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Am folgenden Morgen vor fünf Uhr stand Sineli im Nachthemdchen vor des Vaters Bett, um ihm anzuzeigen, daß der andere Tag da sei und das Fest beginnen könne. Als der Papa die Botschaft verstanden hatte, gab er sich Mühe, seine Tochter zu überzeugen, daß ihr Vorschlag verfrüht sei und sie noch einmal sich in die Hüllen zurückzuziehen habe, denen sie zu früh entsprungen sei. Aber Sineli hatte es anders beschlossen. Sie verließ zwar des Vaters Schlafgemach, stieg dann aber ohne Zögern die Treppe hinauf.
Sina erwachte daran, daß jemand mit unsicherer Hand an ihrem Thürschloß zupfte und drückte. Sie fuhr in die Höhe.
»Wer ist denn da draußen?« rief sie laut, als ein erneutes Drücken stattfand.
»Es ist jetzt Morgen, Tante Sina, so komm' zu dem Fest herunter,« erwiderte eine kleine Stimme hinter der Thür.
Sina warf sich schnell in ihre Kleider. Sie mußte sich recht verschlafen haben, daß Wilhelm ihr das Kind heraufschickte, sie zum Fest zu holen, es war ihr gar nicht recht. In höchster Eile machte sie sich so weit bereit, daß sie sich zeigen durfte und schloß dann die Thüre auf.
»Aber Kind!« rief sie im höchsten Erstaunen, »wie läufst du umher? Du kannst dich ja erkälten und dir so weh thun an deinen kleinen Füßen. Komm!« Sie nahm das Kind auf ihren Arm. »Wo soll denn das Fest gefeiert werden?«
»Wo du willst,« sagte Sineli befriedigt, ihren Zweck erreicht zu haben.
Sina trug das Kind hinunter der Wohnstube zu und machte die Thüre auf. Kein Mensch war drinnen, völlige Stille herrschte im ganzen Haus. Eben schlug es fünf an der alten Wanduhr. Sina hatte gar nicht nach der Zeit gesehen, das kam ihr nun doch etwas seltsam vor.
»Wer hat dich denn zu mir geschickt, Kind?« fragte sie. »Wo ist dein Papa?«
»Niemand hat mich geschickt, ich habe dich selbst geholt,« berichtete Sineli; »der Papa ist im Bett und Marie auch.«
Nun fing Sina der Gang der Sache verständlich zu werden an. Was aber sollte sie nun mit dem hell wachen Kinde anfangen? Schlafen würde es nicht mehr, brachte sie es in sein Bett zurück, so würde es ohne Zweifel den Vater und die Schwester aufstören. Es war eine herrliche Morgenfrühe. Schon zwitscherten die Vögel draußen in den Eschen und der frische Morgenwind rauschte durch die leichten Zweige.
»Komm Kind, wir gehen hinaus,« sagte Sina, »aber sei ganz still während ich dich bereit mache, damit du die andern nicht aufweckst.«
Sineli war höchst erfreut über die Aussicht und blieb mäuschenstill, während sie zum Ausgehen bereit gemacht wurde und Marie daneben in ihrem Bettchen noch in tiefem Schlaf lag. Jetzt traten die beiden leise aus dem Haus. Sina schlug den Weg zur Kirche hinunter ein. Die Sonne war strahlend aufgegangen und leuchtete über alle die grünen Gräber hin, zwischen denen Sina mit der Kleinen durchging.
»Ich will dir das Grab der Großmutter zeigen, Tante Sina,« sagte das Kind und strebte der Mauer zu. »Sieh, alle Sonntage kommen wir und bringen ihr Blumen und der Papa sagt: Sie war eine liebe Großmutter.«
Eben zu dem Grabe wollte Sina. Auch hier zeigte Wilhelm seine Treue und Anhänglichkeit; Sina war gerührt davon. Das Grab war auch so schön geschmückt und in Ordnung gehalten, wie sie nicht hatte hoffen dürfen nach ihrer langen Abwesenheit, die den alten Küster wohl in Sicherheit wiegen konnte, daß da niemand nachsehe, wie er seine Pflicht erfülle.
»Du gute Großmutter, könnte ich nur noch einmal mit dir reden!« sagte Sina halblaut.
»Tante Sina, hat es die Großmutter gehört, was du gesagt hast?« fragte Sineli sofort.
»Vielleicht,« entgegnete Sina.
»Weißt du's nicht recht?« fuhr das Kind eifrig fort, »weißt du auch nicht recht wohin sie gegangen ist? der Papa hat gesagt, sie sei nicht mehr da unten im Grab, sie sei in den Himmel gegangen und wir gingen dann einmal alle zu ihr. Kommst du dann auch mit, Tante Sina? Aber die Marianne hat gesagt, es komme dann erst noch darauf an, ob der liebe Gott uns aufnehmen wolle, wenn wir in den Himmel hinein wollen. Aber er thut uns schon auf, wenn wir sagen wir wollen zur Großmutter, gelt, das meinst du auch, Tante Sina? Würdest du gern gehen? Glaubst du die Großmutter komme dir entgegen? Tante Sina, warum gibst du mir keinen Bescheid?«
»Du fragst soviel hintereinander, Kind,« sagte Sina ausweichend. »Komm, wir gehen nun hinauf zum Hügel dorthin, wo der Bach herunter kommt, da finden wir schöne Vergißmeinnicht.«
Sineli hüpfte erfreut auf, und ließ für einmal alle Fragen fallen. Sina aber dachte bei sich, der Unterricht der sechszehnjährigen Mädchen sei ihr leichter geworden, als ihr das Antworten auf die Fragen der noch nicht sechsjährigen wurde. Hier galt es nicht mehr zu geben, was man erlernt hatte, hier mußte aus dem Eigenen geschöpft werden und im eigenen Innern mußte es recht klar sein, um rund und einfach auf die Fragen antworten zu können, so wie das Kind es bedurfte. Auch das Kind mußte die unerledigten Fragen nicht vergessen haben. Als es nach einiger Zeit mit seinem großen Vergißmeinnichtstrauß in der Hand an Sinas Seite dahinwanderte, fragte es plötzlich:
»Tante Sina, willst du es machen wie der Papa es macht, wenn ich ihn viel frage?«
»Wie macht es denn der Papa?« fragte Sina ihrerseits.
»Zuerst gibt er ein wenig Antwort; aber weißt du, nicht so recht; und dann auf einmal wird er ganz traurig und dann sagt er: »Ach hättest du nur deine Mutter noch, ich kann dir nicht antworten wie sie es könnte.«
»Ja, so kann es mir vielleicht auch gehen, Sineli.«
»Oder willst du es etwa machen wie die Marianne es macht, Tante Sina?«
»Wie macht es denn Marianne?«
»Sie gibt ganz wenig Antwort und dann sagt sie gleich: »Du bist ein Affe. Affen wollen immer alles wissen und nachmachen.«
»Nein, nein Sineli, das thu ich nun jedenfalls nicht. Es gefällt mir auch gar nicht, daß Marianne dich so nennt, ich habe auch nie gehört, daß die Affen alles wissen wollten, da ist sie nun wirklich im Irrtum; vielleicht sagt sie doch die Sache ein wenig anders.«
»Nein nein, ganz so sagt sie, Tante Sina,« eiferte das Kind, »und Marie hat schon zweimal geweint, weil mir die Marianne Affe sagte; aber ich weine nicht, ich sage dann nur: Und du bist auch einer.«
»Das ist nun gar nicht nett, Sineli, du mußt es nicht mehr thun, ich hoffe Marianne thut es auch nicht wieder. So, da sind wir, nun wollen wir sehen, ob Papa und Marie aufgestanden sind.«
Es war wirklich ein Festtag in dem Haus, dieser erste Tag, den Sina wieder daheim zubrachte. Marianne that ihr bestes zu der Feier in ihrer Küche. Die Kinder brachten in ihrer Freude herbei was sie nur besaßen, um die Tante festlich zu vergnügen; ja Sineli wollte ihr sogar für immer die Puppe schenken, der sie den einen Fuß glücklich abgedreht hatte, so daß nun wieder alles an ihr festsaß. Der Vater schaute in stiller Freude dem Treiben zu; doch von Zeit zu Zeit wollte auch er wieder seinen Teil an Tante Sina haben und ein Weilchen mit ihr plaudern. Sina freute sich äußerlich mit den Kindern, aber in ihrem Herzen lag eine tiefe Wehmut, die sie kaum zurückdrängen konnte. Das Wort des Vaters: »Hättest du nur deine Mutter noch!« wurde auch in ihrem Herzen immer lauter. Wie anders wäre das Haus und das ganze Leben der Kinder und des Vaters, wäre die Mutter noch da!
Als der Abend kam, schlich sich Sina hinweg, nach der Stube der Großmutter hinauf. Sie hatte gestern abend nur einen Blick hineingeworfen, sie mußte endlich eine Weile allein mit der Großmutter zubringen. In der Stube lagen noch alle Dinge ganz wie die Großmutter sie gelegt und dann verlassen hatte. Sina ging von einem Gegenstand zum andern; wie gut kannte sie jedes kleinste Ding, das sie in den lieben Händen gesehen hatte. Diese arbeitsamen Hände, wie viel Gutes hatten sie im Leben ausgerichtet! Auf dem kleinen Tisch lag noch die Bibel, in der die Großmutter gewiß noch am letzten Abend, wie an jedem andern ihres Lebens, ihr Kapitel gelesen hatte. Sina öffnete das Buch, wo ein Zeichen eingelegt war. Hier hatte die Großmutter noch einen Spruch unterstrichen, Sina las ihn, es waren die Worte: »Bringe uns, Herr, wieder zu dir, daß wir wieder heimkommen.« Sina glaubte die Stimme ihrer Großmutter zu hören, die deutlich zu ihr sprach. Gewiß war der Spruch für die Enkelin bezeichnet worden, sie zweifelte keinen Augenblick daran. Die Großmutter hatte deutlicher empfunden, wie es mit der Enkelin stand, als diese selbst es fühlte und wußte. Warum war sie innerlich so völlig freudlos, so haltlos, so heimatlos geworden? So war es doch früher nicht mit ihr gewesen. Die Großmutter hatte ja täglich so herzlich mit ihr gebetet, und sie hatte der Großmutter jeden Abend ihr Kapitel aus der Bibel gelesen und so oft und gern noch eines von den alten Liedern, die der Verstorbenen so lieb waren. Sina sagte sich, eigentlich sei sie doch recht fromm gewesen, oder hatte es doch zu sein geglaubt, weil die Großmutter es war. Aber es war seltsam, sobald sie die Großmutter verlassen hatte und nicht mehr in ihrer geistigen Luft lebte, war auch ihr Frommsein und alle Teilnahme an religiösen Dingen verschwunden. Was sie von diesem innern Leben mit der Großmutter geteilt hatte, war nie ihr Eigentum geworden, das sah Sina jetzt ganz klar ein und ein großes Verlangen ergriff sie nach den alten Wegen der Großmutter, auf denen diese zu solchem Frieden und zu der stillen, unwandelbaren Freudigkeit gekommen war. Wie waren nur diese Wege wieder zu finden, die sie, ohne sie selbst zu kennen, der Großmutter damals nachgegangen war? Was konnte sie thun? Sina saß sinnend und über die Frage nachgrübelnd vor der alten Bibel, als sie die bekannte kleine Hand neuerdings am Thürschloß herumkrabbeln hörte.
»Was ist's, bist du's, Sineli?« fragte sie, die Thüre öffnend.
Sineli stand da im Halbdunkel mit zornglühenden Augen und rief ihr sehr erregt entgegen: »Tante Sina, die Marianne ist auch eine widerspenstige Kröte und dann noch viel mehr. Du hast es ja versprochen, du wollest uns ins Bett thun und ich wollte warten und nicht mit der Marianne gehen, als sie kam. Und sie hat mich beim Arm genommen und gerissen und hat gesagt: ›du bist eine kleine widerspenstige Kröte, dir will ich schon noch Meister werden.‹ Und ich habe sie gestoßen und bin die Treppe hinausgelaufen zu dir, du hast es ja versprochen.«
»Ja, und ich will auch gleich kommen, Sineli,« beruhigte die Tante, »aber stoßen und schimpfen mußt du nicht, gar nie mehr, sieh, deine Mama würde ganz traurig darüber, wenn sie es hörte. Aber ich will Euch nun jeden Abend zu Bett bringen, so lange ich da bin. Ich will es auch der Marianne sagen.«
Nun war Sineli wieder getröstet und hüpfte froh die Treppe hinunter.
In der Stube saß Marie in einer Ecke. Der Vater war draußen im Garten, er hatte, erschrocken über die Scene, die eben stattgefunden hatte, die Kinder schon verabschiedet. Marianne war verschwunden. Sina ging mit den Kindern nach ihrem Schlafzimmer. Sobald Sineli ihr Lager bestiegen hatte, sagte sie rasch ihr kurzes Nachtgebet und Sina wollte schon zu Marie hinübergehen.
»Nein, nein, Tante Sina, wart', es kommt noch viel,« rief das Kind, sie festhaltend, »oder willst du es auch machen wie die Marianne?«
»Was macht denn hier wieder die Marianne, das dir nicht recht ist?« fragte Sina.
»Siehst du, Tante Sina, jetzt habe ich noch viel zu beten,« sagte Sineli ernsthaft, »alle Abende hat man dem lieben Gott viel zu sagen, und dann auch noch um so viele Sachen zu bitten, und wenn man am Tage nicht recht gethan hat, muß man auch noch dem lieben Gott sagen, daß es uns leid ist, und muß bitten, daß der liebe Gott uns ein besseres Herz gebe. Und wenn ich alles so beten wollte, dann sagte die Marianne: ›Mach, mach, ich habe auch noch anderes zu thun, als da bei dir zu stehen!‹ Und je mehr ich beten wollte, je mehr zankte sie und sagte mir solche Wörter, etwa Plaudertasche, und dann noch – wie sagt sie noch, Marie?«
»Nein, ich will es nicht sagen,« gab diese leise zurück.
»Ja und der Marianne kann man auch sagen, sie soll nicht mehr schimpfen,« eiferte Sineli weiter.
»Komm, Sineli, du wolltest ja beten und nun wirst du ganz zornig. Wir wollen nun die Marianne ganz beiseite lassen, sie meint es nicht böse,« sagte Sina beruhigend, »ich bleibe bei dir, so lange du beten willst, ich will auch sehr gerne dabei sein.«
Sineli war beruhigt und brachte nun alles, was ihr aus dem Herzen lag, dem lieben Gott vor. Sie hatte auch sehr viel zu erbitten und zuletzt kam auch noch ein Geständnis von Unrechtthun und Sineli bat recht demütig um Verzeihung und um ein gutes Herz. Als nun der Schluß da war, sagte das Kind rasch: »Nun bete du auch noch, Tante Sina.«
»Wer hat dich so beten gelehrt, Kind?« fragte diese dagegen.
»Marie und die Mama hat so mit uns gebetet, hat Marie gesagt, sie weiß es noch, und jetzt betest du mit uns.«
Sina zögerte. So aus dem Herzen zu Gott zu beten, wie das Kind gethan, das war sie nicht imstande. Der Weg war nicht offen für sie, wie lange hatte sie ihn verlassen! Sie suchte nach einem Abendlied, das sie ehemals gelernt hatte, sie kannte ja viele: Ob sie noch eines zusammenbringen würde? Vor den Kindern durfte sie doch nicht stottern und zu Schanden werden.
»Kannst du's etwa nicht recht, muß ich dir helfen, Tante Sina?« schlug Sineli vor, der die Pause zu lang wurde.
Das durfte nun doch nicht sein. Sina hatte ein Lied gefunden, sie hoffte im Hersagen die Verse noch zusammenzufügen, sie begann. Die Mühe, sich der Verse zu erinnern, wie sie folgten, war aber so groß, daß Sina sich gar nicht bewußt war, was sie sagte, sie suchte nur in der Erinnerung nach dem Klang der Worte. Einigemale mußte sie auch kleine Pausen machen, sie hatte mit aller Anstrengung die Worte zu suchen oder auch einige hineinzuflicken. Nun war sie zu Ende.
»Gute Nacht, Tante Sina, du hast nicht so gebetet, wie man muß,« sagte Sineli und legte sich aufs Ohr.
Sina gab die gute Nacht zurück und ging zu Maries Bettchen hin. Das Kind hielt sein Gesicht ins Kissen hineingedrückt und schluchzte leise.
»Was ist dir, Marie, warum weinst du?« fragte Sina freundlich.
»Ich kann es nicht sagen,« schluchzte Marie.
»Doch, doch, liebes Kind, und du sollst es mir auch sagen, was dich kränkt,« sagte Sina bestimmt.
Es war nicht Maries Art, zu widerstreben. Sie unterdrückte ihr Schluchzen und sagte leise: »Der Papa hat gesagt, nun sei es wieder ganz so, wie da noch die Mama bei uns war, wenn du uns zu Bett bringest, aber du hast nicht so gebetet, wie die Mama that.«
Sina verstand recht wohl die Verurteilung ihres seelenlosen Gebetes aus den Worten und aus dem Leid des Kindes. Sie suchte nach einem Trost und fing von der seligen Mutter zu erzählen an, wie lieb sie diese gehabt und wie gut und selbstlos diese treue Mutter schon als Kind und nachher ihr ganzes Leben lang gewesen sei. Nun ging der stillen Marie das ganze Herz auf. Sie fing auch an von der Mama zu erzählen und wie alles so anders gewesen sei, als sie noch da war. Sina mußte sich wundern, wie viele von den eigenen Worten der Mutter das Kind ausbewahrt hatte und wie diese in dem jungen Herzen fortarbeiteten. Wenn das so ist bei den kleinen Wesen, mußte sich Sina sagen, wie ungeheuer wichtig für das ganze Leben eines Menschen ist es doch, welche Worte und Eindrücke zuerst auf diesen ganz frischen Boden fallen und Wurzel fassen. Sina verließ das Zimmer der Kinder mit betrübtem Herzen. Welch unbedingtes Vertrauen setzte der Vater in sie, so als ob für die Kinder durch ihre Gegenwart das Beste gewonnen wäre, das ihnen zuteil werden könnte und wie unzulänglich hatte sie sich soeben den Kindern gegenüber erfunden, in einer Sache, die sie sich so ganz einfach gedacht hatte bei der Erziehung der Kleinen. Und anderes noch hatte sie heute schmerzlich berührt. Wie müßte es der feinfühlenden Marie sein, wenn sie ihre Kinder diesen Händen überlassen sehen müßte.
Sina trat in die Wohnstube ein, wo Wilhelm sich niedergelassen hatte und ihrer wartete.
»Ich bin froh, daß wir nun eine ungestörte Zeit zur Unterhaltung vor uns haben,« sagte sie, »ich möchte recht eingehend mit dir sprechen, Wilhelm.«
Ein wenig erschrocken meinte er gleich, die Kinder haben wohl irgend eine Unthat begangen. Aber Sina sagte beruhigend, indem sie sich zu ihm hinsetzte:
»Im Gegenteil, die Kinder haben mir eben eine Lehre gegeben, die ich sehr gut brauchen kann.« Wilhelm schaute sie zweifelnd an:
»Du wirst wohl ihnen die gute Lehre gegeben haben,« meinte er.
»Nein, es ist wie ich sage,« fuhr Sina fort. »Eben habe ich durch die Kinder verstanden, wie viel leichter es ist, zu unterrichten, als zu erziehen. Zum erstem braucht man nur recht gelernt zu haben, das richtige Mitteilen kommt mit der Übung, aber zum Erziehen haben wir nötig zu sein, alles Gute selbst zu sein, das wir heraus erziehen möchten. Diese Kleinen schon fühlen scharf, ob etwas aus unserm eigenen Wesen kommt, oder ob wir es nur für sie herstellen wollen, und nur das erstere macht einen lebendigen Eindruck aus ihr Herz. Es ist mir eine kostbare Lehre eben jetzt, da ich vom Unterrichten zum Erziehen übergehen möchte; ich habe erst bei mir damit anzufangen. Nun aber, was ich auf dem Herzen habe, dir zu sagen, Wilhelm, ist die Bitte, daß du für deine Kinder jemand ins Haus nehmest, eine Frau mit der Bildung und Erziehung, wie du sie für deine Kinder wünschen mußt. Du darfst nicht länger warten, deine kleine Sineli hat erstaunlich offene Augen und Ohren und die brave Marianne, der gewiß in ihren Leistungen in Haus und Küche nicht leicht jemand gleich kommt, ist wirklich keine Erzieherin. Denk an deine Marie, wie würde sie ihre Kinder beschützt und behütet haben, daß nichts Rohes und Gemeines an sie herankomme!«
Wilhelm sah sehr niedergeschlagen aus.
»Ich weiß es wohl, ich weiß ja alles wohl, aber ich kann nichts machen,« sagte er verzagt. »Wer wird zu einem langweiligen alten Mann kommen, wie ich jetzt geworden bin und zwei Kinder übernehmen, die nun schon so ungezogen sind, wie keine andern. Marie weint über alles und schrickt vor allen Menschen zurück und Sineli ist ein wahres enfant terrible, das alles sagt, was ihm in den Sinn kommt und sich weder vor Mensch noch Tier, noch vor sonst etwas fürchtet. Und dazu ist die Marianne da, die regieren will und die kann ich nicht fortschicken, sie hat meine Marie mit übermenschlicher Anstrengung und Treue gepflegt und die Kinder zu verlassen würde ihr das Herz brechen.«
»Nein, Wilhelm, so schrecklich steht es nun wirklich nicht mit deinem Hause,« sagte Sina bestimmt. »So ungezogen, daß niemand Hand anlegen möchte, sind deine Kinder nicht. Man kann sie sehr lieb gewinnen und mit Liebe wäre Maries schüchternes Wesen und Sinelis Unerschrockenheit sehr wohl zu leiten. Du selbst bist doch auch nicht so erschrecklich, daß nicht mit dir zu leben wäre und Marianne müßte nur vernünftig behandelt und nicht gleich gemeistert werden, sie hat ein Recht in der Hand zu behalten, was sie gut macht. Du darfst auch glauben, Wilhelm, es gibt unter uns Frauen und Mädchen schon noch Leute, die etwas auf sich nehmen, um irgendwo zu helfen, wo es not thut, eine Lücke auszufüllen, die wirklich nur eine tüchtige Frau ausfüllen kann. Ich denke dabei an eine Bekannte, die für dein Haus die allerbeste Hilfe wäre, die keine Anstrengung scheute, eine große Lücke ausfüllen zu können und die ein Herz für deine Kinder hätte.«
»Ach Sina,« sagte Wilhelm noch mit derselben Verzagtheit, »ich bin dir ja unsäglich dankbar, daß du das große Interesse für mich und meine Kinder zeigst. Aber über deine Worte kann ich mich nicht recht freuen. Kaum bist du bei uns und machst schon am ersten Tag das ganze Haus zu etwas Neuem, daß man sich darin so wohl fühlt wie noch nie, so sprichst du schon von einer andern, die du an die Stelle bringen wolltest, wo du stehst, daß es so ist, als wolltest du gleich wieder verschwinden. Warum auch, Sina, jetzt bist du ja frei, willst du denn nicht eine Zeitlang bei uns bleiben?«
»Gewiß will ich das thun und sehr gern, ich kann dir noch mehr sagen und du weißt es, Wilhelm, ich sage nicht, was ich nicht denke, es würde mir gar nicht schwer werden, gleich in deinen Haushalt einzutreten und als Tante deine Kinder zu erziehen, wenn du hier bleiben könntest. Aber zum Winter mußt du nach der Stadt zurückkehren, da hast du dein Geschäft und deine Heimat und dahin kann ich dir nicht folgen, das fühlst Du selbst, du mußt eine Erzieherin haben, die für immer zu deinem Hause gehört.«
»Wir wollen doch für einmal nicht mehr davon sprechen, Sina,« bat Wilhelm, »sonst habe ich immer das Gefühl, als stehest du schon auf der Schwelle zum Weggehen.«
Sina versprach, die Sache für einmal ruhen zu lassen. Als sie am späten Abend sich zurückzog, trat sie noch einmal in die Stube der Großmutter ein. So nichtig und gedemütigt hatte sie sich noch nie empfunden, wie heute. Da war dieser Vater mit seinem unbedingten Vertrauen in sie, als der besten Pflegerin seiner Kinder und bei der ersten nahen Berührung mit diesen hatte sie erfahren müssen, wie unbegründet dies Vertrauen war. Könnte sie doch jetzt die Großmutter hören, die würde Rat wissen, und wie vor Zeiten das Enkelkind aus den sichern Weg leiten, auf dem sie selbst wandelte. Den ganzen Tag durch hatte das Wort sie begleitet, das, wie Sina bestimmt annahm, die Großmutter noch für sie bezeichnet hatte. Wie war der verlassene und verlorne Weg wieder zu finden? Sie fragte sich aufs neue, als sie wieder von all den bekannten Dingen der Großmutter umgeben war, und ein Heimweh nach allem, was die Großmutter war und lebte, sie ergriff. Sina las noch einmal ihren Spruch: »Bringe uns, Herr, wieder zu dir, daß wir wieder heim kommen!« Aber da lag ja der Weg gerade vor ihr, die Worte enthielten ihn ganz klar: Beten sollte sie, zu dem Herrn rufen, den sie so lange vergessen hatte, daß er sie nach der Heimat leite. Mit einem tiefen Verlangen, ihrem Herrn wieder anzugehören und wieder heim zu kommen, kniete Sina am Bett ihrer Großmutter nieder, und nun ihr ganzes Herz dem Herrn zugewandt war, kamen ihr auch die Worte zum Gebet leicht auf die Lippen, sie hatte nicht, wie noch am frühern Abend, nach einem Gebet zu suchen. Aus der Tiefe des Herzens heraus konnte Sina beten, so, wie sie noch nie gebetet hatte. Ihr war's als fließe ein Strom neuen Lebens durch ihr Herz, als sie aufstand; eine Freudigkeit zum Weiterleben war in ihr aufgestiegen, wie sie solche seit langen Jahren nicht mehr gekannt hatte. Erst tief in der Nacht verließ Sina die stille Stube der Großmutter, das Herz voller Dank und froher Zuversicht, denn sie wußte nun den Weg, der aus dem Verzagen hinaus zu Trost und Frieden führt, und das Herz kräftigt, wenn es ermatten will im Leid und Weh des Lebens.