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Verehrter Meister! Sie haben wohl schon längst meinen Namen vergessen und den Anlaß, der mich vor etwa zehn Jahren zu Ihnen geführt hat. Gleichwohl bitte ich Sie recht sehr, diesen Brief geduldig zu lesen, dessen Geständnis Ihnen kaum von Bedeutung sein wird, mir aber seit zehn Jahren das Herz abdrückt. Dieses Geständnis ist meine Pflicht, meine Sühne und, da ich es endlich über mich bringe, auch meine Befreiung und als solche das einzige Glück, das der Mensch vielleicht haben kann. Wir sogenannten »Gebildeten« können unsere tiefsten, aus dem Geiste stammenden Leidenschaften nur einem geistig Verwandten anvertrauen. Sie sind es mir und sind überdies mit mir durch meine Sünde verbunden, ohne es zu wissen, so daß ich mit diesem Geständnis auch die Verzeihung dessen erbitte, den ich einmal betrogen habe, obschon ihm dadurch kein Schaden zugefügt worden ist, außer etwa jetzt die Enttäuschung über einen gleichgültigen Menschen.
Vielleicht ist eine geistige Sünde wie die meinige für einen Armen wie mich das einzige, das er tun mußte, tun konnte, um zu sich selbst zu finden, um überhaupt zu leben und – vermessen, unsagbar, indem man es denkt – vielleicht ist alles, was der Geist wagt, überhaupt ähnlich in Sünde befangen, weil er allein unbegrenzbar, überall Grenzen verletzt. Man 200 muß sündigen, um zu leben! Doch ich ermüde Sie mit diesen allgemeinen Betrachtungen, weil es mir noch immer schwer fällt, das Besondere niederzuschreiben, das mich zu Ihnen treibt.
Vor zehn Jahren habe ich Sie in einem Kaffeehause in der Gesellschaft junger Künstler kennen gelernt, denen ich mich angeschlossen hatte und von denen ich gutmütig als gleicher angenommen war, ohne es durch Leistungen oder genügende Verheißungen bereits verdient zu haben. Nur die gleiche Liebe, die gleiche Leidenschaft für die gleiche Kunst, die gleiche Lust unserer welthungrigen Augen, die gleiche Begierde, mit unserer Hand das Gesehene zu bilden, machte mich dazu berechtigt.
Ich war damals eigentlich noch Studierender der Medizin. Aus den ärmsten Verhältnissen, als Sohn von Kleinhäuslern in einem Bergwinkel von Tirol hervorgegangen, hatte mich eine offenkundig geistige Begabung unter widrigen Umständen die Gymnasialstudien angehen und vollenden lassen. Was ich eigentlich konnte oder wollte, wußte ich nicht, nur daß ich zum Lernen bestimmt war. Ein gütiger Geistlicher, der mich beobachtet und zuerst unterrichtet hatte, half mir weiter zu Freiplätzen und Stipendien und meinte wohl, wie meine Eltern, mich einmal geistlich zu sehen. Ich war nur eben – geistig. Er hätte es hochmütig genannt und ich bin heute nahe daran, es ebenso zu nennen, denn der Geist ist stets ein hoher Mut und nur, wer seinem Anspruch ganz genügen kann, darf ihm ganz gehören. 201 Als ich das Gymnasium verließ, war mir klar, daß ich die Natur erforschen, ihren Erscheinungen nachgehen wolle, wohin sie mich führte. Ohne Kampf schied mich dieser Entschluß von meinen Eltern, von dem guten Pfarrer, der aus Güte weise genug war, mich nach meiner Art leben lassen zu wollen. Nur reichten seine Beziehungen nicht hin, mich jetzt noch weiter zu fördern. Ich war als Mediziner ganz auf mich selbst verwiesen und mußte mir, wie so viele andere, mit Stundengeben weiterhelfen. Von einer Schale Kaffee und einem Stück Brot einen ganzen Tag zu leben, war mir selbstverständlich und nicht weiter leidig. Am Mikroskop, vor den unbegreiflich klaren, unbegreiflich ineinander verwirkten, geheimnisvoll einfachen und vieldeutigen Formen der Natur, die ich nachzuzeichnen veranlaßt war, entdeckte ich zum erstenmal an mir eine gewisse Geschicklichkeit der Hand. Ich versuchte sie alsbald mit Staunen und Neugier den großen Erscheinungen gegenüber und geriet in ein wildes Zeichnen. Vor einfachen Gegenständen erfaßten mich die gewaltigsten Verzückungen des Schauens, indem ich erkannte, daß es überhaupt nichts einfaches gibt. Ein wahrer Taumel des Sehens, des Bildens ergriff mich, spät und deshalb unstillbarer, gefährlicher, glücklicher.
Ich rannte in Museen vor die Bilder der Meister, in die Kunstausstellungen und erkannte anbetend, verzückt das Glück der Malerei. Als rechtes Kind der Zeit beschäftigten mich vor allem die begnadeten Sinne der französischen Meister, die der 202 eigentümlich berauschenden und einschmeichelnden Luft ihres Landes, dem unbekümmerten Leben und einer gewissermaßen jahrhundertelang vererbten Geschicklichkeit der Hand eine Sicherheit der Darstellung verdanken, die uns Deutschen, uns Ärmeren, uns Reicheren, geistigen Naturen versagt, doppelt wunderbar, doppelt begehrenswert scheint. In Tagen, in Wochen lernte ich Weltalter. Ich flog durch Zeiten und über Zonen. Allsogleich ließ ich meine medizinischen Studien fahren und betrieb nur mehr mein Zeichnen und Malen in meiner Kammer und im Freien. Ob ich dazu begabt genug und berufen war, galt mir noch gleich, da ich es eben mußte. Ich fristete mein Leben von den paar Lektionen, die ich behielt, im übrigen fieberte ich mich durch. Das ging solange hin, bis ich den Grad des Könnens erreicht hatte, der mir erreichbar war und mich nach den ersten Wonnen des Schaffens vor die eigentlichen Aufgaben, Schwierigkeiten, Grenzen stellte. Die jungen Leute um mich, die länger bei ihrer Arbeit gewesen und gewachsen waren, lehrten mich bald die Gefahren erkennen, die jeder Gegenstand darbietet, den man gestalten will, wie er im Lichte, im Raume lebt, in kalten, in warmen Tönen gebunden und von der Umgebung bestimmt. So weit war ich schon, nicht etwa durch auffallende schreiende Manieren das Persönliche für die Sache auszugeben und mir die Kunst leicht machen zu wollen. Eben darum bedrängte mich der Zweifel. Was ich machte, schien mir an anderem, wirklich gelungenem, geschweige denn an der 203 Natur gemessen, unwürdig und bedeutungslos. Ich sagte mir zwar, ich müsse noch viel lernen, wußte aber, daß das eigentlich nicht lehrbar sei, daß man nur erreichen könne, was man in sich habe, nur werde, was man sei.
In diesen Tagen zeigte mir ein Freund, ein stiller, fleißiger, bescheidener junger Mann ein paar Blätter von seiner Hand. Aus ähnlichen Verhältnissen entstammt wie ich, war er ohne Umweg seiner Begabung gefolgt und, was die Anschauung und Absicht seiner Arbeiten betraf, meiner Art und Auffassung wunderbar gleich, nur daß er eben völlig auszudrücken vermochte, was ich bloß als ganz groben Vorsatz und Versuch zustande brachte. Reinlich, redlich und innig waren diese Blätter, wie ein schuldloses Gebet, die meinigen dagegen wie ein ungeduldiger Hilfeschrei. Ihre Mängel waren die meinigen, aber sie heilten sich gleichsam selbst durch ihre Treue, durch die Gewissenhaftigkeit seiner unverdrossenen Arbeit, wie sich ein Strom von seiner eigenen Unreinigkeit stetig abklärt. Geduld war sein ganzes Leben, Geduld der ganze Mensch und müßte er hundert Jahre alt werden, um zu erreichen, was er wollte, was erreicht werden mußte, er wäre nicht voreilig geworden und hätte kein Gelingen vor seiner Stunde erzwingen mögen. Diese Blätter trösteten mich und versuchten mich wieder, denn ich glaubte aus ihnen zu ersehen: das könnte ich, das wollte ich auch, so weit käme ich auch, und sie hätten nur den Vorsprung der Zeit, der längeren Arbeit vor mir voraus. Das war freilich die Lüge, der Selbstbetrug 204 der Eitelkeit, die mir das sagte, aber ich wollte keine Bedenken hören, keine Zweifel dulden, die mich ja um mein Selbst gebracht hätten, wenn ich ihnen gefolgt wäre. Wir müssen jeder in unseren Abgrund hinein! Als der Freund sah, welchen Eindruck mir seine Blätter gemacht hatten und daß ich sie wie mein eigenes Selbst liebte, schenkte er sie mir gern.
Noch dachte ich an nichts Arges, als mich an diesen Zeugnissen einer so verwandten Art zu erfreuen und an ihren Vorzügen meine Mängel zu verbessern. Da lernte ich Sie kennen, einen Mann, nicht viel älter als wir anderen, aber schon im Vollbesitze eines hohen künstlerischen Vermögens. Sie beherrschten alle Mittel ihrer Kunst und drangen dadurch zu immer neuen Aufgaben. In Ihren Bildern glühte die Farbe wie auf den Tafeln der großen Venezianer und es war Ihre eigene, keine fremde, entlehnte, nachgemachte Farbe! Groß und rasch hingeschrieben, löste sich eine reinliche bedeutende Zeichnung kraft Ihrer eingeborenen Anschauung aus keuscher Sinnlichkeit in der Farbe ganz auf, ohne sich zu verlieren. Gliederung, Räumlichkeit, Ordnung blieben durch diese verlorene Form in der bunten Fülle herrlich und heilig gewahrt, und der Gegenstand des Bildes war eins mit dem Manne, der es geschaffen hatte. Die alten, fernen toten Meister rühren uns in aller ihrer Vollendung weniger, als ein lebendiger vor uns durch sein Beispiel und Dasein! Meine Unruhe trieb mich zu Ihnen. So heftig ich in meiner Kunst, in diesem ersehnten Selbst zu bestehen wünschte und 205 glaubte, so zehrend nötigten mich ein stummer Zweifel, Angst vor dem Schicksal, nicht Liebe zu ihm, einen Meister zu finden, dessen Spruch mich vor mir selbst bestätigen, mich mir selbst einreden, vergewissern möchte. Ich suchte Ihre nähere Bekanntschaft. Was ich verehrte, wurde auch von Ihnen anerkannt, was ich erstrebte, von Ihnen gebilligt. Ihr Gespräch enthielt nichts Gleichgültiges, jedes Wort zeugte von dem ganzen Menschen, der sich selbst im geringsten mitteilt, auch wo er gar nicht an Lehre oder Einflußnahme denkt. So faßte ich mir Mut, Sie zu bitten, Ihnen Proben meiner Arbeiten zeigen zu dürfen. Sie erlaubten es mir freundlich. Meine Unsicherheit und Ungeduld brachen wie eine schwere Krankheit in mir aus – Schuld ist die schlimmste Krankheit – und da ich um keinen Preis entsagen oder zurückgewiesen, aus meiner Leidenschaft verbannt, ins Gewöhnliche verurteilt werden wollte, redete ich mir einen furchtbaren Betrug als zulässig, als geringfügig ein.
Ich wollte Ihnen die Zeichnungen meines Freundes als die meinigen vorlegen. Er verkehrte mit keinem aus unserem Kreise, die Einfachheit der Gegenstände seiner Studien, die in den meinigen ja nur wiederholt waren, schloß jede Entdeckung aus. Ich sagte mir: seine Blätter enthalten nichts, was ich bei längerer Arbeit, bei geduldiger Mühe nicht selbst hätte zuwege bringen müssen, sie sind mir so verwandt, tragen so sehr meinen eigenen Ausdruck, haben so ähnliche Führung und sind schließlich auch noch unfertig, daß 206 ich sie vor mir, vor Ihnen mit einigem Anschein von Wahrheit, ja von Berechtigung als die meinigen ausgeben könnte. Es war vielleicht mehr Ungeduld als böse Absicht, mehr Selbstbetrug als grobe Täuschung, die mich zu diesem Wahnwitz überredeten. Im Fieber, das mich seit dem Anfang meiner künstlerischen Leidenschaft beherrschte, schmolzen alle sittlichen Bedenken wie in einem Feuer der Freiheit hin, die mich leicht und über mein wahres, schweres Wesen hinaus unbefangen und beweglich machte. So tat ich, was ich in einer furchtbaren Laune ausgedacht hatte, mit voller Ruhe: ich legte Ihnen die Zeichnungen meines Freundes als die meinigen vor.
Sie betrachteten die Blätter lange, aufmerksam, genau. Sie stellten die offenkundigen Mängel mit stummem Hinweis oder mit einem kurzen Worte fest. Manches ward mir bloß dadurch klar und sogleich unerträglich, daß Sie es eindringlich, mit zusammengepreßten Lippen prüften und mein Stolz auf dieses, mein angebliches Eigentum und künftiges Können ward zunichte. Mir erschienen die fremden Zeichnungen jetzt fast noch weniger wert als meine eigenen, die ich daheim behalten hatte. Da mir die große Geduld und Treue des Freundes mangelten, den ich zur Stunde verriet, fehlte seinen Arbeiten eben auch die Seele: die meinige oder die seine. Sie standen gewissermaßen nackt, bloß, verlassen, schutz- und wehrlos da.
Gleichwohl erkannten Sie unbefangen den Wert der Studien: es sprach sich darin wohl etwas Eigentliches aus: eine gewisse Begabung, ein guter Sinn, eine 207 taugliche Hand, und so könnten Sie mir, wenn ich fleißig fortführe, ein größeres Gelingen in Aussicht stellen. Nur Geduld, Arbeit, Zeit, Mühe und Bescheiden!
Rasch dankte ich Ihnen und verließ Sie verwirrt. Was ich getan hatte, war so, als hätte ich mir nur einen ganz kleinen, unscheinbaren Ritzer in die Seele beigebracht, der aber, vergiftet, eiterte und alsbald mein ganzes Wesen unrettbar angriff und verseuchte.
Jetzt erst erkannte ich den ungeheuren Abstand zwischen meinen und den Arbeiten meines Freundes, die ich gestohlen hatte. Mir und ihm war seither nichts mehr gemein. Ein eitler Selbstbetrug hatte mich glauben lassen, ich könnte, was er könne, ich sei, was er sei, oder werde es wenigstens in Kürze sein. Nie sind zwei Seelen, zwei Dinge, zwei Striche zweier Hände gleich. Wir waren so grundverschieden, so grundfremd wie alles auf dieser Welt, wie alles ähnliche grundentgegengesetzt ist. Er war schuldlos, ich schuldig, er geduldig, ich ohne Ruhe, er hatte getan, was er konnte, ich hatte nur weggenommen, vorweggenommen, gestohlen.
Ich arbeitete in den nächsten Wochen wie ein Rasender, um seinen Vorsprung einzuholen, um meinen Betrug zurückzunehmen, aber meine Finger waren starr, mein Geist geschlagen, meine Augen umnebelt. Ich besaß nicht nur nichts mehr von allem, was ich bereits mein geglaubt hatte, sondern ich verlor noch alles, was ich schon besessen hatte. Jeder Strich war eine Lüge.
208 Ich konnte mich von dem Schlage nicht mehr erholen, den ich mir zugefügt hatte. Ich hielt mich auch körperlich nur mehr mühsam aufrecht. Jeder Tag dieser vergeblichen Arbeit zehrte an mir und fraß mich von innen her aus. Ich verfiel.
Ich hatte damals eine Geliebte, ein bescheidenes, zärtliches, armes Wesen, wie ein so armer Teufel es eben finden kann. Sie war Erzieherin in einem reichen Hause und wir mußten unser Verhältnis vor den Leuten verheimlichen. Sie hoffte auf mich und war mit ihrem ganzen Selbst freigebig, während ich mit dem meinigen habsüchtig und geizig war. Sie teilte alles mit mir, ich enthielt ihr alles vor. Sie war ein williges Opfer, ich nahm es als ein zu geringes ungenügsam an. Sie war mir zu wenig schön, zu wenig gescheit, zu wenig fein, und doch wußte ich dabei immer: sie war das einzige, was ich wirklich besaß. Sie baute auf mich, sie hoffte auf mich. In dieser Zeit meines tiefsten Unglückes war sie vertrauensvoller, hingebender als je. Ich konnte ihr nicht gestehen, was ich getan hatte, nur marterte ich sie damit. Mit dem Scharfsinn ihrer Liebe erkannte sie wohl, daß mein Ungenügen an meinen Leistungen mich so elend machte. Einmal sagte sie, indem sie mich unter Tränen lächelnd mit beiden Armen umhalste und ihren Kopf mit den forschenden grauen Augen nahe an den meinen hielt: »Ich liebe Dich, wie Du bist, den Menschen, hörst Du, nicht den Künstler, Dich, Dich!« Erst heute weiß ich, wie schön die Arme damals war. Diese Worte trafen mich wie ebensoviele Schwerter ins Herz. Ich hätte ein ganz 209 gewöhnlicher Student, ein armseliger Stümper sein können und dürfen, ohne daß sie mich weniger geliebt, weniger an mich geglaubt hätte. Aber nun war ich gar nichts, ein Dieb, ein Betrüger! Und hätte sie auch den geliebt und entschuldigt mit ihrem guten Blick, mit ihrem schmerzlichen Lächeln, hätte sie auch auf den anständigen Menschen in mir verzichtet? Vielleicht! Fast glaube ich es, aber wäre mir mit diesem Opfer gedient gewesen? Ich hätte sie und ihr reines Wesen auch noch verdorben, wie das meinige. Ich hätte sie im Augenblick ihrer höchsten Güte schlecht gemacht.
Damals entschloß ich mich, ein Ende zu setzen. Ich dachte an Selbstmord. Was liegt daran, ein unnützes Gefäß zu zerstören, das bis zum Rand mit Eklem gefüllt, nichts Ordentliches mehr aufnehmen und wahren kann. Nicht Feigheit hielt mich ab, sondern mein Gerechtigkeitsgefühl und -bedürfnis. Gibt es auf der Welt irgendeine Gerechtigkeit, und es muß sie geben, so liegt sie beim lebendigen Menschen selbst und er muß sich zu seinem Dasein und Tun anhalten. Er darf sich seinem eigenen Spruche nicht entziehen. Das wäre gar zu leicht und billig, wenn man dem Leben ohne weiters durch den Tod entgehen wollte. Dann wäre das Sterben gar eine Belohnung der Gemeinheit, keine Sühne. Leben bleiben, aber gebunden, in einem selbstverhängten Kerker, scheint mir die gerechteste Sühne einer begangenen Schuld, wenigstens der meinigen. Ich mußte den Mut aufbringen, ein gewöhnliches, bescheidenes Leben dürftiger bürgerlicher Arbeit allein und genau und 210 ohne anderen Lohn, als vielleicht den einer mählichen Beruhigung und Ergebung zu führen. Ich mußte danach streben, andern Menschen zu dienen. Daran läßt es, glaube ich, unsere heutige Gesellschaft und ihre Lebensauffassung allzusehr fehlen: an der Erziehung zur menschlichen Unfreiheit. Die freiesten Menschen, die Denker und Künstler wissen allein von Natur aus, daß sie an ihre Pflicht gebunden sind und ihr scheinbarer gelegentlicher Müßiggang, ihre Leidenschaften und mancher Überfluß, den sie sich vergönnen, sind nur Entschädigungen für das immerwährende Opfer ihrer selbst. Aber die anderen Menschen leben so, als seien sie frei, unverantwortlich und nur so weit zu sittlichen oder leiblichen Leistungen gehalten, als ihre eigene Notdurft verlangt, nicht, weil das Leben aller die höchste Dienstbarkeit jedes einzelnen braucht. Gibt es dann überhaupt noch Freiheit oder Glück? Ich darf danach nicht fragen. Ich glaube an die Kunst, und da ich sie nicht ergreifen konnte, glaube ich an ein Leben, das so gestaltet werden müßte, wie der Künstler sein Werk gestaltet, aus dem besten Wissen und Gewissen und ohne mindeste Nachlässigkeit. Vielleicht könnte es, so gelebt, an seinem Ende doch glücklich gewesen sein, wenn es Mühe und Arbeit war, wie es in der Bibel steht.
Kurz, ich verließ die Malerei, ich verließ meine Geliebte, ich verkroch mich an eine kleine Provinzuniversität, wo mich niemand kannte, ich nahm meine medizinischen Studien wieder auf, ich beendigte sie mit Gewissenhaftigkeit, ich verbrachte zwei Jahre im 211 Krankenhaus. Ich zweifle zwar sehr an der medizinischen Wissenschaft und an dem Segen ihrer vielfachen Verfahren, aber nicht an ihrer menschlichen Notwendigkeit und Bedeutung. Wir leben freilich in lauter Irrtümern, aber wir können uns dabei doch manche Hilfe leisten.
Dann zog ich mich als Landarzt in meine Heimat zurück und habe es nicht leicht. Manchmal treibt mich der alte Drang, einen Baum, einen Felsen, ein Büschel Blumen zu zeichnen oder zu malen, und ich kann mir diese kleine Freude nicht versagen, die ich mir bei der geringen Muße, die mein Beruf mir läßt, ohnehin nur selten leisten darf. Dann schmeichle ich mir, die Blätter seien doch vielleicht ganz nett. Ich brauche sie ja niemand zu zeigen. Heiraten werde ich nicht mehr, denn ich möchte keiner Frau einen so fragwürdigen Mann wünschen und keiner gestehen, wer ich war und bin. Ein seelisch Untauglicher ist nicht besser, als ein physisch Untauglicher. Was aus dem Mädchen geworden ist, das ich jetzt erst liebe, wie ich damals nicht lieben konnte, weiß ich nicht. Ich habe es nicht über mich gebracht, nach ihr zu fragen. Ich kann nur hoffen, sie habe das Unglück übertaucht, das ich über sie gebracht, und einen braven Mann gefunden, den sie um seiner selbst willen mit besserem Recht lieben darf, als mich. Ihre Züge stehen mir heute mit spröder Anmut klar vor Augen, damals sah ich sie durch meine Trübe verwirrt und fast unschön, denn ich wußte noch nicht, daß Liebe allein ein Gesicht schön macht und jedes. Ich habe aus dem Gedächtnis von ihr manche Zeichnung gemacht.
212 Auch die Natur um mich, die starken Berge, das glänzende Gestein und die leuchtenden Blumen im Sommer, der überviele Schnee und der schwarze starrende Wald im Winter sind sehr schön. Ich bin stark genug, die Einsamkeit zu ertragen und da ich schließlich lebe, den Menschen ihre Krankheiten, den Tod zu erleichtern, ihr Dasein mit Rat und Teilnahme zu fördern suche, glaube ich, das schlimmste an mir allmählich auszulöschen und die Züge herauszubringen, die mich mir selbst erträglich machen, wenn das Licht von außen, das Licht von innen meinen kleinen Raum bestimmen. In schlaflosen Nächten stehen die hellen Sterne vor dem kleinen Fenster meiner Stube auf dem unermeßlichen dunkelblauen Grunde wie entrückte Wesen, die auf ein verweilendes blicken. Ich werde kommen dürfen.
Lange habe ich Ihnen dies bekennen wollen, mein altes Selbst hielt mich stets zurück. Heute hat es nicht mehr soviel Macht über mich. Darum konnte ich alles schreiben und bilde mir ein, meine Schuld ist vielleicht verjährt und vielleicht habe ich aus mir ein leidlicheres Gebilde zuwegegebracht, als ich jemals mit meiner Hand auf Papier oder Leinwand hätte hervorbringen können. Und dieses Ich habe ich nicht erstohlen: es ist das meine und mein Stück Arbeit. Leben Sie wohl und haben Sie Dank für Ihre Geduld. Antworten Sie mir nicht, denn jetzt ist mir leichter. Jetzt dürfte ich sogar sterben.
Ihr ergebener N. N. 213