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Welche Gefahren drohen unserer Partei im Zusammenhang mit der Stabilisierung des Kapitalismus, wenn diese Stabilisierung lange andauert?
Besteht überhaupt eine solche Gefahr?
Eine solche mögliche und sogar reale Gefahr ist zweifellos vorhanden. Doch bestehen bei uns Gefahren auch unabhängig von der Stabilisierung, nur macht die Stabilisierung sie noch fühlbarer. Dieser Gefahren, wenn man die hauptsächlichen nimmt, gibt es, wie mir scheint, drei:
a) die Gefahr, die sozialistische Perspektive beim Aufbau unseres Landes zu verlieren, und die damit zusammenhängende Gefahr des Liquidatorentums,
b) die Gefahr, die internationale, revolutionäre Perspektive zu verlieren, und der damit verbundene Nationalismus,
c) die Gefahr, daß die Partei ihre führende Stellung verliert und zu einem Anhängsel des Staatsapparates wird.
Analysieren wir die erste Gefahr.
Das charakteristische Merkmal dieser Gefahr ist der Mangel an Glauben an die inneren Kräfte unserer Revolution; der Mangel an Glauben an die Sache des Arbeiter- und Bauernbündnisses; der Mangel an Glauben an die führende Rolle der Arbeiterklasse innerhalb dieses Bündnisses, der Mangel an Glauben an die Umwandlung von »NEP-Rußland« in ein »sozialistisches Rußland«, der Mangel an Glauben an den Sieg des sozialistischen Aufbaues in unserem Lande.
Das ist der Weg des Liquidatorentums und der Entartung, denn er führt zur Liquidierung der Grundlagen und der Ziele der Oktoberrevolution, zur Entartung des proletarischen Staates zu einem bürgerlich-demokratischen Staat.
Die Quelle einer solchen Stimmung, der Boden ihres Entstehens in der Partei ist zu suchen in der Stärkung des bürgerlichen Einflusses auf die Partei unter den Verhältnissen der neuen ökonomischen Politik, unter den Verhältnissen des verzweifelten Kampfes der kapitalistischen und sozialistischen Elemente innerhalb unserer Volkswirtschaft. Die kapitalistischen Elemente führen einen Kampf nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet. Sie sind bemüht, den Kampf auf das Gebiet der Ideologie des Proletariats zu tragen, wobei sie den Versuch machen, die am wenigsten widerstandsfähigen Elemente der Partei anzustecken mit ihrem Unglauben an die Sache des sozialistischen Aufbaus, mit ihrem skeptischen Verhalten zu den sozialistischen Perspektiven unserer Aufbauarbeit, und diese Bemühungen sind nicht absolut fruchtlos geblieben.
Wie können wir, ein rückständiges Land, eine vollkommen sozialistische Gesellschaft aufbauen?, fragen manche von diesen angesteckten »Kommunisten«, der Zustand der Produktivkräfte unseres Landes gibt uns nicht die Möglichkeit, so utopische Ziele zu stellen; gebe Gott, daß wir uns irgendwie halten; können wir denn jetzt an Sozialismus denken? Arbeiten wir nur irgendwie, und dann werden wir weitersehen ...«
Wir haben unsere revolutionäre Mission bereits erfüllt, als wir die Oktoberrevolution machten – sagen andere – jetzt hängt alles von der Weltrevolution ab, denn ohne den vorherigen Sieg des westeuropäischen Proletariats können wir den Sozialismus nicht aufbauen; ein Revolutionär hat jetzt in Rußland eigentlich nichts mehr zu tun ... Bekanntlich war im Jahre 1923, am Vorabend der deutschen Revolution, ein Teil unserer Jugend bereit, die Bücher liegen zu lassen und nach Deutschland zu fahren; man behauptete, ein Revolutionär habe in Rußland nichts zu tun, man müsse die Bücher liegen lassen, um nach Deutschland zu fahren und dort Revolution zu machen.
Wie Sie sehen, stehen diese beiden Gruppen von »Kommunisten«, sowohl die erste als auch die zweite, auf dem Boden der Verneinung der sozialistischen Möglichkeiten unseres Aufbaues, auf dem Boden des Liquidatorentums. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, daß die ersteren ihr Liquidatorentum unter einer »wissenschaftlichen« »Theorie der Produktionskräfte« zu verbergen suchen (nicht umsonst hat sie dieser Tage Miljukow in der Zeitung »Poslednije Nowosti« als »ernste Marxisten« bezeichnet); die zweiten suchen es zu verdecken mit radikalen und »schrecklich revolutionären« Phrasen über die Weltrevolution.
In der Tat, nehmen wir an, ein Revolutionär hätte in Rußland nichts mehr zu tun; nehmen wir an, daß es undenkbar, unmöglich sei, in unserem Lande den Sozialismus aufzubauen vor dem Siege des Sozialismus in anderen Ländern; nehmen wir an, daß der Sieg des Sozialismus sich in den fortgeschrittenen Ländern noch um 10 bis 20 Jahre verzögern wird, kann man unter solchen Umständen hoffen, daß die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft, die in den Verhältnissen der kapitalistischen Einkreisung unseres Landes wirken, darauf eingehen werden, den Kampf auf Tod und Leben gegen die sozialistischen Elemente unserer Wirtschaft einzustellen und mit gefalteten Händen den Sieg der Weltrevolution abzuwarten? Es genügt, diese Frage zu stellen, um das Unsinnige einer solchen Annahme zu verstehen. Aber wenn diese Annahme ausgeschlossen ist, was bleibt dann unseren »ernsten Marxisten« und »schrecklichen Revolutionären« zu tun übrig? Es ist klar, daß ihnen nur eins übrig bleibt: der Gewalt der elementaren Mächte zu vertrauen und allmählich zu einfachen bürgerlichen Demokraten zu entarten.
Eins von beiden: entweder wir betrachten unser Land als die Basis der Weltrevolution, entweder wir besitzen, wie Lenin sagt, die Grundlage für den Aufbau einer vollkommenen sozialistischen Gesellschaft, und dann können und müssen wir diese Gesellschaft aufbauen und auf den vollen Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Volkswirtschaft rechnen; oder wir betrachten unser Land nicht als die Basis der Weltrevolution, wir haben keine Möglichkeit, den Sozialismus, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen, und dann müssen wir, wenn der Sieg des Sozialismus in anderen Ländern lange auf sich warten läßt, uns damit abfinden, daß die kapitalistischen Elemente unserer Volkswirtschaft Oberhand gewinnen, daß die Sowjetmacht sich zersetzt, die Partei entartet.
Entweder das eine oder das andere.
Darum führt der Mangel an Glauben an die sozialistischen Möglichkeiten unseres Aufbaues zum Liquidatorentum und zur Entartung.
Darum ist der Kampf gegen die Gefahr des Liquidatorentums die nächste Aufgabe unserer Partei, besonders jetzt, besonders in den Verhältnissen der zeitweiligen Stabilisierung des Kapitalismus.
Gehen wir jetzt zur zweiten Gefahr über.
Das charakteristische Merkmal dieser Gefahr ist der mangelnde Glauben an die proletarische Weltrevolution und an ihren Sieg; das skeptische Verhalten gegenüber der national-freiheitlichen Bewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern; das Unverständnis für die Tatsache, daß ohne Unterstützung durch revolutionäre Bewegung der übrigen Länder unser Land dem Weltimperialismus keinen Widerstand bieten kann; das Unverständnis für die Tatsache, daß der Sieg des Sozialismus in einem Lande nicht endgültig sein kann, weil dieses Land nicht gesichert ist vor Interventionen, solange die Revolution nicht wenigstens in einer Reihe von Ländern gesiegt hat; das Unverständnis für die elementare Forderung des Internationalismus, kraft deren der Sieg des Sozialismus in einem Lande nicht Selbstzweck sein kann, sondern Mittel zur Entwicklung und Unterstützung der Revolution in allen Ländern.
Das ist der Weg des Nationalismus und der Entartung, der Weg der absoluten Liquidierung der internationalen Politik des Proletariats, denn die von dieser Krankheit betroffenen Leute betrachten unser Land nicht als Teil eines Ganzen, das sich internationale revolutionäre Bewegung nennt, sondern als Beginn und Ende dieser Bewegung; sie sind der Meinung, daß den Interessen unseres Landes die Interessen aller übrigen Länder zum Opfer gebracht werden müßten.
Die freiheitliche Bewegung in China unterstützen? Wozu? Wird es nicht gefährlich sein? Wird uns das nicht in einen Gegensatz zu anderen Ländern bringen? Wird es nicht besser sein, in China zusammen mit anderen »fortgeschrittenen« Mächten »Einflußsphären« zu gewinnen und irgendeinen Teil von China für uns zu erpressen? Das wäre nützlich und auch ungefährlich ... Die freiheitliche Bewegung in Deutschland unterstützen? Lohnt es, das zu riskieren? Ist es nicht besser, sich mit der Entente über den Versailler Vertrag zu einigen und irgendetwas als Kompensation zu erhandeln? ... Freundschaft mit Persien, mit der Türkei, mit Afghanistan halten?, lohnt das Spiel den Einsatz? Wäre es nicht besser, zusammen mit irgendeiner der Großmächte die alten »Einflußsphären« wieder zu teilen? usw. usw.
Das sind die nationalistischen Stimmungen neuerer Art, die den Versuch machen, die Außenpolitik der Oktoberrevolution aufzugeben und die Elemente der Entartung zu kultivieren.
Wenn die Stärkung des bürgerlichen Einflusses auf die Partei in der Linie ihrer Innenpolitik, in der Linie des Kampfes der kapitalistischen und sozialistischen Elemente unserer Volkswirtschaft die Quelle der ersten Gefahr, der Gefahr des Liquidatorentums darstellt, so muß die Quelle der zweiten Gefahr, der Gefahr des Nationalismus, in der Stärkung des bürgerlichen Einflusses auf die Partei in der Linie ihrer Außenpolitik, in der Linie des Kampfes der kapitalistischen Staaten gegen den Staat der proletarischen Diktatur gesucht werden. Zweifellos ist der Druck der kapitalistischen Staaten auf unseren Staat ungeheuer groß, und es gelingt den Genossen, die auf dem Gebiete unserer Außenpolitik arbeiten, nicht immer, diesem Druck standzuhalten, so daß sie sich oft dazu verleiten lassen, den Weg des geringsten Widerstandes, den Weg des Nationalismus zu beschreiten.
Andererseits ist es klar, daß das erste siegreiche Land nur auf der Grundlage des konsequenten Internationalismus, nur auf der Grundlage der Außenpolitik der Oktoberrevolution die Rolle des Bannerträgers der Weltrevolution weiter spielen kann, daß der Weg des geringsten Widerstandes und des Nationalismus in der Außenpolitik den Weg der Isolierung und der Zersetzung des ersten siegreichen Landes bedeutet.
Darum führt der Verlust der internationalen revolutionären Perspektive zur Gefahr des Nationalismus und der Entartung.
Darum ist der Kampf gegen die Gefahr des Nationalismus in der Außenpolitik die nächste Aufgabe der Partei.
Gehen wir schließlich zur dritten Gefahr über. Das charakteristische Merkmal dieser Gefahr ist der Unglaube an die inneren Kräfte der Partei, das Mißtrauen gegen die Führung der Partei; das Bestreben des Staatsapparates, die führende Rolle der Partei zu schwächen, sich von ihr zu befreien; das mangelnde Verständnis für die Tatsache, daß es ohne die Führung durch die Partei keine Diktatur des Proletariats geben kann.
Diese Gefahr kommt von drei Seiten:
1. Die Klassen, die geführt werden müssen, haben sich geändert. Die Arbeiter und Bauern sind nicht mehr dieselben, die sie in der Periode des Kriegskommunismus waren. Früher war die Arbeiterklasse deklassiert und zersplittert, das Bauerntum aber war erfüllt von Angst vor der Rückkehr der Grundbesitzer im Falle einer Niederlage im Bürgerkrieg; in dieser Periode war die Partei die einzige konzentrierte Kraft, die eine Führung nach militärischer Art übernehmen konnte. Jetzt ist die Lage eine andere. Es gibt keinen Krieg mehr, folglich besteht auch keine Gefahr, die die werktätigen Massen um die Partei sammelte. Das Proletariat ist wiederhergestellt und hat sowohl in kultureller als in materieller Beziehung ein höheres Niveau erreicht. Auch das Bauerntum hat sich entwickelt und steht jetzt auf einem höheren Niveau. Die politische Aktivität der beiden Klassen wächst und wird immer mehr wachsen. Eine Führung nach militärischer Art ist nicht mehr möglich. Zunächst ist eine maximale Elastizität in der Führung notwendig. Notwendig ist, zweitens, eine außerordentliche Sensibilität gegenüber den Nöten und Bedürfnissen der Arbeiter und Bauern. Notwendig ist, drittens, das Verständnis für die Auslese der besten Arbeiter und Bauern, die im Verlaufe der Entwicklung der politischen Tätigkeit dieser Klassen besonders hervorgetreten sind, und ihr Einreihen in die Partei. Aber diese Bedingungen und Eigenschaften kommen bekanntlich nicht auf einmal. Daher das Mißverhältnis zwischen den Bedürfnissen der Partei und den Möglichkeiten, die ihr in diesem Moment zur Verfügung stehen. Daher die Gefahr der Schwächung und des Verlustes der führenden Stellung der Partei.
2. In der letzten Periode, in der Periode der wirtschaftlichen Entwicklung, ist der Apparat des Staates und der öffentlichen Organisationen bedeutend gewachsen und erstarkt. Die Trusts und Syndikate, die Handels- und Kredit-Institutionen, die administrativpolitischen und kulturellen Organisationen, schließlich die Genossenschaften aller Art sind sehr gewachsen und erweitert worden, sie haben Hunderttausende neuer, hauptsächlich parteiloser, Mitglieder in sich aufgenommen. Aber die Apparate wachsen nicht nur zahlenmäßig. Sie wachsen auch an Kraft und spezifischem Gewicht. Und je mehr ihre Bedeutung steigt, um so fühlbarer macht sich ihr Druck auf die Partei, um so mehr gelingt es ihnen, die Parteiführung zu schwächen, um so stärker ist ihr Widerstand gegen die Partei. Es ist eine solche Umgruppierung der Kräfte und eine solche Verteilung der Leitung innerhalb dieser Apparate notwendig, daß auch in der neuen Lage die Führung durch die Partei gesichert wird. Aber das alles kann nicht mit einem Schlage erreicht werden. Daher die Gefahr der Losreißung des Staatsapparates von der Partei.
3. Die Arbeit selber ist kompliziert und differenziert worden. Ich spreche von der jetzigen Aufbauarbeit. Ganze Zweige und Unterzweige der Arbeit, sowohl auf dem Lande als auch in der Stadt, sind entstanden und entwickeln sich. Dementsprechend ist auch die Führung eine konkretere geworden. Früher war es üblich, von der Führung »im allgemeinen« zu sprechen. Jetzt ist die Führung »im allgemeinen« ein leeres Geschwätz. Jetzt ist eine konkrete, gegenständliche Führung notwendig. Die verflossene Periode hat den Typus eines allwissenden Parteiarbeiters geschaffen, der bereit war, alle Fragen der Theorie und Praxis zu beantworten. Jetzt muß dieser alte Typus des allwissenden Parteiarbeiters einem neuen Typus Platz machen, der bemüht ist, auf einem bestimmten Gebiete der Arbeit sein Feld zu behaupten. Um wirklich führen zu können, muß man den Gegenstand kennen, muß man ihn gewissenhaft, geduldig, mit viel Ausdauer, studieren. Man kann nicht auf dem Lande eine führende Rolle spielen, wenn man die Landwirtschaft, das Genossenschaftswesen nicht kennt, wenn man die Preispolitik, die Gesetze nicht studiert hat, die sich direkt auf das Land beziehen. Man kann in der Stadt nicht führend sein, wenn man die Industrie und das Leben der Arbeiter nicht kennt, wenn man auf die Nöte der Arbeiter nicht zu reagieren versteht, wenn man das Genossenschaftswesen, die Gewerkschaftsfrage, das Klubwesen, nicht studiert hat. Aber kann man das alles mit einem Schlage erreichen? Leider geht das nicht. Um die Parteiführung auf die notwendige Höhe zu heben, muß vor allem die Qualifikation der Parteiarbeiter gehoben werden. Die Qualifikation des aktiven Parteiarbeiters muß jetzt an erster Stelle stehen. Aber sie kann nicht mit einem Schlage gehoben und verbessert werden. Die alten Gewohnheiten der eiligen Arbeit, die leider die Sachkenntnis ersetzen, sind in den Parteiorganisationen immer noch lebendig. Daraus erklärt sich eigentlich auch der Umstand, daß die sogenannte Führung durch die Partei oft ausartet in eine lächerliche Anhäufung von Verordnungen, die niemanden nutzen, in eine leere »Führung«, die nichts führt. Das ist eine der ernstesten Gefahren für die Schwächung und den Zerfall der Parteiführung.
Das sind im allgemeinen die Gründe, aus denen die Gefahr, die der führenden Stellung der Partei droht, zur Zersetzung und Entartung der Partei führt: Darum ist der entschlossene Kampf gegen diese Gefahr die nächste Aufgabe unserer Partei.
Das ist die Antwort auf die zweite Frage. Gehen wir jetzt zur dritten über.