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8

Glauben Sie bitte nicht, daß ich mich um Dinge kümmern will, die mich nichts angehen. Auch meine ärgste Feindin kann mir nicht nachsagen, daß ich mich jemals in fremde Angelegenheiten eingemischt habe. Ich hoffe, Sie verstehen mich, Fräulein O'Brien!«

Eunice Garney hielt einen Augenblick inne, aber bevor Tam noch eine Frage einwerfen konnte, fuhr sie fort: »Aber in diesem besonderen Fall erlaubt es mir mein Gewissen nicht, ruhig zu bleiben, es trieb mich dazu, anzurufen und zu bitten, Sie heute besuchen zu können, um Ihnen von einem kleinen, seltsamen Zwischenfall zu erzählen, der sich an dem Abend, an dem Clyde Kirby ermordet wurde, ereignet hatte, kaum groß genug, daß ich deswegen zur Polizei gehen könnte, denn alles in allem war das, was geschah, nur eine unbedeutende Kleinigkeit. Aber nachdem ich gelesen hatte, daß 'die berühmte Tam O'Brien an diesem Fall mitarbeite, da sagte ich mir, das ist jemand, der verstehen wird, warum ich mich scheue, etwas zu erzählen, was vielleicht eine Freundin in Schwierigkeiten bringen könnte. Deswegen versuchte ich, Sie zu sprechen, und freue mich, jetzt dazu Gelegenheit zu haben.«

Tam gelang es, den Redefluß für einen Augenblick zu hemmen. »Vielleicht entsinnen Sie sich, daß ich zusammen mit McCoy ins Theater kam. – Natürlich interessiert es mich sehr, etwas über den Zwischenfall zu erfahren, von dem sie sprachen. Bitte, erzählen Sie.«

»Gern, es liegt mir viel daran, mit Ihnen darüber zu sprechen. Heute ist schon Montag, und ich trage diese Sache seit Freitagabend mit mir herum. Schon von Anfang an ging an diesem Abend alles schief. Ward und Edith Hunneker hatten mich zum Essen eingeladen, nachher wollten wir ins Theater gehen, und irgendein Freund von ihnen sollte der vierte sein. Aber in letzter Minute sagte dieser Freund ab, ich habe vergessen, was der Grund seiner plötzlichen Absage war.

Natürlich waren wir nicht sehr erfreut, daß wir jetzt eine ungleiche Zahl waren, und Edith telefonierte an jeden Bekannten, der ihr im Augenblick gerade einfiel, um jemand zu finden, der noch nicht vergeben war. Aber es schien, als ob alle Mühe umsonst wäre, und wir fühlten uns schon ganz entmutigt. Da sprach, als wir mit dem Essen fertig waren, Roger Kent bei Ward in irgendeiner geschäftlichen Angelegenheit vor. Er ist ein schrecklicher Mensch, aber immerhin besser als keiner, deswegen fragte ich auch ihn, ob er schon ›Piratengold‹ gesehen habe, und als er verneinte, erzählte ich ihm, daß wir von einem Herrn, der mit uns die Vorstellung besuchen wollte, im Stich gelassen wurden. Jetzt konnte Edith natürlich nicht anders, als ihn zu bitten, mit uns zu kommen. Aus irgendeinem Grunde schien sie aber außerordentlich aufgeregt zu sein und starrte mich in der unhöflichsten Art an. Ich habe mich furchtbar darüber geärgert, denn ich bin sehr empfindlich.«

»Sie wollte also nicht, daß Roger Kent sich anschloß?« fragte Tam.

»Allem Anschein nach nicht. Sie war sehr kurz angebunden; auf dem Weg zum Theater sprach sie kaum ein Wort, und als wir uns in ihrer Loge befanden, sah sie sehr verstimmt aus. Es zeugt von sehr schlechter Kinderstube, seine Gefühle derart zur Schau zu stellen, besonders dann, wenn man die Gastgeberin ist. Ich versuchte nach Möglichkeit, mir durch ihre schlechte Laune nicht den Abend verderben zu lassen, tat, als wäre nichts vorgefallen, und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf Clyde Kirby, als ich ihn im Orchestersessel mit einem sehr hübschen Mädchen sitzen sah.

»Ich hatte noch niemals vorher diesen Mann getroffen, aber er war wir bereits ein paar Mal in Restaurants gezeigt worden, und sein Bild war so oft in den Zeitungen. Deswegen kannte ich ihn schon vom Ansehen. Wir sprachen ein paar Augenblicke über ihn, dann fing das Finale des zweiten Aktes an, und ich glaube, keiner von uns sah nach ihm hin, bis der Vorhang wieder hinunterging und die Frau neben ihm aufschrie.

Auch dann wurde es uns nicht klar, was geschehen war, und ich wandte mich an Roger Kent, um ihn zu fragen, was denn los sei. Bis an mein Lebensende werde ich nicht vergessen, wie dieser Mann aussah! Sein Gesicht war grünlichgrau und hatte einen erschreckenden Ausdruck, so wie ein Mensch wohl aussehen mag, der unerwartet auf ein Gespenst gestoßen ist. Er hörte nicht, was ich sagte, und wußte auch nicht, daß ich ihn anschaute. Er saß da und starrte mit entsetzten Augen geradeaus.

Ich konnte ihn nicht mehr ansehen und wandte mich wieder den Vorgängen im Parkett zu. Später war er so wie immer und tat, als wäre nichts geschehen.

»Und war er den Rest des Abends wieder ganz normal?«

»Nein, er schien sehr nervös und aufgeregt und weigerte sich, mit uns noch zusammenzubleiben. Als die Polizei das Publikum entließ, begleitete er uns bis zu Hunnekers Wagen und verabschiedete sich. Ich sah mich noch einmal um, als wir wegfuhren, er stand immer noch auf dem Bürgersteig, mit seinem Hut in der Hand, und, soweit ich sehen konnte, rührte er sich nicht vom Fleck, solange wir noch in Sicht waren. Glauben Sie, daß er das Chorgirl sah, daß den Schuß abgefeuert hat, oder was kann ihn denn sonst so schrecklich aufgeregt haben?«

»Vielleicht ist es nur ein körperliches Leiden, das ihm im Augenblick zu schaffen machte,« bemerkte Tam, ohne an ihre Worte zu glauben. Sie erinnerte sich noch zu lebhaft an ihren eigenen Eindruck, den sie von Kent hatte, als er McCoy von Clyde Kirbys Besuch in seinem Büro und dem Erpresserbrief erzählte.

»Oh, glauben Sie wirklich, daß der Vorfall sich so erklärt?« Eunice Garneys Stimme klang etwas verstimmt. Sie hatte ohne Zweifel vermutet, daß ihre Aussage der Untersuchung eine neue Wendung, geben würde, und besonders hatte sie damit gerechnet, daß ihr Name in dem jetzt berühmten Mordfall genannt werden würde.

Tam überlegte.

»Wir können das besser beurteilen, wenn ich mit ihm gesprochen habe. Darf ich Ihr Telefon benutzen, um ihn anzurufen?«

»Aber natürlich.«

Tam erfuhr, daß Kent nicht da sei. Auf eine weitere Frage sagte man ihr, daß er für diesen Tag nicht mehr im Büro erwartet würde, da er erkrankt sei und zu Hause bleiben wollte. Tam beschloß sofort, ihn dort aufzusuchen, hütete sich aber, davon zu sprechen. Nicht ohne Grund fürchtete sie, daß Eunice Garney den Versuch machen würde, sich ihr anzuschließen.

Als sie bei Kent vorsprach, wurde ihr gesagt, daß Herr Kent zu krank sei, um jemand empfangen zu können. Sie ließ sich nicht abweisen, ihr Auftrag sei von äußerster Wichtigkeit. Schließlich wurde Tam in ein gediegen und geschmackvoll ausgestattetes Wohnzimmer geführt, und man bat sie, einen Augenblick auf Frau Kent zu warten.

Nach kurzer Zeit erschien eine große, auffallend schöne Dame, und Tam erkannte in ihr sofort das Original der Fotografie, die sie auf dem Schreibtisch des Rechtsanwaltes gesehen hatte.

»Mein Mann kann heute niemand empfangen, Fräulein …«, sie schaute auf die Visitenkarte, die Tam dem Diener gegeben hatte, »O'Brien. Aber da Sie sagten, daß der Auftrag sehr dringend sei, dachte ich, es sei das beste, wenn ich selber mit Ihnen spreche, um irgendwelche wichtigen Mitteilungen weiterzuleiten.«

»Herr Kent ist doch nicht ernstlich krank?«

»Oh, nichts als eine Erkältung. Darf ich fragen, warum Sie ihn sprechen wollten?«

»Ich fürchte, es ist eine zu vertrauliche Angelegenheit … etwas, was mit dem Morde an Clyde Kirby zusammenhängt.«

»Ah!« Es war mehr ein tiefes Atemholen als ein Ausruf der Überraschung. »Ich wüßte kaum, warum Sie mit Roger darüber sprechen wollen. Er war doch nur einer aus dem großen Publikum, einer von vielen.«

»Ich möchte mit ihm in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt, nicht als Zuschauer sprechen. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß er der Polizei Informationen über Clyde Kirby gab.«

»Oh, nein, nein … Sie irren sich, er hat ja niemals in seinem Leben mit Kirby gesprochen.«

»Sind Sie dessen ganz sicher?«

»Vollkommen, denn … denn, oh, er hätte mir bestimmt gesagt, wenn er den gekannt hätte, von dem jetzt jeder spricht.«

»Rechtsanwälte geben die Geheimnisse ihrer Klienten sehr selten preis, nicht einmal der eigenen Ehegattin, der man sonst alles anvertrauen könnte.«

»Klienten?« Paula Kents Hand streckte sich aus, als ob sie im Dunkeln herumtastete, bis sie die Lehne eines Stuhles berührte, während ihre weit geöffneten Augen fassungslos im Raum umherirrten, »Klient! Clyde Kirby konnte nie sein Klient gewesen sein, ich sage Ihnen noch einmal, Roger hat ihn niemals getroffen!«

Tam setzte sich Frau Kent gegenüber.

»Wir sprechen aneinander vorbei, Frau Kent. Ich weiß von Ihrem Gatten, daß die beiden Männer sich gekannt haben.«

»Ich glaube, Sie irren sich!«

»Weil Sie glauben, daß nur Sie wissen, wer Clyde Kirby ermordet hat?«

Einen Augenblick legte Paula ihre Hand über die Augen, als ob sie sie verbergen wolle – und alles, was sie verraten konnten – vor diesen großen, klaren Augen, die in ihr Innerstes zu blicken schienen. Dann ließ sie ihre schlanke Hand fallen, und ein Ausdruck starrer Entschlossenheit legte sich über ihre feinen Züge.

»Wäre es nicht besser, wenn Sie warten, bis es meinem Manne gut genug geht, um mit ihm selber zu sprechen? Ich zeigte ihm Ihre Karte, und er sagte, daß er die Unterredung bis morgen aufschieben müsse. Das wäre doch sicherlich das beste.«

»Ohne Zweifel; aber es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir schon heute die Eindrücke, die Sie von ›Piratengold‹ haben, schildern wollten.«

»Meine Eindrücke? Ich habe aber die Aufführung noch gar nicht gesehen!«

»In gewisser Beziehung stimmt das, man kann ja eine Aufführung nicht sehen, wenn man selber mitspielt; aber sicherlich hat doch Fräulein Smith die meisten Nummern von den Kulissen aus beobachtet?«

»Sie … ich verstehe wirklich nicht, was Sie damit sagen wollen.«

»Sie haben vielleicht gelesen, daß Clyde Kirby etwa eine Woche vor seinem Tode eine allen unbekannte Dame in den Piratenchor einstellte. Er nannte sie »Fräulein Smith«, aber niemand glaubte, daß dies ihr wirklicher Name war. Die Tatsache, daß keiner etwas von ihr weiß, macht es der Polizei unmöglich, auf ihre Spur zu kommen, nachdem sie am Freitagabend nach dem zweiten Akt verschwunden war.«

»Sie wiederholen nur, was die Zeitungen bereits gebracht haben …«

»Aber die Leute glauben, daß ihr Verschwinden in irgendwelcher Verbindung mit dem Mord steht, während ich annehme, daß sie Ihren Gatten in einer Proszeniumsloge sah und fürchten mußte, von ihm erkannt zu werden!«

»Sie glauben doch nicht …«

»Daß Sie das verschwundene mysteriöse Girl sind? Oh, ich bin dessen fast sicher! Aber wenn Sie es vorziehen, lieber mit dem Inspektor zu sprechen …«

»Keineswegs! Wenn ich schon sprechen muß, dann spreche ich lieber mit Ihnen!«

»Es wäre klüger gewesen, wenn Sie sofort gekommen wären. Ihr Verschwinden und Ihr Schweigen haben einen denkbar schlechten Eindruck gemacht.«

»Aber verstehen Sie denn nicht, daß ich schweigen mußte! Ich konnte es Roger nicht wissen lassen.«

»Sie können doch wirklich nicht annehmen, daß die Polizei glaubt, Ihre Flucht siehe mit diesem verhängnisvollen Schuß über das Rampenlicht hinweg in gar keiner Beziehung.«

»Wie haben Sie denn die Wahrheit erraten?«

»Auf gut Glück, und außerdem habe ich Informationen gesammelt, die der Polizei noch nicht bekannt sind.«

»Bitte, erzählen Sie mir das doch, und ich verspreche Ihnen nachher, das wenige zu sagen, was Sie noch nicht wissen sollten.«

»Zuerst stellte ich fest, daß Sie nicht dem Theaterberuf angehören. – Jemand sagte nämlich, man hielte Sie, obwohl Sie wundervoll tanzen und eine herrliche Stimme besitzen, für eine Amateurin. Eine andere wieder beschrieb ihre Haltung und ihre Redeweise als etwas ganz Besonderes, ruhig und zurückhaltend. Dann bestand eine dritte freiwillige Zeugin darauf, daß Sie das seien, was man eine »Dame« nenne, und nachdem ich diese drei Beschreibungen zusammengefaßt hatte, entschied ich, daß Sie höchstwahrscheinlich die ›Piratengold‹-Aufführung zum Spaß mitgemacht hatten.«

»Das stimmt ganz genau, zum Spaß,« Paula Kent nickte zustimmend. »Jemand hat aus Freude an Abenteuer diese Sache angeregt und auch durchgeführt! Aber Sie haben mir ja noch nicht erzählt, wie Sie es entdeckt haben.«

»Zuerst glaubte ich, daß Sie höchstwahrscheinlich irgendeine Studentin seien, die einer Sensation nachjagt, und heute ist mir klar geworden, daß dieser Streich ernstere Folgen haben könnte, für Sie, meine ich. Sehen Sie, ich habe Ihren Gatten getroffen und auch gesprochen.«

»Dann haben Sie auch schon einen Begriff, wie er einen solchen Streich auffassen würde! Wie wenig würde er verstehen, daß es seine eigenen, verstaubten Anschauungen waren, die mich zu diesem heimlichen Aufruhr trieb! Aber ich habe Sie unterbrochen, bitte fahren Sie fort.«

»Man erzählte mir, wie seltsam sich Herr Kent am Ende des zweiten Aktes betragen habe, er habe ausgesehen, als ob er ein Gespenst, ein Phantom gesehen habe.«

»Hat er auch!« Der Schatten eines Lächelns spielte auf Paulas Lippen. »Den Geist seiner Frau, die er in weiter Ferne wähnte. Natürlich hat Ihnen das Eunice Garney gesagt, keiner von den Hunnekers hätte mich bloßgestellt. Aber trotzdem sehe ich immer noch nicht ein, wie Sie es haben erraten können.«

»Ich war dessen auch gar nicht sicher, bis ich Sie sah, denn Sie entsprechen so vollkommen den Beschreibungen, die mir von Fräulein Smith gegeben worden waren, daß mir nur recht geringe Zweifel blieben, und was das Raten anbetrifft … nachdem ich gehört hatte, daß Herr Kent im Theater einen sonderbaren Anfall gehabt habe, fiel mir ein, daß er mir am nächsten Tag erzählte, seine Frau habe einen auswärtigen Besuch gemacht, und das brachte ich mit dem in Zusammenhang, was ich bereits über das mysteriöse Girl wußte: daß sie keine Schauspielerin von Beruf sei, daß sie Freitagnacht zu nervös gewesen sei, um ihre Pistole in dem Piratenchor abzuschießen, daß sie sich bei ihrer Flucht nicht mal die Zeit zum Umkleiden nahm. Es ließ sich alles ziemlich einfach zusammenreimen. Ich nehme an, Sie haben Herrn Kent in der Loge von Hunnekers gesehen und glaubten, daß er Sie erkannt hatte. Sie rannten weg, weil Sie befürchteten, er würde in der Zwischenpause hinter die Bühne kommen, um sich Gewißheit zu verschaffen. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie es Ihnen gelang, das Theater ganz unbeobachtet zu verlassen?«

»Ich schlüpfte durch den Eingang hinter der rechten Proszeniumsloge hinaus. Da ich glaubte, daß Roger mich gesehen habe, wagte ich es nicht, auch nur eine Sekunde zu verlieren, deswegen ergriff ich schnell einen langen Umhängemantel, den ich im linken Seitenflügel gelassen hatte, um ihn zwischen den einzelnen Nummern umzunehmen; er bedeckte mein Kostüm, ich nahm das erste Auto, das vorbeikam, und in meinem Hotel bemerkte keiner etwas Besonderes.«

»Als Sie das Theater verließen, wußten Sie da schon etwas über Kirbys Tod?«

»Nein.«

»Späterhin mußten Sie doch erfahren haben, daß er tot war, denn sonst würden Sie ja nicht riskiert haben, eins seiner Mädchen zu bestechen, um in sein Studierzimmer zu kommen.«

»Um Himmels willen, gibt es denn etwas, was Sie nicht Über diese Nacht wissen?« Paulas Ton war voller Bestürzung. »Als ich diesen Absatzflecken von meinem Schuh vermißte, fiel mir ein, daß ich ihn in Kirbys Studierzimmer verloren haben mußte, denn ich erinnere mich daran, daß mein Absatz sich in einem Teppich in der Nähe der Tür verfing. Aber bis zum heutigen Tage habe ich niemals geglaubt, daß so kleine Hinweise tatsächlich zu einer Entdeckung führen können.«

»Ist auch gar nicht der Fall!« Tam lachte leise über den furchtsamen Ausdruck im Gesicht der anderen. »Der kleine Absatzfleck bewies uns nur, daß Kirbys mitternächtliche Besucherin eine Frau gewesen ist, es half uns aber nicht, sie ausfindig zu machen.«

»Woher wissen Sie denn also, daß ich es war, die das Dienstmädchen bestochen hat?«

»Ich hatte erfahren, daß der Eindringling nur ein paar Briefe und zwei Fotografien von sich selbst mitgenommen hatte. Wer anders, als das mysteriöse Girl hätte so bedacht darauf sein können, alles zu entfernen, was ihre Identität verraten könnte?«

»Kein Wunder, daß Sie so berühmt sind, Fräulein O'Brien, ich glaube, Sie sind furchtbar klug.«

»Sehr nett von Ihnen, das zu sagen, aber ich fürchte, daß ich mich bis jetzt in diesem Fall nicht sehr ausgezeichnet habe. Nun zur Hauptfrage: Sie haben mir ja noch gar nicht erzählt, wie Sie Kirbys Tod erfuhren?«

»Edith Hunneker rief mich in meinem Hotel an, sobald sie nach Hause gekommen war.«

»Dann wußte sie also, wo Sie sich aufhielten?«

»Natürlich, denn durch Edith war die ganze Sache arrangiert worden, und es war auch nicht ihre Schuld, daß Roger sich Freitagabend in ihrer Loge befand, Eunice Garney hatte ihn mitgeschleift.«

»Das hörte ich schon von ihr.«

»Sehen Sie, Edith und ich waren stets gute Freundinnen, obwohl Roger sie nicht gar zu gern mochte, da er sie für leichtfertig hielt und glaubte, daß sie einen schlechten Einfluß auf mich habe. Nun, bald nachdem das ›Piratengold‹ zum ersten Mal gespielt worden war, lernten die Hunnekers die drei Hauptdarsteller Terry Nagle, Jules Darcy und Humphrey Tearly kennen. Sie luden die drei in ihre Wohnung ein, und dort wurde ich mit ihnen bekannt gemacht.«

»Das heißt also, daß alle drei den Namen des mysteriösen Girls kannten?«

»O ja, aber obwohl keiner von ihnen jemals Roger getroffen hat, so wußten sie doch alle gut, was für ein strenger Sittenrichter er ist, und was es für mich bedeutet hätte, wenn er herausbekommen sollte, daß ich im ›Piratengold‹ mitspiele. Anscheinend haben sie als wahre Freunde und Kavaliere geschwiegen. Ich hoffe, daß sie dadurch keine Unannehmlichkeiten haben.«

»Das hängt von der Polizei ab. Ihr Stillschweigen hat eine Verzögerung und eine Menge Extraarbeit bedeutet.«

»Werden Sie es ihnen sagen, ich meine der Polizei? Alles … was ich Ihnen erzählt habe?«

»Mir bleibt keine Wahl, denn wie Sie wissen, arbeite ich mit ihr Hand in Hand.«

»Das bedeutet meinen absoluten Ruin, Roger wird mir niemals verzeihen!«

»Ist er denn so furchtbar streng? Sie haben doch schließlich nichts Unrechtes getan.«

»Schlimmer als Unrecht! Nach seiner Auffassung etwas absolut Unmögliches. Wenn er alles erfährt, wird er sich höchstwahrscheinlich von mir scheiden lassen.«

»Wie konnten Sie aber diese Extratour wagen, wenn Sie wußten, wie er darüber denken wird?«

Paula überlegte die Frage, bevor sie antwortete. »Ich fürchte, Sie werden mich nicht verstehen, aber hören Sie: ich habe ihn vor drei Jahren seines Geldes wegen geheiratet, das ist kein schönes Bekenntnis, aber es ist wahr. Ich hatte mich immer nach Geld gesehnt und bin selbst stets arm gewesen. Ich war seine Stenotypistin, und als er mir den Heiratsantrag machte, dachte ich nur daran, durch die Ehe mit ihm von der langweiligen Arbeit und der immerwährenden Knauserei befreit zu sein, und mir wurde nicht klar, was der Verlust jeglicher Freiheit für mich bedeuten könne. Nun, er bestand sogar darauf, mir meine Bekannten auszuwählen, meine Vergnügungen, sogar meine Kleider vorzuschreiben, – ich hatte kein eigenes Leben mehr vom Tag unserer Hochzeit an, und späterhin hat mich die Unterdrückung jedes jugendlichen, fröhlichen Impulses, fast zur Verzweiflung getrieben.

Edith Hunneker verstand das alles, und eines Nachmittags, als Darcy und Tearly bei ihr waren, die Clyde Kirby mitgebracht hatten, sprachen wir viel vom Theater, und ich sagte, wie reizvoll solch eine Tätigkeit sein müsse. Da schlug Jules Darcy mir vor, es doch selber einmal zu probieren, mehr spaßeshalber. Edith griff den Gedanken sofort auf, und wir überlegten, wie wir das wohl einrichten könnten. Ich habe eine Kusine, die in Norfolk in Virginia lebt, glücklicherweise mißbilligt Roger diese Verwandtschaft nicht. Deswegen wandte er auch nichts ein, als ich sagte, daß ich zu meiner Erholung ein paar Wochen zu meiner Kusine fahren würde.

Er begleitete mich zum Zuge. Ich stieg an der nächsten Station wieder aus, kam sofort wieder nach New York zurück und ging in ein Hotel, in dem ich ein Zimmer unter einem anderen Namen gemietet hatte. Ich weihte meine Kusine schriftlich ein und bat sie, mir Rogers Briefe ins Hotel zu senden, und über sie schrieb ich auch an ihn. Oh, es machte so viel Spaß, zu den Proben zu gehen und dann im Chor mitzuwirken. Ich nahm Unterricht im Tanzen, und die Arbeit fiel mir nicht schwer. Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel Freude mir die Sache machte.

Dann kam der Freitagabend. Ich sah Roger nicht vor dem Ende des zweiten Aktes, denn Edith hatte mich im Hotel nicht angetroffen, und ich wußte auch nicht, daß sie mit einer Gesellschaft ins Theater kommen würde. Ich glaube, seine Augen müssen die meinen angezogen haben, ich bemerkte, wie er unverwandt auf mich blickte, mit einem Ausdruck furchtbaren Schreckens. Ich war vollständig fassungslos, denn ich weiß, wie schrecklich er sein kann, wenn er in Wut gerät. Es war unmöglich, in diesem Augenblick von der Bühne wegzurennen, aber kaum war der Vorhang gefallen, so warf ich meine Pistole, die ich nicht einmal abgefeuert hatte, in Ragans Requisitenkiste, und verließ fluchtartig das Theater.

Im Auto kam mir deutlich zum Bewußtsein, daß ein Bruch mit Roger die Rückkehr in die alte Armut bedeuten würde. Deswegen sandte ich an meine Kusine ein Telegramm und bat sie, als erstes morgens an Roger zu telegrafieren und ihm mitzuteilen, daß ich mich entschlossen hätte, früher als geplant nach Hause zu kommen. Später rief mich Edith wegen Clyde Kirby an, und mir wurde klar, wie stark meine Flucht den Verdacht auf mich lenken würde. Ich war völlig verzweifelt. Es mußte mir auf alle Fälle gelingen, Fräulein Smiths Identität als ein Geheimnis vor der Polizei und der Öffentlichkeit zu wahren.

Dann erinnerte ich mich daran, daß ich Clyde Kirby zwei Briefe geschrieben hatte, einen wegen der Proben, den anderen wegen eines Sonntagsausflugs, den wir mit Hunnekers unternahmen, wobei er auch eine Aufnahme von mir machte. Unter Kirbys Nachlaß hätte man meine Briefe und das Bild gefunden, und wenn es in den Zeitungen erschienen wäre, nun, das hätte für mich das Ende bedeutet. Roger ist absolut unnachgiebig, wenn er fühlt, daß jemand seine Würde verletzt. Ich mußte die beiden Briefe und das Bild haben. Sie wissen, wie es mir gelang, – und bis heute fühlte ich mich vollkommen sicher.«

»Sie befürchteten also niemals, daß die Männer sprechen würden?«

»Nein, außerdem sprach Jules Darcy telefonisch mit Edith, und bat sie, mir zu versichern, daß sie alle in jedem Falle meinen Namen verschweigen würden.«

»Wenn Ihr Gatte Sie aber in dem Piratenchor erkannt hat?«

»Als ich am nächsten Tag erschien, offiziell aus Norfolk zurückgekehrt, redete ich ihm ein, daß er von einer zufälligen Ähnlichkeit getäuscht worden sein müsse. Ich glaube nicht, daß er jetzt auch nur noch ein Fünkchen Verdacht hegt. Oh, es war so grausam von Ihnen, hierherzukommen und mir ein Geständnis abzuzwingen, – nun wird er hören, was ich getan habe, und sich von mir scheiden lassen.«

Ihre Furcht schien so echt, daß Tams Mitleid erregt wurde. Sie versuchte, Paula Kent Trost zu spenden.

»Vielleicht wird es die Polizei nicht für nötig halten, der Presse alle Einzelheiten bekanntzugeben; ich werde mein möglichstes versuchen, Ihren Namen aus der Affäre fernzuhalten,« versprach sie.

»Wie gut von Ihnen!« Paula ergriff ihre Hand. »Wenn Sie es können, will ich Ihnen bis in alle Ewigkeiten dankbar sein, und es würde mich so freuen, wenn ich Ihnen meine Dankbarkeit irgendwie beweisen dürfte, durch irgendein Geschenk.«

»Darum ist es mir nicht zu tun.« Tam war unangenehm berührt. »Außerdem weiß ich auch noch gar nicht, wie weit ich mein Versprechen halten kann. Man wird Sie über den Freitagabend vernehmen wollen.«

»Aber ich habe doch wirklich alles gesagt.« Paula protestierte mit einer solchen Heftigkeit, daß sie dadurch Tam etwas mißtrauisch machte.

»Über Ihre persönlichen Eindrücke und Handlungen gewiß! Aber vergessen Sie nicht, daß Sie in Ihrer Position auf der äußersten linken Seite den ganzen Chor übersehen konnten, und die Polizei hofft, daß Sie irgendwelche ungewöhnlichen Vorgänge beobachtet haben, als Clyde Kirby erschossen wurde.«

»Ich habe aber nichts gesehen, wirklich, – niemand hat irgend etwas Verdächtiges getan, als …«

»So, Sie verheimlichen also etwas, was früher an diesem Abend vorgefallen ist?« Tam schloß dies aus Paulas Benehmen und dem unachtsam ausgesprochenen ›als‹.

»Ach, bitte – lassen Sie mich! Der Gedanke, daß mein Mann jeden Augenblick mein Geheimnis entdecken kann, treibt mich fast zum Wahnsinn. Er ist im Hause; stellen Sie sich die Folgen vor, wenn er uns zuhört. Bitte, gehen Sie, ich weiß gar nicht, was ich sage.«

»Ja, die einzige Möglichkeit, mich loszuwerden, ist völlige Offenheit. Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie noch zurückhalten«, sagte Tam im ernsten Ton. »Ich werde Sie nicht verlassen, bevor ich die ganze Geschichte gehört habe.«

»Aber es ist doch solch eine Kleinigkeit, – nur eine Extra-Pistole …, bitte lassen Sie das doch für ein anderes Mal«

»Wir haben durch Sie schon sehr viel Zeit verloren, es wäre in Ihrem Interesse besser, wenn Sie mir sofort alles über diese Extra-Pistole erzählen wollten.«

»Es könnte aber Verdacht erregen gegen … Pst, da kommt jemand!«

Ein gemessener Schritt kam die Halle entlang, die Vorhänge teilten sich, und Roger Kent erschien in bequemer Hauskleidung.

»Der Diener sagte mir, daß du Besuch hast.« Seine hellen Augen blickten mißbilligend auf Paula und wanderten dann zu Tam. »Fräulein O'Brien?!« Seine Stimme klang überrascht. »Warum hat man mir nicht gesagt, daß Sie hier sind?«

Paula erhob sich, ging nah an ihn heran, in fast unterwürfiger Haltung.

»Ich dachte, daß du nicht gestört sein wolltest, Liebling …«

»Das vermagst du nicht zu beurteilen! Man hätte es wir sofort sagen sollen.« Dann zu Tam: »Sind Sie wegen der Kirby-Angelegenheit hier?«

»Nur um zu fragen, ob Sie mir den Umschlag zeigen können, in dem der lavendelfarbene Brief geschickt wurde.«

Er dachte angestrengt nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Kirby nahm den Brief, so wie Sie ihn gesehen haben, aus seiner Brieftasche.«

»Zu schade! Wir hofften nämlich, aus dem Poststempel etwas feststellen zu können.«

»Also ist man dem Absender noch nicht auf die Spur gekommen?«

»Noch nicht.«

»Kann ich Ihnen sonst irgendwie dienlich sein?«

»Nein, danke!« Tam verabschiedete sich und verstand immer mehr Paulas geheime Auflehnung. Ein Leben mit diesem Manne mußte trotz des Reichtums eine Qual sein.


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