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»Weiß, weiß – sind nicht lang' erst angekommen!' rief der Landgraf. »Wir werden also morgen Bescheid und Entscheid haben! Wäre wünschenswert – in jedem Betracht. Habe keine Vorstellung von der Möglichkeit einer Operation in solchem Fall! Müssen es jedenfalls in Hildegards Willen stellen, ob sie das Wagnis auf sich nehmen, nicht lieber in Ruhe einschlafen will! – Wäre schlimm, wenn das frische Mädchen in solchem Elend verderben müßte – wünsche euch guten Rat und besten Erfolg, ihr Herren, glaube aber vorderhand nicht recht daran! Nichts für ungut!«
Er hielt inne und schien auf eine Antwort des jungen Mannes zu warten, zu dem er vorzugsweise gesprochen hatte. Da Erwin Buchhoff stumm blieb, nahm Professor Heiding das Wort:
»Auch wir sind weit von frevelhafter Zuversicht entfernt, Durchlaucht, und wollten eben vor Ihrem Eintritt noch einmal alle Möglichkeiten erwägen und prüfen. Hoffentlich haben Ew. Durchlaucht das Zutrauen, daß ich und mein junger verdienter Freund nach ernster Beratung das Rechte treffen!«
»Und wenn auch – was wär's?« sagte der Landgraf nachsinnend. »Die arme Hildegard wird, falls sie kümmerlich am Leben bleibt, wenig genug vom Leben haben! Hat kaum viel bessere Aussichten, als hier im verwunschenen Schlosse zu verhutzeln. Ihre Geburt aus meines Vaters dritter Ehe – ihre ganze Lage – Sie verstehen! Hatte ihre Hand dem Grafen Schlichta zugesagt – sie konnte nicht ruhen, bis die Sache zurückging. Geb's zu, daß der Schlichta nicht viel besser als ein Abenteurer ist! Aber was denkt so ein Mädchen? Der Schlichta ist nicht schlimmer als die anderen, einer wie alle; soll erst gebacken werden, der Prinz, der für sie paßt! Wird an anderen Bewerbern nicht mehr Freude erleben! Weiß der Himmel, daß sie mir von Herzen leid tut – will ihr wünschen, daß Sie ihr die Gesundheit wiedergeben, bleibt aber ein zweifelhaft Gut für sie! – Hoffe, die Herren gönnen sich heute abend etwas Erholung! würde mir die Ehre geben, Sie beide zum Abendessen bei mir zu sehen, soupiere aber heut nicht. Lasse für Sie im kleinen Tafelzimmer unten servieren – gute Nacht, meine Herren – will Hildegard noch guten Abend sagen. Gott befohlen!«
»Durchlaucht! – die Kranke schläft vielleicht schon – – sie schien mir aufs äußerste erschöpft!« ließ sich plötzlich Erwins Stimme vernehmen. Er hatte, während der Landgraf sprach, seinen Sessel in das Dunkel zwischen zwei hohen Bücherschränken zurückgezogen, um seine innere Erregung nicht zu zeigen. Jetzt hatte er es doch für Pflicht gehalten, sein Schweigen zu brechen; Landgraf Heinrich hätte, wenn er es der Mühe für wert erachtet, den veränderten Ausdruck im Gesicht des jungen Arztes so gut wahrnehmen können, als ihn Professor Heiding sah. Aber er sagte im Weggehen nur gleichmütig:
»Auch gut – sagen wir lieber guten Morgen! Für Sie, meine Herren Doktoren, gute Nacht und guten Rat!«
Erwin starrte, als sich hinter dem Weggehenden die Tür des Bibliothekzimmers wieder schloß, nach den Goldleisten dieser Tür – oder wollte er nur vermeiden, seinen Paten und Lehrer anzublicken? Der Professor aber sagte alsbald mit einem schmerzlichen Lächeln: »Du hörtest – Erwin?«
»Ich hörte! Der Herr Landgraf von Bergfeld, Durchlaucht, scheint uns Ärzte für eine Art bequemer und billiger Mörder zu halten!« gab der junge Mann leidenschaftlich zur Antwort und vermied noch immer den Augen Heidings zu begegnen.
»Überreizt und ungerecht, Erwin!« rief Heiding jetzt auch erregt. »Ist das die Wirkung der Reichshauptstadt? Der Landgraf läßt sich nicht träumen, daß du ihn so mißverstehen könntest. Dir tritt plötzlich entgegen, was ich schon seit einigen Tagen empfunden und erlebt habe. Die arme kranke Prinzessin ist in einer unseligen Lebenslage und allen im Wege. Gerade dieser Bruder gönnt ihr wahrlich das Leben, möchte es ihr sogar nach seiner Weise freundlich gestalten – nur daß er's nicht anzufangen weiß. Ihr Schicksal liegt ihm als eine Last auf der Seele und er sieht überall kein Glück für sie! Der Herr ist wenig gewöhnt, mit seinen Gefühlen und Einsichten hinter dem Berg zu halten – und so verschweigt er uns nicht, daß der Tod für seine junge Stiefschwester das Beste sein könnte, nachdem sie einmal so krank ist.«
»Und Sie, lieber Meister – Sie, eben Sie! – können solche Anschauung teilen?« fragte Erwin. Er tat sich Gewalt an, um nichts von der Entrüstung und dem Schmerz laut werden zu lassen, die ihn erfüllten; doch Professor Heiding hörte sie aus der sanften Frage heraus. Er ergriff Erwins Hand und sagte:
»Muß ich dich heute daran mahnen, Erwin, daß du mich lange kennst und wie du mich kennst? Es sind schwere, das Herz bedrückende Stunden, in denen unsere wissenschaftliche Einsicht, unser Pflichteifer mit dem menschlichen Gefühl in Widerstreit gerät – doch auch sie müssen bestanden werden. Du zweifelst nicht, daß es nutzlose Grausamkeit ist, den Todkranken, Sterbenden aus dem Schoße seiner Familie zu reißen, um ihm in Korfu oder Ägypten ein paar freudlose Wochen das nackte Leben zu verlängern, dir wie mir gilt es als unverantwortlich, wenn sie in einer Klinik eine Operation vornehmen, bei der sie von vornherein wissen, daß keine Hoffnung der Erhaltung, der wirklichen Genesung ist!«
»Das alles leidet aber hier keine Anwendung, teuerster Professor!« fiel der junge Arzt ein, dem es schwer wurde, ruhig zu bleiben und der in seiner Vorstellung den väterlichen Freund auf Haaresbreite an einer Tiefe hinschreiten sah, die schwindelnden Absturz drohte. Der Professor legte abermals beruhigend die Rechte auf Erwins Arm und fuhr leiser, aber mit leidenschaftlichem Tone fort:
»Jetzt vernimm erst, was ich hier gefunden und empfunden habe! Ich wurde durch einen reitenden Boten, dem eine Stunde später der Jagdwagen des Landgrafen folgte, der auch dich vom Inselsberg heruntergeholt hat, von meinem stillen Ruppberger Hofe aufgeschreckt. Der Brief des Landgrafen sagte einfach, daß seine junge Stiefschwester täglich kränker und kränker geworden sei und daß er seine letzte Hoffnung auf den günstigen Zufall setze, daß ein namhafter und ausgezeichneter Arzt in seiner Nähe sei, und hoffe, daß ich die erbetene Hilfe nicht versagen werde. Du siehst schon hieraus, wie unrecht du vorhin dem Herrn getan hast! Als ich die Kranke einen halben Tag beobachtet hatte, spürte ich, daß ein anderer Druck als der des inneren Übels auf ihrem Wesen laste. Eine unbewußte Schwermut – die schlimmste von allen – tat ihrem natürlich einfachen Wesen keinen Eintrag, aber bereitete mir schon Sorge, ehe ich schärfer und klarer sah. Prinzeß Hildegard verriet in nichts Lebensmut, Sehnsucht nach Genesung, heitere Hoffnung, was doch alles in ihrem Alter nicht fehlen darf. Sie klagte kaum und war liebenswürdig dankbar für jede augenblickliche Erleichterung, die ich ihr verschaffen konnte, aber in all ihrem Dank und all ihrer Liebenswürdigkeit trat eine trübselige Resignation zutage, die mir zugleich wehtat, Sorge machte und mich zwang, Augen und Ohren weit zu öffnen. Da sah und hörte ich denn, daß das arme junge Geschöpf ein verlorenes, überflüssiges Leben führt, im traurigsten Sinne des Wortes. Der alte Landgraf Philipp hat seine dritte Ehe mit der Gräfin Ostheim in einer Anwandlung vorübergehender Leidenschaft, ja seinen erwachsenen Kindern erster Ehe zum Trotz, geschlossen. Er war schon zuvor in seinen Besitzverhältnissen zerrüttet, und die dritte Gemahlin, die übrigens lange vor ihrem dreißig Jahre älteren Gemahl gestorben ist, soll das Ihrige zum Zusammenschwinden des Allodialvermögens beigetragen haben. Erbärmliche Realitäten, mein Junge – aber du weißt, daß menschliche Liebe und menschlicher Haß zu drei Vierteln – schlecht gerechnet! – am Mein und Dein hängen. Durch die dritte Heirat und die angebliche Verschwendung der Mutter Prinzeß Hildegards sollen namentlich die Kinder der zweiten Ehe schwer benachteiligt worden sein, denn der Landgraf, den du vorhin sahst, und seine beiden wirklichen Brüder waren natürlich die Erben der großen Herrschaften, die der alten Durchlaucht gehört hatten. Recht verständlich sind mir diese häßlichen Dinge nicht geworden – genug, die Landgrafen von Bergfeld sind reich, ihre Stiefgeschwister aus zweiter Ehe, die Prinzen und Prinzessinnen von Heinrichstal heißen, sehr viel ärmer, die kleine Prinzessin von Grumbach aber, das unglückliche Nesthäkchen, am allerärmsten. Sie ist mit einem sichergestellten Kapital von hunderttausend Talern abgefunden worden – ein hübsches Vermögen für eine Frau aus unseren Lebenskreisen, ein armseliges für eine Frau, die den Prinzessinnentitel führt. Dazu hat der alte Landgraf den schlimmen Einfall gehabt, dies Vermögen der nächstältesten Stiefschwester, einer Prinzessin von Heinrichstal, die an irgend einen Vetter verheiratet gewesen ist und verwitwet gleichfalls hier im Schlosse lebt, zuzusichern, falls Prinzeß Hildegard unverheiratet und kinderlos stürbe! Seitdem steht, wie mir der alte Kammerdiener vertraut hat, Prinzessin Luise, die Stiefschwester, zwischen dem armen Kinde und jedem Bewerber, zwischen ihr und dem Glück, zwischen ihr und dem Leben!«
»Aber was sollen wir damit? Was geht all dies vornehme Elend, all dieser Greuel uns an?« rief Erwin wieder drein. Seine Erregung, die Professor Heiding mit seinem Bericht zu stillen gedachte, wuchs in jeder Minute; das bittere Gefühl, dem geliebtesten, verehrtesten Manne fremd und ohne Verständnis gegenüberzustehen, gesellte sich zur quälenden Mißempfindung über das Stück Weltlauf und Menschenelend, das sich hier unerwünscht vor ihm auftat. Der berühmte Arzt schaute seinem jungen Paten tief in die blitzenden Augen, sein Blick schloß einen stillen Vorwurf ein, vor dem Erwin die Stirn senkte, ohne doch überzeugt zu sein, daß er den Vorwurf verdiene.