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Nachdem Maechler so noch eine Weile in flüchtendem Schritt und dann langsamer und langsamer auf dem in jener Zeit noch sehr urzuständlichen, kaum den Namen Weg verdienenden Gebirgssteig ein gut Stück vorwärtsgekommen war, hatte sich hier oben der Morgen voll entfaltet. Die Sonne stand am Himmel, und da der Wanderer sie beglückt wie seine Retterin betrachtete, schien das große, überwältigende Kreisen noch nicht ganz aus ihr geschwunden zu sein, mit dem sie sich aus den Wolkenschluchten des Firmamentes über die Erde heraufgearbeitet hatte. Das große Tagesgestirn war von dem vehementen Schleuderwurf noch nicht ganz zu der majestätischen Ruhe gekommen, mit der sie immer ihre Bahn durch den Himmel wandelt. Und da Maechler dieses leise Kreisen des strahlenden Balles wahrzunehmen glaubte, hatte er die Empfindung, daß auch die Erde, auf der er stand, unter ihm spürbar schwanke wie ein riesiges Schiff auf der Fahrt über den Ozean. Geblendet kehrte er den Blick in die Tiefe. Wirklich, wie ein Meer wogte der Morgennebel über dem Lande drunten, daß nichts wahrzunehmen war als das unruhige Durcheinanderbranden der Wolkenwellen, die im Licht da und dort aufblitzten. Etwas wie eine schwache Trunkenheit bemächtigte sich des Mannes, die ebenso von den Überreizungen der wilden Nacht wie von dem Anblick dieses erhabenen Naturschauspiels herrührte. Leicht fing ihn auch zu frösteln an. Er zog seinen dicken Kotzenmantel über, nahm das Felleisen bei dem Tragriemen in die Linke und stieg vorsichtig und langsam den beschwerlichen Pfad weiter. Aber schon nach wenigen Schritten kam ein dumpfer Traumzustand, ja geradezu eine Schlafbefangenheit über ihn. Stolpernd verließ er den Steig und suchte sich auf der preußischen Seite in den Latschen eine geschützte, bequeme Stelle, wo er sich, das Felleisen unter dem Kopfe, hinlegte und bald in tiefen Schlaf verfiel.
Es mochten so etwa zwei Stunden vergangen sein, da knallte irgendwo ein Schuß auf, und das Echo rollte dumpf von Wand zu Wand. Maechlers Kopf fuhr bei geschlossenen Augen in die Höh. Er lauschte im Halbschlaf, bis der Widerhall in der Luft erloschen war, fiel dann wieder zurück und murmelte in seinem unsagbaren Traum untertauchend: »Gott sei Dank, nun ist die Tür zugeschlagen.« Es war ein unsagbarer Traum, der in seiner Phantastik nur für seinen schlafentrückten Geist überschaubar war und nach dem gepreßten Ausruf zu urteilen wieder durch die von Fieberflammen zerfetzten und halbvernichteten Erinnerungsbilder seiner Rebellenjahre jagte. Sein wacher Geist hatte doch die Wirbel überwunden, in die er von dem Zeitgeist gerissen worden war. Der klare Weg in ein neues Dasein durch ein tätiges Leben hatte gestern im Anschaun des wohlgebauten schlesischen Landes zwingend und glückhaft vor ihm gelegen. Und nun war er abermals durch die tolle, gewalttätige Brunst des mänadischen Gebirgsmädchens wohl nicht wieder in die schwärmerische Hitze des zu allem entschlossenen Kampfes für Freiheit, aber doch in das Rasen der Leidenschaft gerissen worden. Der Traumgeist aber, dessen Augen ja tiefer und geheimnisspürender sehen als der Blick des wachen Bewußtseins, vermischte wohl nun den wilden Geschlechtskampf mit dem Ringen seiner politischen Aufsässigkeit. Aufs neue brachen die Flammen über sein Leben herein, und Maechler wälzte sich im Traum wieder durch die Nöte, die ihm sein Dasein so lange zerrissen hatten.
Als er im halben Vormittag erwachte, waren alle Hexenbilder, die unter der Decke des Schlafes ihn gefoltert hatten, so erloschen, daß er sich an nichts mehr erinnern konnte. Ja, sogar die Höllenbrunst, in der er mit Paula gekocht hatte, gehörte jener Gaukelmühle an, durch die ihn der Traum gedreht hatte. Gleichwohl lag eine Befangenheit, ja, Niedergeschlagenheit über ihm, als sei er aufs neue und tiefer schuldig geworden. Die Nebeldecke über der schlesischen Ebene war von der Sonne aufgesogen worden. Das Land lag in lachender, glückhaft lockender Buntheit unter ihm und schaute mit den vielen Teichen am Fuß des Gebirges wie mit tiefen Himmelsaugen zu ihm herauf. Aber in einer Art innerer Erloschenheit wurde er von nichts berührt, sah und bemerkte nichts, lebte und mußte, noch empfand er etwas, so als habe ihn dieser Traum aus der Welt geschoben. Immerfort geisterte mechanisch nur der Ausruf durch sein Hirn: Die Tür ist doch zugeschlagen.
Maechler stand auf, entledigte sich des Mantels, legte den Tragriemen des Felleisens über die Achsel, ergriff den Stock und begann, wach und doch schlafwandelnd, durch das Granitgeröll wieder hinaufzusteigen und den Weg zurückzuwandern, den er gekommen war, an dem Mannstein vorüber, der wie die Ruine einer alten Burg aussieht, über die große Sturmhaube und das hohe Rad. Er sah rechts und links und nahm nichts wahr, ja wurde nicht einmal berührt, als er auf dem Sattel, der Sturmhaube und hohes Rad verbindet, an der Einmündung des Weges von den Bradlerbauden vorüberkam. In einem Zwang, dem er sich willenlos fügte, ging er mühelos, fast getragen weiter, spürte nicht, daß sein Atem keuchend wurde, daß Schweiß über sein Gesicht rann, und ruhte nicht, bis er an den Schneegruben angekommen war. Dort ließ er sich, ohne zu wissen warum, in einem entgeisteten Gefühl, am Ziel zu sein, hart am Rande des schroffen Abgrundes nieder, trocknete sich mit dem Taschentuch das schweißüberströmte Gesicht und murmelte das letztemal in einem seelentiefen Aufatmen: »Gott sei Dank, die Tür ist zugeschlagen.« Dann verlor er sich in halluzinatorisches, versunkenes Anschauen des Abgrundes. And während er sich diesem Hingenommensein überließ, ereignete sich etwas Geheimnisvolles mit ihm. Er spürte auf einmal wieder den heißen Leib der Paula an seinem Körper, so brünstig, so umklammernd wie in der vorigen Nacht. Sie saugte sich tiefer und tiefer in ihn hinein, daß ihm der Atem stockte und das Herz in beklommener Angst förmlich stotterte. Aber es ließ nicht nach. Dieses fremde, höllenwilde Leben fraß sich mitleidslos tiefer und tiefer, daß er mit den Händen rechts und links in das Geröll fassen mußte, um nicht unter der rätselhaften Wucht, die ihn überwältigte, zu vergehen. Da, in der höchsten Not, begann er vorwärts zu rutschen, um sich in den Abgrund fallen zu lassen, und fühlte zugleich, wie sich das fremde Wesen aus seinem Innern löste. Ein Schatten mit den albhaften Umrissen eines Menschen, der ihm irgendwie ähnlich war, fuhr aus ihm heraus, schwebte einen Augenblick über dem grausigen Abgrunde und stürzte dann in die Tiefe, von der ein seelenleiser Schrei zu ihm herausdrang, der ihn doch bis ins Mark so erschütterte, daß es ihm in Grauen dunkel vor den Augen wurde.
Als Maechler wieder zu sich kam, fand er sich ganz nahe über dem Abgrunde, die Hände verzweifelt ins Geröll gegraben, erschreckt schob er sich zurück und sprang dann auf. Er wußte nicht, was sich eben mit ihm Geheimnisvolles ereignet hatte und sah sich forschend um. Die grauen Steine kochten in der Sonne, die gerade über ihm stand. Der Himmel flimmerte und zitterte blau. Die Ebene drunten lag friedselig im Glück ihrer bunten Felder, blaugrüner Waldstreifen und Hügelschnüre, die geruhig und schön in die Dunstschleier der Ferne sich verloren.
Diese kurze Umschau vertrieb in Maechler die letzte Berückung des Schicksalsschattens, die durch ihn hingehuscht war, so vollkommen, daß eine frohe, fast unbändige Befreitheit in ihm aufsprang, als sei jetzt wirklich und endgültig die Tür hinter seiner Lebensverwirrung zugeschlagen worden. Fliegenden Schrittes eilte er zum zweitenmal den Weg hin, den er am Morgen als beladener Flüchtling gegangen war, trennte unterwegs die drei Taler, seinen eisernen Bestand, aus dem Zipfel seiner Jacke, stärkte sich in der Peterbaude mit einem einfachen Essen und trank zur Feier der Erlösung sogar ein halbes Fläschchen österreichischen Weines dazu. Am Ende ließ er sich noch einige Brotschnitten und als Zubiß ein paar der kleinen Käschen zur Wegzehrung reichen, wußte er doch nicht, wie weit ihn heut noch seine Beine tragen und welche Meriten seinen launischen Magen plagen würden. Überdies ein Mahl in der Tasche macht den Wanderer wendiger und unabhängiger. Mit einem frischen Gruß, den er sich selbst wie ein Kommando zum Abschied zurief, schritt er durch die große Stube unter der niedrigen Balkendecke mit langen, ungeduldigen Schritten, daß das Mädchen in der Theke, die ihn bedient hatte, ein wohlgefälliges, etwas verwundertes Lachen nicht nur nicht unterdrückte, sondern breit herausgehen ließ, so daß sich Maechler, schon am Ausgang angekommen und die Hand zum Türgriff erhoben, betroffen nach ihr umsah.
»Na also, gute Reise«, rief ihm das Mädchen herzlich zu, der das Stutzen in seinem Gesicht nicht entgangen war.
»Schön, schön. Danke auch«, erwiderte Maechler und langte halb umgewendet weiter nach der Türklinke, fand sie aber nicht, und da er sich verwundert dem Ausgang zukehrte, sah er die Tür weit geöffnet und jener, der sie zwischen dem kurzen Grußwechsel zwischen ihm und dem Schankmädchen geräuschlos aufgezogen hatte, stand demütig an die Mauer gedrückt da und starrte ihn mit weiten, schwarzen Augen in einer Art erschrockener unsicherer Ehrfurcht an. Es war kein Mann, eher ein Männchen, ein zierlicher Knabenjüngling mit einem gefurchten alten Gesicht, das gramvoll und ekstatisch zugleich war, wie ein Landfahrer in zusammengebettelte Sachen gekleidet, an denen überall Grashalme, Nadeln und die grauen Fäden und Knötchen der Waldspinnen hingen. Der seltsame Mensch wirkte komisch und ergreifend, und als er die Verblüffung in Maechlers Gesicht bemerkte, verneigte er sich in einer Art unterwürfiger Andacht, daß man nur das Fuder krauser, dunkler Haare seines unbedeckten Kopfes sah, und sagte mit wohllautend hoher, feierlich psalmodierender Stimme: »Nein, bitte, nach Ihnen, hoher Herr.« In dieser Stellung verharrte er regungslos, bis Maechler, dem das dachen in der Kehle steckenblieb, an ihm vorüber war. Als er sich nach einigen Schritten im dunklen Vorflur umdrehte, schlüpfte der unheimliche Kleine geräuschlos in die Stube, und das Mädchen rief fröhlich: »Mein Gott, Ignaz, seid Ihr auch wieder einmal da.« Schnell, fast fluchtartig sprang Maechler aus der Baude in den Sonnenschein des geräumigen Wiesenplanes hinaus, auf dem das große, graue Holzhaus stand, und vermochte seine Eile nicht zu zügeln, bis er tief in den Wald eingedrungen war.