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Höher als in dieser Nacht stiegen Maechler und Lotte nie mehr, das ganze Leben nicht. Die Heirat der beiden ein Jahr später, nicht weit von dem Todestage des alten Wennrich, ging einfach und schmucklos vorüber, wie die beglückte Nachfeier eines vergangenen Festes. Das stete Licht über den zwei Menschen nahm auch nicht zu, sondern erfüllte sich nur mit einem neuen, unbekannten Schimmer, als das eintrat, was Lotte in ihrer ersten Liebesverzückung gesehen hatte, als wirklich einer jener kleinen, winzigen, blondhaarigen Engel aus dem glänzenden Himmel durch ihren Schoß in ihre Lebensstube sprang. Allein, als er diese rätselhafte Fahrt aus dem ewig Unbekannten hinter sich hatte, lag er als ein fester, strunkiger Kerl in einer dumpfen, geschlossenen Ruhe in seinem Bettchen, daß man wohl merken konnte, er trage des Vaters vielfältigen Geist, aber in einer engen Tonne, die, wohl gut gedübelt, aus eigenem Holz wie das Wesen seiner Mutter, doch nur einen Ton gab, wenn fest daran gepocht wurde. Still und pflichtgetreu, ohne Schreien und Unruhe hauste er in seinem Bettchen und kehrte sich lange nicht daran, wenn man ihn bei seinem Namen »Jochen« rief, war zu keinen Listen und Spielereien aufgelegt, sondern verharrte meistens dämmernd in einer Art schrulliger Verdrossenheit, die sehr komisch wirkte. Nur wenn er ganz allein, vollkommen unbeobachtet lag, öffnete er seine großen Augen, die er von der Mutter geerbt hatte, allerdings ohne den flimmernden Glanz und das Spiel des grünlichen Feuers. Mit stillem, etwas enttäuschtem Staunen maß er die unbegreifliche, seltsame Umgebung, wie einer, der weit gewandert, sich an einem Ort findet, den er eigentlich nicht begehrt hat. Dann kam es oft vor, daß Lotte unter seinen geschlossenen Augen ein kleines Tränenbächlein fand, das er lautlos nach einer solch geheimen Rundfahrt mit den Blicken geweint hatte. Es war ein winziger Philosoph ohne Gedanken, trug Dunkelheiten ohne Schmerzen und eine Melancholie, bei der ihm durchaus wohl war. Durch keine Liebkosungen und Spielereien vermochte man dem komischen Ernst seines Gesichtes ein Lächeln abzugewinnen, ob sich Lotte und Maechler noch so sehr bemühten; höchstens kam der Ausdruck einer Art von verwunderter Ironie in seinen Zügen auf, wenn sie ihm zu eindringlich das laute, helle Kinderlachen abnötigen wollten, nach dem sie sich so sehnten.
Dieses merkwürdige Wesen ihres kleinen Jochen nahm die beiden ganz gefangen, und es hatte den Anschein, als sei Maechler durch das Glück der Liebe ganz von seinen alten innersten Süchten abgedrängt worden, die sein Leben so lange und unter so schweren Erfahrungen in den Dienst und die Sorge für die anderen Menschen gedrängt hatten, daß er an seinem eigenen Wohl nicht besser als durch die Beförderung des Wohlergehens eines weiten Kreises zu arbeiten fähig war.
Doch an dem Stunden- und Tageszeiger seines Daseins rückte nicht bloß die kleine Hand seines Jochen, nicht bloß das mütterlich erfüllte Herz seiner Lotte, er mußte es gelten lassen, daß nach und nach wieder von draußen her in das Gangwerk seines Lebens gegriffen wurde. Wegen des Neubaues der Sandbrücke kam es zwischen Wilkau und dem benachbarten Scherichsdorf zu einem erbitterten Streit, der die Errichtung dieses unumgänglich notwendigen Überganges des Heidewassers bei der Hartnäckigkeit der gegensätzlichen Parteien ganz verhindert hätte, wäre nicht der Gemeindevorsteher Schlicker auf den Gedanken verfallen, den Gerbermeister Maechler um Rat anzugehen, wie am besten aus diesem vergifteten Wirrwarr ein Ausweg gefunden werden könne. Notgedrungen mußte sich der so Angegangene mit der Sache befassen und brachte es nach einigen Besprechungen dahin, daß die streitigen Parteien den einstweiligen Bau der Brücke durch die Kreisverwaltung mit der Maßgabe erreichten, daß durch die Behörde dann die Verteilung der Kosten erfolgen solle. Die Scherichsdorfer beruhigten sich gerne bei diesem Vermittlungsvorschlage, weil ihnen durch den umsichtig und weltgewandten Gerber in Aussicht gestellt worden war, daß er es auf seine Kappe nehmen wolle, die Verhandlungen bei beiden Gemeinden gegen die Behörde zu führen und die Baukosten vollkommen auf die Provinz abzuwälzen.
Dies war die eine Verlockung, der Maechler erlag, sich in das Getriebe der öffentlichen Angelegenheiten wieder verwickeln zu lassen. Die Unstimmigkeiten zwischen Wilkau und dem Grafen, die eine Zeit geruht hatten, nun jedoch durch den neuernannten Generaldirektor abermals energisch aufgegriffen wurden, war der andere Anlaß, warum der Gerber aus der Hut seines häuslich engen Behagens trat. Graf Schilling nahm, gestützt auf eine alte Urkunde, durch seinen höchsten Beamten das Recht für sich in Anspruch, nach eigenem Gutdünken alle Verbesserungen seines Bades, auch solche, die in das Wohl und Wehe der Gemeinde eingriffen, auszuführen und dem Ort einfach den von ihm festzusetzenden Teil der Aufwendungen aufzuerlegen. Maechler, wieder von Schlicker zu Hilfe gerufen, stöberte einen verschollenen Vertrag zwischen dem gräflichen Geschlecht der Schillinge und der Gemeinde »Willikaw« aus dem Jahre 1532 auf, nach dem die Gesundquellen zwar dem Grafen für alle Zeit überlassen wurden, aber den »preßthaften« Bewohnern vollkommen freie Benützung der Badegelegenheit und dem Ort ein Teil der Nutznießung und des Erlöses aus dem Bädlein zugestanden war.
Mit einemmal rückte Maechler von dem doch etwas bemäkelten Lebenszustand eines landfremden Mannes zum beliebten Helden von Wilkau empor, und weil zu der Zeit gerade der erste Schöffe der Gemeinde mit Tode abging, wurde Maechler an seine Stelle gesetzt.
Nun trieb es ihn wieder wie in den heißesten Kampfzeiten um die Wiederaufrichtung des Wennrichschen Geschäftes von Verhandlung zu Verhandlung bald nach Trennsdorf unterm Ägster, bald nach Rehberg, und sogar einige Male nach Breslau, und überall gelang es seinem klaren, unaufdringlichen Verstande und einem unbeirrbaren Gerechtigkeitssinn, der mit wahrer Liebe gepaart war, ebenso die Überheblichkeiten behördlicher Unfehlbarkeitssucht, wie die selbstsüchtige Anmaßung der Untergebenen in das Maß erträglicher Forderungen abzubiegen. Dabei tummelte er sich noch immer wacker in seinem Geschäft und Handwerk, sah den beiden eingestellten Gesellen scharf auf die Finger und stand rührig selbst am Schabbaum, an der neuen Walkmaschine, vergrößerte den Werkraum durch einen Anbau, der bis an das Grundstück der Jungfern Niedenführ reichte, kurz, war ein Mann, der hundert Räder in Gang setzte, doch nie, von Geschäftstaumel erfaßt, um seinen ruhigen Atem kam.
Immer noch behielt er genügend Zeit, seine Hand in dem seidenweichen Blondhaar Jochens und sein Gemüt in der kindlichen Verwunschenheit des Kleinen ruhen zu lassen und mit Lotte die vielfältigen Tatfahrten seines Lebens zu besprechen, trotzdem er mehr und mehr fühlte, wie unähnlich und unzugänglich ihm das Wesen des Söhnchens war und wie Lotte an seinen vielfältigen Erfolgen nicht mit der herzlichen Freude teilnahm, die sie ihm im geheimen doch bereiteten, ja, daß sie manchmal gar mit leerem Gesicht und gleichgültigen Augen an seinen Erzählungen und Darlegungen seiner Pläne vorüberhörte, wenn er sie dann fragte, was sie bewege oder bedrücke, so tauchte wohl ein Abglanz des alten Schimmers in ihren beredten Augen auf, und er fühlte ihr Wesen wie einen lieblichen, verlockend heißen Abgrund sich erschließen, daß ihn der selige Taumel des Verlangens erfaßte. Aber dann entfloh sie ihm entweder mit dem neckisch aufreizenden Lachen, das ihn schon vollkommen betört hatte, als er ihr das erstemal in der nächtlichen Straße Wilkaus nachgeschlichen war; oder sie war gegen seine Liebkosungen so spröde, daß er sich ihre Gunst förmlich erkämpfen mußte. Freilich, wenn sie dann Maechler mit fast unerschöpflicher Kraft überschüttet hatte, lag sie mit weit offenen, aus der Welt gedrehten Augen, deren Sterne so erweitert waren wie bei Katzen im Dunkeln, und das Feuer, das sonst nur als Flimmern, ein Schimmer auf ihrem Grunde, ein verlockendes Spiel trieb, lohte und flackerte nun gleich einer unersättlichen Flamme aus ihnen. Lange strahlte Lotte nach solchem Siegen eine Wärme und Fülle aus, die Maechler so beseligten, daß er mit noch rüstigerer, weil entlasteter Kraft sich in die Vielfältigkeit seiner tausend Verpflichtungen stürzte, vollkommen von ihnen in Anspruch genommen wurde und wochenlang an Frau und Kind vorüberlebte.
Dieses Ringen zwischen der männlichen Ungenügsamkeit des Lebens und der Ungenügsamkeit des liebehungrigen weiblichen Herzens warf Maechler und Lotte ständig auf und ab, trieb den Mann immer tiefer in die Welt hinein und verdoppelte die Inbrunst des Weibes nach schrankenloser Vereinigung, damit die Furcht vor einer Dämonie, aus der sie sich nicht anders retten konnte, als hinter die Schutzwand der Scheu. Aber aus diesem Versteck, das mit den Jahren immer tiefer, immer auffindbarer wurde, sehnte sie sich doch nach Überfällen, nach Leidenschaft und Liebesausbrüchen, vor denen sie sich in Stolz und weiblicher Scham so in acht nahm.
Vergeblich suchte Lotte dieser Not zu entrinnen, indem sie öfters und öfters in die Kirche flüchtete, nicht in die Menschenfülle und das Musikbrausen des großen Gottesdienstes, sondern in das milde Säuseln früher Messen und die umdunkelte Stille abendlicher Andachten. Aus dieser Unräumlichkeit und unirdischen Gemütshingabe, in die sie dadurch gehoben wurde, stürzte sie immer wieder in das nie ruhende Liebesbegehren ihres Herzens nach Zärtlichkeit, nach sinnlicher Wärme, nach einem stillen Glück im Winkel, und empfand Maechlers Hingabe an die weiten Kreise gemeinnützigen Lebens als eine Treulosigkeit gegen sie selbst. Wie ihr Ziel in allem nur Nathanael war, sollte all sein Trachten zuletzt nur in sie münden.
Wohl empörte sich Lotte gegen diese Wirbel, die von woandersher als aus ihrem Wesen immer wieder über sie herfielen, drängte mit der Aufwendung all ihrer ehrlichen Kraft gegen diese heißen Schatten und flüchtete sich in die mütterliche Liebe zu ihrem kleinen Jochen, der nun schon zu einem richtigen handfesten Hosenmatz geworden war und überall unauffällig und stetig mit seinem merkwürdig abseitigen Wachsein auf Entdeckungen ausging, deren Erwartungen und Erfüllungen er aber ganz für sich behielt. So lag er stundenlang auf der Steifmauer des früheren Werkplatzes und wurde nicht müde, die Wellen des Heidewassers zu betrachten, versank in das Anschauen von Blumen, grub neben dem Trockenhause in dem früheren verwilderten Obstgarten Grube um Grube in die Erde und saß dann verwundert und überrascht vor seinem Werk mit einem Gesicht tiefen, schrullenhaften Ernstes, trat zu plaudernden Menschen auf der Gasse, sah neugierig an ihnen hinauf und lauschte aufmerksam auf ihre Gespräche, als könne er aus ihnen etwas von dem Rätsel und verborgenen Sinn der geheimnisvollen Welt erfahren, in die er geraten war, oder er sang nach einer unbekannten, nie endenden monotonen Melodie Worte vor sich hin, die für alle, die es hörten, ohne Sinn, für ihn selbst aber wohl von einer seligen Bedeutung waren, so sehr bezauberten und entrückten sie ihn.
Wenn Lotte den Kleinen aus diesem Engelsspiel oder der Verwunschenheit anderer unbegreiflicher Unternehmungen mit der Frage herausriß, was das sei, was er da mache, dann schrak er aus seinem Traume auf, sah sie ratlos, ja ein wenig erschreckt an, flüchtete sich zwischen ihre Knie und vergrub erschüttert und leidenschaftlich seinen Kopf in ihren Schoß. Aber nie vermochte er ein Wort zu sagen über das ferne, ungewöhnliche Unfaßbare, das ihn bewegte und bedrängte, das aber oft so stark wurde, daß er mitten im Spiel alles aus den Händen fallen ließ und in schmerzvolles Weinen ausbrach, das nicht enden wollte. Wo es immer war, kam diese jähe Verdunkelung von Zeit zu Zeit über das Kind. Sogar wenn die kleine Familie behaglich am Tisch saß, fiel der Knabe plötzlich auf seine Arme und begann sein fesselloses Weinen. Ja, manchmal mitten in der Nacht wurde Jochen in diese Verwirrung seines Wesens gerissen, kroch unters Bett und schluchzte leise in sich hinein, um Vater und Mutter nicht zu stören.
Mit Hingabe und Liebe bemühte sich Lotte um ihren einzigen Knaben und rettete sich so aus ihren eigenen geheimen Bedrängnissen und Schatten, indem sie gegen die unbegreiflichen Erschütterungen seines Wesens ankämpfte, bis es ihr in einer Nacht gelang, den Schleier von der Angst wegzuziehen, die sich immer wieder verderblich auf das gute Herz ihres Kindes wälzte.
Die beiden lagen allein in dem Schlafzimmer; denn Maechler war für zwei Tage verreist. Die Nacht stand windstill draußen, und durch das halb geöffnete Fenster klang das sommerlich leise Wellengesprudel des Heidewassers herein. Jochen drehte sich in seinem Bettchen unruhig von der einen auf die andere Seite, lag dann lange still, mummelte singend dem Laut des Wassers ein paar Töne nach und fragte dann, als Lotte glaubte, er sei schon längst eingeschlafen, woher das Heidewasser eigentlich komme. Da erzählte Lotte eine selbst erfundene Geschichte von Rübezahl, der oben auf dem Riesengebirge hause und über hundert und mehr kleine winzige Zwerge gebiete, die allerhand Arbeiten zu verrichten hätten. Die einen müßten die Felsen untermauern, daß sie nicht herunterfielen, die anderen die Anemonen und das Habmichlieb bewachen und die Leute irreführen, die sie unsinnig abreißen. Manche müßten die Nester der Steinschmätzer betreuen, und wieder andere, die Wasserzwerge, hätten die Aufgabe, auf die Quellen aufzupassen, daß es ihnen nicht zu schwer werde, aus dem Gestein zu finden. Wenn das ihnen mit Spitzhaue und Schaufel gelungen sei und zarte Wässerchen wieder munter über den Berg herunterrieselten, dann säßen die Zwerge dabei und sängen den Wasserfäden ihre schönsten Lieder, Lieder, so unglaublich zauberhaft, wie sie noch nie ein Mensch gehört habe, daß die Wellen diese Laute nie vergessen können und sie immerfort singen müßten, so lange sie laufen.
»Und sie laufen Tag und Nacht ohne Aufhören, wie das Heidewasser draußen, und singen dabei die Zwergenlieder, die sie gelernt haben, immerzu, immerzu, immerzu ...« Lotte sagte das Wort, mit dem sie die Geschichte endete, leiser und leiser, in stets längeren Abständen, bis Jochen auf langen, festen Atemzügen sicher in Schlaf fuhr. Auch die Mutter wurde von dem Märchenglanz ihrer Geschichte gnädig in die selige Wunschlosigkeit der eigenen Kindheit zurückgetragen, bis jenes friedevolle Erlöschen aller Lebensunruhe begann, das zu den lautlos sich öffnenden Toren des Schlafes hinführt. Ihre Augen hatten sich geschlossen, ihre Glieder waren gelöst, und nur das Gehör lag als letzter Lebenswächter noch auf seinem Lauscherposten im Ohr. Dadurch wurde sie plötzlich aus ihrem Traumschlummer ins Wache gerissen. Denn vom Bett Jochens kamen wieder die leisen, verhaltenen Schluchzlaute herüber, die sie zu genau kannte. Ein Griff hinüber überzeugte sie davon, daß der Knabe, unters Bett verkrochen, wieder im Kampf gegen den Überfall einer namenlosen Traurigkeit lag. Lottes herzlich liebevolle Fragen, ihr doch um Himmels willen zu sagen, ob und wo er Schmerzen habe, hatten keinen anderen Erfolg, als daß sich der Arme fessellos seiner Erschütterung überließ und so laut zu weinen begann, daß es ihn in der Brust stieß. Da nahm ihn Lotte zu sich ins Bett, kuschelte ihn innig an ihre Brust und setzte ihm mit Liebkosungen, Schmeicheleien und herzlichem Eindrängen so lange zu, bis die Wand seines Geheimnisses weggeschmolzen war. Er zog seine Knie an den Leib, krümmte sich zusammen und vergrub den Kopf zwischen ihre Brüste, als wollte er in ihren Leib zurückkriechen, aus dem er gekommen war. Sein Weinen setzte aus, und einen Augenblick war es atemstill, daß Lotte nichts wahrnahm als das Pochen ihres bangen Herzens. Endlich hörte sie des Kindes stockende Worte:
»Ich fürchte mich so vor dem Leben und in der Welt.«
So, als klängen sie aus ihrem eigenen Leibe an ihr Ohr.
Bis in die letzte Fiber erschüttert von dem Bekenntnis ihres Kindes, das von der Angst bedrückt wurde, die auf der ganzen Menschheit lastet, riß sie den Knaben empor, überschüttete ihn mit Küssen, pries die Schönheit der Welt, den blauen Himmel, die tausend Blumen, die Vögel, die so schön singen, den Vater, der ihn so liebe, versicherte ihn unter stetem Kosen ihrer eigenen unendlichen Liebe und versprach ihm tausendundein herrliche Dinge, die sie ihm kaufen wolle, sobald es wieder Tag geworden sei, daß der Knabe auf das Schwärmen ihrer bunten Verheißungen aus den rätselhaften Umklammerungen der Daseinsfurcht ganz herausgelockt und fest eingeschlafen war. Sie trug ihn vorsichtig in sein Bett und deckte ihn sorgsam Zu. Aber als sie wieder allein lag, rannen ihr die lautlosen Tränen des Erbarmens und Schreckens über die furchtbaren unerklärlichen Heimsuchungen ihres lieben, schuldlosen Knaben unaufhaltsam aus den Augen, die weit und groß in die Nacht starrten.
Von woher kam diese Welt- und Lebensverfinsterung immer wieder über ihr Kind? Von seinem Großvater, der so lange unter Menschenhaß gelitten? Von seiner Großmutter, die durch Gram und Grauen zerbrochen war? Aus den Wänden des Hauses, das keine Stube, keinen Winkel enthielt, wo nicht Schmerz, Kummer und aussichtslose Bitterkeit gehockt hatten?
So lag und bohrte Lotte und grub lange die Zeit um nach der unseligen Quelle, aus der die Finsterwasser ihren Jochen stets aufs neue überfluteten.
Lotte sann eindringlich und leidenschaftlich Stunde um Stunde und fühlte doch, daß ihr machtloses Suchen nichts als die Flucht vor einem wissen war, das in ihr selber lag. Endlich gab sie dieses Kulissenschieben auf. Aus ihrem Herzen, aus ihrem Blut hatte sich das Kind das Grauen getrunken, in dem es immer wieder zittern mußte. Die ganze Rat- und Hilflosigkeit ihres Lebens wälzte sich mit solch niederdrückender Gewalt auf das arme Weib, daß sie es liegend nicht mehr aushielt. Sie richtete sich auf und vergrub, vorn übersinkend, ihr Gesicht in das Deckbett. So kauerte Lotte im Brausen ihres Blutes, in einer Art Lähmung, bis sie ganz ohne Macht des Widerstandes und des Ertragens in die Bewußtlosigkeit hinüberzuschwinden begann, und eine dünne, übersichtig klare Luft, wie in einer außerirdischen Jenseitigkeit ihres Innern aufkam, in dem all ihre Pein, Ungenügsamkeit ihres Herzens nicht mehr war, nichts von Dämonie und Dunkelheit. Sie liebte ihren Maechler wahrhaft und hatte ihr Kind, den Jochen, in der höchsten Glückseligkeit empfangen, die es auf Erden geben kann. wie also konnte sie schuldig sein an den Nöten ihres Jungen? Sie? Aber wenn nicht sie, wer dann?
Lotte machte verzweifelte Anstrengungen, sich wehrhaft aufzurichten und brachte es doch nicht weiter, als den Kopf zwei, drei Handbreiten zu heben und einen Blick nach der Seite in die Stube zu werfen. Da sah sie einen Schatten nicht weit von ihr vorübergleiten, der noch schwärzer als die Nacht war. Dann verlor sie das Bewußtsein.