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Die Straße senkte sich tiefer, rechts und links von langen Waldzügen eingesäumt, lag sie schon im vollen Abendschatten, und der junge Arzt sah gedankenvoll an den dunklen, schlanken Tannen bis zu den rotglühenden Spitzen und den farbigen Wolken empor, die über die Spitzen hinzogen. Er hatte den Kutscher gefragt, in welcher Zeit sie Schloß Bergfeld erreichen würden, und war nach der Antwort wieder verstummt. Er scheute sich, ein längeres Gespräch mit Martin Vollborn anzuknüpfen, so viele Lust dieser dazu verriet. In beinahe drei Stunden hätte sich wohl manches von dem langen Thüringer erfahren lassen – doch eben die einfachste Frage, an welcher Krankheit die junge Dame darniederliege, zu der Professor Heiding gerufen sei, wollte Doktor Erwin nicht über die Lippen. Er mochte keine fremde Vorstellung, kein Vorurteil in sich aufnehmen, bis er seinen Lehrer gesprochen und selbst gesehen habe. So währte es etwa eine halbe Stunde, daß die beiden schweigsam durch den Abend dahinfuhren. Martin Vollborn, der anfänglich die günstigste Meinung von dem jungen Arzte gefaßt hatte, begann an seinem Fahrgast irre zu werden – diese stumme Zurückhaltung schien ihm nicht die Art, mit einem gedienten Manne zu verkehren. Als er den Berliner Doktor wieder ansprach, gedachte er zu ergründen, ob es Blödigkeit oder Hochmut sei, was den jungen Mann abhielt, sich in eine ersprießliche Unterhaltung zu vertiefen. Nachdem er die Erlaubnis erbeten, seine Pfeife in Brand zu setzen, hob Martin an:
»Will's wünschen, Herr, daß ich die Rappen nicht umsonst eingespannt habe – meine aber immer, daß der Professor vom Ruppberger Hof und Sie zu spät geholt worden sind und daß es um unser armes Prinzeßchen geschehen ist; daß sie krank war, hat jedermann schon längst merken können – sie wollten's aber im Schloß durchaus mit dem alten Physikus aus Liebenstein zwingen, der bei der seligen Durchlaucht Leibarzt gewesen! Und nun haben sie's – haben wir's! Denn sie – na, ein herrschaftlicher Diener darf nichts gesagt haben. Aber wahr bleibt doch wahr: Prinzeß Hildegard ist die beste von allen, und wenn sie stürbe – ich sage Ihnen nichts! Herr Doktor, aber tun Sie, was Sie können! Daß dich –!« Der Anruf galt dem Handpferd, das vor einem am rechten Straßensaum auftauchenden weiß gestrichenen Stein scheute. Aber der Ruf ward von einer so ausdrucksvollen Gebärde und einem so zornigen Peitschenschlag in die Luft begleitet, daß der Arzt merkte, der Kutscher sei froh, seinem gepreßten Herzen irgendwie Luft machen zu können. Doktor Erwin fühlte zugleich, daß er entweder dem Mitteilungslustigen Stille gebieten oder das Gespräch aufnehmen und lenken müsse. Die halben Worte des Mannes weckten Neugier und Teilnahme, und er brauchte ja keine Frage zu tun, die der Krankheit der gepriesenen Prinzessin galt. Er verhalf dem Kutscher zu Feuer und sagte dann, sich neu zurechtsetzend und dem Vorderteil des Wagens ein wenig zugeneigt:
»Wie alt ist eigentlich Eure Prinzeß Hildegard?«
»Neunzehn – nein, zwanzig Jahre muß sie sein! Sie ward in dem Herbst getauft, wo ich zu den Fünfundneunzigern nach Gotha einrücken mußte. Im nächsten Sommer gingen wir nach Frankreich!«
»Und seit wann sind Sie im Dienste der Landgrafen von Bergfeld?«
»Na, das sind auch schon fünf Jahre,« entgegnete Martin Vollborn. »Wird aber wohl am längsten gedauert haben, Herr Doktor – wenn's zum Schlimmsten kommt.«
Das Gespräch nahm immer wieder die Wendung, die dem Arzt nicht behagte, er suchte abermals auszuweichen und fragte wieder: »Die kranke Dame lebt bei ihrem Bruder, dem Herrn Landgrafen Heinrich? Oder war sie nur zum Besuch dort anwesend und ist während dieses Besuches erkrankt?«
Der Kutscher machte eine heftige, verneinende Kopfbewegung und schien seine Antwort längere Zeit zu überlegen. Ein paar Biegungen der Landstraße nötigten ihn, schärfer acht auf seine Rappen zu haben – als aber die Straße wieder glatt auf den Kirchturm von Brotterode zulief, wandte er sich zum Fahrgast rückwärts und sagte leiser:
»Prinzeß Hildegard lebt das ganze Jahr im Bergfelder Schlosse. Sommers und Winters, Herr Doktor – und pläsierlich ist's da meist nicht. Dem Landgrafen Durchlaucht gehört das Schloß samt allem Zubehör – aber er kommt im Sommer höchstens zwei Monate und ein- oder zweimal im Winter auf eine Woche zur Jagd. Die alte Durchlaucht ist eben zu früh gestorben, hat schlecht – so gut wie gar nicht für das arme Kind gesorgt! Hat's wohl anders im Sinn gehabt, aber was hilft ihr das! Nicht daß sie je klagte, Herr Doktor – doch ist im Schloß und Flecken niemand, der nicht wüßte, wie unrecht ihr geschehen ist.«
Das Steinpflaster von Brotterode, über das jetzt der Wagen hinrasselte, überhob den immer gespannter lauschenden jungen Mann zunächst der Notwendigkeit, mehr zu hören und zu antworten. Und als das Fuhrwerk bald darauf in das schon beinahe dunkle Trusental einlenkte, bedauerte er nur, daß er der Pracht dieses Felstales nicht zu besserer Stunde ansichtig werde. Martin Vollborn stimmte eifrig zu, meinte tröstend: »Vielleicht, wenn ich Sie zurückfahre, Herr Doktor,« und versagte sich nicht, mit dem Peitschenstock nach malerischen Felsbildungen und mächtigen Baumgruppen hinzuzeigen, um die sich schon Dunkel webte. Doktor Erwin dankte wiederholt für die gute Absicht, mühte sich jedoch nicht, die dämmerigen Herrlichkeiten noch zu erkennen. Seine Gedanken flogen weit vorauf, fernen, geträumten Lichtern entgegen – seine wachsende Erregung ließ ihn wünschen, bald am Ziele zu sein. Eine Frage, die er zehnmal im Verlauf der Fahrt hinter die Zähne gedrängt hatte, fiel endlich doch von seinen Lippen.
»Durchlaucht der Landgraf Heinrich ist jetzt in Bergfeld und bei seiner kranken Schwester?«
Der Kutscher gab ein ziemlich verdrossenes: »Freilich ist er im Schloß, und lieb ist's ihm schwerlich, daß er da ist!« zur Antwort, und Doktor Erwin merkte, daß das Gespräch in die kaum verlassene Bahn wieder einlenkte. Er kannte jetzt zur Genüge Martin Vollborns Meinungen und fühlte, wie seine eigene Vorstellung von dieser Meinung bestimmt ward. Es war Zeit, daß er selbst sah und urteilte und sich der wunderlichen Stimmung erwehrte, in die ihn das Abenteuer dieses Abends zu versetzen begann. Er war zu einer schwer Erkrankten gerufen, und nichts als eine ärztliche Pflicht lag vor ihm, über deren Art und Umfang ihn sein alter Heiding in der nächsten Stunde aufklären würde. Was gingen ihn die Lebenslage und die Umstände der jungen Dame an, von deren Dasein er heute nachmittag zum erstenmal ein Wort vernommen hatte? – Freilich gelang es ihm doch nicht, die Bilder zu verscheuchen, die fort und fort vor dem inneren Auge vorüberzogen, so daß er sich um so ungeduldiger nach der erlösenden Wirklichkeit zu sehnen begann. Die Fahrt durch die Nacht schien sich immer endloser auszudehnen, seit der Wagen das enge Felstal hinter sich gelassen hatte und durch ebeneres Land rollte. Dunkle, langgestreckte Felder, einzelne stehende Wasser, die der Ausschauende erst im Näherkommen von Feldern und Wiesen unterschied, von Zeit zu Zeit die aufblitzenden Lichter eines Dorfes, das die Straße zur Seite ließ, um abermals zwischen waldigen Hügeln dunkler hinzuziehen – wiederum Feldbreiten, lange Rasenflächen, weithin sichtbare Lichter, wechselten noch fünfviertel Stunden lang, ehe der Wagen entschieden einem der Lichtpunkte näher kam. Jetzt rief der Kutscher: »Dort kommt Bergfeld, Herr!« Jetzt donnerte er über die Holzbrücke eines kleinen Flusses, jetzt durch die lange Hauptstraße eines Fleckens, aus deren niedrigen Häusern spärlich ungleicher Lichtschein drang, und jetzt folgte eine Allee mächtiger Rüstern, dahinter ein von weißen Mauern umschlossener, halbrunder Platz mit Auffahrt und doppelter Freitreppe, alles vom Schein zweier großer Kandelaber am Treppenfuß und bronzener Laternen über der Eingangstür erhellt. Sobald Martin Vollborn mit der Peitsche klatschte, eilten zum Überfluß noch ein paar Bediente mit Windlichtern auf die oberen Treppenstufen, ein stattlicher Portier kam dem Aussteigenden bis an den Absatz entgegen, auf welchem die beiden Stufenreihen zum erstenmal zusammenliefen, um sich wieder zu teilen.