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Auf dem Nachhausewege geriet der Professor in Gedanken auf die Felder nach Wernersdorf zu, flüchtete vor einem Trupp Kriegsblinder, die, von einer Schwester geleitet, ein Schullied singend, gegen den Heimsdorfer Bahnhof zu gingen, und kam, bis zur Erschöpfung abgetrieben, spät in der Nacht in seinem Hause an. Alles schlief schon. Ohne Licht anzuzünden, tappte er die Treppe zum oberen Stockwerk empor, suchte im Speisezimmer nach Eßbarem und verschlang gierig alles, was man ihm auf dem Tisch zurechtgestellt hatte. Alles das tat er in völliger Dunkelheit, weil er fürchtete, in der Helle den Sturm seiner leidenschaftlichen Gedanken und sich und seinen Zustand grell zu erkennen, was er vermeiden mußte, weil es seinem neugefundenen Lebensprinzip widersprach, sich von der Relativität scharfer, rein intellektueller Erkenntnisse leiten zu lassen. Er wollte alles von seiner letzten, göttlichen Instanz, von seiner Seele her, entscheiden lassen, nicht in Willkür handeln, sondern nur auf den unbeeinflußten Anstoß seines Schicksals hin wirken.
Als er durch den Flur zu seinem Schlafzimmer ging, das neben seinem Arbeitszimmer lag, empfand er seinen Körper als eine dämmrige Lichtgarbe in der Finsternis und schloß aus diesem unbegreiflichen Phänomen, daß er mit dieser neuen, ihm selbst rätselhaften Wehrhaftigkeit auf dem rechten Wege sei.
Während des Auskleidens überlegte er, daß die Verwirrung der meisten Menschen in ihrem Dasein an der Irritabilität durch sie selbst liege, daß zwar keiner auf Erden über seinen eigenen Schatten springen könne, die meisten aber darüber stolpern und zu Falle kommen. Der Schatten unseres Wesens aber sind unsere Gedanken über uns selbst. Ihnen ausweichen heißt, der Lebenszerstörung aus dem Wege gehen und jenseits aller Kurzschlüsse der Kausalität zur Einheit zu gelangen.
Mit dieser neuen »Befestigung« stieg er, ins Bett, zog die Decke über sich und versank, ehe er sich zweimal gedreht hatte, in einen merkwürdigen Traum, der die ganze Nacht dauerte.
Zuletzt erwachte er mit einem Schrei.
Es war schon spät am Morgen.
Die Sonne erfüllte sein ganzes Zimmer, und seine Kleider lagen so über die Diele zerstreut, als habe er sich gestern abend im Umhergehen ausgezogen und wo er stand, jedes einzelne Kleidungsstück achtlos zu Boden fallen lassen.
»Hab' ich geträumt?« fragte sich der Professor und übersah, ungläubig den Kopf schüttelnd, den Unrat der Kleider, der sich über den Fußboden ausbreitete.
» ... vielleicht schon ehe ich ins Bett stieg, während ich noch um den Tisch ging,« setzte er den Zweifel fort.
Nein, das konnte nicht sein, denn er erinnerte sich noch scharf der neuen Befestigung seiner neuen Lebensansicht. Oder wenn das nicht der Fall war, so lagen tatsächlich seine Kleider wie immer wohlgeordnet auf dem Stuhl am Fußende des Bettes und das, was er da auf der Diele sah, war nur eine Einbildung. Er griff auf den Stuhl und fand, daß er leer sei.
»Ja, mein Gott!« sagte er erregt und wollte aus dem Bett steigen, um sich zu überzeugen, ob das auch wirklich Kleider seien, was dort auf dem Fußboden lag. Aber merkwürdig. Er vermochte Arm und Bein nicht zu bewegen. Es war, als seien sie ihm weggehackt oder weggefahren worden.
»Hab' ich das geträumt?« fragte er, an seiner Wahrnehmung wieder zweifelnd. Aber mit eins stand der ganze Traum bis in alle Einzelheiten grell vor seinen Augen, tauchte auf und war in der nächsten Sekunde wieder verschwunden.
Die Folge dieses Vorganges bestand darin, daß er nun wirklich wie verstümmelt im Bett lag; starr und erschüttert. »Nein,« sagte er leise, »das war kein Traum, das war natürlich eine Wahrheit, die so verborgen ist, daß sie sich nicht anders als in rätselhaften Schlafbildern meinem Geiste zeigen konnte. – Und zeigte sich etwas, so muß während des Schlafes ein anderes in mir gesehen haben. Und ist sehen nicht waches Leben? Gut. So bedeutet also Schlaf nur eine andere Art wach sein und leben.« Und als er mit seinem erdfernen Bohren bis hierher gelangt war, fühlte er sich innerlich wieder in zwei Welten zerfallen wie im letzten Teil seines Traumes, an dem er ins Wachsein seines äußeren Blickes aufgeschreckt war. Und die Kleider auf der Diele erschienen ihm als ein unsinniger Rückstand seines Wesens, in den zurückzukriechen er sich nicht getraute.
Er wickelte die Schlafdecke eng um sich, legte sich auf den Rücken und sah mit großen, verlorenen Augen lange zur Decke.
»Hm,« murmelte er nach langer Weile. » Toxicatmicus. Na ja. Vielleicht. Toxicocolica. – Ist schon möglich, Toxicolog. Das wird's sein. Ja, ja.«
Und er zog die rechte Hand unter der Decke vor und besah sie lange, wie das Glied eines ihm fremden Menschen, hinter dessen verborgenes Daseinsgeheimnis er gekommen war.
»Aber, warum ist es gerade mir beschert, hinter das Gift des Lebens zu kommen?« fuhr er nun, aber nur in Gedanken fort und steckte die Hand wieder unter die Decke.
In der Stube über sich hörte er seinen Buben und sein Mädchen eilfertig laufen, ungeduldig nach irgend etwas schreien, und hinter ihnen drein kamen lange mühselige Schritte, und eine tiefe, altersbrüchige Stimme redete beruhigend und ermahnend zugleich.
Dann wirbelten die Kinder polternd die Treppe herab, riefen im Laufen: »Auf Wiedersehen, Therese!« und schlugen dann die Tür zu, daß das Haus zitterte. Draußen brachen sie in Gelächter aus, das sich wie ein neckischer Zwiegesang anhörte und dann, immer schwächer werdend, in der Ferne verschwand.
»Auf jeden Fall,« damit setzte Weitfeld seine unterbrochenen Gedanken fort, »Gift ist da. Entweder in meinen Augen, in meinen Gedanken oder in dem Leben Manjas.«
Davon wurde er so still, als sei er vor Entsetzen gestorben.
Nicht mit einer Fiber wagte er sich zu rühren.
Nach vielleicht einer Stunde, während welcher er fortwährend in diese verworrene Dunkelheit gestarrt hatte, riß er sich auf, schleuderte die Decke von sich und schrie, was sein Hals hielt:
»Und ich soll in diese Narrenlumpen da kriechen, als ob nichts geschehen sei und wie ein Clown darin umherhüpfen? Ich, der Professor Weitfeld? – Das geschieht nicht! Bei meiner ewigen Seligkeit nicht!«
Mit einem gellenden Hohngelächter sank er wieder um, zog die Decke über sich und lag, gespannt ins Haus lauschend, wieder totenstill wie vorher.
Im oberen Stockwerk wurde eine Tür aufgerissen. Die Stimme der Frau Weitfeld rief überstürzt und ängstlich ein paar mal nach der alten Therese, ohne Antwort zu erhalten. Dann kam die Professorin fliegend die Treppe herabgelaufen, riß die Tür zu Weitfelds Schlafzimmer auf und rief:
»Um Gottes willen, was ...« mußte wohl die Unordnung in der Stube erblickt haben, brach den Ausruf ab, drückte sich hinaus, wartete einen Augenblick auf der Schwelle und kam dann zögernd wieder herein.
»Ja, sag' mal, ich hab' mich doch nicht getäuscht. Das war doch deine Stimme! Und hier, die Kleider? Was ist dir denn geschehen. Schnurr?« sagte sie mit einer leisen Überwindung in der Stimme, an der geschlossenen Tür stehen bleibend, deren Drücker sie in den Händen behielt.
Weitfeld saß jetzt aufrecht im Bett, ließ die nackten, sehr mageren, sehr behaarten Beine heraushängen und sah aufmerksam an ihnen hinab, ohne zu antworten.
»Ich bin einer Idiosynkrasie unterlegen,« sagte er endlich mit seiner alten Sanftmut. »Verzeihe, daß ich dich erschreckt habe.«
Dann hob er den Kopf und sah nach ihr hin.
»Du bist schon wieder im Malkittel,« sagte er darauf mit einer kaum merklichen Trauer. »Hmm. Hm. Ja, was man liebt, dem kann man nur durch Fleiß gerecht werden.«
Darnach senkte er seinen Blick wieder auf die nackten Beine und wartete auf eine Entgegnung Manjas.
Aber Frau Weitfeld war zu verblüfft, nach dem wilden Geschrei einen vollkommen ruhigen Menschen inmitten der Auflösung seiner über alles geliebten Ordnung in einer Art reden zu hören, als sitze er nicht im Hemd auf dem Bett, sondern tadellos angezogen am Tisch und gebe sich dem gesammelten Bestreben nach einer bedeutsamen Konversation hin.
Deswegen schwieg sie ratlos, ließ die Hand vom Drücker sinken und trat einen fast unhörbaren Schritt tiefer in das Zimmer.
Weitfeld saß immer noch gebeugt auf dem Bettrand, hielt aber nun die Augen geschlossen und wartete auf eine Entgegnung seiner Frau.
Als Manja mit keinem Laut sich um die Weiterführung seiner Absicht bemühte, öffnete er die Lider einen Spalt, tat einen halben, verstohlenen Blick nach ihr hin und deutete ihren lautlosen Schritt in die Stube als Geneigtheit, das Gespräch weiter fortzuführen.
Deswegen strich er mit beiden Händen an den blondbehaarten Unterschenkeln seiner Beine hinab und sagte:
»Da das Gift, das Sokrates getrunken hatte, zu wirken anfing, begannen seine Beine zu erkalten. Er aber ermahnte seine Freunde, für ihn dem Gott einen Hahn zu opfern.«
Er sprach ganz ruhig, mehr zu sich und lächelte, dabei gedankenvoll mit dem Kopfe nickend.
Dann sah er seine Frau groß an.
Sie war blaß geworden und starrte entsetzt auf ihn. Doch nur einen Augenblick dauerte ihre Schrecklähmung. Dann stürzte sie auf ihren Mann zu, rüttelte ihn an den Schultern und schrie in höchster Furcht:
»Mann, um Gottes willen, was ist dir denn? Was hat's? Was soll das bedeuten?«
Weitfeld sah sie, immer lächelnd, ruhig an und sprach: »Rege dich nicht auf, Manja. Geh und schließ die Türen. Wir müssen miteinander reden. Das, was wir gestern begonnen haben, ist fortzusetzen. Beruhige dich. Ich bin nicht Sokrates und ich habe nicht Schierling getrunken. Denn sonst hätte ich nicht vorhin geschrien.«
Als Manja keine Anstalten traf, seiner Aufforderung nachzukommen, sondern ihn nur furchtsam, fast in einer Art Grauen, betrachtete, erhob sich der Professor, ging mit langen ruhigen Schritten an ihr vorbei, schloß die Türen, zog die Schlüssel ab, legte sie auf seinen Nachttisch und kehrte dann an seinen alten Platz auf dem Bettrand zurück.
»Du kannst jeden Augenblick die Schlüssel nehmen, aufschließen und davongehen. Ich habe es nur getan, damit wir vor Störungen sicher sind. Denn du kennst die Art der alten Therese, unangemeldet in jedes Zimmer zu treten.– – Ich bitte, Manja, setz dich dort auf den Stuhl. Sei unbesorgt. Ich habe kein Gift genommen, das heißt realiter nicht und bin vollkommen meiner Sinne mächtig,« sagte er in seiner gewohnten langsamen Güte. Und da Manja noch immer unschlüssig stand, wiederholte er etwas dringender:
»Ja, bitte, Manja.«
Bei diesen fast kategorisch gesprochenen Worten vollführte Weitfeld mit den nackten Füßen eine Gebärde, wodurch er sonst mit seinen Händen einem bedeutsamen Wunsch Nachdruck verlieh. Er kehrte die Fußsohlen gegeneinander und paßte die gespreizten Zehen genau aneinander. Und machte jene Gebärde an dem großen Gelehrten einen lustigen Eindruck, so wirkte sie, nun von den Füßen nachgeahmt, mehr als komisch. Weitfeld, auf dem Bettrand sitzend, sah nicht anders wie ein bejahrter Affe aus, der in der Einöde seines Käfigs an einem eingebildeten Baumstamm den Gestus des Kletterns übt. Kaum hatte seine Frau das wahrgenommen, als sie, plötzlich aller Beklemmung über das unbegreifliche Gebaren ihres Mannes ledig, in das übermütigste Gelächter ausbrach und rief:
»Das ist ja reinweg zum Piepen, Schnurr.«
Weitfeld hob sein gramvolles Gesicht und fing mit melancholischem Erstaunen, vorwurfsvoll und gedehnt:
»Natürlich,« antwortete sie, entledigte sich ihres Malkittels, warf ihn im großen Bogen zu Weitfelds Kleidern auf die Diele und schloß: »Gewiß, wenn du die Unterredung so willst, zieh ich meine Sachen auch aus und wir machen Adam und Eva.«
Damit trat sie ans Fenster, öffnete einen Flügel und ordnete sich ihre Frisur, um ihre Erregung zu meistern. Dem Professor fuhr als Entgegnung die Frage durch den Kopf: »Vor dem Sündenfall natürlich?« Aber er unterdrückte die Bosheit, stemmte die eingeknickte Rechte auf den Oberschenkel und wiederholte die alte Aufforderung: »Ich bitte, Manja, nimm Platz.«
Trotz des nachsichtigen Lächelns trug das Gesicht des Professors den Zug verzweifelten Grames wieder tiefer, und Manja war es abermals etwas unheimlich. So zog sie sich einen Stuhl ans Fenster und mit höhnischer Feierlichkeit darauf Platz nehmend, sagte sie spöttisch: »Gott, ich sitze ja schon. Ist's so recht, Herr Professor?«
Aber Weitfeld achtete schon nicht mehr auf seine Frau, faltete die Hände, legte sie auseinander, zog an den Fingern und hielt in angestrengtem Überlegen, auf welchem Wege er seiner Frau das beibringen solle, was zu sagen sei, den Kopf tief geneigt, daß seine Frau, trotz der Unsicherheit ihres Gemüts unwillig herausplatzend, rief:
»Das ist ja geradezu zum Blödsinn kriegen. Ich versteh alles nicht, warum du brüllst, die Kleider in der Stube umherstreust und halbnackt auf dem Bettrand wie ein Fakir sitzt. Das ist ja richtig zum Wiehern. –Du. – Weitfeld!! – Um Gottes willen, warum hast du denn gestern abend Hut, Stock und Überzieher auf die Schwelle zum Speisezimmer gelegt?«
Weitfeld unterbrach das Überlegen und fragte in ruhigem, fast sachlichem Erstaunen:
»Nicht bloß das. Stiefel und Strümpfe lagen auch auf der Treppe und zwar wie! So als seien sie dir im wilden Preschen von den Füßen gefallen, auf den untersten Stufen ein Stiefel, ein paar Stufen weiter ein Strumpf und so auf dem zweiten Podest ...«
Weitfeld ließ sie nicht ausreden und sagte mit gramgefurchtem Gesicht und hohler Stimme:
»Jaja, Manja, ich glaub's. Alles glaub' ich. Es ist auch gar nicht anders denkbar.«
»Aber Mann! Ich wenigstens begreif das nicht!«
Frau Weitfeld lehnte sich auf dem Stuhle zurück und bedeckte sich bei diesem schmerzvollen Ausruf die Augen mit der Hand.
»Nein, das kannst du nicht. Deswegen habe ich dich auch zu mir gebeten. Das hängt – ich meine alles, was du geschildert hast – das hängt sicher mit dem Traum zusammen, in dem ich diese ganze Nacht gelegen habe.
Ich will mich bemühen, ihn dir zu erzählen.
Habe, bitte, Nachsicht mit mir.
Also, ich will sehen, ob ich ihn wieder zusammenbringen kann. Ich befand mich in einem unabsehbar langen Eisenbahnzuge, der durch die mondhelle Nacht fuhr. Bei vollem Bewußtsein hockte ich zusammengeringelt, steif, durchfröstelt, in dumpfer Beklemmung, aber zugleich tief schlafend, in einem Abteil dritter Klasse. Um mich herum lagen viele andere Männer in derselben schwermütigen Daseinslethargie des Schlafes; aber sie waren nicht zu erkennen.
Ich saß in meinem eigenen Schlaf wie in einem Glashaus, bemerkte alles an mir, in mir und in meiner Umgebung, war aber vollkommen gebunden.«
»Merkwürdig,« sagte Frau Weitfeld.
»Ja, es wird noch merkwürdiger,« stimmte der Professor mit einem Kopfnicken zu. »Dann und wann hörte ich einen der vielen Mitreisenden aus seinem Traum heraus stöhnen, einen andern inbrünstig rufen. Diesen unverständlich lallen, jenen lachen und dann einen gequält aufschreien.
Dabei stampften die Räder in immergleichem Takt. Aus der Art der Geräusche konnte ich mir ein ungefähres Bild von der Beschaffenheit der Landschaft machen, durch die wir fuhren. Jetzt verlor sich das Brausen des Zuges leise in den Wetten einer großen Ebene, nun lärmte es tosend von Steinwänden zurück, nun verdunkelten es nahe Wälder zu einem gleichförmigen Gesang von Urweltsbässen, etwa wie wir es einst in der Alpensymphonie von Richard Strauß gehört haben. Weißt du, Manja, an jenem Abend in der Philharmonie?«
»Ich erinnere mich. Aber wie war's weiter.«
»Nein, ich meine jene Aufführung, wegen der ich damals mit Assessor Körten ...«
»Haha, jaja. Ich weiß schon. Also. Es war wie ein gleichförmiger Gesang von Urweltsbässen. Ungeheuer interessant.«
»Nein, verstehe wohl, Manja. Ich denke an die Aufführung, die Nickisch dirigierte und von der dieser Assessor...« »Aber natürlich. Ich weiß ja schon. Also, bitte, weiter. Wie von Urweltsbässen. Leiser, monotoner Gesang. Aus vollbelaubten, riesigen Kronen. Ich versteh.«
Weitfeld saß gereckt da und sah auf seine Hände, die blaß auf den Oberschenkeln lagen, ausgestreckt, welk und zergrübelt. Sein Erzählen stockte und er rührte sich nicht.
Als er dann mit einem Ruck den Kopf hob und Manja mit scharfem Blick fixierte, war die Farbe ihres Gesichtes um einen Ton blasser geworden und die Lider ihrer Augen hatten sich gesenkt, daß die blauen Sterne von den langen, weißblonden Wimpern verdeckt wurden.
»Siehst du, Manja, so war's,« sagte er leise, mit gequälter Befriedigung in der Stimme. »Aber ich fahre in meiner Erzählung fort. Und dann klirrte die Fahrt auf eisernen Brücken schrill auf, knallte manchmal wie ein Kanonenschuß und ging dann wieder in ewig leeres Werkelgeräusch über. Wie das ja im Leben auch geschieht. Denn Träume spiegeln unser Dasein. Und mein Traum liegt wohl auch im Schatten meines Lebens. –
Ich fuhr und fuhr und hatte die Empfindung, das daure schon Wochen, Monate und Jahre. Der Zug war endlos. Ein ganzes Volk lag schlafend in ihm verladen und wurde ins Ungewisse gefahren. In eine andere Welt. Über die Grenzen des Daseins hinaus.«
Er unterbrach sich. Denn seine Frau saß, mit einer Falte in der Stirn, geneigten Hauptes und sah auf ihre verschränkten Hände, offenbar mit ihren Gedanken wo anders.
»Manja,« sagte Weitfeld. »Ich erzähle meinen Traum.«
»Ja, ja. Ich höre zu. Sprich nur weiter,« antwortete sie mit leisem Aufschrecken, hob den Kopf und sah ihn mit spöttischem Lächeln an.
»Weißt du,« sprach Weitfeld weiter, »und wie ich so die ganze Fahrt erlebte, wach und schlafend zugleich, auf der harten Bank zusammengeringelt, fröstelnd, erkannte ich blitzartig, daß ich und wir alle in dem Zuge ins Chaos gefahren wurden. Und meine Beklemmung wuchs ins Unerträgliche.
Endlich hielt ich es nicht mehr aus, sprang auf und bahnte mir einen Weg zum Fenster, über Rücken und Beine Schlafender und die Köpfe und Achseln Zusammengekrümmter schreitend.
Dies mein Abschütteln der Lethargie, mein Auffahren aus einer alles verschlingenden Dumpfheit hatte sich wie ein Lauffeuer der Seele aller Insassen des endlosen Zuges bemächtigt. Soweit ich hören konnte, entstand in allen Wagen ein Getöse erwachender Menschen. Jeder wollte zuerst am Fenster sein. In stummem, verbissenem Drängen knäulte sich alles zusammen.
Da – unvermutet brach in meinem Wagen ein erzenes Rasseln los, und nicht bloß die Fenster, nach denen sich alles hinschob, gingen herunter, sondern die ganze Wagenwand klappte mit einem so plötzlichem Ruck nach außen auf, daß die nach ihr drängenden Männer sich nicht mehr halten konnten, sondern langsam hinausfielen. Durch irgendein unseliges Gesetz des unseligen Zuges, dem durch nichts zu entrinnen war, gerieten die Abgestürzten unter die Räder, die sich mit fast perverser Wollust in die Menschenkörper einwühlten, da ein Bein, einen Arm, einen Kopf abtrennten, Leiber aufrissen, Körper mitten durchschnitten, kurz alle Art nur erdenklicher Verstümmelungen an den Menschen vornahmen.
Indessen war auch die gegenüberliegende Wagenwand aufgeklappt, und während sich das Abteil in dieser gräßlichen Weise auf der einen Seite leerte, stiegen auf der anderen Seite im vollen Fahren immer neue Reisende ein, die Augen geschlossen, das Gesicht blaß und still, hypnotisierte oder kataleptische Männer gingen unaufhaltsamen, ergebenen Schrittes an mir vorüber und fielen wie die anderen unter die gefräßigen Räder.
Wie in unserm Abteil, so geschah es in allen Kabinen des unendlich langen Zuges, und der Bahndamm, das Land neben ihm war besät mit blutenden, in Schmerzen zuckenden, todgeweihten Männern. Nein, die ganze Erde. Denn in allen Richtungen der Weite hörte man das Schnaufen und Stampfen fahrender Züge.
Ich hatte mich bisher unter Aufbietung aller Kräfte an einem vorspringenden Balken halten können. Endlich, von Grausen über so viel Furchtbarkeit überwältigt, wurde auch ich schwach. Doch ich hätte mich immerhin noch eine Weile halten können. Aber einen der von der anderen Seite eingestiegenen Männer, einen gemästeten, blonden, unangenehm aussehenden Kerl, verließ auf dem Wege zu seinem sicheren Unglück die Schlafsucht. Er riß seine Augen auf und mich erblicken, einen wilden Schrei des Hasses ausstoßen und sich auf mich werfen war eins. Von dem Prall verlor ich den Halt und in Wut verknäult, denn ich wehrte mich verzweifelt, fielen wir hinaus und kamen wie die andern alle auch unter die Räder.«
Der Professor hatte leiser und leiser gesprochen. Jetzt machte er, von der Erinnerung an die Situation seines Traumes überwältigt, eine Pause.
Und seine Frau sagte, stier auf die Diele vor sich hinsehend:
»Gräßlich ... pfui ... so was zu träumen!«
Als sie aber den Kopf hob und nach ihrem Manne hinschaute, ging ihr Schauer in Schreck über. Denn Weitfeld saß nicht mehr. Er stand, am ganzen Leibe wie vor Frost zitternd und sah sie mit grauweißem Gesicht und starren, jedoch flackernden Augen unverwandt und bohrend an.
Dabei wiederholte er fast tonlos ihre Worte:
»Gräßlich – nicht wahr, Manja! Pfui, so was zu träumen! Aber so was leben ... wie nennt sich wohl das? – He, Manja?«
Er machte den Eindruck eines Menschen, bei dem der Wahnsinn ausgebrochen ist und senkte, nachdem er die Frage beendet, ganz in der Art Irrer, die einen Anfall überstanden haben, den Kopf und schaute leer und schlaff auf seine nackten Füße. Frau Weitfeld erhob sich unhörbar und streckte die Hand nach den Schlüsseln auf dem Nachttischchen aus, um mit einem Sprung an ihm vorbei sich aus dem Zimmer zu retten.
Weitfeld hob das Auge und sagte kalt:
»Laß die Schlüssel liegen. – Ich rate es dir. – Wir sind noch nicht fertig.«
Und als sie noch immer stand, fügte er ebenso hinzu:
»Setz dich und höre weiter.«
Dann, ohne sich um die Ausführung seines Befehles zu kümmern, sank er zum Sitz auf sein Bett nieder und begann sich wieder seine Unterschenkel zu reiben. Dabei sagte er unter höhnischem Auflachen: »Der Traum ist nämlich noch nicht zu Ende. Mußt du wissen ... hahahaha ...«
Dann, innehaltend, redete er gebückt und überstürzt aus eingeengter Brust mit halber Stimme, so, als sei er ganz allein im Zimmer:
»Durch Summierung der sichtbaren Verwicklungen ist immerhin eine geistig überschaubare, genaue Differenzierung der Vorgänge zwecks Einsicht in die lebendigen Tatsachenverhältnisse möglich. Da sich aber die intellektuelle Synthesis nie mit der Synthesis des Lebens deckt, bleibt letzte Klarzeit ein schmerzvolles Spiel bloßer Annäherungen.«
Dann sprang er auf, rang die Hände und rief schmerzvoll bittend:
»Manja! ... Manja! ... Manja!! ...«
Frau Weitfeld brach in schluchzendes Weinen aus und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Der Professor sah ihre vollen, schönen Schultern beben und zwischen ihren Fingern quoll das goldgelbe Gelock der etwas in Unordnung geratenen Haare.
Auf den Zehen trat er zu ihr, zog mit schonender Gewalt ihre Hände vom Gesichte und sagte, sie in den seinen haltend:
»Ja, lieber Mensch, es geht um Tod und Leben mit uns.«
Und da sie nicht antwortete, sondern mit gesenktem Gesicht lautlos fortweinte, ließ er langsam ihre Hände wieder seinem Griff entgleiten und fuhr, den Inhalt der Erschütterung und seinen Traum weiterführend, ruhig zu sprechen fort: »Weißt du, ich fiel vom Wagen und mir wurden von den Rädern Arm und Bein und Kopf abgefahren. So daß nur der Rumpf übrigblieb. Aber ich konnte doch nicht sterben, genau so nicht wie die andern Menschen, die gleich mir von den Rädern zermalmt worden waren. Der Zug fuhr weiter und ließ uns Verstümmelte liegen. Wir aber, als alles still war im Lande, erhoben uns und wie wir, eine endlose Kette Zerfetzter, dagelegen hatten, so begannen wir, eine endlose, schauerliche Prozession, durchs Land zu pilgern, dabei, je weiter wir vorrückten, bemächtigte sich unserer eine große Inbrunst, und ehe noch einer wußte, was dies Gefühl in ihm zu bedeuten habe, sangen alle begeistert: ›Deutschland, Deutschland über alles.‹
Ich, der am Ende des blutigen Zuges mich auf geheimnisvolle Weise, ohne Arme und Beine, fortbewegte, sang am lautesten von allen, trotzdem ich doch keinen Kopf hatte. Aber aus meinen blutleeren Adern, aus meinem wunden Herzen, meinen Gedärmen brauste und sang es. Jede zuckende Fiber meines entstellten Rumpfes hatte eine schrille aber hymnische Stimme. Noch jetzt im Wachen ist es mir, als fühlte ich in meinem Leibe den rhythmischen Nachhall jenes Traumliedes zittern. Es war das Furchtbarste, was ich je gehört habe, und als ich mich umdrehe, bemerke ich, daß ich doch nicht der letzte des Zuges bin. Denn hinter mir kam der blonde, gemästete Kerl, der mich aus dem Wagen gestoßen, mit mir unter die Räder gefallen und doch vollkommen heil geblieben war. Das Maul aufgerissen, daß der impertinente, aufgewichste Schnurrbart zitterte, sang er, wie wir Krüppel alle: ›Deutschland, Deutschland über alles.‹ Er sang es bacchantisch, mit tanzendem Gange, und die Frau, die, inbrünstig von ihm umschlungen, an seiner Seite ging, jubelte ebenso und jedesmal, wenn die Blicke der beiden auf mich armseligen Rumpf fielen, der nur mit seinen blutleeren Adern und seinem halbtoten, ausgepumpten Herzen singen konnte, brachen sie in schallendes Gelächter aus.
Hahahaha! – Hahahaha ... haha ... und wie ich genauer hinsah, wer die Frau sei, die an der Seite Körtens – ja denke, der Kerl war niemand als der Assessor Körten ... an der Seite Körtens geht, armverschlungen, eins miteinander, vollkommen eins, wer diese Frau sei – – – erkannte ich dich ... – Manja! und erwachte vor Schrecken.«
Der Professor hatte leiser und immer leiser gesprochen und war von der Eindringlichkeit seiner Erzählung mit dem Oberkörper seiner Frau entgegengeschoben worden und nun, da er am Ende, wie nach einem langen Lauf bergan, schweratmend schwieg und vorgereckten Halses, mit blassem, zusammengezogenem Gesicht und weit geöffneten Bohraugen, wie mit allen Fibern seines Wesens auf sie eindrang, sah er wie ein aus tiefem Schlafe Aufgeschreckter aus, der in finsterer Nacht bis ins Herz getroffen, etwas Furchtbarem sich gegenübersieht, das er nicht erkennt. In der Stube war es drückend still wie nach einem Knall.
Frau Manja hatte mit dem leisen Schluchzen aufgehört und stierte, auch vorgebogenen Leibes, mit weiten Augen unverwandt auf einen Fleck der Diele.
Dann nickte sie lautlos diesem Geheimnisvollen zu, worauf sie geschaut hatte, erhob sich unnatürlich leise und trat mit zugefallenen Augen ans Fenster.
Sie stürzt sich hinaus, fuhr es Weitfeld, der lauernd alles beobachtet hatte, durch den Kopf und als sie eben wie mit abgeschlagenem Arme nach dem Fenstergriff langte, sprang der Professor hinter sie, drückte ihr den Arm nieder und sagte mit gütigem Vorwurf leise: »Manja! Nicht doch!«
Sie bebte am ganzen Leibe wie im Frost. Aber jetzt, da er sie berührte, löste sich der Fieberbann ihrer Seele. Mit einem Schrei umschlang sie den Nacken des Professors und brach dann in fesselloses Schluchzen aus.
»Josef ... Weitfeld ... Mann, Mann ... mein Gott... ach Gott. Weitfeld ... mein guter, lieber Mann ... das hab' ich ja gar nicht geahnt, daß du so leidest... daß du mich so liebst, so nach mir verlangst ... Aber mein Gott, wie sollt' ich auch? – Das konnte ich doch nicht wissen ... wenn du ... ich bitte dich um alles in der Welt, glaub mir das eine ... jetzt, jetzt, in diesem Augenblick weiß ich, daß mein Tiefstes nicht eine Sekunde dir untreu geworden ist ... nie, nie ... du goldener, bester, geliebter Schnurr ... willst du es glauben? ...«
So stotterte sie zusammenhanglos zwischen den Stößen des Weinens, bald in Verzweiflung, bald im Jubeln, fiel ihrem Mann um den Hals, ließ ihn los, ging mit ausgebreiteten Armen ein Stück in das Zimmer, setzte sich, sprang auf, kurz, überließ sich dem Gefühlswirbel einer Erlösten, die nach langer Dunkelhaft fessellos ins Licht schwärmt und eher die Farbe der Verrückung und krankhaften Überschwangs an sich trägt als den Schimmer glückhafter Verklärung.
Weitfeld hatte sein Weib beim ersten Losbruch sorgsam umfangen und sich bemüht, sie vom Fenster weg nach dem Stuhl hin zu führen.
Als aber das beglückte Weib wie ein Frühlingssturm über ihn geriet, ihn mit Küssen fast erstickte, fahren ließ, durch die Stube fegte und wieder an seinen Hals stürzte, erkannte er, für ihr Leben sei nichts zu fürchten, gab seine Bemühungen um sie auf und begann, seine Kleider zusammenzusuchen und sich anzuziehen. Er tat dies Geschäft gründlich, mit zusammengezogener, bitterer Aufmerksamkeit und hörte indes auf das Schwärmen, die Selbstanklagen, den Jubel und die Trauer Manjas, von der sie durch das Zimmer getrieben, hin und wieder auf den Stuhl gedrückt und dann wieder an seine Brust geführt wurde.
Alles, was sich seit Jahren geheim in ihrem Herzen angehäuft hatte, wurde von der Überflutung befreit und stürzte schäumend und ungeordnet, gleich Stauwassern aus ihr:
»Siehst du, ich sage dir, wenn du nicht den Rappel gekriegt hättest, stante pede aus Berlin zu gehen, deine Professur, deine Laufbahn, deinen Ruhm, dein ganzes Leben im Stich zu lassen...«
Weitfeld, der eben seine Weste vom Boden aufzuheben im Begriff war, warf sie unwillig wieder auf die Diele und murmelte unwillig: »Ach was Gelehrtenlaufbahn und Ruhm. Einfach lächerlich ...«
»Na aber, Schnurr ... Es ist ja wunderbar, daß dir alles vor der einen Tatsache der gekränkten Liebe belanglos vorkommt ... wunderbar, ich bin glücklich ... Josef, Josef, Gott, mein Seppi ...«
Manja glühte, umschlang den Mann wieder mit ihren Armen, schmiegte sich wie eine saugende, lodernde Flamme in ihn, daß in dem langen, mageren, zergrübelten Mann das Feuerpulsen endlich auch erwachte. Er biß wohl in Gegenwehr die Zähne aufeinander; aber das Weib spürte, wie sie von seinen Armen immer brünstiger und immer tragender umfangen wurde, und süchtig lispelte sie:
»... du Seppi... mein einzig geliebter Mann ... glaube mir, nicht das mindeste ist zwischen mir und dem Körten vorgekommen ... Seppi ... Seppi ..., weißt du, weil du dich doch gar nicht um mich gekümmert hast, hab' ich ihm die Bilder geschickt, wir haben Briefe gewechselt und alles offen mit Vermittlung der Griepenstein, alles dick aufgetragen, um dich zu reizen, zu verwunden, zu stacheln. Aber du schläfst ruhig drüben, ich hüben, läßt deinen Ruhm vermodern, meditierst, machst Schimmelhokuspokus, bist wie ein hölzerner Götze ... ich war verzweifelt, Seppi ... ich wußte nicht ... Gott, Gott sei Dank, Schnurr ... Seppi, nimm mich! –«
Auf dem Wege zum Bett, sagte die Frau all das furios, wie unter einem heißen Gebläse, ihrer selbst nicht mehr mächtig nach der jahrelangen Entbehrung jeder Zärtlichkeit.
Des Professors Atem ging stoßweise und er mußte schon gewaltsame Schlingbewegungen machen.
» ... Sei nur still, Manja ... beruhige dich ...« flüsterte er mit der borkigen Stimme von Männern, die im Begriff stehen, vom Feuer des Geschlechts versengt zu werden. Das Farbenspiel begann auch schon vor seinen Augen, die zum Schlaf der Ekstase sich schlössen. Lichträder tanzten, rote Pfeile züngelten durch Schwarz.
Allein plötzlich stürzte er mit dem Flugzeug seiner Erotik aus der lodernden Luft, denn im Schwarm der Farbenjagd stand plötzlich sein Kreis mit dem eingezeichneten Fünf- und Dreieck in den Weltallsgrundfarben grün, blau und braun vor ihm. Er stand wie angenagelt in seinem Innersten und etwas, noch bitterer, wie Verachtung ging von ihm aus.
Da löste sich sein Griff von seinem heiß hinschmelzenden Weibe und mit übermenschlicher Anstrengung reckte er sich blaß vor der aufgeschreckten Frau auf, die ihn verstört ansah und schüttelte den Kopf.
Nach Fassung ringend, leise und demütig verschämt sagte er:
»Nein, Manja, verzeih, das wollt' ich wahrhaftig nicht sagen. Darum handelt es sich nicht bei mir. Nein. Wirklich. Verzeih'. Bitte, gib mir die Hand.«
Damit führte er die aus allen Himmeln Gestürzte auf ihren Stuhl.
Dann trat er einige Schritts von ihr weg, wandte sich von ihr ab, senkte den Kopf, bedeckte seine Augen mit den Händen und verharrte eine lange Weile so, ohne sich zu rühren, in Versunkenheit und Schweigen. Als er sich endlich umwandte, saß seine Frau halb abgekehrt auf dem Stuhl und hatte den Kopf in die auf der Lehne gestützten Arme vergraben. Weitfeld glaubte, die höhere Schwungernüchterung, von der er erfaßt und widerstandslos ins Meditieren gezwungen worden war, habe sich telepathisch auf Manja übertragen und mit glückhafter, fast furchtsamer Schonung, sagte er:
»Manja – du ... ach so, du bist noch im Versinken. Verzeih!«
Und eilig und völlig geräuschlos vollendete er seine Toilette.
Doch seine Frau verharrte regungslos in der abgewandten Vergrabenheit.
Da strich er sich grübelnd ein paarmal mit zwei Fingern den Nasenrücken, hielt überlegend inne, warf einen langen, großäugigen, hypnotischen Blick auf sie, und als das nicht half, sie zu erwecken, fuhr er einigemal mit den Händen, vom Kopf angefangen, ihre Gestalt in der Luft nach.
Manja aber lag in der Nacht der bitteren, weiblichen Scham, in einer fressenden Lähmung, betäubt, und das Blut tobte durch ihre Schläfe.
Auf den Strümpfen näherte sich nun der Professor unentschlossen und unhörbar einige Schritte, hielt aber dann inne und begann leise zu sprechen, leise und schonend wie man zu Erwachenden zu sprechen pflegt:
»Siehst du, Manja, nun sind die Tore auch für dich aufgegangen, durch die es mich vor Jahren geführt hat. Es war schwer. Aber es ist gelungen. Gottlob. Bleib ruhig liegen. Ich kenne das. Alle tiefe Erkenntnis beginnt mit tiefer Betäubung.
Laß mich dem Aufblühen deiner Seele helfen. Aber zwinge dich nicht, zu hören. Sobald es dich indigniert, darfst du mir nur ein stummes Zeichen geben und ich schweige und ziehe mich zurück.«
Er wartete und betrachtete aufmerksam die Schultern und den Kopf seiner Frau, ob sich eine abwehrende Bewegung in ihnen rege.
Manja lag regungslos über die Stuhllehne gebeugt. Weitfeld setzte sich darum lautlos auf einen Stuhl etwas von ihr entfernt, betrachtete sie noch ein wenig auf das genaueste und nickte dann befriedigt.
»Ja, bleib so,« sagte er, »es ist immerhin eine entsprechende, produktive Haltung. Die Präponderanz des geistigen, des Gehörsinnes, wird dir dadurch erleichtert. Der Augenkreis verschwindet in der Horizontrosigkeit seelischer Apperzeption. Beziehungsweise ... aber das ist hier Nebensache. Also, um zunächst ein Mißverständnis wegzuräumen, muß gesagt werden, daß die Verstrickungen einer Meinung zu lösen sind, denen du tiefer verfallen scheinst, als ich selbst darunter diese Nacht im Traum und den gestrigen Nachmittag gelitten habe. Ich meine das Wahnfaktum meiner Eifersucht auf diesen Assessor Körten, dem du sein Andringen an dein Wesen durch eine Bereitwilligkeit erleichtert hast, welche von deiner Seite nur in der Rücksicht ihrer Reizwirkung auf mich gespielt worden ist.
Habe ich dich so recht verstanden?«
Der Professor sah einen Ruck durch den Körper seiner Frau gehen, so als wolle sie sich zu leidenschaftlicher Erwiderung erheben. Doch es blieb bei dem kurzen Aufbäumen. Im nächsten Augenblick lag sie noch regungsloser, mehr wie eine welke, ausgerissene Staude, und er sah nicht einmal mehr den Atem in ihrem Rücken beben.
Weitfeld faßte diese Gebärde seiner verzweifelten Frau als Bejahung seiner Frage auf und fuhr darum fort: »Gut. So liegt also die Sache. Nun gerät man aber immer in nicht lösbare Verwickelungen, wenn man eine Frage nach den rein subjektiven Bedingungen zu beantworten versucht. Denn das Individuum ist ebensosehr die Anarchie wie die Mechanik. Und wenn wir auf die Menschheit im ganzen sehen, so bemerken wir, daß die Verhältnisse auf Erden wohl stets die gleichen bleiben, wenn die Modalität ihrer Formen auch unendlich ist.
Die Art der Wesen verändert sich innerhalb der Epochen nicht. Die Gattungseigenschaften sind stabil. Sie kommen mit dem Wesen zur Welt, die darauf gar nicht stolz sein dürfen, denn das ist nicht ihr subjektives Eigentum. Ich weiß, daß ich damit in schroffem Gegensatz zur Evolutionslehre stehe. Aber das ficht mich nicht an. Ich habe sie durchschaut, als das ins Kosmische, Grandiose betriebene menschliche Utilitaritätsprinzip, das wir gewaltsam ins Weltall projizieren.
Trotz all dieser Redereien bleibt die Krähe eben die Krähe, wendet heut wie vor Jahrhunderttausenden den Kopf rechts und links, ruckt die Flügel, äugt schief, bald in den Himmel, bald auf das Düngerhäufchen, auf dem wir beide sie gestern beobachtet haben.
Es wäre Torheit, darum zu hadern.
Und auch die Menschen leben und sterben meistens in dem Käfig der Stände und Geschlechter, in die sie geboren werden. Die Lebendigen ziehen immer die abgelegten Kleider der Leichen an, und der Schneider Harun al Raschids und der Kaiser Wilhelms des Zweiten sind ein- und dieselbe Figur.
Aber, meine liebe Manja, diese Mechanik, die durch die Jahrtausende als eine öde, gerade, graue Flucht geht, sie begreift auch ebenso in sich das Verhältnis der Geschlechter zueinander, also das Verhältnis zwischen Mann und Weib.
Gemeinhin bezeichnet man diese Seite der kosmischen Mechanik, der die gemeinen Menschen unterliegen, als göttlich.
Doch alles Physische ist nur Emanation des Geistigen und Ausdruck seines inneren Formzustandes. Dieser kann wiederum nicht von sich her, sondern nur von der höheren Instanz, der Seele, geschätzt oder geweitet werden.
Damit sind wir in dem Reich der göttlichen Anarchie, in dem Gebiet des zweckfreien Wissens, jenseits aller irdischen Individualschranken. Wer in diese Weite eingegangen ist, befindet sich jenseits des mechanischen Zwanges aller Modalitäten, also auch der Modalität des Geschlechts und wird ihr nur ein Recht auf sich als einer geistigen Entsprechung einräumen, die wohl eine Form, doch nie das Ziel an sich ist.«
Weitfeld war unversehens in die heißen, unterirdischen Wogen untergetaucht, von denen sein Leben seit Jahren getragen wurde. Es hatte ihn von seinem Stuhl getrieben und, bald vor sich hin zu Boden starrend, bald seine Augen ins Grenzenlose hinaushebend, ging er mit seinem langen, tauchenden Schritt erregt auf engem Räume in der Stube auf und nieder.
Er war so mit seinen Ideen beschäftigt, daß er aufgehört hatte, den Eindruck seiner Worte auf Manja zu beobachten. Jetzt, von seinem leidenschaftlichen Hingang zurückkehrend, sah er sie nicht mehr in der Haltung tiefer Versunkenheit halbgewendet auf ihren Armen über die Stuhllehne liegen, sondern er fand sie in leidenschaftlicher Erregtheit, nein, in einer Art verbissener Starre, fast auf dem Rande des Stuhles aufrecht sitzen, die Füße wie zum Sprung fertig zurechtgerückt, die Hände so wild im Schoß gefaltet, als sei sie eine aus größter Höhe Fallende, die sich verzweifelt an einem Seil hält, und ebenso wild entschlossen war auch der Ausdruck ihres verfärbten, eingefallenen Gesichtes.
Weitfeld erblickte in dieser Haltung den Ausdruck ihrer Ergriffenheit über seine Aufschlüsse. Er hatte das oft bei seinen hingebendsten Zuhörern im Auditorium erlebt und es Erkenntnisbestürzung getauft. Wenn seinem Geist die Erschütterung des andern bis zu diesem Grade gelungen war, bedurfte es nur noch geringer Mühe, den Sieg einer neuen These vollkommen zu erreichen.
Er blieb also stehen, sah beglückt auf seine erschütterte Frau, hob triumphierend die Hand und rief:
»Ja ja, liebe Manja, so und nicht anders steht es vor den Augen des hohen Unbeirrten: Man muß sich für zu gut halten, daß der gemeine Geschlechtstrieb die paar uralten, brutalen Akkorde aus unserm Dasein herausschlägt.«
Auf diesen Ausbruch hin löste Manja die Verschlingung ihrer Hände, umfaßte wie in einer unnatürlich qualvollen Schmerzempfindung ihre Knie, hob das Gesicht und sah ihn vollkommen verstört an.
Dann bewegte sie das Haupt verneinend und hauchte ein paarmal: »Nein ... nein ...«
»Ja, Manja,« rief Weitfeld beteuernd, »ja, sage ich dir. Wenn du willst, fühl! Überzeuge dich meinetwegen manuell. Auch der letzte Hauch ist aus meinem Sexus geschwunden.«
Mit einem Wehlaut ließ die Frau langsam den Oberkörper niedersinken und barg ihr Gesicht in ihren Händen.
»Furchtbar ... furchtbar ...« murmelte sie dabei und schauerte zusammen.
»O nein, nicht furchtbar, nicht furchtbar,« rief der Professor förmlich ekstatisch, »herrlich, liebe Manja, herrlich, sage ich dir. Über allen stehen wir dadurch. Nun wirklich zwei, die den Ehrennamen homo sapiens in der Tat verdienen. Ich, sofern ich Mann bin, bin dir, insofern du Weib bist, von nun an nichts mehr schuldig und umgekehrt. Mit dieser niederen, tierhaften Instanz sind wir endgültig fertig. Damit haben wir von nun an nichts mehr zu schaffen. Wir sind göttlich. Denn an die Seele und Gott reicht auch nicht ein Schimmer des Sexualnexus.«
Nach diesem erneuten Ausbruch hob Manja langsam und starr ihren Oberkörper. Ihr Gesicht war fremd und ruhig. Sie sah ihren Mann nicht an, sondern hielt den Blick an ihm vorbei, unverrückt auf die Ecke des Zimmers gerichtet.
»Und deine Gänge gestern nachmittag zu dem Dienstmann Käse und zu Malva Griepenstein?« fragte sie hart.
»Geb ich zu, eine letzte atavistische Anwandlung.«
»Und diese wilde Nacht mit dem wilden Traum und dein Schreien diesen Morgen?« fuhr sie unbeirrt weiter fort.
»Ja, was willst du denn damit? Über dieses Faktum sind wir doch längst hinaus, Manja! – In Goethes zweiter Schweizerreise kommt eine Darlegung von der Art vor, wie Maultiere schroffe Abhänge nehmen. Sie laufen schnell vor, dann bleiben sie plötzlich und zwar oft an den gefährlichsten Stellen ...«
Manja krümmte ihre Lippen in einem spöttischen Lächeln und unterbrach ihn:
»Schon gut. Und so bist du also auch aus Berlin neunzehnhundertfünfzehn nicht wegen mir fortgegangen. Das heißt nicht aus Eifersucht gegen Körten?«
»Nein, haha, weiß Gott, im letzten Grunde nicht wegen diesem oberflächlichen Doktor Nichts. Haha! Nein, ich hatte das Leben unter meiner Kollegenschaft, unter diesen Krämern der sogenannten Wissenschaft, satt.«
»Das sind jetzt drei Jahre her?« fragte sie immer härter und tonloser weiter.
»Ja, ganz recht, drei Jahre. Stimmt.« antwortete Weitfeld unsicher werdend. »Manja, ich bitte dich ...« Aber sie ließ ihn nicht vollenden.
»Zehn Jahre dauert unsere Ehe,« fuhr sie mit einem Frösteln in der Stimme fort, setzte wie verschmachtet einen Augenblick aus und vollendete dann gepeinigt: »Und drei Jahre getrennt. Drei ganze – volle – lange Jahre.«
Dabei erhob sie sich von dem Sitz, ohne ihre Augen von der Ecke des Zimmers abzukehren.
»Und das soll so weiter dauern Jahr um Jahr. Jahr um Jahr. Bis in den Tod.«
»Aber liebe Manja, so hör' doch schon,« rief Weitfeld dringend und doch auch von einer Furcht angerührt. »Nicht grau, nicht leer, nicht ereignislos. Nein, im Gegenteil. Siehst du es denn nicht ein? Die Gemeinschaft der Leiber ist nun überwunden. Die höchste, göttliche Form der Ehe beginnt nun. Nunmehr gilt es, auf der Basis der individuellen Vertiefung, unter Ausmerzung des zerebralen Micels aus dem Mutterboden der spirituellen Energie durch Differenzierung und Potenzierung unserer Persönlichkeit eine höhere, geistige Einheit zu erringen.«
Da verließ die tapfere, liebe Frau die Kraft. Sie begann zu taumeln, griff nach der Lehne und sank an dem Stuhl in die Knie, das Gesicht wieder in den Händen vergrabend.
Weitfeld verstand sie in seiner fanatischen Verblendung noch immer nicht.
»Jawohl, liebste Frau,« rief er schwärmerisch, »recht hast du. Zum Taumeln, zum Knien ist es. O, und unsere Kinder erst! Manja, was uns Ende und Höhe ist, das soll ihnen Tal sein. Sie sollen in ihren Höhen Gewandungen tragen, liebe, liebste Menschenfrau, von denen du und ich noch gar nichts ahnen. Dann wird kein Menschenhaß mehr sein auf Erden, kein Krieg, kein Fluch der Völkerfeindschaft ...«
Manja hatte zu schluchzen begonnen. Trotz ihrer Gegenwehr steigerte es sich. Mit den Händen, die zu Fäusten geballt waren, preßte sie das Taschentuch gegen den Mund. Aber das Weinen steigerte sich zum Krampf. Ihr Körper wurde von Stößen verzweifelten Schluchzens geschüttelt und schreiend stotterte sie: »Aber ... Mann ... Ma ... a ...nn ...so höre doch schon ...«
»Immer weine du, Liebste. Aus unserm Schmerz, aus unserm Ringen wird die neue Welt geboren,« rief er in wilder Verzückung. Dann trat er zu ihr, beugte sich und fragte: »Was hat es? Was sagst du? Ich versteh dich ja nicht.«
Da wurde die Frau mit einemmal totenstill. Die Welt war ein gläserner Sarg und man hörte wieder nichts als die Sommerfliegen ratlos an die Scheiben picken.
In diese Totenstille sprach die Frau, das Gesicht fest auf das Rohr des Stuhlsitzes gepreßt, leise und mit Schauern:
»Ich war schon einmal bei Körten und habe mich an ihn verloren. Mann! – Mann!!«
Weitfeld zog die Hand zurück, die er begütigend auf ihre Schulter gelegt hatte, trat einen Schritt von ihr weg und schaute einen Augenblick betroffen auf seine hohle Hand. Nur einen Augenblick dauerte dies Stutzen. Dann flog die alte Berauschtheit über ihn. Stürmisch trat er auf sie zu, faßte sie unter den Achseln, und im Bemühen, sie emporzurichten, redete er bestürzt auf sie ein:
»Aber laß doch das. Das gehört ja dem alten, abgelebten Leben an. Darüber gräm dich nicht. Das ist abgetan. Jetzt stürzt der Strom der Seele ...«
Aber mit einem Aufschrei des Entsetzens riß sich die Frau von ihm los, versetzte ihm mit der Faust einen Stoß vor die Brust, daß er zurücktaumelte und schleuderte ihm den Ausruf ins Gesicht: »Pfui! Pfui!!«
Dann raffte sie jäh den Schlüssel vom Nachttischchen, stürmte durch die Tür und schlug sie hinter sich zu.