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4. Kapitel.

Der Himmel lag dunkelblau über den jungen Saaten; die Apfelbäume blühten und auf allen Zweigen sangen die Amseln ihr fröhliches Frühlingslied. Im Garten am Pfarrhaus, unter den duftenden Fliederbäumen, die dicht ineinander gewachsen eine Wand gegen den Wiesenweg bildeten, saßen die alten Freunde wieder zusammen. Wilhelm war heimgekehrt, um nun in seines Vaters Geschäft einzutreten und sich bleibend in seiner Vaterstadt niederzulassen. Er hatte nach seiner Rückkehr eine kurze Zeit dahingehen lassen, bevor er die nahen Freunde auf dem Land wieder aufsuchte. Seit zwei Tagen war er wieder im Pfarrhaus eingezogen und schon war das gute Einverständnis und die Vertraulichkeit der früheren Tage unter den drei alten Gespielen völlig hergestellt. Eben jetzt wurden mit Lebhaftigkeit und unter herzlichem Gelächter die Erinnerungen der Abenteuer aufgefrischt, die man zusammen bestanden hatte »in der guten alten Zeit«, wie die achtzehnjährigen Mädchen diese Vergangenheit nannten.

»Nun müssen wir anfangen, die alten Orte aufzusuchen, wo wir das alles erlebt haben,« sagte Sina lebhaft; »da haben wir das Unerhörte zu leisten an Wanderungen, an Felsen erklimmen und Bäche überspringen. Du mußt wenigstens vier Wochen da bleiben, Wilhelm, anders geht es nicht. Vor allem mußt du aber nun Hans und Elsi wieder sehen, sie freuen sich darauf wie auf das größte Fest; wir hatten es aber auch so, nicht wahr, Marie?«

Sina lachte sehr unbefangen zu ihrer Erklärung, Marie aber wurde ein wenig rot, als sie lächelnd antwortete: »Ja gewiß.«

Auch Wilhelm war eine leichte Röte über das Gesicht geflogen. »Mich freut es auch, die Zwei wieder zu sehen,« sagte er jetzt mit derselben Ruhe, mit der er schon als Knabe Sina in die größte Verwunderung versetzt hatte, wenn sie ihm die Bezeugungen seiner Freude so aus Treu' und Glauben hin abnehmen mußte, an seinem Wesen aber von der Freude gar nichts spüren konnte. »Die beiden sind doch immer gute Freunde geblieben? vielleicht mit den Jahren noch bessere als sie schon früher waren,« fuhr Wilhelm fort.

»Ja natürlich,« bestätigte Sina sofort, »und ein Paar werden sie jedenfalls.«

»Aber das kann man doch nicht so bestimmt wissen, Sina,« bemerkte Marie, »Elsi hat uns ja noch nie ein Wort davon gesagt und dir sagt sie ja doch alles, das weißt du selbst.«

»Das ist ganz einerlei,« entgegnete Sina schnell. »Wenn zwei sich so lange gern gehabt haben ohne alle Unterbrechung, wie diese zwei, so heiraten sie sich zum Schluß, das ist sicher.«

Wilhelm schaute Sina forschend an. »Geht das denn immer so ohne Anstand und Hindernis vor sich?« fragte er halb schüchtern, halb lachend.

»Es ist das natürlichste von der Welt und muß darum so kommen. Es ist wahr, Elsi hat mir nie ein Wort darüber gesagt, aber Ihr werdet sehen, ob ich recht habe oder nicht. Sollten wir nicht die beiden zu einem Erinnerungsspaziergang auf morgen einladen? Da es Sonntag ist, können sie gut daran teilnehmen.«

Mit völliger Zustimmung wurde Sinas Vorschlag von den beiden andern begrüßt und nach eifriger Beratung der Gang nach dem Thale der rauschenden Sturza hinunter beschlossen. Wer dann von dort wie vor Zeiten die Felsen nach den roten Steinnelken erklettern wollte, der sollte alle Freiheit dazu haben.

Bis in den Abend hinein saßen die Drei, im Genusse eines neuen und in der Erinnerung des alten Zusammenseins aller Zeit vergessend, bei einander, bis plötzlich die pflichttreue Marie erschrocken aufsprang; der Zauber der Unterhaltung hatte sie zum erstenmal vergessen lassen, daß die Vorbereitungen zum Abendbrot längst ihrer warteten. Die beiden Mädchen konnten bei ihrer Trennung am spätern Abend sich nicht enthalten, einander schnell noch den Eindruck mitzuteilen, welchen die Erscheinung des alten Freundes auf sie machte.

»Er ist so nett, so ganz wie vorher, im Augenblick ist man wieder so bekannt mit ihm, als wäre er immer dageblieben,« rief Sina erfreut aus.

»Das kommt aber von dir selbst her, Sina, daß er mit dir gleich so war und dann nachher auch mit allen andern so sein kann,« entgegnete Marie. »Am ersten Abend, als er noch allein mit Mama und mir war, wußte er erst gar nicht recht, wie er mit uns reden sollte und war so zurückhaltend. Zu mir sprach er nur so in unbestimmten Sätzen, weil er nicht wußte, ob er mir Du oder Sie sagen sollte, und zu Mama war er auch ein wenig steif, er konnte den alten Ton gar nicht finden und ich nicht. Da kamst du herein und hast ihm gleich deine Freude über sein Kommen so direkt heraussagen können und hast ihm Du gesagt und auf einmal war er wie umgewandelt, als wäre ihm eine hemmende Rinde abgesprungen; du hast sie gebrochen und ihn davon erlöst, ich habe es gut gemerkt.«

»Das ist ja alles ganz natürlich so gekommen. Es versteht sich doch, daß man sich noch Du sagt, wenn man so lang zusammen war wie Geschwister. Er ist wirklich nett,« bestätigte Sina nochmals, »und so feine Manieren hat er jetzt, das hat er in England geholt, und so höflich und aufmerksam ist er geworden: hast du gesehen, wie er deiner Mutter schnell einen Sessel nachtrug, als sie ans Fenster ging. Und jetzt versteht er's auch, sich zu kleiden, ganz anders als früher, und hat das Haar nicht mehr so kurz geschnitten; die schön gewellten Haare stehen ihm so gut! Um und um, nach innen und nach außen ist er nett geworden, so daß man sich recht freuen kann, mit ihm zu sein und ihn wieder da zu haben. Sag' doch auch ein Wort, Marie, ist es denn nicht so? Freust du dich nicht auch, daß er wieder da ist?«

»Doch, doch gewiß, und ich finde ihn gewiß auch sehr nett,« bestätigte die Freundin.

»Du brauchst ja gar nicht rot zu werden deswegen, Marie,« warf Sina hin, »wir werden doch wohl von einem alten Freund so reden dürfen, den wir wie einen Bruder kennen, das kann uns kein Mensch verargen, ich will es jedem sagen, der es hören will. Aber komm, ich muß gehen.«

Draußen unter der Hausthür stand Wilhelm und wartete auf die Mädchen, die jetzt im letzten eifrigen Gedankenaustausch aus dem Zimmer traten.

»O das ist wieder ganz wie vor Alters,« rief Sina aus, »wenn wir am Samstag Abend beieinander saßen und unsere schönen Spiele machten, und wenn ich dann zuletzt nach Hause mußte, stand Wilhelm schon dort unter der Thür, um mich zu begleiten, aber er mußte immer noch warten, denn wir beide hatten uns immer noch etwas zu sagen.«

»Gerade wie heute, nicht wahr?« fiel Wilhelm mit einem harmlosen Lächeln ein.

»Ja ja, gewiß, wie immer,« lachte Sina. »Nein, es ist zu prächtig, daß du wieder so gekommen bist, Wilhelm, und man das alte Leben wieder so von vorn anfangen kann, ganz herrlich! Du kommst aber auch noch mit, Marie, bei dem prachtvollen Mondschein!« Und Sina zog ihre Freundin auch mit fort zum Begleit, sie hatte ja einen guten Beschützer zur Rückkehr, wie Sina ihr erklärte.

Am folgenden Nachmittag fanden Hans und Elsi mit vergnügten Gesichtern sich im Pfarrhaus ein. Sie wollten so gern den alten Freund begrüßen und beide sagten zu wiederholtenmalen sie hätten gar nicht geglaubt, daß er noch an sie denke, und man konnte ihnen wohl ansehen, daß sie sich ganz besonders darüber freuten. Für den gemeinsamen Spaziergang aber mußten sie danken, sie hatten schon etwas anderes vor und konnten das nicht verschieben. Elsi zog dann Sina, welche unterdessen auch eingetroffen war, ein wenig auf die Seite und sagte bittend: »Gelt, du begreifst das schon und denkst nicht, ich wisse es nicht zu schätzen, daß Ihr uns auch wieder mit dabei haben wolltet. Aber siehst du, der Hans hatte mich schon vor mancher Woche auf heute eingeladen, zu seinem Vetter hinauszugehen, zu sehen wie die Kirschbäume blühen, und er sagt sonst schon immer, ich habe keinen Menschen auf der Welt gern, als nur dich. Es ist ja schon wahr, daß ich am liebsten mit dir bin und daß ich keinen andern Menschen kenne, der ist wie du, aber ich möchte ihm doch nun nicht mein Wort brechen.«

»Nein, nein, Elsi, durchaus nicht, du gehst heute mit dem Hans in die Kirschenblüten, wir kommen schon auch wieder zusammen.« Damit führte Sina die gute Freundin in den Kreis der andern zurück und erklärte diesen gleich so entschieden, Hans und Elsi könnten den Spaziergang heute nicht mitmachen, daß alles Zureden ein Ende hatte und die beiden unter vielem Händeschütteln sich entfernten.

Es war ein strahlender Maientag. Von allen Höhen rauschten die vollen Bergwasser ins Thal hinab, hellglänzende Bachranunkeln und rote Margeriten lachten überall aus dem frischen Gras heraus. Von den weißen Blütenbäumen pfiffen und schmetterten die fröhlichen Vögel in den blauen Himmel hinauf und weit über alle Schneeberge hin leuchtete der warme, goldene Sonnenschein. In ungetrübter Fröhlichkeit zogen die drei alten Gefährten durch den blumenbedeckten Wiesengrund der Waldhöhe zu, wo zwischen dunkeln Föhrenwipfeln das helle Grün der jungen Lerchenbäume lieblich hervorschimmerte.

»Wir müssen dich in unsre Mitte nehmen als Ehrengast,« sagte Sina, die bis jetzt diesen Platz eingenommen und mit welcher Wilhelm sich bis dahin ausschließlich unterhalten hatte, während Marie still nebenher ging. »Wären die beiden andern mitgekommen, so hätten wir dich schon dem Hans abtreten müssen, der hätte natürlich sein Recht als männlicher Freund dann geltend machen wollen.«

»Der ist wohl froh genug, dies Recht heute nicht geltend machen zu müssen,« entgegnete Wilhelm lachend. »Gewiß zieht er jetzt seine Straße mit Dank im Herzen, daß er so gut weggekommen ist und Elsi ganz für sich behalten hat.«

»Aha, so hast du etwas gemerkt,« lachte nun auch Sina, »glaubt Ihr nun bald, daß ich recht bekomme, Ihr beiden Zweifler?«

»Mir gefällt diese unwandelbare Treue. Ich bin sicher, der Hans hat, seit er seine Augen brauchen kann, nur immer nach Elsi geblickt und niemals nach einer andern, und daß Elsi es ihm zurückgebe, ist doch nichts als billig,« meinte Wilhelm.

»Mir gefällt die Sache auch außerordentlich wohl,« sagte Sina lebhaft; »wenn bei irgend wem, so kann man bei diesen Zweien denken, die werden glücklich miteinander leben. Sie haben sich nah gekannt und gern gehabt, so lange sie sich nur besinnen können.«

Wilhelm ging sinnend weiter. Marie sagte gar nichts. Jetzt erblickte Sina weit in der Wiese drinnen den ersten Orchis, dessen Duft sie liebte; sie lief hinein. Das Gras war noch so niedrig, daß sie ohne Schaden weit vordringen konnte, was sie auch that, denn nun entdeckte sie noch mehr von den Blumen, sie eroberte einen vollen, würzig duftenden Strauß. Als sie zurückkam, hielt sie Wilhelm eine der Blumen hin, daß er sich an dem Duft erlabe.

»Er ist einer der allerglücklichsten auf Erden und weiß es nicht einmal,« sagte Wilhelm, die Blume in die Hand nehmend.

Sina schaute ihn erstaunt an: »Meinst du diesen Orchis, Wilhelm?« fragte sie verwundert.

»Ach nein, ich rede ja vom Hans, von dem haben wir doch eben geredet und ich habe ihn und seine Aussichten in Gedanken noch verfolgt,« berichtigte Wilhelm. »Den könnte noch mancher beneiden, von dem man glauben möchte, er habe ein größeres Los gezogen für sein Erdenleben, als dieser Hans.«

»Ach,« rief Sina lachend aus, »daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Die Zwei wollen wir nun wirklich ihre Straße ziehen lassen und ihnen ihr Glück gönnen. Wenn Ihr nur wüßtet, wie prachtvoll dort drüben am Bach die Vergißmeinnicht stehen, es ist wie ein blauer See weithin. Könnten wir nicht quer über die Wiese hin, anstatt hier auf der Straße bleiben, wir würden noch schneller am Waldhügel ankommen und so wundervolle Blumen finden!«

Marie wollte nichts von diesem gesetzwidrigen Weg wissen. Sie meinte, wenn das Gras auch noch niedrig sei, so sei ein solches Beschreiten der Wiese doch nicht erlaubt und viele Halme und Kräutchen würden dabei zertreten, man müsse auf dem Weg bleiben und Blumen könnte man auch von da aus viele pflücken. Dieser Ansicht stimmte auch Wilhelm bei und Sina mußte sich der Mehrheit unterwerfen. Die Glieder dieser Mehrheit gewannen aber nicht viel dadurch, denn keine drei Minuten vergingen, so war Sina schon wieder nicht mehr auf der Straße; dort drüben leuchteten blaue Enzianen herrlich in der Sonne, sie war schon mitten drin. So ging es fort, bis das Ziel der Reise erreicht war und die Wanderer auf der gelichteten Stelle der Waldhöhe Halt machten und sich aus dem weichen Moosboden lagerten. Weithin lag zu ihren Füßen das Thal im lichten Abendschein.

»Wer doch ganz hier leben könnte und nie mehr weg müßte!« sagte Wilhelm mit einem leisen Seufzer.

»Ja, aber man müßte eine Thätigkeit haben, die alle Kräfte in Anspruch nähme und die Tage befriedigend ausfüllen würde. Dann könnte man hieherkommen und die Feiertage in vollen Zügen genießen,« meinte Sina. »Aber wie hier zur vollen Anwendung seiner Kräfte kommen? Es ist kein Feld da, sie zu entfalten und nur feiern und genießen kann man nicht. Das Schönste verliert seinen Reiz, wenn nicht eine rechte Arbeit den Genuß erwünscht macht. Ich habe einen rechten Durst nach einem weiten, großen Arbeitsfeld, das alle meine Kräfte fordert.«

»Aber Sina,« sagte Marie, »ich weiß gar nicht, wie du's machst, ich habe immer zu wenig Zeit für alles, was ich thun sollte und dann noch für solches dazu, das ich gern thun wollte, und ich meine, es nimmt gar nicht ab, ich sehe immer noch mehr Arbeit vor mir, je weiter ich komme und je mehr ich auch außer dem Hause etwas thue, nur schon bei Kranken, da wäre so viel mehr zu thun als ich thue. Und wenn ich so sehe, was meine Mutter alles zu verwalten hat im Haus und für alle Leute, die kommen und Rat und Hilfe bei ihr suchen, und dann noch für den Vater, der so viel mit ihr zu besprechen und zu lesen und zu beraten hat, da meine ich, wir haben gar nie genug Zeit zu allem, das gethan werden sollte. Aber freilich, ich weiß schon, Sina,« fügte sie fast entschuldigend hinzu, »du machst auch alles leichter als überhaupt sonst jemand, darum hast du das Gefühl von Mangel an Arbeit.«

»Nein, nein, Marie, sag' nicht immer solche Dinge, du thust ja viel mehr als ich,« gab Sina lebhaft zurück. »Aber: Eines schickt sich nicht für alle.«

»So wäre es dir nicht zuwider, Sina, diese herrliche Umgebung zu verlassen und in der Stadt zu leben?« fragte Wilhelm.

»Durchaus nicht,« entgegnete Sina unverzüglich. »Auch wäre ja immer eine Sommerfrische in dieser Umgebung möglich zu machen und daneben eine große Arbeit zu bewältigen. Gerade das Stadtleben müßte das Verlangen nach dieser erfrischenden Herrlichkeit erst recht lebendig machen und den Genuß daran noch erhöhen!«

Als auf die fernen Berge drüben in der scheidenden Sonne sich ein rosiger Schimmer legte, traten die Freunde ihre Rückkehr an. Diesmal wurde die Wanderung von keinen Seitensprüngen unterbrochen. In eifrigem Gespräch zogen die Drei dahin, vom lichten Abendschein umflossen, der dann und wann mit stiller Gewalt der lebhaft sprechenden Sina plötzlich den Faden der Rede abbrach, so daß sie mit einemmal stille stand und ausrief: »O, seht Euch um! Seht das Abendgold aus den Hügeln! O seht die rosigen Wolken über dem Föhrenwald! Die alten Bäume werden jung und leuchten vor Freude.«

Wilhelm bewunderte so lebendig mit und war so angeregt, wie man ihn selten sah. Er hatte fort und fort eine Menge von Fragen vorzubringen, mit denen er sich immer an Sina wandte, die mit steigendem Eifer ihre Ansichten auseinandersetzte und verteidigte, wo nicht volle Übereinstimmung herrschte. Im Feuer der Hin – und Widerrede bemerkten die beiden nicht einmal, wie still und immer stiller die Dritte neben ihnen herging, daß sie schon längere Zeit mit keinem Worte mehr an der Unterhaltung teilgenommen hatte, auch nicht hätte teilnehmen können, ohne unaufgefordert in die Worte der andern hineinzufallen. Noch vor dem Forsthaus konnten die beiden nicht fertig werden, denn ein streitiger Punkt zwischen ihnen war nicht erledigt und Sina konnte es fast nicht ertragen, daß der Freund ihre klaren Gründe nicht annehmen und in ihre Anschauung eingehen konnte. So wurde vor dem Hause noch hin und her geredet, bis Marie sanft daran erinnerte, daß zu Hause auf sie gewartet werde und der Vater die Verspätungen nicht gern möge.

»Nun dann fahren wir morgen fort und übermorgen und die ganze Woche lang,« sagte Sina, in fröhlicher Herzlichkeit ihre Hand zum Abschied ausstreckend. »Es ist zu hübsch, Wilhelm, daß du noch eine Zeit lang da bleibst und wir jeden Tag unsere Gespräche neu aufnehmen können.«

Ein Strahl warmer Freude leuchtete aus Wilhelms Augen, als er die ausgestreckte Hand schüttelte und in die Befriedigung über das baldige Wiedersehen einstimmte.

Als später Sina der Großmutter beim Abendbrot nach ihrer Gewohnheit die ganze Wanderung samt der wunderherrlichen Fernsicht, dem vollen Blumenflor und allen Gesprächen beschrieb, da stieg ihr plötzlich ein neuer Gedanke auf, den hätte sie Wilhelm noch entgegenhalten müssen, der mußte mit Einem Schlag ihn überzeugen und von seinen irrtümlichen Anschauungen zurückbringen. Den allen Irrtum besiegenden Grund, den sie eben gefunden, mußte sie dem Gegner durchaus heut' noch mitteilen, das war ja auch noch so gut möglich. Sobald das Abendbrot zu Ende war, trug Sina der Großmutter ihren Wunsch vor, schnell noch nach dem Pfarrhaus zu gehen, um Wilhelm von seinem Irrtum zu befreien. Die Großmutter meinte freilich, die Sache hätte keine solche Eile, der Irrtum würde über Nacht dem Wilhelm keinen Schaden bringen, ließ dann aber Sina gewähren.

Im Pfarrhaus fand diese ihre Freundin Marie allein im Wohnzimmer am Tische sitzend, den Kopf in beide Hände gelegt, unbeweglich in der Stellung verharrend. Offenbar hatte sie die Eintretende nicht gehört. Als diese sich dem Tische nahte, fuhr Marie zusammen.

»Erschrick doch nicht so,« sagte Sina, »ich komme nur schnell noch, um Wilhelm ein Schlußwort zu unserm Gespräch zu sagen, das ihn überzeugen muß; wo ist er?«

»Er sagte, er müsse noch einen Gang im Freien machen, sein Kopf sei so heiß, er könne nicht im Zimmer bleiben. Wohin er gegangen ist, weiß ich nicht.«

»Marie, warum hast du denn geweint?« fragte Sina plötzlich ganz verwundert. »Was ist dir denn begegnet seit unserer Rückkehr? War dein Vater ungehalten, weil Ihr so spät zum Abendbrot kamt?«

»Nein, nein, so ist er ja nicht; es ist nichts. Komm, wir wollen im Garten auf – und abgehen, bis Wilhelm zurückkommt,« sagte Marie ablenkend.

»Aber Marie, wie kannst du thun, als hättest du ohne allen Grund geweint!« sagte Sina mit vorwurfsvollem Ton; »wie kannst du mich das nur glauben machen wollen! Es ist das erstemal, daß du mir dein Vertrauen entziehst. Was ist denn zwischen uns gekommen, Marie?«

»Nichts, gewiß nichts,« versicherte diese; »ich kann doch eine Anwandlung von Traurigkeit haben, deren ich mich selbst schäme.«

In diesem Augenblick trat die Mutter ins Zimmer und Marie flüsterte ganz ängstlich der Freundin zu: »Bitte, sag' nichts mehr! Die Mutter weiß nichts, sie soll nicht sehen, daß ich geweint habe.«

Sina war in der höchsten Verwunderung. Also auch zwischen Marie und der Mutter war nichts vorgefallen und diese sollte nicht einmal wissen, daß etwas geschehen war. Der eingetretenen Pfarrfrau berichtete Sina nun gleich, warum sie so spät noch erschienen sei, wie sie aber sehe, nun doch vergebens, da Wilhelm wohl nicht so bald zurückkehren werde, die Nacht sei gar so prachtvoll. »Doch haben wir ja noch Zeit, unsere Sache abzuwickeln,« fügte Sina bei, »diese schönen Tage müssen wir benutzen, Wilhelm noch auf alle unsere Erinnerungsplätze zu führen. Morgen müssen wir nach der alten Tiefseebrücke mit ihm. Nun muß ich aber gehen.«

»Du hast immer schon einen Plan im Sinn, wenn der alte kaum ausgeführt ist, Sina,« sagte die Frau Pfarrerin lächelnd, indem sie die ausgestreckte Hand des Mädchens schüttelte.

Marie folgte der Freundin unter die Hausthür. »Sag', hast du dich etwa mit Wilhelm gezankt?« fragte hier Sina noch schnell, denn die rätselhaften Thränen konnte sie nicht ruhen lassen.

»Ach nein, Sina, wo denkst du hin?« rief Marie aus und war schon nach einem kurzen »Gute Nacht!« durch den Hausflur verschwunden.


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