Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil

I

Eine und die andere Station kam und viele der unbekannten Genossen seiner Reise, meist Arbeiter, stiegen aus, der eine zu einem Bau, der zur Anlage einer Telegraphenleitung, jener in eine Maschinenfabrik. Es wurde so geräumig im Wagen, daß Gudnatz an seinem Platz in dem sicheren Eck ohne Drängen und Mühen das letzte Endchen der Holzbank erwischte und so vom Stehen ins Sitzen kam, nach der immerwährenden Jagd durch den vorigen Tag und die verrückte Nacht eine solch glückhafte Erleichterung, daß er, die Beine vor sich hindehnend, das krumme Obergestell geraderückend, mit einem solch lauten Stöhnen des Wohlbehagens sich zurücklehnte, daß alle, die im Wagen waren, in ein lautes Gelächter ausbrachen, die einen über ein solches Fuder von Faulheit, die anderen über diesen Riesenkübel verächtlichen Grolles, denn das lag beides in dem Gähnen Anton Gudnatzens. Und ein dickes Weib, gegen dessen sehr umfängliche Hinterpartie erschon seit einer halben Stunde gedrückt worden war, drehte sich nach ihm um und frug in einer Art, als sei sie die Sprecherin aller Mitreisenden: »Na, Ihn geht's wohl auch schlecht?«

Aber Gudnatz hob den Kopf mit dem weit in die Stirn gerückten Mützenschild nicht, sondern antwortete in einer Art launiger Verdrossenheit: »Schlecht nicht, aber dreckig.«

»Na ja, schon gut, kennen wir, schlecht und dreckig wie uns allen,« vollendete die Dicke höhnisch. »Wie kann's auch anders sein? Der eine sitzt auf einer Lumpenfuhre, der andere auf dem Mistwagen. So kutschen wir durchs Leben ei dem neuen Deutschland. Hinten is vorne und oben is unten.«

Die Reisenden lachten wieder, doch nun nur in einem kurzen Aufstoßen, weil alle zwischen dem dicken Weibe und Gudnatz eines jener fröhlich-derben Zwiegespräche erwarteten, durch die die Gaste der vierten Klasse sich auf ihren Fahrten zu vergnügen pflegen. Aber der Schieber gedachte des Entschlusses, mit seiner Zunge behutsam umzugehen, ließ den Kopf noch tiefer auf die Brust sinken und schwieg.

Immerhin, um die Leute nicht unbillig auf sich aufmerksam zu machen, spielte er nicht allzusehr den Verbitterten und Lebensgekränkten, sondern bloß den vor Müdigkeit abgestumpften, schloß die Augen, ließ wie im beginnenden Schlaf die Lippen übereinanderrutschen und blinzelte manchmal mit den Augen auf. Man vergaß ihn ganz und überließ sich einem Gespräch, das mehr ein Hin- und Wiederfliegen von Zurufen war, wodurch nach verschiedenen Gegenden auseinander wandernde die Verbindung noch eine Weile aufrechterhalten, bis sie vielleicht auf Nimmerwiedersehen getrennt werden. Gudnatz verfolgte dieses Spiel wie mit Bällen, als ein gleichsam über einen abseitigen Zaun Gelehnter. Und merkwürdig. Das erstemal hörte er nicht mit dem schnappenden Ohr des Geschäftsgierigen, nicht mit dem inneren Zunderblick des unersättlichen Profithamsters, sondern mehr mit geruhigem, fast wohldenkendem Herzen zu in dem Bedürfnis, aus seiner räuberischen Absonderung herauszutreten und sich unauffällig unter die übrigen zu mischen, wenn auch jetzt noch als Zuhörer. Und so empfand er die vielen Klagen der Reisenden nicht mehr bloß als Schand- und Stichelrede auf sich und sein böses Gewerbe. Es giftete und säuerte nicht jeden Augenblick in seinen Zähnen, sondern er konnte nicht umhin, dieser und jener Bitterkeit über eine gar zu große Lebenshärte im stillen zuzunicken. Das Gefühl seiner Gehetztheit schwand. Er öffnete den Rucksack, riß sich ein tüchtiges Stück Brot mit dem Messer von dem Laib, biß herzhaft in seine Wurst und goß, so oft es sich tun ließ, einen gehörigen Schluck Kognak nach. Und als er so alles noch sicherer in sich geordnet und gestillt hatte, bemächtigte sich seiner eine gehobene Zuversicht, daß alles nach Wunsch und Willen gehen werde, und noch in dieser Nacht werde er sich jenseits der Grenze geborgen haben.

Da hielt der Zug in Dittersbach. Hier mußte er auf eine andere Linie, auf die Grafschafter Gebirgsbahn, umsteigen.

Nicht wie sonst auf seinen Geschäftsreisen fuhr er wie ein Stößer aus dem Wagen und knuffte und bohrte sich rücksichtslos durch den geballten Schwärm der Fahrgäste, sondern er ließ sich heute geduldig durch die Tür drücken und war gar einem alten kümmerlichen Weiblein behilflich, die mit einem großen Pack Kartoffeln in Gefahr geriet, über die Wagenstufen auf den Perron zu stürzen. Er fing die Taumelnde auf, hob ihr den Pack auf den Rücken und stützte dann mit einer Hand die Last, um es der Armen so zu erleichtern. So wurde er den Bahndamm hingewälzt und auf der Stiege zur Unterführung eingekeilt, daß er kaum den Finger rühren konnte. Aber er ließ die Hand nicht von dem Sack der Frau, der immer schwerer in seinem Griff lastete, daß er die andere Hand zu Hilfe nehmen mußte. Er fühlte, wie die Frau am Hinsinken vor Schwäche war. Aber er fluchte nicht über die anderen, stieß nicht mit dem Ellenbogen, trat nicht mit den Füßen nach allen Seiten wie sonst, sondern er war nur in Sorge um diesen kümmerlichen, erschöpften Menschen da vor ihm, diese Frau mit dem welken Gesicht, die er nicht kannte. Und auf dem Grunde der Unterführung angekommen, nahm er ihr den Sack ganz von den Schultern, belud sich damit und trug ihn über die Stiege hinauf nach dem Ausgang zu. Ihm war, als habe er mit der Last eine Erleichterung empfangen; er ging mit spielendem Schritt; ihm war froh zum laut Auflachen. Als das greifende Weiblein, das kaum hatte Schritt halten können, ihm danken wollte, wehrte er ab und flüchtete vor Verschämtheit zu seinem Zuge zurück, der auf der anderen Seite stand. In einem Wagen angekommen, der halb leer war, vermochte er noch immer nicht die Erschütterung zu bemeistern, die ihn überfallen hatte. Er begriff sie nicht und wehrte sich doch instinktiv gegen sie, wie gegen eine Gefahr, die ihm und seinem Gelde drohte. Er setzte sich auf die Bank, stierte auf einen Fleck des Bodens, sprang auf und lief so gut es ging, hin und her, fing an auf beiden Mundwinkeln zu pfeifen und zu trommeln. Es nutzte nichts, die Erschütterung wuchs. Er trat ans Fenster, beugte sich etwas weit hinaus, atmete fliegend wie in der Kindheit vor dem Weinen und sagte bei geschlossenen Augen fortwährend in einer Art glückhafter Verzweiflung: »Nein ... nein, so was! ... Gudnatz! – Anton Gudnatz, du, so was ... nein! nein! ...«

Jemand hinter ihm fragte: »Was ist Ihn' denn?«

Da lachte er laut hinaus, stieß den Wagen mit dem Knie auf, sprang auf den Perron hart an einem Schaffner hinunter, der stand und den Zug hinauf- und hinabspähte, achtete auf dessen Geschimpf nicht, sondern lief schief und entenfüßig, daß ihm der Eisenbahner lachend nachrief: »Holla, Gustav, verwechsel die Beene nich,« den Bahnsteig hin bis vor die Lokomotive. Dort stand er still, ohne sich zu rühren, und sah vor sich hin in die leere Luft.

Als er beim Zurückkehren wieder an dem. Schaffner vorüberkam, spürte er, daß er etwas sagen müsse, um sich nicht zu verraten, stippte ihn also an den Ärmel und sagte mit einer Handbewegung nach der Stelle, wo er eben gestanden hatte: »Schöne Berge da, wirklich schöne Berge, ja! Aber ein wing zu grade nuf. Da kost's Puste, liebe Guste, haha! Aber ich denke, ich blei' unten un' mach mich nei'.« Dann nickte er schäkernd, packte den Griff und hob sich in den Wagen.

»Ja, ja drinne is besser wie draußen,« sagte der Schaffner und half an dem Hinteren Teil Gudnatzens ein wenig bei dieser Expedition. Dabei rief er mit einem Zwinkern gegen die Fahrgäste, die aus dem offenen Fenster diesem launigen Vorfall zusahen: »Ein bisset Schieben hilft immer.«

Aber Gudnatz achtete nicht auf das Gelächter, das daraufhin ausbrach, sondern hatte sich gesetzt und öffnete und schloß die Hände, denn er fühlte in ihnen noch deutlich das grobe Gespinst des Sackes abgedrückt, den er der alten Frau getragen hatte. Dann besah er sich die Hände hinten und vorn, ob nicht noch andere Spuren von dem Erlebnis zurückgeblieben seien, und entdeckte endlich an der Wurzel des Daumenballens seiner rechten Hand einen kleinen Schmutzfleck. Und während er vorsichtig wie kostend und schmeckend mit dem Zeigefinger der Linken darüberfuhr, überlegte er, daß er eigentlich hätte ganz gut der schwachen Frau den schweren Huckepack noch ein Stück weitertragen können, denn Zeit wäre gewesen. Durchs Gebäude mußte er mit ihr gehen, nein, noch weiter, über den Platz, die fallende Chaussee hinab, in den Ort, zwischen den Häusern von Dittersbach weiter ... weiter ... Anton Gudnatz sann nicht mehr, er sah alles mit weitgeöffneten Augen, die er starr vor sich auf die Diele gerichtet hatte: Den Sack auf dem Rücken, neben ihm die alte Frau, die immer wieder mit einem Kinderstrahlen in dem faltigen Gesicht zu ihm aufblickte, so ging er, ging und ging und ging. Die Bäume verschwanden um sie, die Häuser, alles, zuletzt noch gar der Weg, auf dem sie gingen und wie in einem leibhaftigen Traume war nichts als weißes, wunschloses Licht um ihn und die alte Frau. Und wieder war das große Glück in ihm, aber nicht wie vorhin, als es ihn zum Nagen hinausgetrieben hatte, sondern als ein vollkommen bewußtloses Untertauchen in einer vollkommenen Harmonie.

Gudnatz saß wie entgeistet und nahm nichts von dem wahr, was um ihn vorging. Der Zug stand noch immer. Der Wagen füllte sich mehr und mehr. Die Tür ging in einem fort auf und zu. Da, auf einmal hörte, wie abgeschnitten, das halblaute Gespräch der Leute auf und eine bänglich, feindselige Stille setzte ein.

Gudnatz sah auf und erblickte einen Gendarm, der mit leisem Fragen und Nicken von Person zu Person trat. Er trug schon die graugrüne Montur der Republik mit dem hellgrünen Kragen.

»Haben Sie was im Rucksacke?« flüsterte die neben ihm sitzende Frau, schob schnell und geräuschlos einen Korb mit den Füßen unter den Sitz, lüftete sich, zog ihren Rock als Vorhang weit auseinander und nahm wieder Platz.

Gudnatz antwortete nicht. Mit verlorenem Horchen saß er da und starrte in unverrückbarer Gebanntheit auf den graugrünen Rücken des Beamten, der, jetzt dicht vor ihm stehend, einen Mann veranlaßte, seinen Pack zur Durchsuchung zu öffnen.

»Wenn ich Ihn' sage, 's sind Äppel, da ist's doch genug,« protestierte der Betroffene mit vor Erregung bebender Stimme. »Öffnen,« sagte der Gendarm sanft, aber unverweigerlich.

Der andere fügte sich unter einer Flut zorniger Ergießungen über die Gemeinheit und Härte gegen Arme wegen ein paar Pfund Mehl und die Gleichgültigkeit gegen große Schieber und erklärte mit lauter Stimme, dieser Saustall von Staat sei nicht anders zu reinigen, als daß man alles kurz und klein schlage und die aufhänge, die an so was schuld seien.

»Ja, wenn ich een koschern Bauch hätte und Isaak hieße!« rief er zuletzt mit Hohnlachen.

Der Beamte verzog sein Gesicht in freundlicher Duldung, griff durch die Äpfel auf den Boden des Packs, hielt dem Erregten ein Säcklein Mehl, das möglicherweise gegen zwanzig Pfund schwer war, vor das erbleichte Gesicht und fragte gütig: »Nicht wahr, das sind bloß fünf Pfund?«

»Na, mehr doch nich!« stotterte der Betroffene glückhaft erleichtert.

»Danke,« beschied ihn der Landjäger ruhig und drehte sich zu Anton Gudnatz um, aus dessen bartlosem Gesicht noch immer jeder Zug von Geriebenheit, jedes verschlagene Lauern, jede Habsucht und Hinterlist geschwunden war und der aussah wie ein dümmlicher Pflüger. So blickte Gudnatz dem Gendarmen einen Augenblick ins Gesicht, dann erbleichte er und zerrte plötzlich entschlossen an dem Rucksack, ihn von den Achseln zu bekommen.

»Was haben Sie drin?« fragte der Beamte.

»Brot und Wurst und Schnaps und ...« stotterte Gudnatz und erbleichte immer mehr.

»Na, da lassen Sie's, da zeigen Sie mir den Reiseausweis,« entschied der Gendarm.

Aber aus der tödlichen Entschlossenheit Gudnatzens wurde etwas wie eine irre Verzerrung. Er atmete schluckend und fliegend und riß mit Gewalt an den Tragriemen.

»Nein, Sie sollen's sehen, ich werd's Ihn' geben, es ist besser!« schrie er gequält, seine Lippen zitterten und seine Hände bebten.

Alles drängte sich herzu. »Was hat's denn?« »Das ist der von vorhin!« »Wer?« »Nun, er lachte doch wie tolle und verrückt.« »Hast's nicht gehört?« So schwirrte es durcheinander. In diesem Augenblick riß der Schaffner die Tür auf und rief herein: »Es geht gleich los, Herr Gendarm!« »Jaja! Bloß noch einen Momang,« antwortete der Beamte. Dann kehrte er sich wieder zu Gudnatz, der noch immer verstört an den Schnallen seines Rucksackes zerrte und dabei dumpf murmelte: »Alles, jawohl, alles, weg, weg.«

»Das ist ja zum Verrücktwerden,« schrie jetzt der Gendarm in höchstem Unwillen. »Herrgott noch mal, so versteh« Sie doch! Lassen Sie den Rucksack und zeigen Sie mir den Reiseausweis!« Dadurch wurde Gudnatz von dem Ausweg zurückgerissen, nach dem es ihn wie mit Peitschen trieb. Er kam zu sich und erkannte die Gefahr, in der er schwebte.

Sofort war er wieder Herr seiner ganzen Verschlagenheit, hielt die Blödheit mit Gewalt in seinem Gesicht fest, lächelte wie einer, den der Stockschnupfen verdummt hat, begann mit tattrigverlegenem »Jaja. Schon gut. Gleich, Herr Meester,« in seinen Taschen herumzufingern und brachte endlich den gefälschten Inländerausweis zum Vorschein, den er sich für seine Schieberreisen hatte anfertigen lassen und der, mit seiner gestempelten Photographie versehen, auf den Namen des Handelsmannes Karl Glumm aus Thomasdorf, Kreis Grottkau, lautete.

Der Zug pfiff.

Der Gendarm verglich schnell das Bild Glumms mit dem Gesicht Gudnatzens und sah, daß es stimmte. Er nickte und warf schnell den Schein in des Schiebers Hand zurück. Dann sprang er aus dem anrückenden Wagen. Die Leute, die sich neugierig um den Vorgang geballt hatten, zerstreuten sich nun wieder ungefähr an die Plätze, die sie vorher eingenommen hatten. Sie waren im Grunde enttäuscht über den alltäglichen Ausgang des Zusammenstoßes zwischen dem Gendarmen und Gudnatz, den niemand kannte, der für alle nur ein krummer halbverrückter Mann war. Dieses geheime Mißvergnügen verleitete die meisten, sich über die anmaßlichen Befehlsmanieren des Sicherheitsbeamten und seine Schnauzerei einem gutmütig-beschränkten Menschen gegenüber zu entrüsten und einem Knirps von Mann lächelnd zuzustimmen, der, einen Krämerpack auf dem Rücken, eine Elle unter den Arm geklemmt, mit ausgekrähter, schriller Stimme, indes er von dem Zuge immerfort hin- und hergeworfen wurde, in wilden Ausdrücken alle aufforderte, mit der Polizei überhaupt aufzuräumen, weil doch jeder nun Gott sei Dank allein wisse, was er zu tun und zu lassen habe. »Wir sind doch keene Hunde nich,« schrie er, »und wenn und es muß partuh ›Kusch‹ gesagt werden, da wollen wir's jetze a mal sagen, aber aus 'm ff. Denn wozu sein wir denn um Himmelswilln, sein wir denn eene Republik!«

Darauf brach der ganze Wagen in fröhliches Gelächter aus.

Anton Gudnatz, den alles dies doch am meisten anging, achtete auf nichts, sondern saß mit zu Boden gekehrtem Gesicht da und litt noch immer unter dem eisigen Brausen, das ihn befallen hatte, als er von dem Landjäger nach dem Reiseausweis angebrüllt, aus einem glückseligen Taumel aufgewacht war, der ihn doch sicher um sein Geld und ins Gefängnis gebracht hätte. Trotzdem der Gefahr entronnen, war es ihm unmöglich, sich zu freuen. Mühsam rang er gegen eine unbegreifliche, reuevolle Trauer. Um diesem inneren Kampf zu entrinnen, hob er endlich den Kopf und sah zum Fenster hinaus. Aber die grellbeleuchtete Sommerlandschaft rückte wie eine Fratzenjagd vorüber. Er hielt es nicht aus, wendete den Blick weg und sah sich mit ratlosem Lächeln die Leute an.

Dann fiel die Finsternis des langen Dittersbacher Tunnels über alles und sein merkwürdiger Schreck begann sich zu lösen.

»Gott sei Dank!« fuhr es ihm durch den Kopf und ganz erschöpft lehnte er sich zurück.

Der Zug stampfte und raffelte dumpf durch die Wölbung des Tunnels. Sein Brummen, Knallen und Klirren klang Gudnatz wie Musik. Wenn es nur überhaupt nicht mehr aufhörte, wenn es zu machen wäre, daß die Finsternis andauerte, bis er glücklich die Grenze überschritten hätte!

Und während er diesem törichten Wunsch einen Augenblick inbrünstig nachhing, fühlte er wieder seine Wange lind gestreichelt und gedankenfern, aber deutlich sprach seine Mutter: »Antoně, kde pak, ses? Pojd sem!«

Und wie, warum, Gudnatz wußte es nicht, aus der Tiefe seines Wesens, die in glückvoll bewußtlosem Taumel geblüht hatte, von dort her, wo er einen Augenblick die Köstlichkeit vollkommener Harmonie genossen hatte, aus der Mitte seines Wesens, brach plötzlich ein solch jäher Zorn, daß er mit dem linken Ellenbogen brutal nach der Gestalt seiner Einbildung stieß, als sei es nicht eine Person aus der Luft seiner inneren Zustände, sondern ein Mensch aus Fleisch und Bein, der ihn zu etwas Schädlichem überreden wollte. Der zornige Stoß traf die Frau, die ihm gegen den Gendarmen hatte beistehen helfen, so heftig, daß sie sich nur mit genauer Not vor dem Zubodenfallen bewahren konnte. Empört schrie sie Gudnatz an:

»Na, was hab' ich Ihn' denn getan? Wenn Sie ein Affe sein und der Gendarm brüllt Sie an, da kann ich doch nischt dafür! – Von der Bänke hätte mich das Unflat beinahe gestoßen.«

Und als in den nächsten Augenblicken der Zug aus dem Tunnel herausfuhr und der Wagen hell wurde, sah die Frau den krummen Mann, gegen den sie sich eben so entrüstet hatte, nicht mehr neben sich sitzen, sondern mit bleichem verstörtem Gesicht vor sich stehen und auf den Platz starren, auf dem er gesessen hatte, nicht anders, wie jene merkwürdige Art von Irren, die von Zeit zu Zeit in zwei Personen gespalten werden.

Nach den vorherigen Vorgängen und seinem jetzigen Betragen hielten ihn alle für verrückt, schwiegen achtungsvoll und ergriffen still, und da im nächsten Moment der Zug anhielt und Gudnatz nach hinten gerissen wurde, fing ihn ein Mann liebreich in den Armen auf und half ihm unter gütigem Spaßen wieder auf seinen Platz.

In Gudnatz' Brust arbeitete aufgelöstes Atmen und ihm war wieder weich zum Weinen. Aber er bezwang sich, schaute eine Weile zu Boden und entschuldigte sich dann bei der Frau mit der Lüge, daß er infolge seiner schweren Kriegsverwundung an einem »Gliederschmeißen« leide, über das er keine »Gewalt« habe. Und wahrend er diese Unwahrheit mit unsicherer, schußriger Stimme sagte, machte er wirklich den Eindruck eines ratlosen, verschüchterten Kindes, daß die Frau ihm ergriffen zuhörte, endlich begütigend die Hand auf die seine legte und tröstend zu ihm sagte: »Nehmen Sie's bloß nicht übel, das vorhin, das Geblöke von mir. Aber ich konnte es doch nich wissen. Nich? Ach und mir sein eben alle Menschen.« Gudnatz zog die Rechte unter der Hand der Frau erregt weg, begann kummervoll seine Hände durchzugreifen und murmelte: »Wenn der Gendarm nicht auf einmal zu schreien angefangen Hütte, ich glaube, ich war mit der Hand in den Stiefelschaft gekommen.«

Die Frau, die nicht verstand, was Gudnatz murmelte, glaubte, er werde noch immer vom Kriegswahnsinn regiert, rückte erst ein wenig ab, erhob sich dann, ging weg und lehnte sich weit entfernt neben einem Fenster gegen die Wand. Auch viele andere Mitreisende traten von Gudnatz einen Schritt zurück, daß sich um ihn eine Art Vorhof bildete. Nur einige starke, beherzte Männer blieben in seiner Nähe stehen.

Gudnatz aber saß mit gerecktem Kopf und zusammengezogener Stirne da, als höre er gespannt auf unverständliche Worte, die jemand aus sehr großer Entfernung zu ihm sprach. Dabei griff er immerfort erregt seine Hände durch.

 

2

Gudnatz befand sich in einer ihm ganz ungewohnten Gewissensnot, aus der er keinen Ausweg wußte. »Ich kann doch nich alles hergeben, was ich im Rucksack habe, nich wahr? Da müßte ich doch Tinte gesoffen haben. Was?« So fuhr er endlich aus seinem unterirdischem Kummer auf und frug die Männer, die um ihn standen und ihn unausgefetzt forschend beobachteten.

»Nu nee!« antwortete endlich einer unsicher lachend.

»Freilich nich. Da wärn Sie ein Esel.«

»Das mein' ich ebens auch. Nee, nee! Deswegen, weeß Gott, deswegen mach ich doch die Reise nich.«

Es waren drei Männer, die er so anredete, in der Mitte ein blonder hochgewachsener, hünenhafter Mann in mittleren Jahren, langsam, zäh in seinen Bewegungen, mit großen prüfenden Augen, rechts und links von ihm kleine, dunkeläugige Menschen mit wie zusammengerammten Leibern. »Gelt, Sie sein ein Zimmermann?« fragte Gudnatz den mittleren, um ihre Aufmerksamkeit von sich abzulenken, und als der Angeredete statt der Antwort nur den Kopf zur Seite warf und vieldeutig lächelte, nahm das der Flüchtling als Bestätigung auf und fuhr fort: »Ja, ja, das hab' ich auf den ersten Blick gesehen, und Sie beiden,« damit wandte er sich an die anderen, »Sie sind Bergleute, was?« Die beiden wechselten einen lustigen Blick und brachen schließlich in ein lautes Gelächter aus. In diesem Augenblick hielt der Zug, und alle drei drängten nach dem Ausgange. Gudnatz war es, daß es am besten sei, hier auch auszusteigen. Er erhob sich und strebte den Dreien nach. Aber da wurde ihm die Tür vor der Nase zugeworfen, und einer der beiden kleinen Dunkeln rief höhnisch durchs offene Fenster herauf: »Nee, nee, bleiben Sie drinne und sehn Sie zu, daß Sie nich umfallen.«

»Was sagen Sie?« schrie Gudnatz plötzlich wütend.

»Mumpitz!« brüllten beide und verschwanden mit gröhlendem Gelächter in der Unterführung. Der ganze Wagen wieherte vor Glück, und Gudnatz wagte nicht, an seinen Platz zurückzukehren. Blassen Gesichtes lehnte er sich weit hinaus und schaute ins Unbestimmte. Da war wieder die Feindseligkeit der Menschen, die ihn von der Gemeinschaft mit sich ausschlössen, als spürten sie das Verbrecherische seines Geschäfts und des Reichtums, den er bei sich trug, instinktiv. Warum war er mit der alten Frau in Dittersbach nicht davongegangen, immer tiefer in das Schimmern hinein, das in ihm aufgeblüht war. Warum nicht? Warum nicht? Seiner selbst nicht mächtig, überließ er sich diesem inbrünstigem Vorwurf, wahrend er ins Unbestimmte starrte.

Da ruckte der Zug wieder an, und Gudnatz fühlte sich davongetragen. Er empfand das schmerzhaft, als werde er dadurch seiner einzigen Rettung entrissen. Und während er stand und darüber grübelte, was zu tun sei, diesem Verlieren zu entgehen, kam ihm der Gedanke, wenn er der Frau, die er vorhin im Tunnel gestoßen hatte, ein Geschenk gebe, dann sei alles gut, die Frau zürne nicht mehr, die anderen Leute sähen ihn nicht mehr mit Verachtung an, und auf irgendeine Weise komme wieder etwas von dem Licht in ihm auf, das ihn so beseligt hatte.

Er zog seine Banknotentasche und entnahm ihr ohne zu wägen einen Schein. Dann tat er entschieden die paar Schritte zu seinen Platz neben die Frau, die sich auch wieder gesetzt hatte, beugte sich so weit vor, daß die übrigen Reisenden nicht sehen konnten, was er in der Hand hielt, und sagte mit vor Erregung bebender Stimme: »Da, Mutterle, nehmen Sie. Ich hab' Ihn' vorhin gestoßen. Aber wissen Sie, ich wollt's nich.« Betroffen blickte die Frau in sein aufgelöstes Gesicht mit den brennenden Augen.

»Kein Wort,« stotterte er bittend und halblaut, »nehmen Sie's. Ich will nichts von Ihn'! Nehmen Sie's, Sie tun mir einen Gefallen.«

Aber da erkannte die Frau, daß es ein Fünfzigmarkschein sei, den ihr Gudnatz anbot, und sträubte sich energisch: »Was denn? Das sind ja fünfzig Mark! Nee, was denken Sie denn? Nicht! Ich wüßte nich wofür ...«

Das Verfinstern eines Tunnels fiel über den Handel der beiden. »Halten Sie's Maul. Es ist schön, sag ich, mehr nicht und damit gut,« stieß Gudnatz hervor, drückte ihr den Schein in die widerwillige Hand, erhob sich fluchtartig, trat ans Fenster und beugte sich wieder hinaus.

Es war der kurze Tunnel hinter dem Bad Charlottenbrunn, wo sich dies ereignete. Bald prallte das Licht wieder in den Wagen, und Gudnatz mußte sich mit beiden Händen festhalten. Denn es wogte in ihm, daß er Mühe hatte, aufrecht zu stehen. Hinter ihm sprachen die Leute laut durcheinander, und er hörte die Stimme der Frau scharf und erregt, als verteidige sie sich gegen Vorwürfe.

»Ich kann doch nichts dafür.« »Ach was, wenn er's nich hätt, gab er's nicht.« »Fünfzig Mark? Zeigen Sie mal! Wahrhaftig!« »Er ist...«

So schwirrte das Gespräch durcheinander. Dann ertönte vereinzelt vorsichtiges Gelächter.

Gudnatz wieder war zum Weinen elend zumute. Er biß die Zähne aufeinander, packte den Rahmen des heruntergerissenen Fensters, als gelte es, ihn in den Fingern zu zermalmen, und schloß die Augen. So verharrte er lange und wehrte sich gegen aufsteigende Selbstvorwürfe, indem er fortwährend gedankenleise sagte: »Ich muß. Ich muß. Ich muß ...«

Dann ging er abgeschlagen auf seinen Platz, klemmte die geschlossenen Hände zwischen die Knie und sah geneigten Hauptes zu Boden, in dumpfer ratloser Scham, wie ein ausgescholtener Knabe. Er fühlte die Augen der Leute wie ein Brennen auf sich gerichtet. Alle ihre Blicke, die ihn forschend betrachteten, gruben sich in ihn ein, um herauszubekommen, warum er hier sitze, mit der Bahn fahre wie jeder andere anständige Mensch und doch in dieser schweren Zeit den unbegreiflichen Blödsinn begehe, sich von einer dummen Ungeschicklichkeit mit fünfzig Mark loszukaufen. Wenn man im Kriege einen Schaden davongetragen hat, so ist das doch schon Entschuldigung für allerhand Torheit genug. Um seines Elends halber noch Geld zu geben, ist Verrücktheit, wenn da nicht noch etwas anderes, Schlimmeres dahintersteckt. Anton Gudnatz konnte nicht verhindern, daß diese Gedanken, die von den andern auf ihn eindrangen, sich unmerklich in seine eigenen verwandelten. Die Not seines immer stärker erwachenden Gewissens wurde so groß, daß er sich nicht mehr seines Kognaks und seiner Zigarren erinnerte, mit denen er sonst leicht über jede Schwierigkeit hinweggekommen war. Er starrte mit zusammengerissenen Brauen zu Boden, stieß fortwährend mit der Spitze des Stockes in einen Dielenritz, murmelte machtlos ohne Aufhören: »Ich muß. Es nutzt alles nichts, ich muß« und wurde doch nicht in die Freude gehoben, die er von dem Geschenk erwartet hatte. Endlich stieg der Zustand zu solcher Unerträglichkeit, daß er merkte, wenn das sich nicht gleich ändere, sei er gezwungen, aufzuspringen und allen Leuten zu sagen, daß er kein schlechter Mensch sei, daß er ein ganzes, langes Leben gehungert, gearbeitet, nein, sich geplagt habe, und wenn er nun seine Ersparnisse vor Menschen in Sicherheit bringe, die ihn um alles berauben und als Krüppel und alten Kerl wieder in die Gasse hinabstoßen wollten, so sei dies doch keine Schlechtigkeit.

Und ehe er sich's versah, überfiel ihn ein solcher Zorn, daß er wirklich aufsprang, mit dem Stock auf die Bank hieb und gequält schrie: »Verflucht, ich bin kein Lump! Nein und dreimal nein! Bei Tarnopol haben sie mir das Bein zweimal zerschossen und bei Warschau sind mir zwei Rippen aus dem Leibe gerissen worden!« Er hatte ein qualverzerrtes Gesicht. Und als er sich umdrehte, beteuernd die Hand hob, in der er den Stock wie eine Stichwaffe hielt und mit drohender, schmerzdumpfer Stimme weiter sprach: »Ja, ja. Ihr Leute, ich weiß es besser wie ihr!« da wichen alle in die Ecken vor ihm zurück, bis auf einen Mann, der lächelnd und furchtlos auf ihn zutrat, und indem er ihm den Arm mit dem Stock herunterdrückte, sprach er ruhig und beiläufig: »Schon gut, Kamerad. Laß das sein. Ich bin auch vier Jahre Russe gewesen. Nee, nee! Nimm's nicht schlimm. Es kommt eben manchmal über einen. Ich weiß auch. Setz dich und denk nicht mehr dran!«

Bis in die Zähne blaß, tief atmend wie nach einem unvermuteten Sturz und keines Wortes mächtig, ließ er sich auf seinen Sitz drücken. Alle betrachteten den krummen Mann nun wieder erschüttert und furchtsam. Die Frau neben ihm aber zog den Fünfzigmarkschein aus dem Unterrock und redete auf ihn ein, das Geld zurückzunehmen. Gudnatz fuhr auf und schob mit höhnischem Lachen ihre Hand weg. Dann verfiel er wieder in das Hinstarren. Als der Zug vor Neurode mit Gepolter über die hohe Eisenbahnbrücke lief, hob er den Kopf und tat einen langen, verlorenen Blick auf die besonnte Landschaft hinaus, die in sanften Hügeln und ruhigen, schwer gehobenen Waldbergen vorüberzog. Da vertiefte sich sein abgehetztes Gesicht zu einem glückvoll freudigem Lächeln. Und er frug mit aufgelöster Stimme vor sich hin, alle Menschen und eigentlich auch niemand, als sein Herz: »Ist das die Grafschaft?« Dann senkte er wieder den Kopf und vollendete glückselig wie im Traume: »Ja, ja, das ist meine Grafschaft.«

Als der Zug in Neurode hielt, verließ er still, ohne nach jemand zu sehen, den Wagen, löste sich eine Zuschlagskarte und suchte sich ein Abteil dritter Klasse.

 

3

Gudnatz hatte am Schalter erfahren, daß der Zug zehn Minuten Aufenthalt habe, und als er durch die Tür auf den Perron zurückkehrte, bemerkte er die schwarze Holztafel, auf der die Verspätungen der Züge verzeichnet werden. Mit geruhigem Schritt näherte er sich der Tafel und las, daß der Zug, auf dem er fuhr, zehn Minuten unterwegs versäumt habe. Dann also mußte die Abfahrt jeden Augenblick erfolgen. Aber anstatt nun, wie die übrigen Reisenden, eilig nach einem Abteil zu suchen, ging er gleichgültig den Perron gegen das Ende des Zuges hin, mehr, um aus dem dämmerigem Licht der Halle herauszukommen, als bemüht, irgendwo Unterkunft zu finden. Seine alten Reisegenossen lehnten aus den Fenstern und sahen gespannt seinem Trödeln zu, das sie sich offenbar nicht erklären konnten und als eine Art stillen Wahns betrachteten.

»Was suchen Sie denn? Sie! He! Der Zug wird gleich abgehen,« rief ihm die Frau zu, der er die fünfzig Mark geschenkt hatte. Gudnatz achtete gar nicht auf den Ruf, sondern ging mit seinem unentschiedenen, latschigen Schritt immer weiter den Zug zurück. Die Lokomotive ächzte wie ein überanstrengtes Tier. Der Zug wollte kein Ende nehmen. Da hörte die Rampe auf, und Gudnatz stand außerhalb der verschmutzten gläsernen Bedachung im hellen Licht. Mit einem befreiten Blick sah er beim Umwenden die Stadt, die mit ihren Häusern und den beiden Kirchen einen langen Abhang hinunter in ein Tälchen stieg, und jenseits hob sich das Land in sanft wogenden Hügeln empor, die verklärt und in wohligen Bewegungen hinflossen. Hinter ihnen stieg der Himmel in einer solch stillen und zugleich geheimnisvoll verzückten Klarheit aus unausdenkbaren Tiefen und Weiten in seine eigene Unendlichkeit der Höhe, daß den aus den Verirrungen und Knebelungen seines Lebens schon so weit hinausgeführten Gudnatz die Empfindung der Kindheit leidenschaftlich überkam, wenn er diese Höhenrücken überstiege, sei alles gut, sei alles erreicht, was er suchte. Und wie er so abgewendet stand und in eine unbegreifliche Sehnsucht seiner selbst versank, klang die andere Stimme aus seiner Tiefe herauf wieder stärker, die in ihm befreit worden war, seitdem er die Stimme seiner Mutter von sich abgewehrt und dabei die fremde Frau beinahe von der Bank gestoßen hatte. Ihr Laut stieg vernehmlicher in ihm auf, aber was sie sagte und von ihm wollte, war mit dem Verstehen nicht zu begreifen. Es war dasselbe, was die Höhen hinter der Stadt mit ihren ruhigen, verklärten Bewegungen in den Himmel schrieben, und es war auch zugleich das paradiesische Licht, das hinter ihnen heraufstieg und auch zutiefst aber unerreichbar in ihm lag.

»Mein Gott,« fuhr es Gudnatz durch den Kopf, »ich brauchte ja gar nicht weiter mitzufahren. Ich könnte ja gleich da geradeswegs durch Neurode durch, über die Hügel gehen, über Ottendorf ins Braunsche. Da war alles gemacht und eher fertig wie so in der Bahn.«

Und da er so, in sekundenschnellem Hauch der Phantasie bewegt, die umwallte Ebene des deutschböhmischen Braunauer Ländchens vor sich sah, mit der stillen Klosterstadt in seiner Mitte, dem sägenscharfen Zug des Falkengebirges als seiner westlichen steilen Waldwand, erblickte er sich als kleinen Jungen neben seinem Vater in der Sommerhitze auf staubiger Straße einen stundenlangen Bergabhang hinunterwandeln. Sein Vater war ganz lang und mager gewesen, mit gleichmüßig ausholenden Schritten dahingegangen, und je tiefer sie die vielgewundene Chaussee ins Tal geführt hatte, desto glückhafter war des Vaters Gesicht geworden, desto fliegender sein Gang, so daß des kleinen Gudnatz kurze Beine nicht mehr mitgekonnt hatten und er es dem Vater sagen mußte, daß er nicht mehr Schritt zu halten imstande sei. Da hatte sein Vater fast jubelnd ausgerufen: »Lauf, Junge, lauf, wir kommen jetzt aus dem böhmischen Winkel richtig in die Grafschaft. Da bist du und ich zu Hause.« Und während diese Erinnerung wie ein Traumhuschen und doch bis in alle Einzelheiten greifbar an seinem inneren Gesicht vorüberflog, hörte er die machtlos hohe Stimme seines Vaters deutlich aufklingen, und wie in der Kindheit stand er wieder zwischen diesem und seiner Mutter, seinen zwei liebsten Menschen, die sich niemals gezankt und auch nie ganz verstanden hatten. Seine Kindheit, solange der Vater gelebt hatte, war wie em grubentiefes Tal gewesen, in dem sich der Wind zweier auseinanderlaufender Gebirge feindlich getroffen und in unhörbaren Wirbeln bekämpft hatte. Dieses Bild fiel so schnell über Gudnatz her, wie die Erinnerung an die einzige Fußreise mit seinem Vater ihn heimgesucht hatte.

Er drehte sich um, sah an dem langen Zug mit ernsten Augen hinunter und überlegte, wenn sein Vater in Dittersbach bei ihm gewesen wäre, dann hätte er ihm sicher geraten, das ganze verfluchte, ungerechte Geld dem Gendarmen zu geben, die Flucht einzustellen und hier in dem Lande zu bleiben, wohin er gehörte. Was ging ihn die ganze Böhmakei an?

Mit finstern Augen musterte er den Bahnsteig, auf dem nur noch einzelne Leute standen und zu Köpfen hinaufsahen, die aus den Wagenfenstern guckten. Da trat der Beamte mit der knallroten Mütze eilig aus der Tür des Bahnhofsgebäudes, schrie: »Zurücktreten!« und hob die weiße grüngeränderte Scheibe als Zeichen zur Abfahrt. In diesem Augenblick zerriß die Bedenklichkeit in Gudnatz wieder, die Liebe zu seinem Besitz stürzte sich als loderheiße Angst auf ihn, daß er auf den Eingang zu dem nächsten Abteil zulief, das brusthohe Trittbrett packte und während der Zug in den Verkuppelungen schon knirschte, sich mit verzweifelter Anstrengung hochzog und nach einigem Drücken und Reißen an der Tür glücklich in das Abteil gelangte. Der Zug war schon im Fahren, als er die Tür hinter sich zuschlug, und er hörte den Beamten noch eine Weile schreiend in das Brausen der Räder schimpfen. Dann setzte das taktmäßige Knacken und Rollen der gesicherten Fahrt ein.

Gudnatz wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und lachte schadenfroh und betreten in kurzen Stößen vor sich hin, während er die Füße der ihm gegenübersitzenden Reisenden betrachtete: zwei Paar Männerstiefeln und links ein Paar Frauenschuhe, unter einem schwarzen Rock hervorstehend. Dann stand er auf und setzte sich.

Aus Bedrücktheit wagte er erst nicht aufzublicken, sondern ordnete sein Jackett, zupfte an den Hosen, zerrte an den Tragriemen des Rucksackes und blies dann und wann den Atem wie spielend von sich, alles um einen reisegeübten Mann vorzutäuschen, den solch halsbrecherische Kunststückchen eigentlich nicht sehr erregen.

»Das konnte aber schlimm ablaufen, lieber Mann,« sagte mit leisem Vorwurf eine gütige Stimme zu ihm.

Gudnatz fuhr in die Höh und sah gerade vor sich einen blonden, bartlosen Mann in langem schwarzen Rock mit dem Rundlingen der katholischen Geistlichen, neben ihm einen gutgekleideten Gutsbesitzer mit fast ergrautem, kurzem Vollbart und in der anderen Ecke eine hochbejahrte Greisin in der Mode einer längstversunkenen Zeit, wahrscheinlich die Mutter des Gutsbesitzers.

Offenbar war es der Geistliche, der ihn angeredet hatte, denn er nickte dem aufblickenden Gudnatz ins Gesicht und sagte dabei zur Bekräftigung seines gütigen Vorwurfs: »Ja, ja. Glauben Sie mir nur.«

Das ruhige Auge des Priesters steigerte Gudnatzens Betretenheit, und unter einem lustigen Lachsprudel, der doch im Unterton wund und beklommen klang, antwortete er stolpernd und überstürzt: »Glaub' ich schon. Ja, ja. Aber wissen Sie, da gibt's nich lange Zeit zu überlegen. Ganz und gar nicht. Nee, nee. Ob man mit will oder nich mit will. Das is ganz egal. Auf eemal schnurrt's im Zuge, der Mann schlenkert die Scheibe überm Kopf, es pfeift. Da kommt man nich zurechte mit sich. Da kommt man nich zurecht. Hat keene Zeit. Muß fort. Muß fort. Da hilft nichts.« Ohne es zu wissen, glitt er in die unterirdischen Wasser seiner himmlischen Auflösung zurück und sprach die letzten Worte schon wieder mit gesenktem Kopfe vor seine Füße hin.

Als es ihm möglich geworden war zu schweigen, spürte er, wie sich die drei Reisenden verständigend anblickten. Davon lief es Gudnatz kalt über den Rücken, und er dachte: Um Gottes willen, was wird bloß werden! Warum bin ich hierher gekommen? Warum?

Und es wurde wie ein Strömen in ihm, das nach allen Seiten auseinanderbraust und wie ein Sturm, der durch ein Haus ohne Fenster und Türen fahrt, daß der, der darin ist, nicht weiß, sitzt er unter einem Dach oder im Felde draußen. Sein Weib, sein Sohn, sein Haus in Sch. und selbst noch sein Reichtum, um den er doch alles dieses litt, alles war vergessen, wie ein abgebranntes Streichholz in seiner Hosentasche. Er wußte selbst auf einmal nicht, daß er vor den Häschern auf der Flucht nach Böhmen sei, und fühlte sein Leben wie ein Ameisenhaufchen, das von dem Fuß eines großen Wanderers zertreten ist. Das Rollen des Zuges aber hörte sich an, als sei es das Geräusch eines fremden, unbekannten Wagens, der hinter fernen Hügeln dahinging. Dies Verjagtsein aus sich nach allen Seiten hin ertrug Gudnatz nicht lange, raffte sich mit aller Kraft auf und begann, um in das Leben zurückzufinden, auf das Gespräch seiner Mitreisenden zu achten, das durch sein Hereinstolpern unterbrochen, bald wieder begonnen hatte.

»Ich bin anderer Meinung,« sagte gerade der Gutsbesitzer mit dem kurzen, grauen Vollbart. »Vor der Hand und wohl noch eine lange Weile, lasse man alle weiter abliegenden Gedanken sein. Die laufen uns nicht fort. Jetzt heißt es, nur eins zu erkennen und darnach zu handeln: Eine hungernde Kuh gibt keine Milch und zieht nicht, sondern kann nichts tun als brüllen.«

»Nein, Herr Pfarrer, da geb ich meinem Sohne recht,« sagte die Greisin unendlich sanft.

»Ja, freilich. Gewiß, verehrte Frau ...« nahm jetzt der Geistliche in einer Art das Wort, als wolle er es sobald nicht wieder hergeben. Aber der Gutsbesitzer ließ ihn nicht dazu kommen. Er unterbrach ihn:

»Verzeihen Sie, Hochwürden. Ich bin noch nicht fertig. Na, also, ich will nur sagen, daß man vor der Hand das Dreschen mit der Luftmaschine sein lassen soll. Alle Systeme laufen doch am Ende auf Redensarten hinaus in unserer Zeit, in der niemand warten kann. Ganz die Zwangswirtschaft aufzuheben, geht ja vorläufig nicht. Aber mit den kleinen Schikanen sollte man aufhören. Haben Sie nicht gesehen? Auf fast jeden Bahnhof steht ein Gendarm oder ein Polizist oder ein Lebensmittelkontrolleur in Zivil und nimmt den armen Leuten das Säckel Mehl, die paar Kartoffeln ab, die sie doch nu partuh brauchen, wollen sie mit ihren Kindern nicht verhungern. Wir haben eine spottschlechte Frühkartoffelernte. Laßt doch die armen Leute für sich sorgen! So kriegen sie wieder Zutrauen zu sich und dem Staate. Und beides muß neu werden, sag' ich Ihnen, beides, der Bürger und der Staat.«

Der Gutsbesitzer stellte die Beine weit auseinander, räusperte sich und schlug sich leise mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.

Der Geistliche antwortete nicht sogleich, saß da, sah vor sich in die Luft, und man spürte das heimliche Lächeln seiner Überlegenheit, das er überwand. Dann schüttelte er mit dem Kopfe.

»Herr Amtsrat, Sie sprechen schon wieder von Bürger und Staat. Aber noch niemand ist es gelungen, genau zu definieren, was ein Bürger und was ein Staat sei. Niemand,« sagte er ruhig und sah den Gutsbesitzer groß an.

»Gott ja, freilich. Was ist das: Ein Rind, ein Hund, ein Vogel? Oder Wasser und Luft? Freilich weiß das niemand. Haha,« entgegnete der Oberamtmann und lachte höhnisch auf.

»Sehn Sie! Wir als Menschen wissen das alles nicht. Aber als Christen wissen wir es. Wir lesen in der Heiligen Schrift, daß unsere Begierden Fesseln sind, die uns selbst und andere binden. Erst wenn wir den Vogel aus dem Käfig lassen, wissen wir, wie unfrei uns der Vogel gemacht hat. Also hilft es weder Begierden einzukerkern, noch sie freizulassen. Keine zu haben, d. h. keine bösen, das alleine hilft. Sie alle versuchen, irgend etwas zu reformieren, was außerhalb ihrer ist. Aber die eignen Begierden sind es, die reformiert werden müssen, sonst nichts, sonst nichts.«

Gudnatz saß, den Ellenbogen auf die Knie gestützt, mit zu Boden gekehltem Gesicht da und fraß förmlich das Gespräch mit hungrigem Ohr in sich hinein.

Der Priester schwieg. Niemand entgegnete etwas darauf. Nur die Räder des fahrenden Zuges hämmerten in die Stille. Gudnatz fühlte es schmerzhaft gegen seine Brust schlagen.

Er richtete sich auf und sah den Geistlichen mit blassem, zuckendem Gesicht an.

»Nehmen Sie's nicht übel,« sagte er dann mit unruhigem Atem, »Begierden sagen Sie. Gut. Ich versteh. Richtig. Zum Beispiel: Ich hab eine Flasche Kognak im Rucksack, Wurst und Brot. Soll ich das nu nehmen, das Fenster aufmachen und 'nausschmeißen? Was?«

Die drei Reisenden sahen einander verständigend an und lachten. Gudnatz' Gesicht wurde noch blasser, noch verzweifelter. Aber der Geistliche hatte sich schon gefaßt und sagte mit nachsichtiger Güte: »Mein lieber Mann, das ist so eine Sache ...«

»Gar nicht, mein lieber Mann,« unterbrach ihn Gudnatz bitter und mit zuckenden Lippen, »lieber Mann, haha! Wer ist denn ein lieber Mann? Kee Mensch, Sie nicht, der Herr nicht und ich schon lange nicht. Nee, nee! Bloß die alte liebe Mutter da. Die ja. Das andere ist alles nischt. Aber man muß doch mit was anfangen. Das nennen Sie reformieren. Versteh ich alles. Da muß man anfangen, dahier!«

Bei diesen Worten führte Gudnatz einen Faustschlag gegen seine eigene Brust.

»Da! Da! sonst nichts. Sonst nichts. Ganz wie Sie sagen.« Dann stemmte er wieder die Ellenbogen auf die Knie, senkte den Kopf zur Erde und murmelte in sich hinein: »Und ich mach's. Ich mach's. Ich mach's.«

Die Greisin blickte erschüttert erst ihren Sohn und dann den Geistlichen an und schüttelte bekümmert den Kopf.

Niemand wußte, sei der seltsame Mann betrunken oder wahnsinnig.

»Kommt nicht jetzt Mittelsteine?« fragte die alte Dame so leise wie in einem Krankenzimmer. Der blonde Pfarrer nickte stumm und fuhr fort, den zusammengekrümmten Gudnatz durchdringend zu betrachten.

Der Schieber richtete sich unter diesem Blick mit einem stöhnenden Atemzuge auf, drückte seine Schultern gerade und sagte entschuldigend zu allen: »Nehmen Sie mir's nicht übel. Ich bin ein Kriegsverletzter. Bei Tarnopol haben sie mir das rechte Bein da zweimal zerschossen und vor Warschau hat mir's die Seite aufgerissen. Zwei Rippen sind heidi! Da kommt's halt manchmal über einen. Aber haben Sie keene Angst nich. Ich bin kee schlechter Mensch, nein und noch eemal nein!«

Die Räder knirschten. Der Zug fuhr langsamer und langsamer und endlich stand er.

Die Drei sahen Gudnatz mit großen Augen und ernstem Gesicht an.

»Ja, ja. Der Krieg. Der verwünschte Krieg,« sagte die Greisin endlich in barmherziger Bitterkeit.

»Ja, der Krieg,« wiederholte Gudnatz, erhob sich, ließ das Fenster herunter und beugte sich hinaus. Aber ehe er draußen etwas ins Auge fassen konnte, fiel ihm ein, daß die alte Frau und er nicht das Richtige gesagt hatten, deshalb drehte er sich um und sprach laut in das Gespräch der Drei, das schon wieder begonnen hatte: »Nein, der Krieg nicht. Gar nicht. Die Menschen!«

Dann, ohne sich um den Eindruck seiner Worte zu kümmern, lehnte er sich wieder weit zum Fenster hinaus und sah den Zug entlang, der leicht gekrümmt vor der Station stand, so daß er die ersten Wagen, sogar die Lokomotive sehen konnte, wie sie den Dampf aus dem Ventil des Schieberkastens in grauen, schießenden Wolken über die Fliesen des überdachten Bahnsteigs jagte. Mit dem Schornstein rasselte sie abgehetzt und asthmatisch manchmal einen dicken Ballen gelben Rauches in die Luft, als erbreche sich das eiserne Untier vor Übermüdung und jedesmal fuhr dabei ein Klirren durch den ganzen Zug, wie das Beben eherner Muskeln.

»Na, da bleib bloß schon stehen!« murmelte Gudnatz unwillig und bemühte sich, mit den Augen den Knäuel der Reisenden zu entwirren, der sich vor dem Zuge durch Zu- und Abströmen fortwährend ballte und löste. Der nahe Wallfahrtsort Albendorf und die Eulengebirgsbahn, die hier vorüberführte, erzeugten auf dieser Station immer einen sehr lebhaften Verkehr. Und weil es sich meistens um nicht sehr bahnkundige Reisende handelte, ging das nie ohne erhebliches Getöse ab. Die Beamten brüllten dirigierend, Kinder schrien nach den Eltern, Mütter gellten ihren Anhang zusammen, kleine Leiterwagen wurden aus dem Zuge gehoben und ratterten über die Steinplatten, Kisten, Körbe und Säcke wurden hin- und hergeschleppt.

»Das ist ja ein Leben wie in Berlin, dahier. Ja, ja, die Grafschafter sein helle!« sagte Gudnatz bewundernd für sich hin, und sein Heimatstolz löste etwas die Finsternis und Lebensbitterkeit, die ihn erfüllte.

Aber da trat, wohl von dem Kleinbahnhof herüberkommend, ein Gendarm durch die Tür auf den Perron, ein breitschulteriger, großer Mann mit gestutztem, graumeliertem Vollbart, in straffer militärischer Haltung. Das dicke Notizbuch halb unter die Montur auf der Brust geschoben, einen Arm in die Hüfte gestemmt, das linke Bein vorgestellt, so faßte er neben der Tür Posto und musterte scharf die Reisenden.

»Da ist schon wieder so ein Luder!«

Gudnatz rief es empört in den Wagen zurück, dem Oberamtmann zu, der sich vorhin über die Belästigung der armen Leute aufgehalten hatte. Der alte Herr hob auf den Zuruf kaum den Kopf und lächelte gleichgültig und ablehnend.

»Ein Gendarm ist wieder da. Kommen Sie her und sehn Sie! Dort steht er an der Tür und lauert,« sagte Gudnatz erklärend und aufreizend.

Aber der Oberamtmann winkte mit der Hand ab und antwortete mit einer gewissen Überwindung: »Schon gut. Lassen Sie's sein.« Dann fuhr er im Gespräch mit dem Pfarrer fort.

Gudnatz erblaßte, von der Geringschätzung des alten Herrn zurückgestoßen, und starrte ihn eine Weile unter Zwinkern und Lippenzucken an, denn er begann zu schwanken, ob er mit einer Grobheit auftrumpfe oder in Rücksicht auf seine Sicherheit sich nicht lieber auch hinsetzte wie die Drei da, die der Not der Leute mit schönen klugen Worten unter die Arme griffen, im übrigen aber bequem und gemächlich an allem vorüberfuhren.

Uno schon neigte er sich auf ihre Seite, drehte sich nach dem Wageninneren zu und streckte den linken Arm nach der Bank aus, um gemächlich niederzukommen: da gellte von dem Perron her eine Frauenstimme so durchdringend auf, daß die drei Reisenden im Gespräch stockten und Gudnatz ohne Besinnen mit dem Kopf wieder zum Fenster hinausfuhr.

An der Bahnhofstür stand eine arme, abgemagerte Frau, offenbar aus dem Arbeiterstande, neben einem halbgefüllten Sack, der über die Schwelle lag und redete schrill auf den Gendarmen ein, der, bald auf den Sack, bald gleichmütig geradeaussehend, da und dort irgendein Wort in den leidenschaftlichen Erguß des armen Weibes rumpelte, mit dem Kopf schüttelte und endlich den Arm zornig zur Seite schleuderte, so, als schneide er die Sache energisch mitten durch.

»Aber meine Kinder hungern. Wir brauchen die Kartoffeln. Ich kann sie nicht dalassen. Ich brauch sie. Um Gottes wille, lassen Sie mir sie. Sie könn' mich ja anzeigen. Ich bin die Weisern aus Birgwitz.«

Nach diesem Schnellfeuer von verzweifelten Ausrufen riß die Frau den Sack an sich, stieß nach dem Gendarm, der sie daran hindern wollte und brachte es mit übermenschlicher Kraftanstrengung fertig, die Last bis nahe an den Zug heranzuzerren.

Die Fenster aller Wagen waren voll von Menschen. Viele schrien dem Gendarm Verwünschungen zu, wodurch er sich genötigt sah, noch hartnackiger auf der Erfüllung der ihm übertragenen Pflicht zu bestehen.

Es entstand ein unbeschreiblicher Lärm.

»Sie zweifarbiger Hammel!« schrie es aus einem Wagen.

Da brach eine wilde Wut aus dem Beamten, er stieß die Frau brutal von dem Sack weg, daß sie taumelte, und brüllte wie ein Stier: »Die Kartoffeln bleiben hier und damit basta!« Die ganze Halle dröhnte von seiner mächtigen Stimme.

Sofort trat eine lautlose Stille ein. Niemand aus dem langen Zuge wagte mehr einen Einspruch.

Die Frau stand auf dem Fleck, wohin sie der Gendarm gestoßen hatte. Sie stand zusammengesunken, mit stier vorgerecktem Kopf da, starrte teilnahmslos zu Boden und raffte mit beiden Händen an ihrem Rock.

Gudnatz sah jetzt den Zugabfertigungsbeamten mit der roten Mütze an sie Herangehen, sich zu ihr niederneigen und sie wohl zum Einsteigen auffordern. Die Frau rührte sich nicht, blickte zu Boden und raffte weiter an ihrem Rock und fing an, sich gegen den Anfang des Zuges hin zu bewegen.

Da trat der Beamte zurück und hob die Scheibe, das Zeichen zur Abfahrt gebend.

Gudnatz schlug das Herz. Seine Finger waren kalt. »Was wird bloß werden?« sann er in atemversetzender Aufregung.

Nun holte die Lokomotive mit dem ersten tiefen Dampfstoß zum Fahren aus.

Ihre riesigen Schwungräder kamen ins Drehen. Die Kuppelungen strammten sich knirschend.

Gudnatz starrte wie gebannt nur auf die arme Frau, die abgewandten Gesichts und eiligen Schrittes nach der Güterabfertigung zu ging und schon ein Stück vor der Lokomotive war, die nun ins Rollen kam. Da, plötzlich machte sie eine blitzartig schnelle Wendung, stieß einen markdurchdringenden Schrei aus und warf sich mit emporgeschleuderten Armen vor die Lokomotive.

Gudnatz sah ihre Kleider durch die Speichen des Rades wirbeln. Die Pfeife schrillte. Die Bremsen setzten ein. Aber der Zug war nicht mehr zu halten.

»Halten! Halten! Sie überfahren ja die Frau! Ich bin Gudnatz! Ich bin Gudnatz!«

Gudnatz schrie wie in Todesangst, rüttelte am Fenster, an der Tür. Nichts gab nach.

Der Zug fuhr weiter. Der Pfarrer packte den wie besessenen, totenblassen, an allen Gliedern schlotternden Mann, drückte ihn mit sanfter Gewalt auf den Sitz und sprach beruhigend auf ihn ein, obwohl ihm selbst die Hände und Augen bebten und die Lippen vor Grauen zitterten. Die Greisin hatte das Gesicht in die Hände vergraben und weinte. Der Oberamtmann sah finster vor sich hin und murmelte: »Eine verfluchte Zeit.« Sonst war es schreckensstumm in diesem Abteil, im angrenzenden, im ganzen Wagen. Der Zug klirrte wie ein ehernes Totengerippe, wie eine eiserne Henkermaschine, niemand wagte herauszusehen. Endlich hielt der Zug stöhnend. Türen krachten überall auf. Es knallte bis weit hinaus, als würden in der ganzen Welt die Häuser aufgerissen. Man hörte die Menschen über die Trittbretter klappern. Die Stimmen schwirrten gepeitscht durcheinander.

Auch der Pfarrer und der Oberamtmann beugten sich zum Wagen hinaus.

»Ist sie tot?« fragte der Oberamtmann auf gut Glück in den Schwärm und erhielt leine Antwort. »Sie sind alle wie wirr!« sagte er deshalb leise zu dem Geistlichen, der zustimmend nickte und dann erwiderte: »Ja, es ist aber auch entsetzlich. Nun der Krieg vorüber ist, zerfleischen wir uns selbst. Ich werde aussteigen. Vielleicht kann ich der Armen noch beistehen. Erlauben Sie.«

»Nein, ich rate Ihnen, nein,« sagte der Landwirt und hielt ihn sanft am Arm zurück. »Heut kann man dem Volk nicht mehr trauen. Das Gift wirbelt in den ruhigsten Köpfen und für Ihre Liebe können Sie gut und gerne eine Tracht Prügel auf den Rücken kriegen. Bleiben Sie!« und sich unterbrechend, wandte er sich an einen gutgekleideten dicken Mann mit blondem Vollbart, der in sein Abteil zurückkehrend, finsteren Gesichts, mit empörtem langen Ausschreiten eben vorüberging. »Gestatten Sie, mein Herr, lebt sie noch?«

»Ach, nischt. Wie denn? Keine Spur! Mittendurchgewürgt. Da der Kopf und da die Beine. Einfach scheußlich. Und das nennt sich die neue Ordnung. Ekelhaft!«

Der Mann spie die Worte vor Verachtung förmlich von sich, lüftete dann den Hut und ging weiter.

Die Aufregung verlief sich allmählich. Die Türen klappten wieder. Die beiden Männer zogen sich auch schweigend auf ihre Plätze zurück. Der Oberamtmann legte der alten Dame, die noch immer, die Hände vor dem Gesicht, lautlos vor sich hinweinend, in ihrer Ecke saß, liebevoll den Arm um den Nacken.

»Nicht mehr weinen, Mutter, fass dich. Wir müssen durchhalten,« sagte er leise.

»Ja, ja,« erwiderte sie erschöpft, »schon, schon, Edmund. Aber denke dir bloß, man sitzt im Wagen und die Räder gehen über einen Menschen! Denk doch, zerschneiden ihn. Zerreißen ihn. Was muß ich denn so alt werden?! Man kann ja vor Angst nicht mehr aus dem Hause!«

Da nahm sich auch der Pfarrer der erschütterten Greisin an. »Liebe, gnädige Frau Meißner,« begann er mit eindringlicher Güte, »man muß ...«

Aber da stieß Gudnatz, den man ganz vergessen hatte, ein solches Stöhnen aus, als sei er ein bis zu Tode verwundetes Tier. Dem Geistlichen blieb bei diesem Laut das Wort im Munde stecken, und alle drei wandten ihre Micke auf den krummen Mann, der aufgestanden war und eingefallen, aber starren, brennenden Auges an seinem Anzug herumriß, als ob er sich entkleiden wolle. Dabei stotterte er unverständlich durcheinander.

»Was ist Ihnen denn, lieber Mann?« fragte der Geistliche.

»'Raus ... 'raus ... weg ... weg ... alles ...« stammelte Gudnatz.

»Was denn?« fragte der Pfarrer.

»Alles schmeiß ich 'raus, alles! Ich mag's nicht mehr. Nein, ich bin ein guter Mensch, verstehn Sie mich. Aber jetze bin ich ein Hund, das seh ich ein. Das seh ich ein.«

»Ach, wenn Sie Ihre Wurst und Ihr Brot zum Fenster hinauswerfen, was hat denn das für einen Sinn. Da kommt irgendein Lump, nimmt's, frißt's und lacht sich einen Ast,« sagte der Oberamtmann. »Nehmen Sie doch Vernunft an und setzen Sie sich. Wir können doch alle nicht dafür.« Gudnatz tauchte einen Augenblick aus der leidenschaftlichen Verzweiflung auf, schwieg und sah nach Verständnis ringend, mit offenem Mund, als sei er ein Tauber, betroffen auf den Oberamtmann.

Er war im Begriff, nicht bloß die Wurst, das Brot, den Kognak von sich zu werfen, sondern sein Geld wie eine verfluchte Last abzuschütteln, die überall Tod und Verderben gebracht hatte und noch brachte. Und nun kamen die Leute und hinderten ihn daran. »Recht haben Sie ... ja ... recht ... recht ...« sagte er nach einigem Nachdenken, abgeschlagen und tonlos, setzte sich wieder und schaute eine Weile überlegend vor sich nieder. Darauf hob er den Kopf, faßte den Oberamtmann scharf ins Auge und sagte:

»Sie sind der Herr Oberamtmann Methner, wie ich hör. Aber das wissen Sie nicht genau.«

»Wie denn? Ob ich der Oberamtmann Methner bin, meinen Sie?«

»Nu freilich. Ebens, ebens.«

Methner lachte laut heraus: »Ach Gott, das ist ja, haha, zum Krebse niesen.«

Aber Gudnatz blieb todesernst: »Lachen Sie immer, vermeinswegen. Ich weeß mehr. Mit den Menschen ist das jetzte anders. Das weiß ich besser. Kinder gehn in der Nacht über die Treppen und weinen und es sind gar keene Kinder. Weiber sitzen neben einem, die reden wie die leibhaftige Mutter und sind's nicht. Da liegt's, da! Es greift nach uns allen. Aber woher ist die Hand, die da greift? Ich bin Gudnatz und Glumm, ich war Soldat, ich war vor Ossewitz, Pyrzemisl und vor Warschau, bin ein Grafschafter und ein Böhme. Alles. Und alles ist eigentlich nicht wahr.«

Dann versank er wieder in Schweigen. Die Ellenbogen auf die Kniee gestützt, den Kopf herunterhängend, saß er gelöst da und wurde von dem fahrenden Zuge hin- und hergeschüttelt wie ein Schlafender.

Die drei betrachteten ihn mitleidig, und die alte Dame, die von dem Leiden dieses offenbar durch den Krieg geistig gestörten Menschen ihrer Angst ledig geworden war, sah den Pfarrer an, berührte mit der Hand ihre Stirn und bewegte barmherzig den Kopf. Ihrem Sohne aber sagte sie leise ins Ohr: »Gott sei Dank, er ist eingeschlafen.« Doch der Schieber schlief nicht. Sein Kampf ging innerlich weiter. Er wehrte sich mit aller Gewalt gegen die Macht, die in ihm aufgestanden war. Aber es nutzte ihn nichts. Wie die aufgehaltenen Wasser den Damm eines Stauweihers durchbrechen und verheerend sich in ein mühsam behütetes Tal wälzen, so schwoll der Daseinsschmerz Gudnatzens, der nun sein eigentliches Leben geworden war, und riß alle Dämme der hinterlistigen Klugheit und Selbstsucht nieder, durch die er seinen zusammengeraubten Besitz bisher bewahrt hatte. Nur noch eine kleine Weile saß er, hin- und herbaumelnd wie ein Schlafender, und würgte seine Auflösung mühsam in den Schlund zurück.

Da hielt der Zug. Irgendwo klappte eine und die andere Tür. Die Schaffner liefen über den knirschenden Sand und riefen: »Birgwitz, Birgwitz,« den Namen des Ortes, aus dem die in Mittelsteine überfahrene Frau herstammte.

Gudnatz schnellte auf das Wort hin aus seiner zusammengekauerten Haltung empor und horchte starren Auges, atemlos auf den Namen, der draußen vor dem Zuge auf- und ablief. »Birgwitz. War die Frau nich aus Birgwitz? Was?« fragte er tonlos und bestürzt und sah den Pfarrer, den Oberamtmann, die Greisin, einen nach den andern durchdringend an. Niemand antwortete etwas.

»Sie sagte doch, ich bin die Weisern aus Birgwitz,« setzte er vorwurfsvoll hinzu, doch die drei verharrten in Schweigen.

»Ich hab's gehört. Da müssen Sie's doch auch gehört haben,« sprach er, weiterbohrend. Seine Stimme klang jetzt trocken und sein Gesicht hatte den Ausdruck böser Qual.

Aber niemand antwortete. Da brach es in Gudnatz los.

»Das Blut tropft von den Rädern,« sagte er schmerzvoll. »Die Kinder der Weisern warten, ob ihre Mutter kommt. Die, ha, die liegt zerrissen in Mittelsteine! Sie und Sie und Sie rühren sich nich, sitzen da und sehn geradeaus. Ich auch, natürlich, ich auch. Und da sagen Sie,« damit wandte er sich an den Oberamtmann, »niemand kann dafür. Ha! Alle können dafür, alle, werd ich Ihn' sagen. Ich mit meinem verfluchten, verfluchten, verfluchten Gelde, Sie, weil Sie Kartoffeln haben und Getreide und Vieh und geben's nicht her und Sie, Herr Pfarrer, Sie, weil Sie nicht unter die Leute gehn, das Kreuz in der Hand und predigen vom Himmel und von Gott. Nicht in der Kirche, auf der Gasse. Hätten das die Pfarrer alle gemacht, wie der Krieg losging, da hatt's keen' Krieg nich gegeben, sag ich Ihn'. Und wenn deswegen die Geistlichen auf der ganzen Welt wär'n totgeschlagen worden? Auch gut. Desto besser. Da hätte Gott uns helfen müssen. Jawoll. Blut muß sein, entweder fürs Gute oder fürs Böse. Das hilft alleene. Ietzte aber sterben wir alle um das Verfluchte!« Zerstört schwieg er, ausgepumpt, mit bebenden Lippen.

Die drei glaubten, in Gudnatz sei der Wahnsinn ausgebrochen und keiner wagte ein Wort der Beruhigung, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Der Oberamtmann blickte auf den Griff der Notleine an der Decke. Der Pfarrer aber schüttelte den Kopf und sagte halblaut: »Wir sind ja bald in Glatz.«

»Was sagen Sie?« fragte Gudnatz aus seinem Hinstieren auffahrend, »Gudnatz? Jawoll, ich heiße Gudnatz. Alle mögen's wissen. Ich mach' ein Ende, verstehn Sie. Jawoll, ich halt das nich mehr aus. Wir fahren über Leichen und ich Hab sie unter den Zug gejagt. Verstehn Sie?«

Er stand auf, griff mit zitternden Händen im leeren Gepäcknetz umher, als suche er nach seinen Sachen, legte den Stock auf den Sitz, nahm ihn wieder auf, lief von Fenster zu Fenster, stand plötzlich vor der Greisin still, verneigte sich so tief vor ihr, daß er beinahe mit der Stirn ihre auf dem Schoß gefalteten Hände berührte und murmelte ehrfürchtig: »Sie sind eine Mutter. Sie sind eine Mutter. Geben Sie mir Ihre Hand.«

Erschüttert ließ ihm die Greisin ihre kalte Hand, die er darauf wie ein Amulett an seine Stirn führte.

»Jetzt hat meine Mutter keine Gewalt mehr über mich,« lispelte er dabei wie betend.

Da hielt der Zug in Glatz. Gudnatz riß ungestüm die Tür auf und stürmte ohne Gruß hinaus. Die zurückbleibenden Reisenden blickten einander wie betäubt an und konnten sich nicht rühren. Endlich sagte der Pfarrer: »An die Fahrt werd ich denken und wenn ich hundert Jahre alt werde. Das war ein Wahnsinniger, Herr Oberamtmann. Merkten Sie nicht? Sogar das Gefühl seiner Identität war in ihm zerstört. Und solche Menschen laufen frei umher?«

»Nein, schlimmer! Und solche Menschen regieren uns, sagen Sie nur,« erwiderte der Oberamtmann höhnisch herauslachend. »Aber wenn's Dir nur nicht geschadet hat, Mutting,« damit wandte er sich an die alte Dame, die, mit überströmten Augen starr vor sich hinsehend, die Hand noch immer so auf ihrem Schoße liegen hatte, wie sie aus der Hand Gudnatzens gesunken war, und auch jetzt noch nach den Worten ihres Sohnes vermochte sie sich nicht zu rühren, bis dieser in Besorgnis ihre Achsel sanft rüttelte und ermunternd sagte: »Mutting, allons, wir sind in Glatz! Er ist ja fort.« Da sprang die Greisin leidenschaftlich auf, umfaßte ihren Sohn und brach aufschluchzend in die Worte aus: »Edmund, Gott, war das ein guter, unglücklicher Mann!« Damit barg sie einen Augenblick erschüttert das Gesicht an seiner Brust. Dann begannen sie ihre Sachen zusammenzusuchen und stiegen aus.

 

4

Es gibt Blitze, die aus der Erde auffahren und sich in den Himmel hinaufschleudern, Stürme, die, von Schluchten ausgebrütet, in die Höhe stoßen. Von einer solchen Gewalt war das Wesen Anton Gudnatzens seit zwei Tagen gepackt worden, und alle Kraft, die er aufbrachte, sich ihr entgegenzustemmen oder zu entziehen, vermehrte nur den unwiderstehlichen Zwang, sein Dasein aus dem gewohnten Boden zu reißen. Denn unsere Geisteskräfte und die Schicksalsgewalten decken sich nicht. Wir singen Töne, die das Fatum zur Melodie ordnet. Die Gedanken der Wachenden sind wie die Traume der Schläfer. Der sehende Willen hat so wenig Macht über den Gedanken, wie der schlafende über die Träume. In allen entscheidenden Zeiten steigen diese wie jene aus Tiefen, die wohl von unserem Leben herrühren, aber unserer Willkür nicht erreichbar sind.

Während Gudnatz nach dem Verlassen des Wagens sich eilig und rücksichtslos durch den Strom der ausgestiegenen Reisenden drückte, murmelte er in einem fort: »Ich mach's. Ich mach's« und hatte dabei die Empfindung, die Erde schwanke und woge unter seinen Füßen. Aber wie das beschaffen war, was er tun wollte, wußte er nicht. Er arbeitete sich energisch mit Ellenbogen und Achseln in der Menge weiter, ging durch das Bahnhofsgebäude, gelangte von dem Perron der Gebirgsbahn auf jenen der Breslau-Mittelwalder Bahn, schaute einen Augenblick prüfend die blanken Gleise auf und nieder und erkannte, daß er hier nichts zu suchen habe. Im Begriff, sich wieder dem Durchgang des Stationsgebäudes zuzuwenden, sah er einen lungernden Eisenbahner daherkommen, der zur Maskierung seiner Faulenzerei eine Hacke in der Hand trug, und ohne es eigentlich zu wollen, frug ihn Gudnatz nach dem Abgang des Zuges nach Kudowa-Sackisch. Doch er kam mit der Frage nicht ganz zu Ende. Mitten im Satz packte ihn die Erinnerung an das eben überstandene Unglück so stark, daß er die überfahrene Frau zerfetzt und blutend zwischen den Schienen liegen sah, und er verstummte.

Der Eisenbahner zog in lächelndem Spott ein schiefes Maul und fragte nun seinerseits, was er denn von dem Zuge Kudowa-Sackisch wissen wolle.

»Nein, nichts. Ich mag nich. Lassen Sie mich mit Ihrer Bahn zufrieden,« antwortete Gudnatz bleich und stotternd, lüftete wie vor großer Hitze den Hut und wandte sich schnell gegen den Durchgang hin, so, als habe er schon zu lange gezögert. Aber nach kaum drei Schritten ruckte es ihn doch zu dem Eisenbahner zurück, der sich wieder in langsamem Trödeln in Bewegung zu setzen begonnen hatte.

»He!« sagte er laut, »Sie! Hm, ja, was ich noch fragen wollte: Wie heißt denn der Landrat von Glatz? Wissen Sie das?«

»Der Landrat?«

»Nu ja. Eben hier der Glatzer Landrat.«

»Ja, wissen Sie, der Landrat! Nee, der wohnt nich in Kudowa. Der wohnt dahier. Da gehn Sie die Frankensteiner Straße, über den Ring, dann –«

»Nein! Ich meine, wie er heißt. Mit Namen, verstehn Sie mich.«

»Ach so. Nu, das konnten Sie gleich sagen, da brauchten Sie doch nicht erst von Kudowa anzufangen. Steinmann heißt er, glaub' ich. Von Steinmann. Aber das »von« gilt ja jetzte nischt mehr.«

»Steinmann? Wie?«

»Jawoll, Steinmann, und wohnt hinter der Post.«

Gudnatz sah daraufhin mit gefurchter Stirn scharf überlegend zu Boden. Dann schüttelte er in leidenschaftlicher Ablehnung den Kopf: » Stein – mann ... Stein – mann ... unmöglich...« murmelte er dabei.

»Nu, was ich Ihn' sage. Wenns Ihn' nich paßt,« erwiderte der Eisenbahner gereizt.

»Paßt mir auch nicht,« sagte Gudnatz nach einer Pause langsam und dumpf. »Das ist nichts. Das geht nicht.«

Dann stand der Schieber unschlüssig, blaß, verloren und stach mit dem Stock in den Ritzen des Pflasters umher.

Der Eisenbahner sah dem schiefen Mann mit dem schmerzvollen Gesicht eine Weile zu und sagte dann verärgert: »Ihn' paßt woll überhaupt nischt. Die Bahn nich und der Landrat nich! Was kommen Sie denn da erst daher? Da fahrn Sie doch lieber mit der Hand über den A.... Das is billiger und dauert nich so lange.«

Vor sich hinschimpfend, unter rohem Lachen latschte der Mann mit seiner Hacke davon, ohne sich um Gudnatz weiter zu kümmern. Als er am Ende des Perrons angekommen war, drehte er sich doch um und sah den wunderlichen Mann schief und mühselig durch das Gebäude abgehen, über den Schieber war unvermutet eine unendliche Mutlosigkeit gekommen, eine solche Schwere in den Gliedern, daß er im Kampf gegen diese Ermattung nur langsam vorwärts kam. An der Sperre gab er seine beiden Fahrkarten ab, stumpf, gleichgültig, ohne nach dem Knipser zu blicken. Der nahm sie in Empfang, musterte sie genau und wollte sie Gudnatz zurückreichen. Aber der Schieber bewegte sich schon auf den Ausgang nach der Stadt zu.

»Sie, hören Sie,« schrie der Beamte hinter ihm her, »Das ist ja Kudowa. Die brauchen Sie ja noch!«

Aber der Mann mit der eingesunkenen rechten Körperseite und dem müden, entenfüßigen Gange sah nicht einmal zurück, schüttelte stumm mit dem Kopfe und taumelte zur Tür hinaus. Nach ein paar Schritten auf dem kleinen Platz hob er den Kopf aus dem Vorsichhinbohren und sah einen gelbeichenen Jagdwagen mit zwei Braunen nicht weit von sich stehen, in den eben jene drei Reisenden einstiegen, mit denen er von Neurode aus in der dritten Klasse gefahren war, der Oberamtmann, seine Mutter und der blonde Pfarrer. Sie waren so mit sich und ihrem Gepäck beschäftigt, daß sie Gudnatz nicht gewahrten. Gleichwohl hielt dieser im Gange inne, senkte den Kopf und schloß die Augen. Auf diese Weise stand er so lange unbeweglich, bis der Kutscher schnalzte, die Räder im Sande knirschten und mit federndem Hufschlag davonflogen.

Da öffnete er die Augen und atmete erleichtert. Endlich, endlich war er allein. Niemand redete mehr in ihn hinein, niemand brauchte er mehr zu fragen. Er konnte ganz so handeln, wie er wollte. Aber er trug seinen Willen doch so in sich, wie jemand eine Münze in der geschlossenen Hand trägt, deren Prägung er nur durch das Gefühl kennt. Immerhin, weil er ja seit zwei Tagen durch die Gewalt von unausweichlichen Fügungen geleitet worden war, schritt er rüstig aus, der Stadt zu, die, von dem Festungsberg zum größten Teil verdeckt, nur mit einem Kirchturm und einigen Häuserzeilen am Neißefluß zu sehen war. Mit jedem Schritt weiter vorwärts auf der Straße tauchte ein neues Dach der Stadt aus der Versenkung, näherte sich Gudnatz mehr einer Entschließung, die im Augenblick ihres Auftauchens aus seinem Innern schon von ihm zurückgewiesen worden war, ohne daß er sich ihr zu entziehen vermochte.

»Aber ich will doch nicht zum Landrat,« dachte Gudnatz, »das ist ja Unsinn!« In diesem Widerstreit brachte er den besandeten Platz hinter sich und betrat das Katzenkopfpflaster. Und obwohl er doch noch eine Viertelstunde bis zu den eisten Häusern der Stadt hatte, kaum, daß er einige Schritte auf dem holprigen Straßenbelag vorwärtsgekommen war, fühlte er sich trotz der Gegenwehr in der Gewalt des Vorsatzes, zum Landrat zu gehen, um dort seinen ungerechten Reichtum los zu werden. »Wie denn?« zankte er im Weitergehen mit sich, »wie denn, Gudnatz, hingehen? Gelt, die Türe aufreißen, den Rucksack ausschütten und schreien: ›Da habt ihr das verfluchte Geld, das die Kinder ausgesogen hat und die Mutter unter die Räder der Eisenbahn treibt‹. Ja, ja, Gudnatz, mach's, damit dann so ein elender Schreiber hinterm Pult vorspringt und alles in seiner Tasche verschwinden läßt! Hahahaha!«

Gudnatz war, ohne es zu wissen, aus dem Denken ins Reden und aus dem Reden ins Schreien gekommen, fühlte sich immer abgeschlagener werden, stürmte aber trotzdem unter Aufbietung aller Kraft vorwärts, daß er manchmal wie trunken taumelte, riß die Mütze vom Kopf und schrie: »Immer los! Mach's! mach's! Hahaha!« Dabei liefen ihm die Tränen über das abgehärmte, übernächtigte Gesicht.

Endlich konnte er nicht weiter und mußte sich an einen der halbwüchsigen Baume lehnen, die die rechte Seite der Straße gegen die Neiße schützen. Durch einen kleinen Abhang geschieden, zog der Fluß ganz nahe, lautlos und still glänzend, vorbei.

Gudnatz fühlte kaum den Stamm des Baumes an seinem Rücken, so schloß er sofort die Augen und wartete, bis das Brausen vor seinen Ohren verschwunden war und der Tumult seines Innern sich beruhigt hatte. Nun ging sein Atem wieder regelmäßiger. Er rückte die Mütze auf dem Kopfe etwas hintenüber und wischte sich den Schweiß und die Tranen mit der bloßen Hand aus dem Gesicht.

»Das geht doch ... doch ... doch nicht!« murmelte er dabei, mehr erschreckt als entrüstet, mehr unterwürfig bittend, als sei er nicht der von Schlachten und allerhand Schande gehärtete Mann, sondern ein kindhafter Knabe, der etwa seinen gütigen Vater von einer Forderung abbringen will, deren Gerechtigkeit er zwar anerkennt, die er aber aus Schwäche und Ohnmacht nicht zu erfüllen vermag.

»Ich kann und kann es doch nicht,« murmelte er immer wieder und hatte auf einmal bei geschlossenen Augen die Empfindung, aus dem Leben, das mit klappernden Schritten, dem Stampfen von Pferdehufen und Knirschen der Rüder auf der Straße vor ihm vorüberzog, trete ein stiller, sehr langer, magerer Mann und komme langsam auf ihn zu. Drei Schritte vor ihm hielt er an und musterte Gudnatz mit ruhigen Blicken. Und der Schieber empfand, wenn er die Augen öffne, so wisse er, wer da vor ihm stehe und ihn betrachte. Aber aus Furcht brachte er es nicht fertig, sondern murmelte nur immer zu: »Ich kann und kann es nicht.« Der Geheimnisvolle schüttelte nur dazu den Kopf.

»Nimm mir's nicht übel,« Gudnatz redete ihn jetzt direkt an. Da brach der Mann sein Schweigen und begann mit einer Stimme zu sprechen, die Gudnatz aus seinem eigenen Leibe an sein Ohr schlagen hörte, so wie die Verstorbenen zu uns zu reden pflegen.

»Du wirst es doch machen müssen, Anton,« sagte er geisterhaft, »denn es nutzt dich nichts. Wenn du auch nach Böhmen hinübergehst, so wird die Behörde das Geld, das du deiner Frau zurückgelassen hast, dein Haus in Schl.... und die Wirtschaft deines Sohnes Karl im L.... er Kreise beschlagnahmen, um sich für den Betrug und Raub schadlos zu halten, den du an der Gesamtheit begangen hast. Denn du hast die Armen bestohlen, nicht die Reichen, du hast den Kindern das letzte Hemd und das letzte Bett geraubt ...«

»Ich bitte dich, sei still, Vater,« bat Gudnatz und sein Inneres krümmte sich vor Grauen. »Ich kann es nicht mehr ertragen. Ich bin wie zerschunden, seit ich das Weib unter den Rädern gesehen habe. Aber ich kann doch nicht, denn dann liegen wir alle, ich, mein Weib und mein Sohn auf der Landstraße.«

»Nun, wenn du das nicht tust,« entgegnete sein Vater nach einigem Zögern, »so wirst du eben die Qual zeitlebens tragen müssen, die dich jetzt wund macht.«

»Mit den Jahren werde ich alles vergessen. Ich werde den Armen helfen. Denn ich bin reich ... ich ...«

Aber sein Vater ließ ihn nicht ausreden. Er lachte auf seine Weise, daß Gudnatz erschüttert schweigen mußte.

»Vergessen, sagst du, Anton?« fragte er dann.

Gudnatz wagte nicht ja zu sagen.

»Vergessen? Nie! Bei Lebenden und Toten gibt es kein Vergessen.«

Dann wartete er. Aber Gudnatz brachte kein Wort und keinen Gedanken mehr zuwege, sondern senkte nur den Kopf und schwieg.

»Anton,« fuhr das Wesen dringender fort, »öffne deine Augen! Dann wirst du erkennen, wie dein Vergessen beschaffen sein wird.« Gudnatz wartete noch eine Weile, ehe er dem Befehle nachkam. Denn das sah er ein, war er jetzt dieser Stimme gehorsam, dann glaubte er auch an die Tatsachlichkeit der Erscheinung und mußte sich nachher der Entscheidung fügen, die er erblicken würde, mochte er wollen oder nicht. Also hielt er die Augen weiter geschlossen und wartete, daß sich der Spuk in dem Lärm der Straße verliere. Doch es nutzte nichts, denn: »Mach' deine Augen auf, Anton,« mahnte die Stimme seines Vaters noch einmal, aber schon leiser, undeutlicher, wie die eines Fortgewanderten, »das ganze Leben kannst du doch nicht in gewollter Blindheit zubringen. Ich habe mein Vaterland geliebt bis zum Tode und du bist mein Sohn. So sei nicht feig, Anton, sieh auf und handle danach.«

Die rätselhafte Stimme wurde leiser und war zuletzt nur noch mit den Gedanken zu verstehen. Gudnatzens Herz pochte; er war wie betäubt, der Boden schwankte wieder unter ihm, und der Baum schien unter der Last seines Körpers nach hinten zu sinken, so daß er in Gefahr geriet, auf den Rücken zu fallen.

»Es hat mich«, sann er angstvoll, raffte sich mit aller Kraft zusammen, trat von dem Baum weg und öffnete die Augen. Was er erblickte, war grauenvoll. Er sah die Frau vor sich in der Luft hängen, die sich in Mittelsteine vor den Zug geworfen hatte. Er sah sie zum Greifen deutlich; mit aufgerissenem Leibe, abgequetschten Beinen und weggeschleudertem Kopf, und die blau überlaufenen Lider in dem kalkigen Gesicht klappten mechanisch auf und zu, als schreie sie noch nach dem Tode mit ihren jappenden Blicken um Hilfe.

»Nein, ich werd' nicht nach Böhmen fahren, mein Vater,« stammelte Gudnatz mit bebendem Munde und senkte sein Haupt, um dem furchtbaren Bilde auszuweichen. Aber als er den Kopf wieder hob, schwankte es über den Dachein des Krankenstiftes Scheibe, das hinter dem Bahnhof liegt. Wohin er auch seine Blicke wenden mochte, es war da, lag auf den Wiesen, hinter Bäumen, über dem Walde der Berge, zwischen Häusern. Überall hörte er Bahnen durch das Glatzer Land brausen, deren Räder knirschend über menschliche Gliedmaßen gingen.

Erschüttert, fahl im Gesicht, wie ein Verurteilter, setzte sich Gudnatz in Gang und stolperte der Stadt zu. Nein, mochten er und die Seinen immerhin wieder auf die Landstraße, sogar auf den Kehrichthaufen, oder in die Gosse geworfen werden: Es mußte sein. Er durfte den Besitz nicht behalten, den er den andern vom Munde abgestohlen hatte, den hundert, den tausend Unschuldigen, Wehrlosen, Bedürftigen, Armen, Kranken, Greisen und Kindern. Ganz Deutschland war wie wahnsinnig vor Entbehrung und Not. Die Leute erschlugen sich wie die Banditen. Nein, er durfte den gestohlenen Reichtum nicht behalten. Alles mußte er zurückgeben, alles! Je fester sich diese Gedanken in Gudnatz durchsetzten, desto elender wurde ihm zumute. Denn er liebte doch noch immer sein Geld und hatte Angst vor der Armut. Oft stolperte er bald über seinen Stock, bald über die eigenen Füße, die Kinnladen zitterten ihm und Tränen rannen ihm über seine Wangen. Aber immer wieder ermannte er sich, biß die Zähne fest aufeinander und griff mit seinen Füßen tapfer aus. So kam er über die Neißebrücke und ging über eine ansteigende Straße mit der langen Flucht der Kasernen aus des alten Friedlich Zeit rechts und einem abfallenden, gartenähnlichen Wiesenstück links, weiter der Stadt zu, in der sich, wie er fühlte, sein Schicksal entscheiden mußte. Der Weg, auf dem er ging, schiebt sich wie eine enge Torfahrt zwischen den Kasernen hindurch. So gelangte er auf die Frankensteiner Straße, eine düsterliche, leicht geschwungene, lange Häuser flucht, die nach der einen Seite an der Franziskanerkirche endet, auf der anderen Seite in den Ring mündet. Felsensteil steigt der Festungsberg aus den engen Höfen ihrer rechten Häuserzeile auf und drückt fortwährend sein Lasten und seinen Schatten über das Leben der Straße. Gudnatz war es so beklommen ums Herz, als gehe er nicht frei in einer offenen Stadt, sondern habe den langen, düstern Gang zu seinem Gefängnisse betreten. Und als er gar in dem großen Schaufenster eines Bäckerladens sein Bild sah, mit den furchtsamen, halberloschenen, übertränten Augen, den eingefallenen, fahlen Wangen, dem vorgeneigten Kopf und der eingesunkenen Haltung des ganzen Leibes, erschrak er so über sich, daß er glaubte, er überstehe das nicht und wenn er nicht schnell ein Ende mit seinem Diebs- und Raubgut mache, ereile ihn der Tod, bevor er alles geordnet habe und er müsse hinter dem Grabe die lange Ewigkeit hindurch diese Seelenqualen weiter leiden, die ihn jetzt trieben und folterten. Deswegen begann der arme Mann zu laufen, verfing sich aber nach wenigen Schritten in seinem Stock und schlug mit einem lauten Schrei auf die Fliesen des Bürgersteiges, weil er in seiner Angst glaubte, der Tod habe ihn im Genick erwischt und es sei alles vorbei. Passanten eilten herzu und halfen dem Gestürzten auf, und ein stubenblasses blondes Madchen, allem Anschein nach eine Näherin, trug ihm den weithingeschleuderten Stock herbei, legte ihn in seine Hand zurück und frug ihn mit einer gütigen Stimme, ob er sich wehgetan habe und ob sie ihn führen solle. Gudnatz war aber so verstört von seinem Todesschreck, daß er zu danken vergaß, nur stotternd nach der Wohnung des Landrats frug und nach dem Bescheid mit einem kurzen Nicken und unter Gemurmel eilig weiterging. Viele der Vorübergehenden blieben stehen und schauten unter mißbilligendem Kopfschütteln dem Manne nach, der schwankend und taumelnd, gleich einem alten Säufer, verschwand.

An der Einmündung der Schwedeldorfer Straße in den Ring angekommen, dort, wo ein kleines Gäßchen kopfüber wie in ein tiefes Loch stürzt, begann auf allen Türmen das Mittagsgeläut. Das löste den Krampf seines Innern so jäh, daß er seine Beine schwach werden fühlte, und hatte er sich nicht schnell an die steinerne Einfassung des breiten Fahrtores eines Hauses gelehnt, so wäre er sicher ein zweites Mal hingeschlagen. So faßte er krampfhaft mit der Linken die steinerne Kante, hielt sich in dem Wogen der Straße aufrecht und überwand den Taumel der Schwäche, der sein Bewußtsein umnebelte.

Indessen ging das Geläut auf allen Türmen der Stadt weiter. Kleine Glöckchen pinkten einen schnellen Wirbel, als klingelten hungrige, ungeduldige Kinder mit dem Löffel gegen den Tassenrand, mittlere sangen stark und gemessen, als rufe die sonore Stimme eines Meisters alle Arbeitsgesellen des Stadtwesens zu Tisch, und die schwere, langsame Glocke des Domes wachte auch aus ihrer ewigen Versonnenheit in den Lüften auf und redete tief und brummend über alle Dächer, daß es dem armen Schieber, der mit seinen letzten schwersten Zweifeln an dem Fahrtor rang, war, als donnere sie fortwährend: Du mußt! Du mußt! Du mußt!

Das drang dem Anton Gudnatz bis in die tiefste Seele und löste dort die letzten verhärteten Klammern. Und als dann Glocke um Glocke schwieg, wie erschöpft von dem tönenden Sturmlauf, summte nur noch der tiefe, wohllautende Nachhall der Domglocke geisterhaft durch die Straße. Gudnatz raffte sich auf und folgte dem Laut wie einem unsichtbaren Führer, ohne darauf zu achten, um die nächste Ecke in ein kurzes, menschenleeres Gäßchen, an dessen Ende er vor dem altersgrauen Dome auf einen engen Platz kam, der eigentlich nur als schmaler Gang um die ehrwürdige, schöne Barockkirche lief. Alte, verhutzelte Häuschen standen auf der einen Seite eng aneinandergepreßt um das Heiligtum im Schatten einiger Baume in verschollener Schweigsamkeit, rührten sich kaum mit einer Tür oder einem Fenster und hatten scheinbar keinen anderen Zweck, als den greisen Dom vor dem lauten Leben der Stadt zu schützen und die gesegnete Stille um ihn her zu hüten.

Gudnatz sah sich verwundert um und nickte zufrieden. Denn das war ja wirklich ein Ort, an dem er vor seinem letzten, schweren Gange sich niedersetzen und ungestört ein wenig ausruhen konnte. Er näherte sich der eingefriedeten Erhöhung, auf der die Kirche stand, um sich auf ihr niederzulassen. Im Begriff Platz zu nehmen, warf er aufs neue einen Blick an den Häusern hin. Da stand vor einem der kleinen Häuser eine alte Frau mit einem blumigen Tuch um den Kopf, die Unterarme in die blaugedruckte Küchenschürze gewickelt, als friere sie und sah seinem Beginnen aus tiefliegenden, dunklen Augen in einer Art verwunderten. finsteren Vorwurfs zu. Das ist ja meine Mutter! fuhr es Gudnatz durch das überreizte Hirn und sich zusammenreißend, ging er flüchtend um die Kirche herum und trat von hinten in sie ein.

Ebenso eilig, fast wie gejagt, schritt er durch eine kleine Vorhalle und nahm an Eindrücken nichts in sich auf als, mit einem halben, fast furchtsamen Vorüberschauen, den Anblick halbverdunkelter Bilder und da er die Schwelle der Kirche betrat, wußte er schon nicht mehr genau, ob es nicht doch altersgraue Wächter gewesen seien, die regungslos, wie an die Wand genagelt, und vorwurfsvoll auf ihn geschaut hatten. Er überwand eine schwache Versuchung zur Flucht, drückte die schwere Tür mühsam auf und trat in das Innere der Kirche, das ihm so dunkel, fast finster vorkam, daß er schon nach zwei Schritten stehenbleiben mußte, um nicht anzustoßen. Denn durch sein Hirn, in seinem ganzen Leibe schwang ein pfeilschnelles, geisterhaftes Kreisen, daß er wußte, es mußte ihn für immer zu Boden reißen, wenn er unvermutet an einen Gegenstand prallte. In dieser merkwürdigen Beklemmung tastete er sich behutsam weiter und suchte nach einem Platz, der ihn nicht nur vor der Welt, sondern auch vor sich selbst verbarg. Mit jedem zaghaft fühlenden Schritt vorwärts spürte er es immer bestimmter, daß er am Ende seiner Flucht sei.

Noch gelang es ihm, mit Anstrengung den einen bleischweren Fuß zu bewegen. Dann ging es nicht mehr weiter. Er mußte stehenbleiben und wagte, nun den Blick zu erheben, der bohrend in die Finsternis zu seinen Füßen gerichtet gewesen war. Da sah er weit vor sich den Altar gleich einem Rauch aus goldenen Wolken ins Ungewisse steigen. Die leeren Kirchenstühle standen im Dämmer. Darüber zitterten breite, bunte Achtfacher aus den farbigen Fenstern. In halber Höhe an den Pfeilern des Mittelschiffes schwebten rechts und links Märtyrer, die die Embleme ihrer Todesqualen triumphierend in den Händen hielten, der eine Säge, der Pfeile, der andere eine Keule und jener ein schiefes Kreuz. Und aus dem hohen Rundbogenfenster der großen Altarnische brannte das dreiseitige Auge Gottes ein blutig rotes, unbarmherziges Funkeln in die lautlose Stille des heiligen Friedens. Er hielt diesen bösen, mitleidslosen Blick der Ewigkeit nicht aus, weil er fühlte, wie das geisterhafte Kreisen seines Innern unter dem Andringen dieser unerbittlichen Sehkraft aus ihm heraustrat und sich unmerklich der ganzen Kirche mitteilte, daß alles langsam um ihn sich zu drehen begann.

»Warum helft ihr mir nicht? Warum helft ihr mir nicht?« keuchte Gudnatz in der Angst vor der nahen Auflösung. Und da er mit seinen Augen, nach Rettung suchend, umhersprang, gewahrte er im Mittelschiff an der Seite des breiten Ganges die Statue des erzbischöflichen Stifters der Kirche, des seligen Arnestus von Pardubitz. In vollem Ornat, die hohe Bischofsmütze auf dem Haupt, kniete er betend dort, das Gesicht dem Altar zugewandt. Noch verhielt sich der Heilige still, von dem Kreisen unberührt, in dem alles immer schneller wogte. Und in der glückhaften Empfindung darüber erinnerte sich Gudnatz mit der grellen Kraft letzter Bewußtheit an die Erzählung seines Vaters, daß Arnestus am Ende seines Lebens aus Böhmen zu den Deutschen geflüchtet sei, um hier zu sterben.

»Ich will ja auch nicht ins Böhmische ... ich will ja ... ich bin ... mein liebes Deutschland!...« stotterte Gudnatz schon wankend, von einem schwarzen Loch angesogen, das sich unter ihm auftat. Aber mit der letzten heroischen Anstrengung gelang es dem armen Manne, die Kopfrundung eines Gestühls zu erwischen. Mit ausgehender Gewalt zog er sich auf eine Bank. Der Stock fiel polternd zu Boden. Der Schieber rutschte in sich zusammen und verlor, die Arme aufs Betpult gebreitet, den Kopf wie in ein Kissen hineingebettet, das Bewußtsein unter einem lauten Brausen, das ihn gleich Staub ins Endlose blies. Den Sack mit seinem Reichtum auf dem Rücken hatte er ganz vergessen.

Er schlief mit langen, unhörbaren Atemzügen, als ginge es geradeswegs in den Tod hinein. Sein Mund öffnete sich schon bald schlaff und ausdruckslos und sein Gesicht verfiel wie in beginnender Agonie.


 << zurück weiter >>