Adalbert Stifter
Der Waldsteig
Adalbert Stifter

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Das war aber eigentlich nicht wahr, sondern die Sache verhielt sich so: da Herr Tiburius sich um alles, was Arzneiwissenschaft angeht, sehr bekümmerte, meinten seine Leute ihm einen Gefallen zu thun, wenn sie ihm von dem neuen Doctor erzählten, der das Querleithenhaus gekauft habe und nun dort wirthschafte. Der Zimmerdiener des Herrn Tiburius sprach ein paar Male davon, ohne daß der Herr Tiburius sonderlich darauf achtete; aber wie der Himmel zuweilen ganz wunderliche Wege einschlägt, damit sich das Schiksal eines Menschen erfülle, geschah es auch hier, daß Herr Tiburius in einer Schrift des alten nun bereits schon seit langer Zeit seligen Haller auf eine Stelle gerieth, die offenbar einen Widerspruch in sich enthielt, das heißt, in so ferne offenbar, als man ein Arzneigelehrter ist – für einen andern war die Rede weder so noch so verständlich – in so ferne aber doch wieder nicht ganz offenbar, als es zweifelhaft war, ob man ein Arzneigelehrter sei, oder nicht. In diesen Zweifeln, die den Herrn Tiburius quälten, fiel ihm wieder wunderbarer Weise der neuangekommene Doctor ein, obwohl sein Diener schon lange nicht mehr von ihm gesprochen hatte. Hier müssen wir aber der geschichtlichen Wahrheit die Ehre geben und bekennen, daß der Mann dem Herrn Tiburius gerade darum eingefallen ist, weil er von den Leuten ein Narr genannt wurde; denn Herr Tiburius hatte ganz eigene Ansichten von der Narrheit, und der Mann wurde ihm darum merkwürdig. Allein wenn Leute, wie Herr Tiburius, auf etwas denken, so bleibt es gewöhnlich bei dem Gedanken. Bei Herrn Tiburius mußte es auch eine Weile so geblieben sein, bis er einmal plözlich befahl, daß man den geschlossenen Wagen anspannen solle, er werde zu dem Doctor im Querleithenhause hinüber fahren. Seine Leute staunten, wie er sich bei seiner schweren Krankheit in die Luft und in das Wagenrütteln hinaus wagen könnte, da er doch reich genug war, um sich diesen Doctor und noch zehn andere in das Haus kommen zu lassen. Allein Herr Tiburius sezte sich in den Wagen und fuhr in die Querleithen hinüber.

Er fand den Doctor in Hemdärmeln und einen breiten gelben Strohhut auf dem Haupte im Garten, wo er heftig arbeitete. Der Doctor war ein nicht gar großer Mann, mit lauter grober ungebleichter luftiger Leinwand bekleidet. Er sezte ein wenig von seiner Arbeit aus, als er den Wagen an seinen Garten heran fahren sah, und blikte mit dunkeln feurigen Augen darnach hin. Herr Tiburius, gegen die Luft mit einem sehr diken Anzuge verwahrt, stieg aus dem Wagen und ging auf den erwartenden Mann zu. Er sagte, da er vor ihm in dem Gartengange stand, er sei sein Nachbar Theodor Kneigt, er gebe sich viel mit Wissenschaften ab, insbesondere mit der Arzneikunde. Vor mehreren Wochen sei er im Haller auf eine Stelle gerathen, welcher er mit seinen Kräften allein nicht völlig Herr werden könne, darum sei er zu ihm, den der Ruf als einen in diesen Dingen kundigen Mann verkünde, herüber gefahren, und bitte ihn, daß er mit Aufopferung einiger Minuten seiner Zeit ihm mit einem Rathe in der Sache beispringen möge.

Auf diese Anrede erwiederte der kleine Doctor, er lese veraltete Schriften, wie den Haller, gar nicht, er doctere jezt auch ganz und gar nicht mehr, er wisse auch nur in ganz wenigen Fällen zuverlässige Mittel anzugeben, und er wende die Kunde, die er über Dinge des menschlichen Körpers habe, blos dazu an, daß er sich selber ein Leben verschreibe, welches seinem Körper das bei Weitem nüzlichste und heilbringendste sei. Deßhalb habe er die Hauptstadt verlassen und sei so weit auf das Land heraus gegangen, daß er hier das gesündeste Leben führe und das höchste Alter erreiche, welches überhaupt der Zusammenstimmung der Elemente seines Körpers möglich sei. Wenn übrigens der Herr Nachbar den Haller bei sich habe, so könnte man ja die Stelle ansehen und einen Versuch wagen, was aus ihr heraus zu bringen sei, was nicht.

Herr Tiburius ging auf diese Rede zu seinem Wagen, zog den Haller aus der Tasche desselben, und kam mit ihm wieder zu dem kleinen Doctor zurük. Dieser führte seinen Herrn Nachbar in ein Gartenhaus, dort blieben die Männer einige Zeit, und als sie wieder daraus hervor gingen, hatte Herr Tiburius die Genugthuung, daß der fremde Doctor über die Stelle im Haller das nehmliche dachte und sagte, wie er. Der Doctor sagte, nachdem das eigentliche Geschäft abgethan war, zu Herrn Tiburius, er habe zwar ein junges sehr schönes Weib, es sei auch gewöhnlich Sitte, daß man einen Gast und Nachbar, der den ersten Besuch mache, zu der Frau des Hauses führe; allein er wisse nicht, ob der Herr Nachbar seinem Weibe nicht widerwärtig sein könnte; denn es ist unter seinen Grundsäzen auch der obenan, daß seine Gattin, so wie er, in allen nicht zur Ehe gehörigen Dingen die völligste Freiheit zu handeln haben müsse; darum werde er sein Weib fragen, und wenn der Herr Nachbar wieder einmal komme, werde er ihm sagen können, ob er ihn zu ihr führen werde, oder nicht.

Hierauf erwiederte Herr Tiburius, er sei wegen des Hallers herüber gekommen, das sei abgethan und es sei gut.

Deßohngeachtet zeigte ihm der Doctor noch flüchtig seine Anlagen, wo er die Camellienhäuser habe, wo er seine Rhododendern, seine Azalien, Verbenen, Eriken und andere ziehe, und wo er die Erden mische und brenne. Von dem Obste und andern Dingen sei noch nicht viel zu sehen.

Sodann stieg Herr Tiburius in seinen Wagen und fuhr davon. Der Doctor hatte eine hölzerne Vorrichtung, die mit Klöppeln sehr laut klapperte, um seine Leute, die in verschiedenen Geschäften zerstreut waren, zum Essen oder zur Arbeit oder zu einer Ankündigung zusammen rufen zu können. Als Herr Tiburius den Abhang der Querleithen hinab fuhr, hörte er schon wieder das Klappern dieser Vorrichtung, was andeutete, daß der fremde Doctor mit seinen Leuten schon wieder in einem Verkehre befindlich sei.

Zu diesem Manne kam Herr Tiburius nach einiger Zeit wieder, und dann öfter und so immer fort; war es nun, daß er, wie es bei derlei Leuten ist, einmal im Geleise war, und daher in demselben fort ging, oder wollte er von dem Doctor etwas lernen. Da standen nun die zwei Männer, welche von den Menschen Narren geheißen wurden, manchmal in dem Garten beisammen; der eine in einem Strohhute und in einem grobleinenen Anzuge, daß ihm der Wind bei den Oeffnungen hinein ging und durch alle Glieder strich: der andere mit einer Filzkappe auf dem Haupte, die er bis über die Ohren herab zog, mit einem langen Roke, der fast die Erde kehrte, über die andern Kleider zusammen geknöpft war, und oben unter dem Kragen noch ein großes zusammengebauschtes Tuch sehen ließ, daß der Hals warm sei, und endlich mit großen weiten Stiefeln, in denen er doppelte Strümpfe an hatte, daß sich die Füsse nicht erkälten. Bei diesen Besuchen sagte der Doctor nichts mehr davon, daß er den Herrn Tiburius zu seinem Weibe hinein führen werde, und dieser verlangte es auch niemals.

Weil also Herr Tiburius zu keinem Menschen kam, als zu dem Doctor, und weil er überhaupt nicht aus seinem Zimmer ging, als wenn er zu dem Doctor fuhr, so war es natürlich, daß die Leute glaubten, er werde von dem närrischen Doctor ärztlich behandelt, und beide hätten Mittel ausgesonnen, die sehr merkwürdig seien und geheim gehalten würden, weßhalb sie immer zu einander kämen und die Köpfe zusammen stekten.

Dies war, wie wir wissen, allerdings nicht so: aber wie der Scharfsinn des Volkes immer in den ungegründeten Gerüchten, die in ihm empor tauchen, einige Kernchen Wahrheit und Veranlassung hat, so war es auch hier; denn von diesem Doctor ging wenigstens der erste Anstoß aus, der dann fortwirkte, und in Folge dessen sich Herr Tiburius ganz und gar verwandelte, wie die Raupe des Tagpfauenauges, die auch, nachdem sie auf dem Nesselkraute einförmig gelebt, sich dann gar aufgehängt hatte und eingeschrumpft war, eines Tages plözlich aufspringt, den garstigen schwarzen mit Dornen besezten Balg zurükstreift und die Hörner und Höker der schönen Puppe zeigt, in der gar schon die künftigen farbigen schimmernden und glänzenden Flügel eingewikelt liegen. Herr Tiburius fragte nehmlich den Doctor eines Tages plözlich um das, was er gewiß schon so lange auf dem Herzen getragen haben mußte; er sagte: »Wenn Sie mein hochverehrtester Herr Doctor, wie Sie ja selber gerade heute vor fünf Wochen zu mir gesagt haben, in ganz wenigen Fällen zuverlässige Mittel wissen, so wüßten Sie etwa zufällig auch eins in dem meinigen?«


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