Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das Land der Gesänge und der Quetschtenöre – Pflichten einer reisenden Berlinerin – Über Museen und Galerien – Erfreuliche Fortschritte im Umgang mit den Eingeborenen – Warum das Coupé gewechselt werden mußte – Ein Brief an die Kinder – Professor Quenglhuber – Warum Herr Spannbein Polypen aß – Warum die Buchholz fast eine Fee zu sein glaubte – Der heilige Graal – Warum Herr Buchholz Italien für kein Stehseidel hält
Wieder saßen wir gewohnterweise im Coupé. Mein Karl klagte weniger über seinen Rheumatismus als sonst und spürte bereits die Linderung, welche die milde Luft Italiens ihm brachte. Onkel Fritz gab ihm, obgleich es noch früh am Tage und durchaus keine alkoholische Zeit war, die Kognakflasche. Wir genehmigten infolgedessen alle ein Schlückchen. Fritz sagte, sein Freund Felix, der öfters unten gewesen, hätte erklärt, gegen die Malaria gäbe es kein besseres Mittel als Kognak zur rechten Zeit. Da ließen wir denn die Flasche noch einmal kreisen und wurden recht ausgekratzt.
Nur Herr Spannbein blieb einsilbig. – »Hat Ihnen jemand etwas getan?« fragte ich teilnehmend. Er seufzte: »Ach, wenn Sie wüßten –!« – »Nanu?« – »Vielleicht entscheidet sich mein Los bereits in Genua.« – »Wieso das?« – »Lassen Sie mich schweigen, es gibt Geheimnisse der Seele, die am besten unausgesprochen bleiben.« – »Wie Sie wollen, aber wenn Sie ein mitfühlendes Herz gebrauchen: die Buchholzen hat eins.«
Wir unterhielten uns nun über Mailand. Onkel Fritz fragte, ob uns der nächtliche Gesang auf den Straßen auch gestört hätte, worauf ich erwiderte, daß ich nicht zufrieden gewesen sei, denn nach den Büchern, die ich gelesen, hätte ich mindestens an jeder Straßenecke ein komplettes Quartett erwartet. Mein Karl sagte: »Es sang freilich mancher beim Nachhausegehen irgendeine Melodie aus irgendeiner Oper, aber die Sänger hatten ja sämtlich Klöße in der Kehle.«
»Das kommt von den Makkaroni, die sie futtern,« meinte Onkel Fritz; »so viel Quetschtenöre habe ich noch nie die Straßen unsicher machen hören.« – Ich verwies ihm diesen Tadel und bemerkte, daß Italien das Land der Gesänge sei und bedauerte die Abwesenheit der jungen Frau Kliebisch, die als frühere Konservatoristin gewiß anderer Meinung sein würde als er, der ja leider Gottes auch Mitglied eines Gesangvereins ist und deswegen nicht zum Heiraten kommt. Es ist lächerlich, wenn die Deutschen sich einbilden, auch singen zu können, denn das haben die Italiener doch kontraktlich. Natürlich gab es Streit, der erst endete, als ich fragte: »Woher kommen denn die melodischen Drehorgeln?« Da war er geschlagen.
Um sich zu revanchieren, fing er darauf von den großen Koffern an und der Überfracht und schloß: »Dein Dicketun wird dir noch sehr teuer, Wilhelmine,« worüber ich mich sehr erboste und ihm entgegnete: »Eine Berlinerin läßt sich in Italien nicht für 'ne Schlumpe halten. Ich bin aus einer Familie, die weiß, was sie sich schuldet. Wenn du nichts auf Bildung gibst, so habe ich, deine ältere Schwester, die Pflicht, den Anstand zu wahren, und sei es bloß meiner Kinder und der Nachbarschaft wegen. Die ganze Landsberger Straße hält mich in Ehren, während über dein spätes Nachhausekommen schon die Nachtwächter spektakeln.«
Mein Karl stiftete Frieden, indem er darauf hinwies, daß wir den ganzen Tag zusammen im Coupé zubringen müßten und Zank und Streit die Zeit doppelt so lang machen würde. Hatte ich aber Schuld?
Herr Spannbein schlug vor, in Turin zu bleiben und dort die vortreffliche Gemäldesammlung in Augenschein zu nehmen. Ich erwiderte, daß ich in Mailand vorläufig genug Bilder besehen hätte, und fragte ihn, ob die alten Meister von vornherein für die Museen gearbeitet hätten? – Dies verneinte er und sagte, daß sie für Privatleute, die es bezahlen konnten, malten und für Klöster, Kirchen usw.; die Galerien seien erst in neuerer Zeit in Mode gekommen. – »Gut,« erwiderte ich, »und nun, da alles mögliche nebeneinander hängt wie im Fünfzigpfennigbazar, habe ich vor dem einzelnen Gemälde keine Andacht. Entweder ist von einer Sorte zuviel an einer Wand, oder das Mannigfaltige drängt sich so durcheinander, daß ich schon halb nach dem zweiten Bilde schiele, ehe ich das erste ordentlich betrachtet habe, um zu wissen, was auf dem anderen los ist!«
»Der Kunstkenner,« belehrte mich Herr Spannbein, »wählt einige Meisterwerke aus, denen er seine ganze Aufmerksamkeit widmet.« Ich entgegnete: »Ich für mein Teil will alles sehen, dafür zahle ich mein Entree!«
Onkel Fritz stand mir bei und sagte, er habe vorläufig genug von den Madonnen; eine sähe beinahe ebenso aus wie die andere, und zu Mittag schliefen sie alle oder wären wenigstens dicht vorm Einschlafen. – »Laß die Bilder sein wie sie wollen,« rief ich, »mein erstes Gefühl ist, ich möchte einmal ordentlich mit dem Seifenlappen darüber!« – »In den Augen der Kunstbrahminen verleiht die sogenannte Patina des Alters den Bildern erst ihren wahren Wert,« sagte Herr Spannbein.
»Warum malen denn die modernen Künstler nicht gleich mit Patina?« fragte ich. – »Das tun auch manche.« – »Aber die Natur ist doch reinlich und freundlich.« – »Der Maler muß sein Bild stimmen!« – »Stimmen?« rief ich, »und das mit Stiefelwichse? Ich danke.«
Mein Karl, dem dies Gespräch unangenehm schien, sagte: »Wilhelmine, es wird gescheiter sein, du arbeitest dich erst mehr in die Kunst hinein, ehe du urteilst. Ganz ohne Grund wurden die Meister wohl nicht geehrt, als sie lebten, und irgend etwas muß doch an ihren Arbeiten sein, die ihrem Vaterlande noch heute zum Ruhme gereichen. Herr Spannbein ist ein Künstler und in diesen Dingen besser zu Hause als du; daher widersprich nicht und lerne von ihm!« – »Karl,« erwiderte ich, »was willst du reden? Du bist wegen deines Rheumatismus hier und nicht wegen der Kunst!«
Onkel Fritz hatte mittlerweile seinen Handkoffer in die Coupégasse gestellt, eine Reisedecke darüber gebreitet und die Karten hervorgeholt. Das Skatgetrommel ging also wieder los. Ich streckte mich so gut ich konnte auf dem Sitz aus, ohne meinen Karl zu molestieren, und versuchte die Augen ein wenig zu wärmen. Es war aber nichts mit dem Schlaf, denn sobald der Zug irgendwo hielt, riefen die Schaffner, die Kofferträger, die Bahnwärter, die Weichensteller, alle miteinander den Namen der Station, bis man ihn begriffen hatte, und wenn der Zug wieder abgehen sollte, schrien sie zehn Minuten vorher ununterbrochen: partenza – partenza-a-a, als wollten sie die Lokomotive wild machen. Dabei kann man nicht schlafen. –
In Messandria verließ ich das Coupé, um mich ein wenig zu vertreten und Apfelsinen zu kaufen, was mit einiget Sprachgewandtheit sehr leicht geht. Man nimmt nämlich eine bis mehrere Apfelsinen und fragt: quanto costa? Darauf sagt der Händler irgend etwas Unverständliches und hält etliche Finger in die Höhe. Dann schüttelt man mit dem Kopf und ein Finger verschwindet. Man schüttelt noch einmal. Noch ein Finger weniger. Man schüttelt noch einmal. Dann schüttelt er, und mehr läßt er dann nicht ab. Hierauf bezahlt man ihm soviel Soldi, als er Finger hoch hielt, und der Handel ist beendet. Ebenso macht man es mit den reizenden, umflochtenen Weinflaschen, die sie feil halten. Quanto costa? – Una lira! Man gibt ihm einen Papierzettel, der Händler schwuppt das Öl ab, das oben auf dem Wein schwimmt, und überreicht einem die Bouteille mit vieler Höflichkeit.
Seine Lira steckt er in die Tasche und sagt, indem er für gewöhnlich sehr weiße Zähne zeigt: » grazie«, was soviel als »danke« heißen soll. »Könnte bloß die Bergfeldten sehen,« dachte ich, »wie ich mich hier im fremden Lande wie auf dem Alexanderplatz bewege, wenn Markt ist, und mit der Sprache umgehe, als wäre ich mit italienischer Milch großgezogen, sie müßte vor Neid Krämpfe kriegen.« Ich freute mich daher schon auf die verdutzten Gesichter der Herren, wenn ich mit den zum ersten Male selbständig eingekauften Labsalen antreten würde, aber als ich mich mit den Apfelsinen und dem Wein in die Coupétür hineinwürgte, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, daß die beiden vorderen Eckplätze von zwei wildfremden Menschen in Beschlag genommen waren.
»Entschuldigen Sie,« rief ich, »hier ist's besetzt. Dies ist unser Coupé!«
Die Fremden rührten sich nicht. »Bitte, dies ist mein Platz,« sagte ich zu der Dame, die meinen Winkel okkupierte. Sie grinste und sah mich mit zwei stechenden graublauen Augen an, als wollte sie mich vergiften.
»Mein Herr,« wandte ich mich an deren Begleiter, »einen von den Eckplätzen beanspruche ich.« Er fletschte mich ebenso an wie sie und machte durchaus keine Anstalt zum Rücken. – »Karl,« rief ich, »was sind dies für Leute?« – »Engländer,« sagte er, »wir haben schon versucht, sie rauszugraulen, aber sie gehen nicht.« – »Warum ließt ihr sie herein?« – »Sie kamen, als wir unsere ganze Aufmerksamkeit einem Nullouvert widmen mußten.« – »Das unselige Spiel! Es ist jetzt eure Pflicht, mir meinen Platz wieder zu verschaffen, ich will Aussicht genießen. Ruft den Kondukteur.« – Der Kondukteur kam. Ich redete, er redete, mein Karl redete, Herr Spannbein redete, Onkel Fritz redete – nur die Engländer redeten keinen Ton, sondern sahen gelbgrün aus den Augen und rührten sich nicht vom Fleck. Wir wurden sie auch richtig nicht los.
Da fuhr ich nun durch die Gefilde Italiens, aber ganz ohne Zweck. Freilich hatte Herr Spannbein mir seinen Platz an dem anderen Fenster eingeräumt, allein was nützte mir der, da der Lokomotivenqualm gerade nach dieser Seite herüber schlug und die Gegend einnebelte? Und um dem Kartengespiele zuzusehen, war ich doch nicht über die Alpen gefahren.
Niemand kann es mir daher verdenken, wenn ich innerlich etwas erregt war. Mit Wonne hätte ich diese beiden Engländer den wilden Tieren in der Arena vorwerfen können und würde Bravo geschrien haben, wenn der Löwe die Missis bis auf die Gräten abgeknabbert und der Tiger dem Mister die Eisbeine geknickt hätte. O ja, ich war ein wenig erregt und bedauerte nur, daß die Tierkämpfe nicht mehr Mode sind. Die gute alte Zeit hatte doch manches für sich.
Während ich darüber spekulierte, den beiden Eindringlingen einen ordentlichen Tort anzutun, fiel mir ein, daß die Engländerinnen das Rauchen nicht vertragen können, denn es ist einmal eine Lady gewesen, die hat sieben Tage in Ohnmacht gelegen, weil jemand mit der brennenden Zigarre in das Damenzimmer gekommen war. Deshalb animierte ich die Herren zum Rauchen, und wären Zigaretten dagewesen, hätte ich selbst mitgepafft, es hätte passieren können, was da wollte.
Das Räuchern half. Die Missis fing an zu husten, aber da sie an der Windseite saß, mußte das Fenster geschlossen bleiben. »Kinder, ihr dampft ja wie die Backöfen vor Pfingsten,« scherzte ich.
Es entwickelte sich eine Luft im Coupé, die nicht von schlechten Eltern war. Nun stand der Engländer auf und verbat sich das Rauchen. Aber das Halloh, mit dem wir ihm antworteten! Onkel Fritz, der einigermaßen englisch radebricht, machte ihm seinen Standpunkt gar und sagte: in der ersten Klasse sollten von Rechts wegen nur vier Personen sitzen. Der Engländer behauptete, es dürfte nicht geraucht werden, wenn ein Passagier Einspruch täte. Wir bedeuteten ihm, daß er ja nicht in das Coupé hineingehörte. Ich sagte: »Kinder, raucht, meine Einwilligung habt ihr.«
Auf der nächsten Station wurde der Kondukteur wieder gerufen. Als der bemerkte, daß der Engländer sich über uns beklagte, stand er diesem ruhig bei und untersagte uns das Rauchen. Das paßte meinem Karl nicht. Der Zugführer wurde geholt, und der rief den Bahnhofsinspektor herbei. Das Ende vom Liede war, daß wir in ein anderes Coupé umsteigen mußten – weil das frühere kein Rauchcoupé sei. Kaum waren wir draußen, als der Engländer sich mit Gemütsflegelei eine Zigarre anzündete und ein Gesicht machte, als seien wir überhaupt nicht vorhanden.
»Da sehen wir, was der Engländer im Auslande gilt und wie der Deutsche drunter durch ist,« rief mein Karl, als wir wieder in der Fahrt waren. »Ich bin überzeugt, daß dieser Engländer irgendein Londoner Schuster oder Schneider ist, der seine Kontinentaltour macht, denn Unverschämtheit ist keine Erziehung. Aber er gehört der großen britischen Station an, und daraufhin erlaubt er sich dummdreist zu sein.«
»Wir waren in unserem Recht, aber wer verhilft dem Deutschen im Auslande zu seinem Recht in solchen Kleinigkeiten? Nur allein der Respekt, und wie soll der Fremde den vor Menschen haben, die ihr eigenes Vaterland nicht respektieren? So lange wir noch die Affen anderer Nationen sind, so lange wir unser Vaterland nicht so heiß lieben, daß es uns unmöglich wird, dasselbe auf Kosten anderer Länder, sei es aus Liebedienerei oder edler Fremdlandssucht, selbst herabzusetzen, selbst zu schmähen, so lange wird der Deutsche im Auslande vergebens seinen besten Anwalt, seinen kräftigsten Beschützer suchen ... den Respekt, den man ihm als Angehörigen seines Volkes schuldet.«
So sprach mein Karl erregt, und wir mußten ihm leider nach dem eben Erlebten beipflichten. Im Grunde war die ganze Sache ja nur eine große Kleinigkeit, aber sie wurmte einen doch und ließ einen vor sich selber ganz infam armselig erscheinen. – Die Engländer blieben sitzen, wir mußten raus. Und was die sind, das sind wir lange. Eigentlich abscheulich! –
Es dämmerte bereits, als wir des Golfes von Genua ansichtig wurden. Er ist doch bedeutend größer als der Müggelsee. Durch Tunnels und über Brücken waren wir mehrfach gekommen und gerade als die Aussicht hübsch wurde, fuhren wir wieder in so ein dunkles langes Loch hinein; dann waren wir auf dem Bahnhof. Die Ingenieure könnten doch im Interesse des reisenden Publikums die Bahnen malerischer anlegen, damit man auch etwas für sein Geld sieht.
Mir fiel, als wir ausgestiegen waren, ganz besonders auf, daß ein junger, halbwegs uniformierter Mann uns auf Schritt und Tritt folgte und nicht aus den Augen ließ. Ich machte Herrn Spannbein darauf aufmerksam, aber der wußte auch nicht, was das zu bedeuten hatte. Als wir jedoch unser Gepäck in Empfang nehmen wollten, trat der junge Uniformmensch auf uns zu und redete höflich, aber sehr bestimmt. – »Was will er, Herr Spannbein?« – »Er fragt, ob Sie unverzollte Zigarren bei sich haben.« – »Was geht ihn das an?« – »Er ist ein Steuerbeamter.« – »Wir sind längst über die Zollgrenze hinaus.« – »Er ist auch mit der Steuerquittung des Grenzamtes zufrieden.« – »Die haben wir aufgebraucht,« sagte Onkel Fritz. – »Das täte ihm leid, aber die Herrschaften hätten im Coupé Zigarren geraucht, die nicht nach Regie röchen. Das seien der Schaffner, der Zugführer und der Bahnhofsinspektor zu bezeugen bereit.« – »Die verflixten Engländer,« rief ich. – Nun sollte eine Durchsuchung vor sich gehen. Das war mir zu arg. »Gut,« sagte ich, »molestieren Sie uns nur; aber morgen schreibe ich einen Brief an Bismarck und der soll –.« Kaum hatte der Jüngling das Wort Bismarck gehört, als er sehr ehrerbietig wurde und fragte, ob wir tedeschi seien?« – » Prussiani,« sagte Onkel Fritz. Aus » Berlino,« fügte ich hinzu. Da redete er einige Worte, machte ein Kompliment und ging von dannen. Wir kletterten in ben Hotelomnibus und fuhren auch fort.
»Siehst du, Karl,« sagte ich triumphierend, »vor Bismarck haben sie Respekt! Hast du bemerkt, wie er kleinlaut wurde, als ich bloß ben Namen genannt hatte?« – »Ich wollte, unser Gewissen wäre bei dieser Angelegenheit reiner gewesen,« murmelte mein Karl.
Ich weiß aber nicht, was größere Sünde ist: italienische Regie-Zigarren zu rauchen oder eine anständige importierte Berliner Havanna durchzuschmuggeln? Dies mögen die Theologen untersuchen, die ja manchmal vom Tabak mehr verstehen sollen als von den alten Schmökern.
Wir fuhren durch schrecklich enge Straßen mit turmhohen Häusern. Auch unser Hotel war eine Art von in die Breite geratenem Turm, denn im dritten Stock lag erst das Parterre, das richtige Handtuch. –
Die Kinder hatten geschrieben. Sie waren wohl und munter. Das Wetter war kalt in Berlin und Neues nicht passiert. Zum Schluß teilten sie mir mit, daß die Bergfeldten bei ihnen gewesen wäre und gesagt hätte, die ganze Nachbarschaft wundere sich darüber, was ich in Italien wollte, dazu wäre ich doch lange nicht gebildet genug. Sie hätten darauf geantwortet, daß die Nachbarschaft sich lieber um sich selbst als um andere Leute kümmern sollte, und fragten an, ob sie grob genug gewesen seien. –
Ich gab meinem Karl den Brief und sagte: »Sobald wir retour kommen, verklage ich die Person; diese alte Neidkatze geht hin und macht mich bei den Kindern schlecht. Das ist Klassenhaß und Rassenverleumdung, das kostet nicht unter Gefängnis!« –
Mein Karl suchte mich zu besänftigen und bat mich, wenigstens an der Table d'hote gefaßt zu sein. – »Karl, ich will tun, was ich kann, aber bleibst du ruhig, wenn dir jemand in die Suppe spuckt? Erst die Engländer und nun die Bergfeldten! Genua fängt schön an!«
Das Essen hatte alles einen sonderbaren Geschmack, aber ich wußte nicht, ob es an meiner Stimmung oder an den Speisen lag, daß jedes Gericht egal schmeckte? Mein Karl zog auch mit dem Mund, und Onkel Fritz kaute hoch auf. »Das ist echt italienische Küche,« erklärte Herr Spannbein. – »Wieso?« fragte ich. – »Nun, merken Sie denn nicht, daß alles mit Öl zubereitet ist?« – Jetzt war mir der gleichartige Geschmack der sämtlichen Gerichte klar. Italien wurde immer italienischer, das spürte ich deutlich. –
Hier schalte ich nun den ersten Brief an die Töchter ein, denn ich hatte ihnen versprochen, öfter zu schreiben. Es tat mir nur leid, daß ich in keiner liebevolleren Stimmung war, als ich die Feder ergriff und mich gewissermaßen zu einem milden Stil zwingen mußte.
Genua.
Liebe Kinder!
Es freut mich, daß Ihr Euch wohl befindet, und wenn die Bergfeldten wiederkommt, so grüßt sie von mir und sagt, daß ich mich prachtvoll amüsierte und die Apfelsinen frisch vom Baume pflückte. Wir besuchten gestern nämlich verschiedene Paläste, und in einem derselben – es ist der Palazzo Balbi – sah ich die ersten Apfelsinenbäume im Garten, voller Blüten und voll von reifen Früchten. Nun erst verstehe ich Goethe, liebe Kinder, wenn er sagt: »Im dunklen Laub die Goldorangen glühn.« Man muß so etwas sehen, um es zu glauben, und ich kann Euch nur sagen, der Eindruck war ein sehr mächtiger. Bilder und Statuen haben wir ja auch im alten Museum, aber Apfelsinenbäume im Freien und dazu so große, die gibt es nicht bei uns.
Deshalb verachte ich jedoch die Kunst keineswegs. O nein, im Gegenteil, ich lerne sie immer mehr schätzen, namentlich in Genua in den Palästen. Diese Säle, liebe Kinder, diese Möbel, diese Marmorwände, Gobelins und Schnitzwerke, diese Tische mit den kostbarsten Vasen, Silberkannen und Schalen darauf ... das ist großartig! Und dazu nun die Bilder an den Wänden: Porträts der früheren Besitzer der Paläste, von Antonio van Dyk gemalt, so vornehm, daß man kaum laut zu sprechen wagt, Heilige und Unheilige von den berühmtesten Meistern; Raphael, Tizian, Veronese, alle sind vertreten.
Ihr könnt die Bergfeldten mal fragen, ob sie vielleicht schon etwas von Baffano oder Ribera gehört hätte, und dann sagen, Eure Mutter unterscheide die Bilder dieser beiden Stützen früherer Kunst schon von weitem.
Kniet im Vordergrunde ein recht fetter Knabe mit dem untersten Rücken nach dem Publikum gewandt, dann ist das Bild ein echter Bassano; betrachtet dagegen ein ganz zusammengeschrumpelter alter Mann einen Totenschädel, um zu berechnen, wie viel Schweninger er noch gebrauchen muß, um ebenso mager zu werden, dann ist es ein heiliger Hieronymus von Ribera. Manchmal malte Ribera nur den Kopf und einen Arm von Hieronymus und strich über den Rest des Körpers ein Gewand. Dies tat er aber nur, wenn er schlecht bezahlt wurde, denn dann konnte er den anderen Arm und die Beine nicht für denselben Preis dazu liefern.
So geht einem das Kunstverständnis in Italien sozusagen von selber auf, aber natürlich nur, wenn man empfänglich ist und die erforderliche Bildung hat. Dies zur Steuer der Wahrheit.
Überhaupt ist die Kunstgelehrsamkeit nicht so schwer, wie manche glauben. Wenn man erst die Namen der Meister gelernt hat, begreift sich das übrige leicht, nur muß man genau merken, ob das Bild auf Leinwand oder auf Holz, ob es mit Tempera oder mit Öl gemalt worden ist. Behält einer noch, wie hoch und wie breit es ist, dann gilt er als Autorität und hat nicht nötig, Widerspruch zu dulden.
Nun werdet Ihr fragen, liebe Kinder, wie Eure Mutter so überraschend geschwind in die Geheimnisse der Kunst eingeweiht worden ist? Das kam nämlich so.
Wir besuchten die Paläste, Papa und ich und ein Maler, Herr Spannbein, der sich uns angeschlossen hatte. Onkel Fritz war seiner Wege gegangen, um Geschäftsfreunde aufzusuchen. Als wir im Palazzo Doria waren (Kinder, lest Schillers Fiesko!), trat Herr Spannbein plötzlich auf ein reizendes junges Mädchen zu, das neben einem älteren Herrn mitten in dem großen Saale stand, der die Deckengemälde emsig betrachtete. Das junge Mädchen errötete, und Herr Spannbein errötete auch, mit einem Worte, die beiden kannten sich. Herr Spannbein stellte mich dem älteren Herrn vor. Es war Herr Professor Quenglhuber mit seiner Tochter aus München, ein großer Kunstgelehrter, der nach Italien gereist ist, um ein neues Werk über Deckengemälde herauszugeben. Dieser Professor führte mich in die wahre Kunstgelehrsamkeit ein, indem er mir sagte: »Was die Gemälde darstellen, meine liebe Dame, das ist ganz einerlei, wenn sie nur alt und echt sind.« Und darin hat er sehr recht, denn wenn einen nur die Kennzeichen der Echtheit angehen, dann erleichtert sich das Kunststudium sehr. Er war auch unermüdlich, mir zu zeigen, woran man diesen oder jenen Meister erkennen könne, z. B. Wouwermann an einem Schimmel, Carlo Dolci an den verblasenen Konturen, Raphael an den Madonnen, Tizian an dem sogenannten goldigen Ton (der jedoch, wie ich glaube, beim Waschen abgeht), Michel Angelo an den Muskeln usw. In ganz derselben Weise erkennt man ja auch unsere modernen Meister, wie z. B. Gussow an den brandgelben Tüchern und dem Schwarzen unter den Nägeln, Makart an dem Fleisch ohne Geist und Gabriel Max an den Geistern ohne Fleisch, Defregger an den weißen Zähnen, Scherres an den nassen Wegen und was es sonst sein mag. Herr Professor Quenglhuber ward nicht müde, mich über dies alles zu unterrichten. Er ist zu liebenswürdig.
So seht Ihr, liebe Kinder, wie wir hier ein geistiges Dasein führen und wie unser Inneres an dem heiligen Feuer der Kunst erglüht. Haltet Euch bei dem greulichen Berliner Wetter nur gut warm, daß Ihr Euch nicht erkältet. Mit den Frühjahrsgarderoben hat es ja noch Zeit, bis ich zurückkomme. Hier ist der herrlichste Sonnenschein, und Papa befindet sich recht wohl.
Grüßt Krauses, Weigelts, die Polizeileutnant'n und die anderen Bekannten. Auch Onkel Fritz läßt grüßen.
Eure inniggeliebte Mutter.
PS. Fragt doch die Bergfeldten einmal, ob sie wohl wüßte, wo Genua auf dem Globus liegt, und dann zeigt ihr das Briefkuvert mit dem Poststempel.
Unsere nächste Adresse ist: Roma, Albergo del Oriente, via del Tritone 6.
Eure la madre.
Die genuesischen Paläste sind in der Tat wahre Schatzkammern für den Kunstfreund sowohl, wie für die Seelen Gebildeter überhaupt. Die Gemälde hängen dort nicht wie in den Galerien, sondern sind der kostbarste Schmuck der Säle, die durchaus nicht den Eindruck von Kunstmenagerien machen, weshalb man das einzelne auch besser würdigt.
Außen an den Mauern sind zuweilen künstliche Fassaden durch Malerei hergestellt, wodurch viel Architekturarbeit erspart wird, inwendig dagegen machen von gediegenen Säulenhallen umgebene Höfe, prachtvolle Treppenaufgänge, Altane mit blühenden Gesträuchen, Springbrunnen und schwebende Gärten, Statuen und farbige Marmorwände einen wahrhaft fürstlichen Eindruck.
Überhaupt haben die italienischen Paläste es innerlich, hier sowohl in Genua, wie in Rom, Florenz und anderwärts. Nach außen hin sind sie einfach, ernst und gewaltig, mehr Wände als Fenster. Bei uns haben die Mietspalazzis mehr Fenster als Wände und den ganzen Zierrat nach der Straße hinausgekehrt. Inwendig findet man kaum eine vernünftige Spiegelwand und für ein Sofa, auf dem ein Mensch sich lang hinlegen kann, selten Platz. Statt der sonnigen Höfe herrscht das dunkle Berliner Zimmer, und die Vestibüle oder Fluren sind schon von vier Hüten und drei Paletots voll.
Hoch baut man in Genua, weil die Stadt sich an einem Felsberg hinanzieht, und die meisten Häuser sind daher lang wie Handtücher, aber von der Höhe betrachtet gewähren ihre Schieferdächer einen so angenehmen Anblick, daß Onkel Fritz meinte, Genua müßte ein ausgezeichneter Platz für Nachtwandler sein.
Nur einige Straßen haben hinreichende Breite für einen Wagen, die anderen sind schon mehr Schluchten, in die von oben ein Streifen Himmel hineinschaut. Der Geruch ist dagegen in den breiten wie in den engen Straßen derselbe, nur staut er sich in den letzteren besser und wirkt daher kräftiger. Wie die Speisen im Hotel schmeckten, so riechen die Straßen nach angebranntem Öl. Eine Waffelbude auf dem Jahrmarkt bei uns dunstet nicht fettiger und ölbrenzlicher als ganz Genua. Es kann aber auch nicht anders sein, denn überall vor den Butiken siedet der Ölkessel, worin sie Fische, Mehlkuchen und allerlei Zeug backen. Das gräßlichste aber sind die Polypen. So ein ekelhaftes Tier mit seinen langen Fangarmen, auf denen die Saugnäpfe wie die Schröpfköpfe sitzen, ist gar nicht tot zu kriegen, so viel es auch gehauen und an die Wand geworfen wird: es liegt so lange in den letzten Zügen, bis es in das heiße Öl kommt. Da wird es dann ruhig. Vor den kleineren Speisehäusern stehen Schüsseln mit zerschnittenen Polypen. Wer Hunger hat, sucht sich ein Stück davon aus; der Wirt wendet es dann in Mehlbrei um und wirft es in den Ölkessel, und wenn es gar ist, fischt man es mit einem Stocke oder einer Kelle wieder heraus.
Auch Schnecken braten sie auf gitterartigen Metallrosten in ihrem eigenen Gehäuse über Kohlen und verzehren sie, indem sie das Tier mit einem Holzstäbchen aus der Schale polken. Mir ward Ach und Weh bei dem bloßen Anblick, aber den Leuten schienen diese Schauerdelikatessen zu munden. Da sind wir doch in der Aufklärung weiter, denn solches Zeug essen wir nicht.
Der Professor, der mich ganz in sein Herz geschlossen hatte und dessen Weisheit mich geradezu in Erstaunen setzte, was ich ihm sehr oft zugestehen mußte, führte uns in eine Garküche in der Nähe des Hafens, um uns das Volksleben zu zeigen. Es kommt mir aber vor, als wenn das Volksleben mehr für Herren ist als für Damen, und daß es sich in den Kneipen weniger gut studieren läßt als in den Wohnhäusern. Wenn jemand das Berliner Volksleben aus den Destillationen und Weißbierstuben kennen lernen wollte, der würde ja zu ganz falschen Ansichten gelangen, obgleich ich nicht bestreite, daß man an schönen Sommersonntagnachmittagen in der Hasenhaide wohl sehen kann, wie sich das Berliner Volk amüsiert und fröhlich mit Kind und Kegel seinen freien Tag zubringt. Oder man geht nach der Bierallee vorm Schönhauser Tor, oder nach dem Friedrichshain, oder nach den Zelten, oder nach Treptow, oder nach Pichelswerder, oder nach dem Spandauer Bock usw. Überall die Tausende von Menschen und jeder ist vergnügt und trinkt sein Bier oder seinen Kaffee und hat einen ordentlichen Happenpappen zu prepeln. Wenn man auch nicht immer weiß, was in der Wurst ist ... soviel steht sicher fest, Polyp ist nicht darin.
Der Professor war jedoch einer von denen, die für alles schwärmen, was sie im Auslande sehen, und sagte uns, wir müßten den Polipo kosten, denn es gäbe nichts Vorzüglicheres, als dies von kundiger Hand in trefflichem Öl bereitete Seetier. Ich dankte, aber mein Karl ließ sich breitschlagen und Herr Spannbein aß dem Professor zuliebe mit Todesverachtung. Mein Karl behielt die Sache wider mein Erwarten bei sich und als ich ihn fragte: »Wie ist es?« da antwortete er: »Zadder!«
Mich amüsierte Herr Spannbein, welcher ganz in die Professorentochter weg war. Die beiden paßten meiner Meinung nach auch sehr brillant zueinander. Er hat ja freilich ein bißchen fahriges Wesen und die langen Künstlerhaare könnten gerne kürzer gehalten werben, aber er ist doch ein schmucker Mann. Sie hat wundervolle blaue Augen und ist sanftmütig und doch entschieden, wie junge Mädchen zuweilen werben, die einen verdrießlichen Vater haben, dem sie das Leben angenehm zu machen suchen, weil sie ihn lieben. Der Professor konnte nämlich manchmal recht kratzbürstig sein, namentlich wenn man nicht ganz seiner Ansicht war.
Ich hatte nun auch bald Herrn Spannbeins Geheimnis heraus. Er liebt die Professorstochter und sie ihn, aber da der Vater für die alten Meister schwärmt und die neuere Malerei verachtet, während Herr Spannbein von den Alten nicht sehr hochachtungsvoll denkt und mit Leib und Seele der modernen Richtung anhängt, so ist auf eine Einwilligung des Professors nicht zu rechnen. Und das weiß er: gegen den Willen ihres Vaters würde Ottilie – so heißt seine Angebetete – niemals handeln.
Ich hatte wirkliches Mitleid mit dem armen Menschen, als er mir sein Leid klagte und dadurch das Recht einräumte, ihn zu bemuttern. »Zunächst«, sagte ich, »sind Sie und Ottilie sich gut, das ist die Hauptsache.«
»Aber der Vater,« klagte er.
»Den gewinnen Sie leicht. Wie häufig kommt es doch vor, daß Leute umsatteln. Geben Sie die neue Richtung auf und bekehren Sie sich zu der alten. Malerei bleibt ja am Ende Malerei!« –
»Nie werde ich meiner Kunst untreu!«
»Sollen Sie auch nicht. Sie können so viel reine Leinwand mit Farbe verderben, wie Sie mögen, und Heilige und Götter zusammenschmurgeln, wie dem Professor beliebt. Wenn Sie aber Ihren Eigensinn Kunst nennen, wird aus Ihnen und Ottilie nie ein Paar. Bedenken Sie das wohl!«
Da ging er betrübt von dannen, aber das ist ja stets der Fall, wenn man vernünftig mit Leuten redet. »Ratet mir gut, aber ratet mir nicht ab,« hatte die Braut gesagt. –
Onkel Fritz verkehrte viel mit seinen Geschäftsfreunden, denn es lag ihm daran, Verbindungen aller Art anzuknüpfen und Geschäfte herüber und hinüber zu machen, die durch die neue Gotthardbahn wesentlich erleichtert werden. In Italien gibt es Produkte, die wir gebrauchen, und in Deutschland haben wir Erzeugnisse, die den Italienern fehlen, und wenn sie das auf beiden Seiten nur erst ordentlich einsehen, wird es an Handel und Wandel nicht mangeln. Dies hatte Onkel Fritz sich wohl überlegt.
Wir waren deshalb auf die Sprachkenntnisse Spannbeins angewiesen, und da dieser stets hinter Ottilien herzog, die ihrem Vater zur Seite bleiben mußte, wurde uns die Kunst zuletzt über. Es war auch peinlich zu sehen, wenn dem Professor, der stark schnupfte, beim Betrachten der Deckengemälde der Tabak von der Nase in den Hals rutschte und Ottilie und Herr Spannbein ihm den Rücken klopfen mußten, damit er nicht vor ihren sichtlichen Augen erstickte. Deshalb nahmen wir uns eines schönen Morgens ein Wägelchen und kutschierten noch Pegli, wo unser Kronprinz mit seiner Familie wohnt, wenn er Italien besucht, was man ihm auch nicht verdenken kann. Beschreiben läßt sich die Natur nicht, aber man kommt sich dort so vor, als wenn man ein köstliches Gedicht läse, worin die Palmen tauschen, Wasser plätschern, das Meer sich ausdehnt, Burgen von den Felsen drohen, Rosen und Hyazinthen blühen und duften und man dennoch selbst lebendig in dem Gedicht spazieren ginge. Und dabei das himmelblaueste Vergißmeinnichtwetter von der Welt!
Wir fuhren auch in einem kleinen Boot auf den Wasseranlagen des Parkes und glitten unter einem dichten Gebüsch aus lauter blühenden Kamelien durch. Es war märchenhaft, und wenn ich nicht etwas untersetzt wäre, hätte ich mich fast für eine Fee gehalten. Die Feen sind jedoch einigermaßen schlanker in der Taille. Nur im Viktoriatheater haben sie guten Schick, weil das Publikum beim Ballet mehr auf die Form als auf die Graziösität gibt. –
Der Ruhetag in der freien Natur tat uns gut. Weil das Merkwürdigkeitenbesehen dösig macht, rate ich jedem, sich von Zeit zu Zeit längere Pausen zu gönnen, in denen er wieder klar im Kopfe wird, denn es ist ein bös Stück Arbeit, in einigen Wochen alles zu beurteilen, was Jahrhunderte geschaffen haben. Und welcher Kunst- und Gewerbefleiß wurde damals entwickelt, ohne daß sie Gas oder Petroleum für die Abende hatten. Geradezu erstaunlich!
Onkel Fritz hatte noch einen Tag zu tun. Diesen benutzten wir am Morgen für die Kirchenbesichtigung. In St. Lorenzo bewahren sie den heiligen Gral, aber da wir nicht mit einem Erlaubnisschein aufwarten konnten, wurde er uns nicht gezeigt. Früher soll der heilige Gral viele Wunder getan haben, allein seitdem die Gelehrten entdeckten, daß er nicht ein Gefäß aus Smaragd, sondern nur eine Schüssel aus Glas ist, hat er seine Kraft verloren. Aber so geht es mit jeder Sympathie, man muß daran glauben, sonst hilft sie nicht.
Am Nachmittag besuchten wir den berühmten Campo santo. Er gleicht dem von Mailand, nur ist er großartiger und noch mehr Marmorfiguren sind dort ausgestellt. Als wir zurückfuhren, begegneten uns gegen zehn Wagen, und in jeden Wagen waren vier Personen gepackt, dicke und dünne, alte und junge, Männer und Frauen. Das war eine Gesellschaftsreise, die herdenweise herumgeführt wurde. Die Kutscher lachten und hieben auf die Pferde ein, und wie die wilde Jagd im Freischütz raste die Droschkenkarawane an uns vorüber. »Karl,« sagte ich, »die Bedauernswerten kommen ja gar nicht zur Ruhe. Hättest du Lust, so durch Italien gehetzt zu werden?« – »Nein,« erwiderte et, »als Stehseidel möchte ich das Land nicht genießen! Dazu ist es zu schön!«
Auf dem Rückwege zur Stadt gewahrte ich etwas, das mich ganz untröstlich machte. Schon oft hatte ich unterwegs überall da, wo ein bißchen fließendes Wasser zum Vorschein kommt, große steinerne Tröge bemerkt, deren Zweck mir verborgen war, über den ich hier jedoch aufgeklärt wurde. In diesen Trögen waschen die Weiber das Zeug. Aber wie?! Sie reiben es mit Seife ein, tauchen es in das kalte Wasser und legen es auf den breiten Rand des Troges, worauf sie es mit einem handlichen Stein so lange aus Leibeskräften durchwalken, bis es genug hat. Dann spülen sie es und hängen es an Stangen aus den Fenstern zum Trocknen in die Sonne. Das mag für Künstler ein malerischer Anblick sein – man sieht die weißen Fetzen ja fast auf jedem italienischen Bilde –, aber einer sorgsamen Hausfrau schneidet eine solche Behandlung der Wäsche tief ins Herz. Und ich hatte meinem Karl zur Reise funkelnagelneue Hemden mit extrafeinen Einsätzen machen lassen, damit er recht gentil aussehen sollte. »Du Grundgütiger,« dachte ich, »wie werden die zugerichtet sein, wenn wir wieder nach Hause kommen?« Es war auch richtig so, zwei hatten Einschnitte wie von einem Messer. Wie kann man aber auch gute Wäsche mit Steinen bearbeiten, das muß ja Löcher geben. Und diesen Schmerz mußte ich für mich allein tragen, denn was verstehen Männer vom Leinenschrank?
Mit dem nächsten Frühzug verließen wir Genua, aber ohne Herrn Spannbein. Er brachte uns bis an die Bahn und nahm sich der Koffer an. Die Überfracht kränkte mich wieder sehr, aber ich ließ Onkel Fritz nichts merken, um ihm nicht Recht zu geben. »Auf Wiedersehen,« sagte Herr Spannbein. – »Und wie ist es mit den alten Meistern?« fragte ich. – »Ich habe es übernommen, Deckengemälde für Quenglhubers Buch abzuzeichnen,« antwortete er kummervoll. – »Grüßen Sie Ottilie!« rief ich ihm scheidend zu.