Ernst Stadler
Der Aufbruch
Ernst Stadler

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Ernst Stadler

Meer

1914

Ich mußte gleich zum Strand. In meinem Blute scholl

Schon Meer. O schon den ganzen Tag. Und jetzt die Fahrt im gelbumwitterten Vorfrühlingsabend. Rastlos schwoll

Es auf und reckte sich in einer jähen frevelhaften Süße, wie im Spiel

Sich Geigen nach den süßen Himmelswiesen recken. Dunkel lag der Kai. Nachtwinde wehten. Regen fiel . .

Die Böschung abwärts. . durch den Sand . . zu dir, du Flut und Wollust schwemmende Musik,

Du treibend Glück, du Orgellied, bräutlicher Chor! Zu meinen Füßen

Knirschen die Muscheln . . weicher Sand . . wie Seidenmatten weich . . ich will dich grüßen,

Du lang Entbehrtes! O der Salzgeschmack, wenn ich die Hände, die der Schaum bespritzte, an die Lippen hebe . .

Viel Dunkles fällt. Es springen Riegel. Bilder steigen. Um mich wird es rein. Ich schwebe

Durch Felder tiefer Bläue. Viele Tag' und Nächte bauen

Sich vor mich hin wie Träume. Fern Verschollnes. Fahrten übers Meer, durch Sternennächte. Durch die Nebel. Morgengrauen

Bei Dover. . blaues Geisterlicht um Burg und Shakespeare's-Cliff, die sich der Nacht entraffen,

Und blaß gekerbte Kreidefelsen, die wie Kiefer eines toten Ungeheuers klaffen.

Sternhelle Nacht weit draußen auf der Landungsbrücke, wo die Wellen

Wie vom Herzfeuer ihrer Sehnsucht angezündet, Funken schleudernd, an den braunen Bohlen sich zerschellen.

Und blauer Sommer: Sand und Kinder. Bunte Wimpel. Sonne überm Meer, das blüht und grünt wie eine Frühlingsau.

Und Wanderungen, fern an Englands Strand, mit der geliebten Frau.

Und Mitternacht im Hafen von Southampton: schwer verhängte Nacht, darin wie Blut das Feuer der Kamine loht,

Und auf dem Schiff der Vater . . langsam bricht es in das Schwarz, nach Frankreich zu . . und wenig Monde später war er tot . .

Und immer diese endlos hingestreckten Horizonte. Immer dies Getön: frohlockender und kämpfender Choral –

Du jedem Traum verschwistert! Du in jeder Lust und jeder Qual!

Du Tröstendes! Du Sehnsucht Zeugendes! In dir verklärt

Sich jeder Wunsch, der in die Himmel meiner Schicksalsfernen fährt,

Und jedes Herzensheimweh nach der Frau, die jetzt im hingewühlten Bette liegt

Und leidet, und zu der mein Blut wie eine Möwe, heftige Flügel schlagend, fliegt.

Du Hingesenktes, Schlummertiefes! Horch, dein Atem sänftigt meines Herzens Schlag!

Du Sturm, du Schrei, aufreißend Hornsignal zum Kampf, du trägst auf weißen Rossen mich zu Tat und Tag!

Du Rastendes! Du feierlich Bewegtes, Nacktes, Ewiges! Du hältst die Hut

Über mein Leben, das im Schachte deines Mutterschoßes eingebettet ruht.


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