oh, hast du dich denn nicht fast zu – Tode gefürchtet?« fragte Ella, die vor Mitleid mit den Tränen kämpfte.
»O nein, ich habe mich nicht gefürchtet«, berichtete Rita fröhlich. »Jetzt will ich erzählen, wie es gewesen ist. Zuerst wollte ich zu Papa hinein und ihn fragen, ob ich jetzt mit dem Seppli zu den roten Blumen gehen dürfe. Aber der Papa war fort. Da dachte ich, er wurde es mir erlauben, weil ich doch schon gestern so gern gehen wollte und dann nicht durfte. Und dann ging ich zu Seppli. Aber der war auch fort. Da dachte ich, die roten Blumen finde ich schon allein, der Seppli hat mir ja gesagt, wo man hingehen muß. Dann bin ich in den Wald hinaufgegangen, habe aber lange, lange gesucht und sie nicht gefunden. Aber auf einmal habe ich einen roten Schimmer gesehen hinter den Bäumen, und ich bin hingelaufen. Zuerst waren aber nur wenige Blumen da, und sie waren nicht schön rot. Aber der Seppli hatte gesagt, man müsse ins Gehölz hineingehen und dann immer weiter. Da ging ich immer noch weiter, und es kamen immer mehr Blumen, und zuletzt kam ein großer, großer Busch mit so viel schönen, roten Blumen. Die leuchteten so prachtvoll, und ich wollte sie alle, alle haben. Und da bin ich auf einmal hinuntergefallen und auf einem Stein liegen geblieben. Aber er war nur schmal, und darum bin ich ganz nahe an den Felsen herangerückt und habe gedacht: Ich will nur ganz still liegen, der Papa kommt dann schon und holt mich. Aber dann wurde ich müde – und es ist auch schon ein wenig Nacht geworden. Und ich habe gedacht, jetzt muß ich gewiß schlafen, und am Morgen kommt dann der Papa und holt mich. Dann habe ich gedacht, jetzt muß ich noch beten, daß mir der liebe Gott die Englein schickt, daß sie mich beschützen, wenn ich schlafe, und ich habe gebetet:
›Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So laß die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein.‹
Dann habe ich gut geschlafen, bis der Mann kam, und ich wußte gleich, daß ihn der Papa geschickt hat.«
Unter Tränen lächelnd hatte die Mutter zugehört. Der Vater konnte seine Freude daran nicht verbergen.
»Aber nun geht meine kleine Heuschrecke keinen Schritt mehr allein«, sagte er jetzt in so ernstem Ton, wie er ihn in der Freude seines Herzens finden konnte.
Die Mutter aber hatte noch nicht gehört, wer die Suchenden endlich auf die richtige Spur geführt hatte. Sie wollte aber alles genau wissen. Nun fiel dem Vater ein, daß der Seppli eigentlich der erste gewesen war, der Rita aufgespürt hatte.
»Den braven Jungen müssen wir besonders bedenken«, sagte er, und Rita, die diesen Gedanken begeistert aufgriff, kletterte sofort vom Bett herunter, um die Sache gleich auszuführen.
Was aber sollte die Belohnung für Seppli sein? Was konnte sie ihm auf der Stelle bringen?
»Er soll sich etwas wünschen«, sagte der Vater, »wir wollen sehen, was sein Herz erfreuen könnte.«
»Kann ich gleich zu ihm gehen?« fragte Rita eilig.
Der Papa wollte mitgehen, um gleich mit Vater Martin zu sprechen und auch die anderen Männer zu belohnen. Rita hüpfte vor Freude durch die Stube und dachte nur noch an den Seppli.
»Aber, Papa, wenn er sich eine Menagerie wünscht, mit den allergrößten Tieren, die es gibt?« fragte sie.
»Dann bekommt er sie«, war die bestimmte Antwort.
»Aber, Papa«, rief sie, »wenn er sich einen Türkenanzug wünscht und einen krummen Säbel dazu, wie Vetter Karl ihn hat?«
»Bekommt er ihn auch«, war die Antwort.
»Aber, Papa«, sagte sie wieder, »wenn er eine ganz große Festung wollte und zwölf Schachteln voll Soldaten, wie Karl sie hat?«
»Bekommt er sie«, erwiderte noch einmal der Vater.
Jetzt schoß Rita auf Seppli zu, der vor der Haustür stand.
»Komm, Seppli«, rief sie, »jetzt kannst du dir das Allerschönste wünschen, was es gibt.«
Der Seppli schaute die Rita mit gerunzelter Stirn an. Es war, als ob ihre Worte etwas, das ihm schwer auf dem Herzen lag, wieder geweckt hätten. Endlich sagte er niedergeschlagen: »Das nutzt nichts.«
»Doch sicher, das nutzt«, erwiderte Rita. »Da du mich gefunden hast, kannst du dir wünschen, was du willst, und du bekommst es. Der Papa hat es gesagt. Jetzt denk einmal nach und dann sag etwas.«
Allmählich schien Seppli die Sache zu begreifen. Er schaute Rita noch einmal prüfend an, ob es auch wirklich im Ernst gemeint sei. Dann holte er tief Atem und sagte: »Eine Geißel mit einem gelben Zwick.«
»Nein, Seppli, das ist gar nichts«, erwiderte Rita ganz unwillig, »so etwas mußt du dir nicht wünschen. Denk noch einmal nach, was das Allerschönste ist, und das mußt du dir wünschen.«
Seppli dachte gehorsam nach, holte noch einmal tief Atem und sagte: »Eine Geißel mit einem gelben Zwick.«
Jetzt trat Herr Feland mit den Männern aus dem Haus. Diese entfernten sich unter vielen Danksagungen, Martin blieb in der Tür stehen.
»Ihnen habe ich noch nichts angeboten, Martin«, sprach Herr Feland. »Ihnen möchte ich meine Dankbarkeit vorerst auf eine Weise zeigen, die Ihnen eine rechte Freude macht. Sagt, haben Sie irgendeinen besonderen Wunsch?«
Martin drehte seine Mütze ein wenig in den Händen herum, dann sagte er zögernd: »Ich habe schon lange einen großen Wunsch, aber den darf ich nicht sagen. Nein, nein, er hätte mir nicht in den Sinn kommen sollen.«
»Sagt ihn frei heraus«, ermunterte Herr Feland, »vielleicht kann ich helfen.«
»Ich habe immer gedacht«, fuhr Martin zögernd fort, »wenn ich es nur einmal so weit bringen könnte wie mein Nachbar drüben, daß ich auch daran denken dürfte, eine Kuh zu kaufen. Ich habe ziemlich viel Heu und könnte dann ohne Sorgen meine Familie ernähren.«
»Es ist gut, Martin«, sagt Herr Feland, »wir sehen uns wieder.« Dann nahm er Rita bei der Hand und machte sich mit ihr auf den Rückweg.
»Und was wünscht sich denn dein Freund Seppli?« fragte er.
»Oh, der ist dumm«, rief Rita, »er will nur eine Geißel mit einem gelben Zwick. Das ist ja gar nichts.«
»Doch, doch, das ist etwas«, versicherte der Papa. »Siehst du, jedes Kind hat seine eigenen Freuden. Dem Seppli wird eine solche Geißel die gleiche Freude machen wie dir die allerschönste Puppenstube.«
Auf diese Erklärung hin gab sich Rita zufrieden und konnte nun kaum erwarten, daß das Gewünschte erfüllt wurde.
Am folgenden Tag hatte Herr Feland eine Reise ins Tal hinunter zu machen. Rita kannte den Grund und hüpfte vor Freude den ganzen Morgen lang. Der Papa ging aber nicht, ohne seiner kleinen Heuschrecke einzuschärfen, daß sie keinen Schritt allein vom Haus weggehen dürfe. Und Fräulein Hohlweg sollte auf sie aufpassen. Diese hatte aber in der Schreckensnacht solche Angst ausgestanden, daß sie von jetzt an kein Auge mehr von Rita abwenden wollte, was ihr aber doch schwer werden würde.
Zwei Tage darauf, als Martin sich gerade mit den Seinen an den Tisch zu den dampfenden Kartoffeln gesetzt hatte, ertönte vor dem Häuschen ein starkes Gebrüll – noch einmal und zum drittenmal!
»Dem Kaspar muß seine Kuh fortgelaufen sein«, sagte Martin und stand auf, um sie einzufangen. Das mußte Seppli auch sehen. Eilig lief er dem Vater nach, das Martheli, der Friedli und das Betheli folgten, und hinter ihnen lief die Mutter, um alle wieder zurückzuholen.
Draußen aber stand Vater Martin in regungslosem Staunen, und alle anderen neben ihm sperrten die Augen weit auf. Die Mutter aber, die jetzt hinzukam, schlug die Hände zusammen und konnte vor Verwunderung kein Wort hervorbringen. Am Haus angebunden stand eine glänzend braune Kuh, so groß und prächtig, wie nur hier und da bei den reichen Bauern eine zu sehen war. An dem einen Horn war eine große Peitsche befestigt, die hatte eine weiße feste Lederschlinge mit einem dicken, seidenen Zwick daran. Der flimmerte wie Gold in der Sonne.
An den Peitschenstiel war ein Papier gebunden, darauf stand mit großen Buchstaben: ›Für den Seppli.‹
Martin nahm die Peitsche herunter und gab sie dem Buben. »Sie gehört dir«, sagte er.
Seppli hielt seine Geißel in der Hand. Das Schönste und Herrlichste, was er sich denken konnte, war sein Eigentum. Und dazu war noch eine Kuh da, die konnte man auf die Alm treiben und dazu mit der Geißel knallen wie der Jörg und der Chäppi.
Seppli erfaßte mit strahlenden Augen seine Geißel, umarmte sie und hielt sie so fest, als wollte er sagen: ›Keine Macht der Erde kann mich davon trennen!‹ Martin und seine Frau konnten das prächtige Tier nicht genug anschauen. Daß es ihnen aber gehören sollte, kam ihnen wie ein Wunder vor.
Endlich sagte Martin: »Sie brüllt, weil sie die Milch hergeben will. Seppli, hol die Kannen, heute wollen wir es uns gutgehen lassen.«
Zwei große Kannen voll der schäumenden, frischen Milch wurden gefüllt und zu den Kartoffeln auf den Tisch gestellt. Dann begleiteten alle im Triumphzug die braune Kuh zu dem Stall.
Drüben vor dem Nachbarhäuschen stand Herr Feland mit seinen Kindern. Sie wollten zuschauen, wie die Kuh empfangen wurde. Auch wollte Rita unbedingt wissen, welchen Eindruck die Geißel auf den Seppli machen würde, da sie selbst den Zettel mit der Aufschrift ›Für den Seppli‹ an den Peitschenstiel gebunden hatte.
Als Frau Feland sich von den großen Aufregungen erholt hatte, wanderte die ganze Familie zu der Felsenwand hinauf. Sie wollte dem lieben Gott noch einmal an dem Ort aus vollem Herzen selbst Lob und Dank sagen, wo er seine schützende Hand so sichtbar über das Kind gebreitet hatte.