Adolf Stoltze
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Adolf Stoltze

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Kapitel 3.

Aus dem hervorgeht, daß dichtende Kritiker keine markante Handschrift schreiben sollten und ein nächtliches Abenteuer erzählt wird, wie es jeden Tag vorkommt.

In einem bürgerlichen Restaurant von Berlin S.W. saß einsam an einem länglichen Tische ein rüstiger Alter von stattlichem Wuchs, frischer Gesichtsfarbe und energischen, kraftvollen Zügen, und ließ sich sein Bayerisch wohlschmecken. Die übrigen kleinen, runden Tische des Lokales waren mit Männern, Frauen und Kindern besetzt, die trotz des kalten, regnerischen Wetters am zweiten Osterfeiertage nicht zu Hause bleiben wollten. Der Alte hatte die Zeitung die er gelesen, bei Seite gelegt und sah bald nach der runden Wanduhr über dem Büfett, bald nach den beiden Türen, durch die die Gäste ein- und ausgingen. Von Zeit zu Zeit strich er wohlgefällig seinen weißen Bart, oder hielt sein Bier gegen das Licht, um sich von dessen Klarheit zu überzeugen; aber immer wieder schweifte sein Blick nach den Türen und der Wanduhr.

Als sein Seidel leer war, bestellte er ein frisches und fragte den Kellner, der es brachte, ob von den Stammgästen noch keiner dagewesen wäre.

»Nein, Herr Doktor,« antwortete dieser, »an Feiertagen lassen sich die Herren nur selten bei uns sehen.«

»Mein Kollege Schirocky, versprach mir zu kommen.«

»War vor einer Stunde hier, mußte aber hinüber, auf die Redaktion, der eingelaufenen Depeschen wegen. Morgen Abend ist die Gesellschaft wieder komplett.«

»Bis auf einen!« lachte der Doktor. »Der wird um Urlaub bitten müssen.«

»Sie verreisen?«

»Ja, nach Plötzensee auf sechs Wochen.«

»Schon wieder?«

»Schon wieder. Das kommt vom Schwarzsehen, mein Herr Ober. Wenn wir Publizisten mal alle ein Examen im Rosigsehen bestanden haben, passiert das nicht mehr. Bitte, geben Sie mir den Simplicissimus.«

Der Kellner brachte das gewünschte Blatt, und der Doktor verschanzte sich dahinter.

Während er las, erschien Holmer unter der Türe, und sein suchender Blick überflog den weiten Raum. Der junge Mann sah müde und abgespannt aus; er hatte, nachdem er Emilie verlassen, eine unbehagliche Nacht verbracht, Schlaf gesucht, aber nicht gefunden. Die verworrensten Gedanken hatten sein Gehirn beschwert. Bald hatte er die Annäherung an das Mädchen bereut, bald sich überglücklich gefühlt, daß er es gefunden. Er hatte in wachen Träumen zwischen heißer Sehnsucht und kühler Zurückhaltung, zwischen sinnlicher Glut und bedächtiger Erwägung vergeblich nach einem Entschluß gekämpft, ob er die Beziehungen fortsetzen oder aufgeben sollte. Oft war es ihm gewesen, als vernehme er die warnende Stimme seiner Mutter und dazwischen, wie fernes Glockengeläute, das herzige, neckische Lachen seiner einstigen Tanzstundenliebe. Sein ganzes Leben war vor seiner Seele vorbeigezogen. Die vier Semester, die er auf der Universität verbracht, der Tod seines Vaters, der sein Studium unterbrochen, die Militärzeit, die lange Krankheit, die ihn nach ihr befallen, und seine Hoffnungen und Enttäuschungen, die sein Ringen um Anerkennung seiner Leistungen begleitet hatten. Aber schließlich flossen alle Bilder seiner erregten Phantasie wieder in dem Emiliens zusammen.

Lange schon war der graue Tag im Osten aufgegangen, und noch immer hatte der Schlaf sein Lager geflohen, als seine Wirtin erschienen war und ihm einen Rohrpostbrief übergeben hatte. Er war von Emilie gewesen und hatte eine Absage für heute enthalten. Sie hatte sich gestern erkältet und mußte das Bett hüten, hoffte aber morgen wieder mobil zu sein.

Mißmutig hatte er sich um die Mittagsstunde angekleidet und das Haus verlassen. Es war ein langweiliger Nachmittag, den er versucht hatte durch ziellose Bummelei totzuschlagen. Endlich war es Abend geworden, und nun durfte er wenigstens hoffen, in dem Restaurant, das er ab und zu besuchte, einige Bekannte zu treffen. Seine Züge erheiterten sich daher, als er im Tabaksnebel den Doktor bemerkte, und rasch trat er auf ihn zu und bot ihm die Hand: »Guten Abend, Doktor, ganz allein?«

»Schirocky war da, ist aber wieder weggegangen.«

»Und die junge Dame hat sich vor dem Wetter gefürchtet?«

»Sie meinen meine Nichte? Die ist in der Oper und kommt nach der Vorstellung her.«

Nachdem sich Holmer neben dem Doktor niedergelassen, fuhr dieser fort: »Sie wird die sechs Wochen, die ich in Plötzensee zubringe, zu einem Besuche in der Heimat benützen. Es ist mir auch lieber so, als daß ich das Mädchen allein zu Hause lasse.«

»Sie führt Ihnen die Wirtschaft?«

»Seit sechs Jahren. Sie war noch keine sechzehn alt, da starb ihre Mutter, ich war Witwer, hatte eine größere Wohnung, was konnte ich da besseres tun als die Waise zu mir nehmen? Erst war der Verkehr zwischen uns kühl, aber mit der Zeit wurde er wärmer; erst war ich ihr nur der Onkel, jetzt bin ich ihr der liebe Freund. Sie glauben nicht, wie das Mädel an mir hängt, schon zweimal hätte sie sich gut verheiraten können und jedesmal hatte sie es mir zuliebe ausgeschlagen.«

»Einmal wird sie doch daran denken.«

»Gewiß, wenn ich meine sechs Wochen abgedient habe, werde ich ihr einen dahingehenden Vorschlag machen.«

»Sie selbst?«

»Wundern Sie sich darüber, weil ich sechzig Jahre alt bin? Meine Nichte nimmt keinen Anstoß daran; die goldene Hochzeit werden wir freilich nicht miteinander feiern, aber ich fühle mich noch so rüstig, daß ich die silberne nicht für unmöglich halte.«

Holmer konnte sich über den Optimismus des alten Herrn eines Lächelns nicht erwehren und wagte die Bemerkung: »Und Sie sind sicher, daß Ihre Werbung Erfolg hat?«

»Daran ist nicht zu zweifeln; ich habe zwar mit ihr noch nie über dieses Thema gesprochen, bin aber meiner Sache sicher. Beobachten Sie nur, mit welchem Eifer sie auf meine Behaglichkeit bedacht ist; sie duldet nicht einmal, daß ich mir eine Zigarre anzünde, ohne daß sie das Feuer reicht. Vor zwei Jahren war sie in Breslau bei einer Freundin zu Besuch und lernte dort einen jungen lebenslustigen Glasfabrikanten aus Böhmen kennen, der für sie schwärmte und ihr schließlich einen Heiratsantrag machte. Sie fragte bei mir an, wie ich darüber dächte, und ich antwortete ihr, daß in solchen Dingen schwer zu raten sei, sie möge ihr Herz entscheiden lassen. Drei Tage später traf sie in Berlin ein und versicherte mich, daß sie sich bei mir am behaglichsten fühle.« Der Doktor nahm einen kräftigen Schluck, strich sich wohlgefällig den langen Bart und fuhr nach einer Pause fort: »Ich habe meine Absichten bis jetzt niemand merken lassen und möchte Sie deshalb bitten, die Herren und Damen unseres Stammtisches während meiner Abwesenheit langsam darauf vorzubereiten. Die Verwunderung wird dann nicht halb so groß sein, wenn ich sie mit einer Verlobungsanzeige überrasche, und hundert peinliche Bemerkungen werden meiner Nichte erspart bleiben.«

Holmer versprach bei nächster Gelegenheit seinen Wunsch zu erfüllen, und der Doktor schien durch diese Zusage erleichtert. »Sind die Herrschaften orientiert,« meinte er, »wird der Gesprächsstoff über diese Sensation bald erschöpft sein, und niemand wird sich mehr an unserer Altersdifferenz stören.«

»Im Grunde genommen kann das auch dritte wenig kümmern.«

»Gewiß, aber jeder, der sich zu einem Ehebunde entschließt, muß die Erwählte Spießruten vor dem Urteil seiner Bekannten laufen lassen. Nur Geduld, verehrter Freund, das werden Sie schon noch erfahren, auch unter sogenannten normalen Verhältnissen.«

»Ich denke nicht daran, mich zu verheiraten.«

»Das ist für einen jungen Schriftsteller das beste. Bevor er sich nicht für seine Arbeiten einen größeren Interessentenkreis errungen, bedarf er der persönlichen Freiheit mehr als jeder andere. Läßt sich doch von seinem Werdegang in der Regel sagen:

»In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling;
»Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis,

und ist zufrieden, wenn er seinen Idealen ein Begräbnis erster Klasse geben und im Tempel der Presse die Weihe als Journalist empfangen kann. Besuchen Sie alle größeren Redaktionen und Sie werden überall mindestens einen finden, der als Dichter begann und als Zeitungsschreiber endete und sich wohl dabei fühlt.«

»Sie malen grau in grau,« meinte Holmer.

»Ich male nach den Erfahrungen, die ich gemacht. Kennen Sie die Vertragsbedingungen des Verlegers, wenn Sie mit einem ersten Band Gedichte vor die Öffentlichkeit treten wollen?«

»Leider! Für die erste Auflage kein Honorar, aber die Verpflichtung, hundert Exemplare der eigenen Werke gegen Kasse zu beziehen. Dem Dramatiker wird es allerdings leichter gemacht.«

»Glauben Sie das nicht. Es erscheinen jedes Jahr einige Tausend Bühnenwerke im Druck, und noch keine hundert davon werden aufgeführt.«

»Aber die zur Darstellung gelangen, werden wenigstens besprochen.«

»Was ist damit erreicht? Schließlich behält das entscheidende Wort doch das Publikum. Und dann die Kritik? Hut ab vor Leuten, die durch Charakter, Unabhängigkeit, Bildung und Erfahrung zum Richteramt in literarischen Dingen berufen sind, aber das ist leider die Minderheit; gar vielen ist die Kritik nur Mittel, sich auf Unkosten des zu besprechenden Autors, selbst in Szene zu setzen, während andere wieder die Sache rein handwerksmäßig betreiben und mit Schlagwörtern, als da sind: Hintertreppenwitz, innere Unmöglichkeit, äußerer Erfolg &c. fleißig um sich werfen; diese Herren finden nur das literarisch, was ihrem Geschmack zusagt, vorwiegend nach Paprika duftet, unanständige Dinge, Charakterabnormitäten und die Schattenseiten der Gesellschaft behandelt. Die gefährlichsten Rezensenten aber sind die verkannten Dramatiker, die in ihrem Schreibtische unaufgeführte Stücke verwahren; denn sie glauben ihr Mißgeschick an den Werken ihrer glücklicheren Kollegen rächen zu müssen.«

»Lieber Doktor, Sie sind verbissen. Auf Ihr Wohl!«

»Prosit! Das war ich einmal, kurze Zeit, vor fünfunddreißig Jahren – jetzt lache ich über die Geschichte.«

»Sie haben also auch für die Bühne geschrieben?«

»Erst für und dann über sie, bevor ich mich der Politik zuwandte – allerdings nur einmal für sie.«

»Und waren mit dem Erfolg zufrieden?«

»Ich schon, aber andere nicht. Wenn Sie's hören wollen, kann ich's zum besten geben. Sie lernen mich dann auch von meiner boshaften Seite kennen.«

Holmer versicherte sein lebhaftes Interesse und rückte seinen Stuhl dem Alten näher, der bedächtig eine Zigarre seinem Etui entnahm, sie anzündete, ihren Duft einsog und zu erzählen begann.

»Ich hatte meinen Doktor gemacht und mußte nun dran denken, mich ohne fremde Hilfe durch's Leben zu schlagen. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen bot sich mir eine Lehrerstelle im Hause eines reichen Emporkömmlings. Zwei herzlich dumme Jungen, welche zum Abiturium gedrillt werden sollten, waren meine Schüler. Da sie auch Ballspiel, Tanzen und Reiten studierten und außerdem meinem Nachhilfeunterricht aus dem Wege gingen, wo es sich ermöglichen ließ, hatte ich viel freie Zeit, die ich zur Abfassung eines modernen Schauspiels benützte. Ich war mit meiner Arbeit zufrieden, welcher Dichter wäre das auch nicht? Und als ich das Manuskript meinen Freunden bei einem Glase Punsch vorlas, versicherten sie mich übereinstimmend, daß die neuere Literatur nichts Besseres aufzuweisen hätte. Ich machte mich also dahinter, mein Opus säuberlich abzuschreiben und es, da wir in einer kleinen Residenz lebten, beim Hoftheater einzureichen. Die Entscheidung ließ lange auf sich warten, und als sie endlich kam, war sie ablehnend. Die Arbeit sei ja recht talentvoll, schrieb man mir, aber für ein Hoftheater schon der Tendenz wegen nicht geeignet. Kurz entschlossen sandte ich das Stück nun an die Bühne meiner Vaterstadt, dessen Leiter mir als ein liberaler und ziemlich vorurteilsfreier Herr bekannt war. Wieder vergingen Monate der Erwartung, endlich kam die Erlösung, mein Schauspiel war für die nächste Saison zur Aufführung angenommen. Ich mußte also noch ein ganzes Jahr warten, bis ich den Gestalten meiner Phantasie auf der Bühne begegnen konnte. Es war nach meinem Empfinden das längste Jahr, das ich erlebt, ich zählte die Tage bis zur Premiere und strich im Kalender jeden Morgen einen ab. Als ich nichts mehr abzustreichen hatte, reiste ich nach meiner Vaterstadt, die ich seit sechs Jahren nicht gesehen hatte, um der Generalprobe und am nächsten Tage der Aufführung beiwohnen zu können. Dort angekommen, stellte ich mich sofort dem Direktor vor, der mir riet, verschiedenen Herren von der Presse meine Aufwartung zu machen. »Namentlich die Bürgerzeitung,« meinte er, »kann Ihrem Stücke nützlich, aber auch höchst gefährlich sein; ihr Feuilletonredakteur, Emil Strenzer, der die Theaterkritik besorgt, hat selbst zwei Einakter geschrieben, die von mir mehrmals gegeben wurden und in der Bürgerzeitung glänzende Besprechung fanden. Er ist ein strenger Richter und sein Urteil von höchstem Einfluß. Es soll mich freuen, wenn Sie mir morgen auf der Generalprobe sagen können, wie er Ihren Besuch aufgenommen.«

Ich benützte also den Nachmittag, verschiedene Redaktionen aufzusuchen und fand im allgemeinen eine recht freundliche Aufnahme. Mein letzter Besuch galt dem gefürchteten Herrn Emil Strenzer. Er empfing mich mit der Versicherung, daß er mit Arbeit überhäuft sei, hörte mich aber trotzdem an. Ich sprach ihm von der Tendenz meines Stückes, die ihm zu gefallen schien, obgleich er dabei mehr und mehr die Stirne runzelte. Schließlich meinte er, es wäre nicht klug von mir gewesen, das Schauspiel zuerst in meiner Vaterstadt aufführen zu lassen; das sei immer ein Appell an den Lokalpatriotismus und ein Plädieren für mildernde Umstände – übrigens werde er tun, was in seinen Kräften stehe. Ich wußte damals natürlich nicht, daß ihm eine Komödie, die ein ähnliches Thema behandelte, von mehreren Theatern zurückgesandt worden war.

Am nächsten Morgen fand ich mich zeitig auf der Bühne ein; sie war noch völlig menschenleer, und nur ein paar Lampen brannten an den Soffitten. Der Vorhang war hochgezogen, und der schwarze Zuschauerraum gähnte mich wie der Rachen eines Ungeheuers an, der bereit ist, alles zu verschlingen.

Ich tastete mich zwischen den Kulissen zurecht und stieß im Halbdunkel wider eine junge Dame, welche auf dem Wildschwein, das gestern im Freischütz mitgewirkt, Platz genommen hatte und ihr Frühstück verzehrte.

»Pardon!«

»Tut nix!« antwortete sie. »Bin halt a zu früh auf die Prob kommen.«

»Um zehn Uhr.«

»Ist aber erst um halb elf.«

»So, erst um halb elf?«

»Draußen steht's anschrieben – so a Schlamperei! Wann's sich setzen wollen, auf der Sau is noch Platz g'nug.«

Ich folgte der freundlichen Einladung und ließ mich neben der jungen Künstlerin nieder, die sofort den Faden der Unterhaltung wieder aufnahm und mich fragte, ob ich zu den neuen Kräften des Chors gehöre?

Da mir mein Inkognito Spaß machte, antwortete ich: »Ja, vorübergehend.«

»Vorübergehend? Mei, 's wird immer schöner herinnen, bald wern's d' Leut auf Tagelohn engagiern. Habens heut a was in dem Schmarrn z'tun?«

»Schmarrn!« So despektierlich hatte noch niemand von meinem Schauspiel gesprochen, und ich mußte mich zusammennehmen, nicht aus meiner Rolle zu fallen. »Ja,« sagte ich, »am Schluß – wann's ans Herausrufen geht.«

»Glauben's, daß es dazu kommt? I nit! das Stück steht auf schwache Füaß.«

»So?«

»Schad um d' Zeit, die's kost hat, 's einzustudiern.«

»Hm! haben Sie keine Rolle darin?«

»Freili, sonst war i nit hier; 's Stubenmadel im ersten Akt, an viertel Bogen. Da quält man sich, und nachher is es a paarmal. Unser Direktor nimmt halt alles aa.«

»Kennen Sie denn auch die anderen Akte?«

»I kenn meine Roll, dös is grad g'nug.« Ich hätte die interessante Unterhaltung gerne noch eine Weile fortgesetzt, da sich aber jetzt die Bühne mit den Darstellern belebte, und die Lampen am Proszenium angezündet wurden, erhob ich mich, um den Direktor zu begrüßen, der gleichfalls eingetreten war.

»Ah, Herr Doktor, das ist schön, daß Sie so zeitig gekommen,« rief er mir freundlich entgegen. »Erlauben Sie, daß ich Sie den Herrschaften vorstelle.« Nachdem diese Förmlichkeit vorüber war, fragte er mich, ob ich der Probe auf der Bühne oder im Zuschauerraum beizuwohnen wünschte. »Im Parkett werden Sie mehr ein Gesamtbild erhalten als hier oben; auch die Arrangements, namentlich bei den Aktschlüssen ruhiger übersehen können – doch wie Sie wollen. Bitte, lassen Sie mich nur überall Ihre Ansicht wissen, heute können wir noch ändern.«

Ich entschloß mich für den Zuschauerraum und wurde nach dem völlig dunkelen Parkett geführt und allein gelassen. Kaum aber hatte ich mich gesetzt, als die wohlbekannte Stimme des Stubenmadels aus dem ersten Akt mir in's Ohr flüsterte: »Herr Doktor, san's nöt bös, daß i vorhin so dumm plauscht hab, i möcht mir selber a Watschen geben, wann i dran denk.«

»Machen Sie sich keine Gedanken darüber,« tröstete ich sie. »Wo sind Sie denn eigentlich?«

»In der nächsten Reihe hinter Ihnen; i bin Ihnen nachschlichen. Sehn's, wann unser Direktor erfährt, was i g'sagt hab, nacher gibt's an Verdruß – mit aner vom Chor wird nit viel Umständ g'macht, die is glei draußen.«

»Ich verspreche Ihnen, nicht davon zu reden. Sind Sie nun zufrieden?«

»Dös glaub i – san Sie a guter Mann!« lispelte sie und drückte einen leisen Kuß auf meine Wange. Ich wandte mich um, die kleine Kokette festzuhalten, sie aber war schon verschwunden, und ich hörte nur noch das verhallende Knistern ihrer Tritte.

Die Probe begann und nahm einen Verlauf wie die meisten Generalproben; es klappte vieles nicht, mußte wiederholt werden, und ein Gesamteindruck war nicht zu gewinnen. Meine Siegeszuversicht schmolz während der Probe wie der Schnee an einem warmen Märztage, und als ich am Abend das Theater betrat, kam ich mir wie ein Angeklagter vor, der auf den Wahrspruch der Geschworenen wartet.

Doch es ging alles besser, als ich vermutet hatte; das Publikum applaudierte vom zweiten Akte ab und rief mich nach dem dritten und vierten. Es war kein frenetischer Beifall, aber ich konnte zufrieden sein.

Nach der Vorstellung suchte ich den Direktor auf und fragte ihn, ob er glaube, daß das Stück seinen Weg machen werde.

»Das kommt auf die Kritik in der Presse an,« antwortete er mir.

»War der Redakteur der Bürgerzeitung im Theater?«

»Er nicht, aber seine Frau; sie kam während des zweiten Aktes.«

»Rezensiert sie auch?«

Der Direktor zuckte mit der Achsel. »Auf alle Fälle erstattet sie ihrem Gemahl Bericht.«

Die ersten Zeitungen, die mir zu Gesicht kamen, konstatierten den Erfolg und beurteilten nicht unfreundlich mein Erstlingswerk. Endlich erhielt ich auch die Bürgerzeitung und überflog ihre Spalten mit begreiflicher Neugierde. Die Besprechung meines Stückes war Emil Strenzer gezeichnet und begann mit einer Abhandlung über die Aufgaben und Aussichten der modernen Bühne; dann ging sie auf meine Arbeit über, wobei der Verfasser gleich zu Anfang bedauerte, an einem solchen Machwerk seine kostbare Zeit verschwenden zu müssen. Was hätte, ging es dann weiter, ein berufener Dramatiker aus diesem Sujet machen können, und was ist daraus geworden? Ein dramatisches Unding, ein künstlerisches Defizit, eine Stümperarbeit sondergleichen. Diesem Schauspiel fehlt alles: die Exposition, die Charakterzeichnung, die Entwicklung der Handlung. Warum lernen solche Autoren kein ehrliches Handwerk und zwingen objektive Kritiker im Interesse der Kunst harte, aber gerechte Urteile abgeben zu müssen? Dann wurde mir der Vorwurf gemacht, daß ich vermutlich nicht auf ganz einwandfreie Weise zu diesem Stoff gekommen sei, den ein anerkannter, hervorragender Bühnendichter, damit meinte er natürlich sich, vor einiger Zeit zu einem äußerst wirksamen Drama verarbeitet habe. Zum Schlusse aber erklärte er, daß es Pflicht der anständigen Kritik sei, der Protektions- und Reklamewirtschaft des deutschen Theaters ein Ende zu machen, damit das Publikum wieder wahre Kunst von falscher unterscheiden lerne.

Nach einer solchen Beurteilung durch das einflußreichste Organ der Stadt war mein Stück natürlich gerichtet. abgeschlachtet, tot. Selbst der Direktor, der gestern noch so hoffnungsfreudig liebenswürdig war, erkannte dies und ordnete das Begräbnis nach der zweiten Aufführung an.

Ich schäumte, kochte vor Wut und glaube, wenn mir nach den ersten Tagen der Herr Kritikus begegnet wäre, ich ihn auf der Straße geohrfeigt hätte. Allmählich aber legte sich die Aufregung, und mein ganzes Sinnen und Trachten richtete sich auf eine literarische Rache, über deren Ausführung ich mir zwar selbst nicht recht klar werden konnte, da ich keinen Einfluß auf die Presse und kein Geld für die Druckkosten eines Pamphlets hatte.

Doch jetzt kam mir unerwartet der Zufall zu Hilfe. Eines Abends begegnete mir ein junger Mann, der mir von meiner Kindheit her bekannt war. Wir begrüßten einander, und sein zweites Wort war: »Lieber Doktor, Sie müssen dem Strenzer aber gehörig auf die Füße getreten haben, daß er so mit Ihrem Stücke umging.«

»Sie irren, Herr Weibel,« antwortete ich, »ich habe diesen Menschen ein einziges Mal im Leben gesehen.«

»Dann verstehe ich nicht, wie er so schreiben konnte.«

»Kennen Sie ihn?«

»Natürlich, ich bin doch Setzer bei der Bürgerzeitung, habe auch die Kritik über Sie gesetzt.«

»Scheint mir ein sonderbarer Herr zu sein.«

»Ein arroganter Kerl, schreibt eine Pfote, als wenn die Hühner übers Papier gelaufen wären, und schimpft wie ein Rohrspatz, wenn der Setzer aus seinen Hieroglyphen nicht herauskommt.«

»Er hat doch auch schon für's Theater geschrieben?«

»Ja, zwei Einakter, und verhimmelt hat er sie, daß es nicht mehr schön war.«

»Wer?«

»Er, wer sonst?«

Ich sah den Setzer erstaunt an, er aber neigte sich zu mir und flüsterte: »Er schreibt doch die Kritiken über seine Stücke selber und macht irgend ein Zeichen darunter.«

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Ich kenne seine Handschrift genau, auch wenn er sie zu verstellen sucht – bitte aber um Gotteswillen, nichts davon verlauten zu lassen!«

Nachdem ich mich ehrenwörtlich zum Schweigen verpflichtet hatte, wurde er noch gesprächiger und sagte: »Ja, er schreibt sie selbst und verreist, damit kein Verdacht aufkommt, am Tage zuvor, wo sie erscheint. Sie beginnt in der Regel mit den Worten: »Unser geehrter Kollege, oder geschätzter Mitarbeiter, oder beliebter Feuilletonredakteur, der sich gestern Abend, sofort nach der Premiere auf eine Erholungsreise begab, hat mit seinem neuesten Opus die zeitgenössische dramatische Literatur wiederum um eine Perle bereichert, und dann geht die Lobhudelei in allen Tonarten los. Zum Schlusse aber unterzeichnet sich der famose Kritiker mit einem X oder Z.«

»Irren Sie sich auch nicht mit der Handschrift?«

»Das ist völlig ausgeschlossen. Nächste Woche kommt sein dritter Einakter heraus, und Sie werden sehen, daß Strenzer sofort nach der Vorstellung abdampft; er hat als vorsichtiger Mann heute schon angedeutet, daß er verreisen müsse.«

Jetzt blitzte mir ein teuflischer Gedanke durch den Kopf, und ich frug den Gespielen meiner Kindheit, ob ich ihn zu einer Flasche Wein einladen dürfe.

»Warum nicht, wenn sie gut ist? Wir Bleischlucker sind alle durstige Seelen.«

Wir suchten eine abgelegene Weinkneipe auf, und ich bestellte eine Flasche Deidesheimer. Bei der zweiten Flasche fragte ich ihn, ob er sich in der Druckerei der Bürgerzeitung wohl fühle.

»Früher ja, jetzt nicht mehr,« gab er zurück. »Unser alter Faktor ist tot, und der an seine Stelle trat, ist ein Menschenschinder – die längste Zeit war ich dorten.«

»Es liegt Ihnen also nicht viel an dieser Stelle?«

»Ich danke Gott, wenn ich draußen bin.«

»Sagen Sie mal, lieber Weibel, zeichnet ihr Emil Spenzer alle seine Rezensionen mit seinem Namen?«

»Alle, mit Ausnahme solcher, die er selber über seine Sachen schreibt.«

»Hm! Wäre es nicht möglich, wenn er wieder einmal so in Selbstberäucherung macht, seinen Autornamen unter den Artikel, zu plazieren?«

Der Setzer sah mich erst mit offenem Munde an, dann schlug er sich auf die Kniee und lachte laut hinaus: »Donnerwetter! das wäre was.«

»Ist es möglich?«

»Warum nicht, wenn ich die letzte Korrektur mache – aber –«

»Natürlich nur, wenn er seine Kritik selbst verfaßt hat.«

»Versteh, verstehe! aber – – Ich muß mich sicherstellen, sonst leugnet er, und ich sitze in der Patsche.«

»Können Sie das Manuskript nicht zurückbehalten?«

»Das geht nicht – aber einen Streifen davon kann ich abreißen – das genügt.«

»Und das wollten Sie Ihrem Jugendfreunde zuliebe tun?«

Weibel besann sich einen Augenblick, leerte sein Glas und sagte: »Ein Lump, der nicht zu seinen Freunden hält. Er hat mich einmal geschuriegelt, weil ich vergaß seinen Namen unter einen Artikel zu setzen, diesmal soll's nicht vergessen werden.«

Ich wollte, von seiner Freundschaft gerührt, ihm die Hand schütteln, er aber wehrte mit den Worten ab: »Unsinn! Ich habe ja den größten Vorteil davon – ich brauche nicht zu kündigen.«

»Esperance«, dramatische Studie von Emil Strenzer, ging acht Tage später wirklich in Szene und fand eine ziemlich kühle Aufnahme beim Publikum, aber eine desto wärmere Besprechung in der Bürgerzeitung. Ein Kollege des Verfassers schrieb dort die Kritik und feierte den in der Ferne weilenden Dichter in überschwenglichster Weise. Der Schluß dieser Dithyrambe aber lautete: Jahre werden vergangen sein, und Literaturforscher werden die Schätze unserer Zeit sichten und neben den besten Namen auch den Emil Strenzers nennen. Emil Strenzer.

Weibel, die treue Seele, hatte Wort gehalten und nach der letzten Korrektur die Unterschrift eingeschoben, was niemand auffiel. Das Blatt war schon einige Stunden verteilt, als erst die Veränderung bemerkt wurde und die gesamte Redaktion in höchste Aufregung versetzte. Man forschte nach dem Manuskript, fand aber nur zwei Drittel davon; man stellte Weibel zur Rede, der aber gelassen erklärte, der Herr Doktor habe gewünscht, daß unter allen seinen Arbeiten auch sein Name gesetzt werde, er habe also nur ein Versehen gutgemacht. Nicht nur die Konkurrenzblätter am Platze, auch die auswärtigen Zeitungen machten sich über den Kritiker der Bürgerzeitung lustig. Esperance und ihr Dichter waren der Lächerlichkeit verfallen. Strenzer telegraphierte an sein Blatt, daß ein Mißverständnis vorliege, und er die Sache aufklären werde; aber noch bevor dies geschehen konnte, verließen die Ratten das sinkende Schiff, und eine auswärtige Zeitung veröffentlichte, mit höhnischen Glossen versehen, einen Brief Strenzers an ihren Theaterreferenten, worin er bat, beifolgende Besprechung seines Stückes zu veröffentlichen und sich zu Gegendiensten bereit erklärte. Die Blamage war vollständig, und es blieb dem geschäftskundigen Herrn nichts anderes übrig. als aus der Redaktion der Bürgerzeitung auszuscheiden und für immer auf ein Richteramt zu verzichten.«

Der Alte hielt einen Augenblick in seiner Erzählung inne, schöpfte tief Atem, wobei ein sarkastisches Schmunzeln seine Lippen umspielte und erklärte dann mit einem Anflug von Galgenhumor: »Aber auch die deutsche Bühne hatte einen großen Verlust zu verzeichnen, denn weder mein Gegner noch ich bereicherten sie jemals wieder um ein Stück!«

Holmer, der mit gespannter Aufmerksamkeit gelauscht hatte, erhob jetzt sein Glas und stieß mit dem Doktor an: »Sie sind ja ein ganz gefährlicher Mensch!« rief er lachend. »So erklärlich mir aber auch Ihre Rache erscheint, so unverständlich ist es mir, daß Sie die Flinte ins Korn warfen und einer Tätigkeit entsagten, die im Grunde genommen doch vielversprechend für Sie begonnen hatte.«

»Mir war das Theater gründlich verleidet, und dann, von idealen Bestrebungen allein raucht der Schornstein nicht. Ich mußte leben, hatte meine Lehrerstelle aufgegeben und war froh, als ich bei einer Zeitschrift Unterkunft fand. Nun schrieb ich eine Zeitlang, o Ironie des Schicksals! wie so mancher schiffbrüchige Bühnendichter selber Rezensionen. Ich kann mir aber das Zeugnis ausstellen, daß wenn ich auch nicht ohne Fehl gewesen, ich doch niemals ein blutiger Schächter war. Ganz allmählich rückte ich dem Journalismus näher und geriet dabei mehr und mehr ins Parteigetriebe. Meine radikalen Ansichten zwangen mich bei einem mehr links stehenden Blatte Stellung zu suchen, und als ich sie gefunden, an die Begründung eines eigenen Hausstandes zu denken.«

»Und wieviel Jahre hatten Sie gebraucht, dieses Ziel zu erreichen?« frug Holmer.

»Ein volles Dutzend, verehrter Freund. Meine Braut mußte sich mit Geduld wappnen. Und wer meinen Sie, wer meine Braut gewesen ist?«

»Sie richten eine Frage an mich, die ich Ihnen nicht beantworten kann – woher sollte ich das wissen?«

»Es war die kleine Choristin, die ich im Dunkel der Bühne kennen gelernt.«

»Die Ihnen so offenherzig ihre Meinung gesagt?«

»Dieselbe. Ich hatte Geschmack an ihrer Naivität gefunden, und bändelte mit ihr an wie häufig junge Männer mit Mädchen in bescheidener Lebensstellung anbändeln. Achtzehn Jahre lebten wir in glücklicher Ehe zusammen.«

Der Doktor war nachdenklich geworden und sah sinnend unter sich, aber nur einen Augenblick stand er unter dem Banne der Erinnerung, denn als er sein Auge erhob, entfuhr es freudig seinen Lippen: »Ah! da kommt ja meine Nichte,« und indem er sich zu Holmer beugte, flüsterte er diesem ins Ohr: »Wie sie, in Art und Erscheinung, müssen Sie sich meine Frau, als sie noch beim Theater war, vorstellen – man könnte an Seelenwanderung glauben.«

Die Nichte, eine schlanke Brünette, mit unruhigen dunklen Augen und leicht aufgeworfenen Lippen, hatte sich rasch ihrem Onkel genähert und begrüßte nun mit fröhlichem Lachen die beiden Herren: »Guten Abend, Herr Holmer, guten Abend, Onkelchen! Es ist unheimlich spät geworden, aber die Oper dauerte bis nach elf, und dann waren alle Trambahnen überfüllt. Ich bin nur froh, Onkelchen, daß du so angenehme Gesellschaft gefunden hast.« Bevor ihr jemand behülflich sein konnte, hatte sie ihren Mantel abgelegt und Platz genommen. »Bitte, Kellner, die Speisekarte! Ich habe einen Hunger, Onkelchen, als wenn ich acht Tage gefastet hätte.«

»Warum hast du nichts im Theater genossen?« fragte sie der Doktor.

»Weil ich mir den Appetit mit den Schleckereien nicht verderben wollte.«

Der Kellner brachte die Karte, und das Fräulein bestellte. »Aber bitte, rasch, wenn Sie mich noch lebend antreffen wollen! Weißt du auch, Onkelchen, weshalb ich so dränge?«

»Weil du hungrig bist.«

»Das schon, aber auch weil wir zeitig nach Hause müssen. Ich muß noch zwei Koffer packen!«

»Diese Nacht?«

»Wann sonst? Morgen habe ich in der Wirtschaft zu tun, und um zwei Uhr dampfst du nach Plötzensee und ich nach Görlitz ab.«

»Wir können im Restaurant speisen.«

»Nein, nein! Deine Henkersmahlzeit soll Hausmannskost sein – ich habe schon meine Vorkehrungen hierzu getroffen. Sie glauben gar nicht,« wandte sie sich an Holmer, »was ich mir für Sorgen um Onkelchen mache – sechs Wochen hinter schwedischen Gardinen und dazu das Gefängnismenü, es ist zu schrecklich! Bis er wieder die goldene Freiheit genießt, sind die Maiglöckchen verblüht. Haben Sie auch schon einmal gesessen?«

»Leider,« erwiderte lachend Holmer, »hatte ich noch nicht die Ehre.«

»Wenn Sie Sehnsucht darnach haben, werden Sie nur Verantwortlicher. Onkelchen hat mir feierlich versprechen müssen, nicht mehr die Zeitung zu zeichnen. Es ist doch zu dumm, für die Unvorsichtigkeiten anderer eingelocht zu werden.«

»Du nimmst die Sache viel zu tragisch, Cornelia,« erwiderte der Doktor und warf Holmer einen triumphierenden Blick zu. »Diese sechs Wochen werden ohne Schaden für mich vorübergehen.«

»Hören Sie den Egoisten, er spricht nur von sich! Daß ich während dieser Zeit wie eine büßende Nonne bei einer halbtauben Tante schmachte, darüber fällt ihm gar nichts ein. Na, warte nur.«

Der Kellner brachte die bestellten Speisen, und Cornelia griff wacker zu, wobei sie besonders schmackhafte Bissen dem Doktor zum Kosten anbot.

Während sie aß, verglich Holmer sie im Stillen mit Emilie. Wie grundverschieden waren doch diese beiden Mädchen, obgleich sie in vielen Dingen eine gewisse Ähnlichkeit zu haben schienen. Cornelia, die üppigere, mit den frischen runden Wangen und den unruhig flackernden Blicken, bewegte sich mit der souveränen Sicherheit der Weltstadtdame. Ihre Haltung und ihr Auftreten zeugten von dem Bestreben, sich in möglichst unabhängiger Stellung zu zeigen, ein Bemühen, das wunderlich von der unterwürfigen Art, mit der sie mit dem Doktor verkehrte, abstach.

Wie ganz anders Emilie. Ein ernster, fast melancholischer Zug, der um ihren feingeschnittenen Mund lagerte, ließ sie auf den ersten Blick älter erscheinen als sie war, ohne daß ihr dies zum Nachteil gereicht hätte. Ein stolzes Selbstbewußtsein war ihr fremd, und die Unbefangenheit, mit der sie sich gab, war lediglich ein Produkt ihrer Naivität.

Auf dem Meere des Lebens, sagte sich Holmer, wird Cornelia nach den fernen Inseln des Glückes spähen, aber immer den sicheren Hafen im Auge behalten, während Emilie unbekümmert um die Richtung in das Ungewisse hinaussteuert und zufrieden ist, wenn ein Sonnenstrahl ihre Segel verklärt.

Cornelia hatte ihre Mahlzeit beendet und wandte sich mit der Frage an Holmer, ob er ungehalten sei, wenn sie sich jetzt entfernten.

»Wie könnte ich das? Wenn Sie heute noch packen und dann ein wenig ruhen wollen, ist es höchste Zeit zum Aufbruch,«

»Sie bleiben aber noch hier?«

»Nein, ich gehe gleichfalls. Ich hatte eine schlechte Nacht und möchte mein Bett zeitig aufsuchen.«

»Zeitig!« lachte Cornelia, »es ist zwölf Uhr vorüber.«

Da die junge Dame voranging, benutzte der Doktor die Gelegenheit, seinem Begleiter zuzuflüstern: »Nun, was sagen Sie zu meiner Nichte, geht sie nicht völlig in der Fürsorge für mich auf? Wer das beobachtet hat, wird meinen Entschluß sie zu heiraten auch begreifen.«

Unter gleichgültigen Gesprächen erreichte die kleine Gesellschaft die Haltestelle der Trambahn, wo sich Holmer aufs herzlichste von dem Doktor und seiner Nichte. welche einen Wagen nach Schöneberg bestiegen, verabschiedete und dann seinen Weg zu Fuß fortsetzte.

Das Wetter hatte sich aufgehellt, und ein leichter Frost hatte die Pfützen in den asphaltierten Fahrdämmen und das Wasser in den Rinnsteinen mit einer dünnen Schichte Eis, die knisternd unter den Tritten der Passanten zusammenbrach, überzogen.

Holmer ging ziemlich rasch und hatte nach kurzer Zeit den Lustgarten erreicht, von wo er sich der Kaiser Wilhelmstraße zuwandte. Das nächtliche Treiben war mehr und mehr verstummt. und jetzt schritt er durch die Straßen des schlafenden Berlin, die nicht lebhafter als die Straßen einer mittleren Provinzialstadt waren.

Eben wollte er in eine Seitenstraße einbiegen, als er hinter sich eilige Schritte vernahm und als er sich umwandte, einen hageren Herrn in grauem Mantel erblickte, der ihm zu folgen schien.

»Mein Herr!« rief ihm der Hagere zu, als er ihn erreicht hatte. »Nehmen Sie das mit und lesen Sie es,« und dabei hielt er ihm ein bedrucktes Blatt Papier entgegen.

»Ich danke Ihnen,« erwiderte Holmer mit einer abweisenden Bewegung, da er äußerst skeptisch solchen nächtlichen Annäherungen gegenüberstand, und ging weiter.

»Dann gestatten Sie mir wenigstens, daß ich Sie begleiten darf.«

»Ich danke auch für Ihre Begleitung.«

»Weisen Sie sie nicht so kurzer Hand zurück, mein Herr, Sie ahnen nicht, in welcher Gefahr Sie schweben.«

Holmer blieb betroffen stehen, faßte seinen Stock fester an und rief dem Zudringlichen drohend zu: »Machen Sie, daß Sie weiter kommen, oder Sie sollen mich von einer unangenehmen Seite kennen lernen!«

»Mein lieber Herr – –«

»Zum Teufel sollen Sie gehen!«

»O, o! Sie verkennen mich, ich bin kein Räuber, ich – –«

»Was Sie sind, ist mir gleichgültig, wenn Sie mir aber zu nahe kommen, schlage ich Ihnen den Schädel ein.«

Der Hagere wich erschrocken zurück, und Holmer setzte seinen Weg durch die menschenleere Straße fort. So oft er sich aber umwandte, machte er die unangenehme Wahrnehmung, daß ihm der unheimliche Geselle in einiger Entfernung folgte. An einer Straßenkreuzung standen zwei Schutzleute, welche sich bei ihren nächtlichen Patrouillengängen getroffen hatten und wechselten einige Worte miteinander. Holmer blieb in ihrer Nähe stehen, um zu sehen, ob der Hagere seinen Weg ändern würde. Zu seiner Verwunderung aber trat dieser auf die Schutzleute zu und sagte so laut zu dem einen, daß es Holmer hören mußte: »Herr Lehmann, Sie kennen mich, bitte, sagen Sie dem Herrn dort, daß ich kein Strolch bin.«

Der Schutzmann lachte laut auf und rief: »Sie Männecken, dem brauchen Se nich aus dem Weje zu jehn, der is Nachtarbeiter bei die innere Mission – sonst enn janz patenter Kerl.«

Holmer rief, von dieser Auskunft lebhaft überrascht, ein »Danke schön!« zurück und wandte sich zum Gehen. Er war aber noch keine drei Schritte weit gekommen, als der Hagere abermals an seiner Seite erschien und mit sanfter, fast bittender Stimme sagte: »Der Gerechte nimmt sein Kreuz auf sich und duldet Spott und Schmach um Christo willen. Ich hatte mich Ihnen genähert, weil mir Ihr Seelenheil am Herzen lag.«

»Um diese Stunde aber belästigt man niemand.«

»Reden Sie nicht von Belästigung, lieber Herr. Unsere Mission ist ein gottgefälliges Werk, auf dem der Segen des Höchsten ruht. Wie manches verirrte Schäflein habe ich wieder der gläubigen Herde zugeführt, und Sie wissen sicher, daß über einem bekehrten Sünder mehr Freude im Himmelreich herrscht als über zehn Gerechte. Sehen Sie, ich suche die Höhlen des Lasters auf und stelle mich wie ein flammender Cherub vor ihre Pforten und reiche jedem, der sie überschreiten will, das Manna des Lebens,« und dabei übergab er Holmer einen bedruckten Zettel, den dieser gleichgültig in die Tasche schob.

»Mich haben Sie aber doch nicht vor der Pforte des Lasters getroffen.«

»Gewiß nicht, lieber Herr, aber bedenken Sie, Berlin ist eine Weltstadt, und ihre Straßen sind die Vorhöfe der Sünde.«

»Zugegeben, dem wäre so, warum suchen Sie aber gerade diesen stillen Stadtteil auf, anstatt in der Leipziger- und Friedrichstraße Ihre Tätigkeit zu entfalten?«

»Wir suchen zu retten wo zu retten ist. Dort in den Straßen wo der Satan noch nach Mitternacht Heerschau über die Verruchten hält, müßten wir Stimmen wie tönendes Erz, wie die Posaunen von Jericho haben, um von den Gottlosen gehört zu werden. Hier ist es anders, hier verschlingt das Getöse des Menschenstroms nicht die Worte des Mahners, hier können wir uns dem Sünder nähern, Buße predigen und ihm das Manna des Lebens reichen.«

»Versprechen Sie sich denn wirklich von Ihren Traktätchen Erfolg?«

»Der eine verachtet es, der andere betrachtet es, der dritte nimmt es mit in sein Kämmerlein, der vierte liest es, und der fünfte bekehrt sich.« Er wollte noch weiter in dieser salbungsvollen Weise fortfahren, als er mit dem Fuße so heftig wider einen Gegenstand stieß, daß er zu Boden gestürzt wäre, wenn ihn Holmer nicht aufgefangen hätten.

Es war das ausgestreckt Bein eines alten Hausierers, der mit dem Rücken an ein Haus gelehnt, auf den Fliesen des Bürgersteigs lag, über das er gestrauchelt war.

»Holla!« rief er erschrocken und suchte das Gleichgewicht zu gewinnen, »Könnt Ihr Euren Rausch nicht wo anders ausschlafen als auf der Straße? Die Trunkenbolde wird Gott richten, und die Völler so da Ärgernis erregen, werden in Schanden enden.«

»Mir scheint,« bemerkte Holmer, »daß dieser Mann nicht berauscht, sondern krank ist. Sehen Sie nur das eingefallene Gesicht und die abgezehrten Hände. Heda Alter!« und indem er den wie leblos Daliegenden rüttelte, versuchte er ihn aufzurichten. »Auf, auf! Ihr erfriert ja auf den kalten Steinen.«

»Er ist betrunken,« wiederholte der Hagere »und wird Ihre Kleider beschmutzen. Damit er aber zur Erkenntnis kommt, wenn diese Heimsuchung vorübergegangen, will ich ihm das Traktätchen Nummer siebzehn mit auf den Weg geben; ist er noch nicht völlig in des Bösen Gewalt, wird das seine Seele retten.« Dabei beugte er sich über den alten Mann, schob ein kleines Heftchen in dessen schmierige Rocktasche und wollte sich entfernen.

»Sie werden doch nicht gehen wollen, bevor wir wissen, was aus dem Kranken wird!«

»Was soll ich hier? Wer sich die Suppe eingebrockt, mag sie auch ausessen. Die Schutzleute, welche die Runde haben, werden schon für eine Unterkunft sorgen. Der Herr ist barmherzig, in seiner großen Güte wird er sich auch dieses Sünders annehmen.«

»Gehen Sie zum Teufel und seiner Großmutter mit Ihrem theoretischen Christentum!« rief erbost Holmer dem Hageren nach, der auf der anderen Seite der Straße die Briefkasten mit seinen frommen Schriften versah und dabei langsam weiterging.

Unterdessen waren mehrere Passanten stehen geblieben und betrachteten mit gleichgültigen Blicken den Bewußtlosen, ohne sich darauf zu besinnen, was in solchem Falle zu tun sei. Erst als Holmer sich nach der nächsten Sanitätswache erkundigte, erbot sich ein behäbiger Herr, sie herbeizurufen, da er nebenan wohne. Es war nicht gerade das einwandfreiste Publikum, das hier einen Halbkreis bildete. Späte Passanten, Bummler, Dirnen und Pennbrüder banden wie eingewurzelt, um das Eintreffen des Rettungswagens abzuwarten, und als Holmer einem jungen Burschen eine Mark gab und ihn bat, aus einem benachbarten Wirtschaftskeller ein Glas heißen Wein zu holen, konnte er die höhnische Bemerkung hören: »Paßt mal uff, wie der sich mit dem Märker dünne macht – ne, so'n Potsdamer!«

Der Bursche war jedoch ehrlicher, als ein Teil der Umstehenden angenommen hatte, er brachte den Wein, dessen Genuß dem Alten sichtbar gut tat. Nachdem man ihm ein halbes Glas davon eingeflößt hatte, schlug er die Augen auf und versuchte zu sprechen, brachte aber nur die Worte Hunger, Frau und Ansichtskarten hervor.

Der Wagen der Sanitätswache erschien, und einige Minuten später befand sich der Halberstarrte auf dem Weg nach der Rettungsstation. Die Neugierigen zerstreuten sich nach allen Richtungen, und auch Holmer, der sich in der naßkalten Luft sehr unbehaglich fühlte, suchte sein Heim zu erreichen. Dicht auf seinen Fersen folgte ein Trupp zweideutiger Gesellen, die sich laut über den alten Hausierer unterhielten und durch Anspielungen aller Art Holmers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchten.

»Willem,« sagte ein kleiner, verwachsener Kerl, dessen rote Nase mit der dunkelen Glut seiner glimmenden Zigarre erfolgreich konkurrierte, zu einem langen Einbeinigen, der eine Spieldose unterm Arme trug. »Willem, wenn du eenen hinter die Binde jießen willst un hast det nötije Kleenjeld nich, leje dir nur bei zwee Jrad unterm Reaumich uff enn Rinnstään un lasse dir steif frieren – wann dann keener mit 'ner Pulle Wein jesprungen kommt, soll mir enn Affe rasieren.«

»Bei mir nich,« antwortete der Stelzfuß. »Wenn Se mir seh'n, heeßt's, der kann jar nich janz erfrieren, der hat ja enn helzern Been – laßt enn liejen. Daß se mir, ollen Krüppel, bei Metz for det eenige Deutschland, meen anjewachsenes Been ausjerissen haben, is enn Schnuppe. For unsereens jibts keenen Wein, nich mal Kümmel, oder 'ne Weiße.«

»So is et,« erklärte ein dritter. »Ick bin enn ehrlicher Mann, dat weeß die janze Hasenheide, habe sieben Kinderken, 'ne kranke Frau un 'ne lahme Mutter, aber daß mal eener jekommen wäre un jesacht hätte, da hast du ooch 'nen Jroschen – det jibt's nich.«

»Wenn du dir nich von 'nem Auto überfahren läßt,« nahm der verwachsene Kerl wieder das Wort, »oder vom Rathausturm runterstürzt, jibt dir keener nischt, det is ne alte Kiste. Paßt mal uff, wie er mir abfahren läßt, wenn ick ihm meine bedrängte Lage vorstelle.« Nach diesen Worten suchte er sich Holmer zu nähern, dieser aber hatte sein Heim erreicht, schloß die Haustüre auf und verschwand dahinter, ohne daß der Zudringliche seine Bitten vorbringen konnte.

»Nee, so'n Pechvogel!« lachte schadenfroh der Einbeinige; »da hast du's jute Herz von die Berliner– wer Jibs will, wird ausjeschumpfen, oder der Riejel fällt ins Schloß.«


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