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Die Gilbertinseln

Erstes Kapitel. Butaritari

In Honululu hatte wir der ›Casco‹ und Kapitän Otis Lebewohl gesagt, unsere nächste Ausreise fand daher unter veränderten Umständen statt. Plätze wurden für mich, meine Frau, Mr. Osbourne und meinen Chinesenboy, Ah Fuh, auf einem winzigen Handelsschoner, der »Äquator«, Kapitän Dennis Reid, belegt; und eines schönen Junitages 1889 stachen wir, nach hawaiischer Sitte mit Abschiedskränzen geschmückt, in See und segelten bei günstigem Winde gen Mikronesien.

Die ganze weite Südsee ist, was Schiffe anbetrifft, eine Wüste, vor allem jener Teil, auf den wir jetzt zuhielten. Zwischen diesen Inseln gibt es keine Post; die vorhandenen Verbindungen sind rein zufälliger Art; wohin man zu fahren beabsichtigt, ist eine Sache für sich – wo man schließlich landet, eine ganz andere Sache. So war es zum Beispiel meine Hoffnung, die Karolinen zu erreichen und zur zivilisierten Welt über Manila und die chinesischen Häfen zurückzukehren; statt dessen sollten wir in Samoa auftauchen und dort endlich von neuem durch den Anblick der Berge erfrischt werden. Seitdem jene Abendröte auf den Gipfeln von Oahu verblaßte, waren sechs Monate vergangen, und wir hatten nirgends einen Fleck Erde erblickt, der auch nur so hoch wie ein gewöhnliches kleines Haus gewesen wäre. Unser Weg hatte uns unausgesetzt über die flache See geführt, unsere Wohnungen waren auf der nackten Koralle aufgeschlagen gewesen, unser Essen hatte aus dem bestanden, was wir dem Pökeltopf oder den Konservenbüchsen entnehmen konnten. Ich hatte gelernt, selbst Haifischfleisch als Abwechslung zu begrüßen, und ein Berg, eine Zwiebel, eine irische Kartoffel oder gar ein Beefsteak waren alles Genüsse, deren Geschmack wir fast verlernt hatten, und nach denen wir uns in unseren Träumen sehnten.

Die beiden Orte, an denen wir uns am längsten aufhielten, waren Butaritari und Apemama; beide liegen in der Nähe des Äquators, die letztere Siedelung nur dreißig Meilen davon entfernt. Beide erfreuen sich des herrlichsten Seeklimas, Tage blendender Sonne und frischer Winde, Nächte von überirdischem Glanz. Beide sind etwas breiter als Fakarava und messen (an ihrer breitesten Stelle) rund eine Viertelmeile von Strand zu Strand. Auf beiden gedeiht eine grobe Art Taro, dessen Kultur die Haupttätigkeit der Eingeborenen bildet, und die vielen Gräben und Hügel, die so entstehen, schaffen eine Art Miniaturszenerie, die das Auge ergötzt. In jeder anderen Hinsicht zeigen die beiden Inseln die gewöhnlichen Eigenschaften eines Atolls: den niedrigen Horizont, die weite Fläche der Lagune, den schilfartigen Saum von Palmenwipfeln, die Eintönigkeit und geringe Ausdehnung des Landes, die ins Ungeheure vergrößerte Weite und Bedeutung von Meer und Himmel. Das Leben auf einer derartigen Insel verläuft in mancher Beziehung wie das Leben an Bord. Das Atoll wird bald wie das Schiff zur Selbstverständlichkeit; auf die Inselbewohner konzentriert sich wie auf die Leute an Bord das ganze Interesse. Die beiden Eilande selbst sind dicht bevölkert, unabhängig, die Sitze von kleinen Königen, erst kürzlich zivilisiert und infolgedessen noch wenig besucht. In den letzten zehn Jahren hat sich dort manches unmerklich verändert; die Weiber gehen nicht mehr bis zu ihrer Verheiratung vollständig nackt; die Witwe schläft nachts nicht mehr neben dem Schädel ihres verstorbenen Gatten und braucht ihn am Tage nicht länger mit sich herumzutragen, und seitdem Feuerwaffen eingeführt wurden, werden Speere und die Schwerter aus Haifischzähnen nur noch als Kuriositäten verkauft. Vor zehn Jahren dagegen waren alle diese Dinge und Gebräuche noch im Schwange, nach weiteren zehn Jahren wird die ganze alte Lebensordnung völlig verschwunden sein. Wir hatten Glück, ihre Einrichtungen noch lebendig oder (wie in Apemama) kaum angetastet zu finden.

Dicht bevölkert und unabhängig – Unterschlupfe von Menschen, die mit einigem rustikalen Pomp regiert wurden – das war der erste und auch dauernde Eindruck dieser winzigen Eilande. Während wir in der Lagune auf Butaritari zuhielten, sahen wir einen Teil des flachen Ufers von einem Meer niedriger brauner Dächer bedeckt; die des Palastes und des königlichen Sommersaals waren aus Wellblech und glänzten grell in der Sonne; die Königsflagge flatterte dicht davor an einer hohen Fahnenstange; gegenüber lag ein künstliches Inselchen, auf dem das Gefängnisgebäude als Alarmturm emporragte. Selbst bei diesem ersten und aus der Ferne gewonnenen Blick erweckte der Ort kaum den Eindruck dessen, was er wirklich war, eines Dorfes; vielmehr glich er einer Miniaturresidenz, einer ländlichen, aber dennoch königlichen Hauptstadt, und auch das entsprach ja seinem Charakter.

Die Lagune ist seicht. Bei Ebbe konnten wir rund eine Viertelmeile weit in dem lauwarmen Wasser über Sandbänke waten, um endlich in eine grelle Glut von Sonnenlicht und Schwüle zurückzukehren. Die Binnenseite einer Äquatorinsel ist nachmittags in der Tat ein ziemlich erdrückender Ort; an der Meeresküste weht wenigstens noch der stürmische, kühlende Passat; auf der Lagune ist auch noch Wind, der die Kanoes beflügelt, aber der schirmende Busch hält ihn vollständig vom Lande ab, und Stille sowie Schwärme von Mücken senken sich brütend auf die Stadt hernieder.

Wir konnten also behaupten, Butaritari gewissermaßen überrascht zu haben, denn nur wenige Einwohner waren noch am Nordende der Niederlassung unterwegs, als wir landeten. Im Weitergehen nahmen auch diese Begegnungen ein Ende, es schien, als durchschritten wir eine Totenstadt. Nur zwischen den Pfosten der offenen Häuser sahen wir die Bewohner ihre Siesta halten, mitunter ganze Familien unter einem Moskitonetz, mitunter auch einen einzelnen Schläfer, wie einen Toten auf der Bahre ausgestreckt.

Die Häuser waren in allen Dimensionen gebaut, von Spielzeuggröße an bis zum Umfange einer Kirche. Einige hätten ein ganzes Bataillon beherbergen können, andere waren so winzig, daß kaum ein liebendes Paar darin Platz gefunden hätte; nur noch in einem Kinderzimmer, wo Spielzeug aller Art durcheinandergeworfen ist, finden wir derartige Gegensätze. Manche Bauten waren nichts als offene Schuppen, andere glichen einer Bühne mit einem Dach darüber, wieder andere waren von Mauern umschlossen, in die man kleine Fenster eingebrochen hatte. Einige waren auf Pfählen in die Lagune hineingebaut; die übrigen standen beliebig auf dem Anger herum, durch den die Straße ein Band aus weißem Sande zog, oder auf den Dämmen eines Binnengewässers, das einem flachen Dock glich. Alle miteinander waren die Geschöpfe eines einzigen Baumes: Palmholz und Palmblätter waren das Baumaterial; kein Nagel war eingetrieben, kein Hammerschlag geführt worden, als man sie errichtete, denn zusammengehalten wurden sie durch Palmfasern.

In der Mitte dieser Hauptstraße steht wie eine Insel die Kirche, ein hohes, dämmeriges Gebäude mit einer Reihe von Fenstern. Das Dach ruht auf reichem Gebälk, und durch beide Türen hat man einen weiten Blick auf die Straße. Die Proportionen sowie das Baumaterial wirkten in dieser Umgebung einfach imponierend, und wir durchschritten das Mittelschiff mit einem Gefühl, wie es uns sonst nur in Kathedralen überkommt. An beiden Seiten waren Bänke aufgereiht; in der Mitte auf erhöhtem, wackeligen Postament standen zwei Stühle für den König und die Königin, für den Fall, daß sie am Gottesdienste teilzunehmen geruhten; darüber hing an roten Baumwollschnüren ein alter Reifen, vermutlich von einem Schnapsfaß, und der Reifen, der recht schief baumelte, war mit roten und weißen Wimpeln aus dem gleichen Stoffe geschmückt.

Das war das erste Anzeichen königlicher Würde, dem wir begegneten, und bald standen wir vor ihrem Hauptsitz und Mittelpunkt. Der Palast ist aus importierten, europäischen Hölzern gebaut; das Dach ist aus Wellblech, der Hof wird von Mauern umschlossen, und das Tor ist von einer Art Wächterhäuschen gekrönt. Man kann den Palast nicht einmal geräumig nennen; mancher Arbeiter in den Vereinigten Staaten hat eine bessere Wohnung; als wir jedoch Gelegenheit erhielten, ihn von innen zu besichtigen, waren wir erstaunt, ihn über alle polynesische Erwartung hinaus durch farbige Plakate und Ausschnitte aus illustrierten Zeitungen geschmückt zu finden. Schon vor dem Tor ist ein Teil des Kronschatzes ausgestellt: eine Glocke von ansehnlicher Größe, zwei Stück Kanonen und eine einzige Granate. Die Glocke kann nicht geläutet, die Kanonen können nicht abgefeuert werden; sie sind nichts als Kuriositäten, Zeichen von Reichtum, ein Teil des königlichen Pomps, und stehen hier wie bei uns die Statuen auf öffentlichen Plätzen, um bewundert zu werden. Ein gerader, kanalähnlicher Wasserarm führt fast bis an das Tor des Palastes; die Seitendämme sind aus festem Korallengestein, und an seiner Mündung liegt, gleichsam als ein Effekt der Landschaftsgärtnerei gedacht, den Spiegel der Lagune unterbrechend, das Inselchen mit dem Gefängnis. Vasallenhäuptlinge, ihren Tribut einhändigend, benachbarte Monarchen auf ihren Vergnügungsfahrten, können hier bis dicht vor das Portal fahren, mit Verwunderung die ausgedehnten Anlagen besichtigen und sich von den Mündungen dieser stummen Kanonenrohre imponieren lassen. Unmöglich konnte man sich hier umsehen, ohne zu merken, daß das Ganze nur auf Wirkung berechnet war. Damals jedoch stand diese pompöse Anlage leer; das königliche Haus war verödet, weit aufgerissen starrten seine Türen und Fenster, das ganze Stadtviertel lag in Schweigen versunken. Nur auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals schlief auf einer überdachten Bretterbühne in aller Öffentlichkeit ein betagter Herr, der alleinige sichtbare Bewohner, und im Hintergrunde der Lagune trug ein Kanoe ein buntgestreiftes lateinisches Segel, der einzige Gegenstand, der Leben und Bewegung zeigte.

Der Kanal wird im Süden durch einen Landungssteg oder Deich mit einer Brustwehr begrenzt. An seinem fernsten Teile hört die Brustwehr auf, und der Quai erweitert sich zu einer langgestreckten Halbinsel, die weit in die Lagune hinausragt, und die das Sanssouci oder die Sommerresidenz des Königs ist. In ihrer Mitte steht ein offenes Haus oder Dauerzelt – hier Maniapa oder, nach der neuerlichen Aussprache, Maniap' genannt – das nach mäßiger Schätzung vierzig mal sechzig Fuß mißt. Das hohe, eiserne Dach, das indes soweit überhängt, daß selbst eine Frau sich beim Eintritt bücken muß, wird außen durch Korallenpfeiler, innen durch ein Holzgerüst getragen. Der Boden ist aus geschotterter Koralle und wird durch die Stützen des Gerüsts in verschiedene Gänge geteilt. Das Haus selbst liegt weit genug vom Ufer entfernt, um die Brise aufzufangen, die es ungestört durchweht und die Mückenschwärme vertreibt, und unter seinem niedrigen Giebel sieht man die Sonne schimmern sowie den Tanz der Wellen auf der Lagune.

Seit geraumer Zeit waren wir jetzt niemandem außer den Schläfern begegnet, als wir daher den Landungssteg hinunter gingen und in diesen hellen Schuppen hineinstolperten, waren wir überrascht, ihn von einer ganzen Schar munterer Leute, etwa zwanzig an der Zahl, dem Hof und der Wache von Butaritari, bevölkert zu finden. Die Hofdamen waren damit beschäftigt, Matten zu flechten; die Wache gähnte und rekelte sich. Ein halb Dutzend Gewehre lagen auf den Steinen umher, und eine Axt lehnte gegen einen der Pfosten; das waren die Waffen der schläfrigen Musketiere. Am hinteren Ende der Maniap stand ein kleines verschlossenes Holzhaus mit ein paar billigen Gardinen, das sich bei näherer Untersuchung als eine Privatwohnung nach europäischem Muster entpuppte. Vor dem Hause auf einigen Matten hingegossen lag Tabureimoa, der König; hinter ihm an der Hauswand vertraten zwei gekreuzte Gewehre die Stelle von Liktorenbeilen. Der König trug Pyjamas, die seinen ungeheuren Körper recht jämmerlich kleideten; er hatte eine gewalttätige, krumme Nase, sein Körper quoll über von aufgedunsenem Fett, sein Blick war unsicher und trübe. Er schien zugleich von Schläfrigkeit überwältigt wie von Furcht gepackt: ein Pfefferrajah, der, von Opium betäubt, ständig auf den Anmarsch einer holländischen Armee lauert, hätte einen ähnlichen Eindruck gemacht. Wir sollten uns noch besser kennenlernen, doch behielt ich bis zuletzt diesen Eindruck bei: stets war er schläfrig und trotzdem auf dem Qui vive, und, ob aus Reue oder Furcht, weiß ich nicht, aber sicher ist, daß er seine Zuflucht zu dem übermäßigen Genuß irgendeiner Droge nahm. Der Rajah zeigte kein besonderes Interesse für unser Erscheinen, doch die Königin, die in ein langes, purpurrotes Gewand gekleidet, neben ihm saß, war entgegenkommender als er; außerdem fand sich noch ein Dolmetscher, der nur allzu bereitwillig seine Dienste anbot, so das sein Redefluß uns endlich wieder zum gehen zwang. Gleich bei unserem Eintritt begrüßte er uns mit mehr Würde als Wahrhaftigkeit mit den Worten: »Das hier ist der ehrenwerte König, und ich bin sein Dolmetscher.« Tatsächlich bekleidete er überhaupt keine Stelle bei Hofe, verstand nur sehr wenig von der Inselsprache und befand sich ebenso wie wir lediglich auf einer Höflichkeitsvisite. Er hieß Mr. Williams und war ein Neger aus den Vereinigten Staaten, ein entlaufener Schiffskoch und Barkeeper in »The Land we Live in« Gasthof in Butaritari. Nie habe ich einen Menschen kennengelernt, der so viel Worte zur Verfügung hatte und so wenig die Wahrheit sprach. Weder die Ungnade des Monarchen noch meine eigenen Versuche, ihn mir vom Leibe zu halten, vermochten ihn auch nur im geringsten zu dämpfen, und als unsere Audienz ein Ende nahm, redete der Nigger noch immer. Die Stadt schlief oder hatte höchstens eben erst angefangen, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, immer noch lag sie in Glut und Schweigen. Um so lebendiger war der Eindruck, den wir von dem Haus auf der Insel davontrugen, von jenem mikronesichen Saul, der inmitten seiner Garde wachte, sowie von seinem unmelodischen David, Mr. Williams, der die schlaftrunkene Zeit zu Tode schwatzte.


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