Adolf Stoltze
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Adolf Stoltze

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Kapitel 4.

Beweist, daß Liebe und Kneipe auch ihre Schattenseiten haben, und daß auf dem Wege zum Ruhme viele Dornen wachsen.

Emilie hatte sich von ihrer Erkältung wieder vollständig erholt und Holmer abends, nach Beendigung ihrer Tätigkeit, flüchtig gesprochen. Sie hätte diese Begegnung gerne länger ausgedehnt, fürchtete aber die Stichelreden ihrer Freundinnen, welche sie mit Argusaugen beobachteten. Schon unmittelbar nach Ostern, als sie zum erstenmale wieder in der gemeinsamen Arbeitsstube erschienen war und mehrfach verstohlen nach dem Fenster Holmers gelugt hatte, bestürmten sie ihre Kolleginnen mit der Frage, ob sie mit dem interessanten Nachbar angebändelt habe. Da sie nur ausweichende Antworten gab, suchten die Mädchen durch Kreuz- und Querfragen ihre Neugierde zu befriedigen. Namentlich Lotte, mit der Emilie die Schlafstelle teilte, machte fortgesetzt Versuche ihre Freundin zum Geständnis zu bringen, denn sie sagte sich, wenn Emilie ein ebenso aussichtloses Verhältnis wie ich unterhält, kann sie mir keine Vorwürfe mehr über mein spätes Nachhausekommen machen.

»Ich verstehe dir nich!« rief sie. »Du bist doch keene Nonne, daß dir jemand wejen en bisken Verhältnis an die Wimpern klimpern kann.«

»Das weeß ich schon alleene,« antwortete ärgerlich Emilie. »Kümmert euch um eure Poussaden und laßt mir unjeschoren!«

»Merkt ihr wat?« höhnte Auguste, die an der Nähmaschine steppte. »Stille Wasser jründen tief.«

»Hat se denn nich recht?« warf Marie, die Knopflochmacherin ein. »Was leicht in die Brüche jeht, hängt man nich an die jroße Glocke. Der Deibel trau so'n Schriftjießer.«

»Schriftjießer? Keene Spur – Schriftsetzer,« verbesserte spöttisch eine andere.

»Schriftsteller, mußt du sagen,« erklärte Lotte. »So 'ne Art von Schillern, der uff'en Gendarmenmarkt ausjehauen is und Jedichte macht. Bis eene so'n Lulaatsch kriegt, det kommt rar vor.« Emilie biß sich auf die Lippen, schwieg aber.

»Is doch jar nich bei, wenn er ihr jefällt,« nahm Auguste wieder das Wort. »Ick habe ja ooch mein Verhältnis, freilich nich mit 'nem Schiller, sondern mit eenem von der Hochbahn.«

»Wenn nischt los wäre, hätte se bei die Witterung uff enn Werktag ihre jute Fahne nich an. Dicke tun und sich rausstaffieren, is sonst ihre Sache nich,« erläuterte Marie und stieß dabei verstohlen die Stepperin an, worauf diese prompt hinzusetzte:

»Umsonst kiekt man ooch nich alle Oojenblicke eenem n'über in die Bude.«

»Laß doch!« tönte aus der Ecke die Stimme des Mädchens, das Röcke garnierte. »Laß doch, wenn's ihr mollig tut!«

Alle lachten, worauf Lotte sagte:

»Emilie, ärjere dir nich! Wenn dir die Sehnsucht treibt, man immer rinn ins Vergnüjen.«

Da ein abermaliges Gelächter dieser Anzapfung folgte, fuhr Emilie, die sich bis dahin den Anschein völliger Gleichgültigkeit gegeben hatte, plötzlich auf und rief drohend:

»Dumme Pute! wenn das Jeschwätz nich bald enn Ende nimmt, kann eene mal 'ne Knallschote spüren, daß ihr der Deez wackelt.«

Diese entschiedene Erklärung hatte die gute Wirkung, daß sie von ihren Kolleginnen wenigstens eine Zeitlang in Frieden gelassen wurde.

Ebenso unbehaglich wie Emilie in ihrer Nähstube, fühlte sich in den letzten Tagen Holmer in seinem Heim. Der Nachbarraum, dessen Fenster gleichfalls nach dem Hofe gelegen waren, und deren undicht schließende Türe sich direkt neben seinem Schreibtische befand, diente seit kurzem einer Schauspielerfamilie, welche aus Mann, Frau und Kind bestand, als Wohnstätte. Kein Wort konnte dort gesprochen werden, ohne daß es Holmer hörte, und so sehr er sich auch dagegen sträubte, Kenntnis von fremden Angelegenheiten nehmen zu müssen, blieb ihm doch keine andere Wahl, wenn er nicht sein Zimmer verlassen wollte.

Schon am Einzugstage der Familie war er Zeuge einer Unterredung, die nicht für fremde Ohren bestimmt war.

Die Vermieterin, Frau Lampart, hatte die übliche Vorauszahlung der Miete gefordert und war von der Gattin des Schauspielers auf die Ankunft ihres Mannes vertröstet worden. »Mein Mann,« hatte die junge Frau versichert, »ist auf einer Vorstadtbühne engagiert und eben auf dem Weg zu seinem Direktor, um Vorschuß zu fordern, sobald er zurückkommt, erhalten Sie Ihr Geld.« Als aber der Mime nach einigen Stunden, ohne den erhofften Vorschuß eingetroffen war, hatte die Wirtin auf die sofortige Räumung des Zimmers gedrängt und sich erst beruhigt, als das Künstlerpaar seine Eheringe, in Ermanglung anderer Versatzobjekte, zur Sicherstellung der Miete ausgehändigt hatte.

Seitdem war eine Woche verflossen. Holmer war seinen Nachbaren mehrfach auf dem Flur begegnet, ohne jedoch, außer dem üblichen Gruße, ein Wort mit ihnen zu wechseln. Der Bühnenkünstler, ein schlanker, etwas engbrüstiger Herr, mit glattrasiertem Kinn und dunkelblondem krausen Kopfhaar, trug ein äußerst scheues Wesen zur Schau und machte schon durch die Hast, mit der er kam und ging, jede Annäherung unmöglich. Fast noch ängstlicher in ihrem Tun war seine Frau, der man an den Furchen, die ihre blendend weiße Haut durchzogen, ansah, wie schwer Sorgen und Kummer auf ihr lasteten. Nur das goldlockige Kind, ein Mädchen von sechs Jahren, das mit seinen lebhaften braunen Augen wie ein eben erwachtes Dornröschen verwundert in die Welt schaute, entzog sich nicht des Umgangs mit den Zimmernachbaren, sondern stahl sich wie ein Sonnenscheinchen in alle Räume und in alle Herzen. Es hatte auch sofort Freundschaft mit Holmer geschlossen, als dieser ihm die Wange gestreichelt und es gefragt hatte, wie es hieß.

»Mignon Ludowsky,« hatte die Kleine geantwortet und dabei artig geknixt.

»Mignon! Sapperlot! ist das ein poetischer Name.«

»So heißt auch Mamas Lieblingsoper.«

»Ah deshalb! Du kommst wohl bald in die Schule?«

»Ich weiß es nicht. Lesen kann ich schon und im Theater habe ich auch schon mitgespielt, einmal in Aschenbrödel und einmal den Walter im Tell.«

»Da werde ich dich also noch bewundern können.«

»Nein, Mama will es nicht haben; ich soll erst zur Bühne gehen, wenn ich groß bin und Talent dazu habe.«

Täglich fand sich nunmehr, unter irgend einem Vorwand, die kleine Plaudertasche bei Holmer ein und unterhielt sich in ihrer kindlichen Art oft stundenlang.

»Mama hat wieder geweint, weil Papas Direktor schlechte Geschäfte macht,« hatte sie erzählt und dann teilnehmend gefragt: »Macht ihr Direktor auch schlechte Geschäfte?«

»Ich habe keinen Direktor, Mignon,« erklärte ihr Holmer.

»Ja – wer bezahlt denn Ihre Gage?«

»Ich bekomme keine Gage.«

»Keine – der Kaufmann an der Ecke borgt aber nicht.«

»So! – Siehst du, ich schreibe und wenn ich einen Bogen vollgeschrieben habe, dann bringe ich ihn zum Verleger, und da gibt er mir Geld dafür.«

»Das muß ich Mama sagen. O, die schreibt so deutlich und macht gar keine Kleckse – sie hat auch schon Rollen geschriebene

»Wirklich?«

»Ja, und ein Bittgesuch an den Herrn Intendanten vom Königlichen Theater, das war so schön, daß Papa sagte, das könne ihr niemand in Berlin nachmachen.«

»Darfst du das alles erzählen?«

»Mama hat es nicht verboten. Haben Sie schon einmal mit Mama gesprochen?«

»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit dazu, sie hat es immer sehr eilig.«

»Mama ist Sängerin und war auch beim Theater.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Schon lange nicht mehr, wie ich auf die Welt kam, hat sie die Stimme verloren.«

»Das ist traurig.«

»Ja, sehr traurig, Mama weint oft darüber.«

»Da hast du sie nie singen gehört?«

»Doch, einmal – auf der Hochzeit.«

»Du warst auch schon auf einer Hochzeit?«

»Die ganze Nacht, wie Papa Mama geheiratet hat.«

»Dessen kannst du dich doch nicht erinnern.«

»Freilich, da war ich ja schon vier Jahre alt.«

Holmer konnte ein Lächeln über diese naive Offenheit nicht unterdrücken, versuchte aber dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, indem er die artige Schwätzerin fragte, ob sie in Berlin schon eine Freundin gefunden habe.

»Nein, ich darf nicht auf die Straße, und Verwandte habe ich auch keine hier – aber in Riga habe ich einen Großpapa und eine Stiefgroßmama, die lassen aber gar nichts von sich hören und antworten auch nicht, wenn ihnen Mama schreibt. Waren Sie schon einmal in Riga?«

»Noch nie, mein Kind.«

»Ich auch nicht. Mama wäre gerne dort, aber Großpapa will nicht, daß sie kommt, weil sie zum Theater gegangen ist. Großpapa ist gar nicht lieb, wir fürchten uns alle vor ihm. – Darf ich die Bilder in dieser Zeitung betrachten?«

»Gewiß, mein Kind, wenn es dir Vergnügen macht.«

Während die Kleine ihre Aufmerksamkeit den Illustrationen zuwandte, war die Türe im Nebenzimmer aufgegangen, und gleich darauf hörte man Ludowsky im erregten Tone zu seiner Frau sagen: »Marie, Marie, was soll das werden! Gestern Abend sind, wie mir der Kassierer sagte, an der Theaterkasse vierzehn Mark und sechzig Pfennig eingegangen. Daß bei solchen Geschäften der Direktor die Tournee nicht fortsetzen kann, ist klar. Wer weiß, ob wir nicht nach Empfang unserer Gage die Bündel schnüren müssen.«

»Das wäre fürchterlich!« stöhnte seine Frau.

»Und wohin? Die Saison neigt sich zu Ende, und kein Sommerengagement in Aussicht.«

»Warst du bei dem Agenten Fischer gewesen?«

»Gestern und heute. Er machte mir wenig Hoffnung, wenigstens für Berlin. Alles drängt hierher, meinte er, und dabei sei das Angebot zehnmal größer als die Nachfrage. Du weißt ja, Marie, was nützen die besten Kritiken, wenn der Rock schäbig ist.«

Seine Frau antwortete nur mit einem tiefen Seufzer.

»Seither konnte ich mir noch ein paar Pfennige von besser gestellten Kollegen zusammenpumpen, aber bei den unsicheren Engagementverhältnissen hält natürlich jeder die Hand auf die Tasche.«

»Und morgen ist Mignons Geburtstag.«

»Wahrhaftig, wenn das Kind nicht wäre, ich wüßte einen Ausweg – in die Spree münden so viele Kanäle.«

»Um Gotteswillen, Emil, hänge solchen Gedanken nicht nach – es werden auch wieder bessere Zeiten kommen!« rief die Frau, aber der Ton ihrer Stimme strafte ihre Hoffnung Lügen.

»Der Anfang dazu ist schon da,« gab er bitter zurück, »ich habe achtzig Pfennig in der Tasche – damit müssen wir bis übermorgen auskommen.«

Tiefe Stille folgte diesen Worten.

Mignon hatte das Blatt bei Seite gelegt und sich an Holmer, der nachsann, wie seinen bedrängten Nachbaren zu helfen sei, mit der Frage gewandt, ob er auch so schöne Bilder malen könne, wie in der Zeitung stünden.

»Nein, dazu fehlt mir die Geschicklichkeit.«

»Das glaube ich nicht – ich kann ja schon Männer malen, wenn ich nur immer einen Bleistift und Papier hätte.«

»Beides mußt du dir morgen zum Geburtstage wünschen.«

»Morgen gibt es noch nichts, erst übermorgen, wenn Papa Gage bekommt. Da kocht Mama Schokolade, von der ich Ihnen auch ein Täßchen herüberbringe.«

»Ich danke dir, Herzchen, ich trinke keine Schokolade,« antwortete freundlich Holmer und öffnete verstohlen sein Portemonnaie. »Hast du schon eine Sparbüchse?«

»Freilich, Mama hat aber alles herausgeschüttelt – all die schönen neuen Pfennige.«

»Desto besser, dann ist auch Platz drinnen – da! tue das hinein.«

»Das ist ja ein Zehnmarkstück!« rief das Kind freudig überrascht.

»Ja, dein Geburtstagsgeschenk, verliere es nicht.«

»Mein Geburtstag ist erst morgen, da darf ich es doch heute nicht nehmen.«

»Behalte es nur und gib es deiner Mama zum Aufheben.«

Mignon sah zweifelnd zu Holmer empor; als dieser ihr aber freundlich zunickte, machte sie einen Knix und sagte strahlend vor Freude: »Danke, danke! nun kann Mama schon morgen Schokolade kochen.« Darauf lief sie eilig nach ihrer Stube hinüber und zeigte jubelnd ihren Eltern das blanke Goldstück.

»Unmöglich!« rief Frau Ludowsky, »der Herr hat sich geirrt.«

»Nein, Mama,« erklärte Mignon mit Entschiedenheit, »der Herr hat sich nicht geirrt!«

»Einen solchen Betrag schenkt man keinem fremden Kinde,« meinte ihr Vater. »So gut wir es gebrauchen könnten, mußt du es doch wieder hinübertragen.«

»Aber, Papa, ich habe ja gesagt, daß es zehn Mark sind, und Herr Holmer hat gesagt, daß er mir sie zum Geburtstag schenke.«

»Marie, gehe mit dem Kinde hinüber und erkundige dich – es wäre ja des Glückes zu viel.«

Als Holmer dies hörte, griff er eilig nach seinem Hute und wollte eben seinen Überzieher anziehen, als ein leises Pochen an seiner Türe ihn von der Zwecklosigkeit seiner Flucht überzeugte, und auf sein »Herein!« Frau Ludowsky und ihr Töchterchen eintraten.

»Verzeihen Sie,« sagte die Frau des Schauspielers, »wenn ich störe, aber Mignon brachte eben dieses Goldstück und erklärte, Sie hätten es ihr geschenkt; das ist doch sicherlich ein Irrtum.«

»Keineswegs,« erwiderte Holmer und errötete dabei wie ein junges Mädchen. »Durch Zufall hatte ich erfahren, daß meine kleine Freundin morgen sechs Jahre alt wird, und da wollte ich ihr eine Freude machen, die sie redlich verdient hat.«

»Hörst du, Mama, ich darf es behalten!« triumphierte Mignon und stürmte zur Türe hinaus, um ihrem Vater zu erzählen, daß sie im Rechte sei.

Frau Ludowsky, welche dicht an Holmers Schreibtisch getreten war, sah einen Augenblick wie traumverloren vor sich hin; als sie aber im Nebenzimmer die Stimme ihrer Tochter vernahm und deutlich jedes Wort verstand, was dieselbe sprach, überflog Rührung und Beschämung ihre bleichen Züge, und ihre Augen waren nahe daran feucht zu werden.

»Jetzt verstehe ich alles,« sagte sie leise mit bebender Stimme, »wir haben Sie unbewußt zum Zeugen unserer Not gemacht. O, wie danke ich Ihnen für Ihre zarte Güte, die uns wenigstens eine momentane Sorge von der Seele genommen hat!«

Holmer wollte antworten, war aber so verlegen, als er sich bei seinen Absichten ertappt sah, daß er nur die Worte hervorbrachte: »Sie irren, ganz gewiß, Sie irren, es galt dem Kinde. Bitte, bitte.«

Frau Ludowsky aber fuhr fort: »Ich versichere Sie, mein Mann, der nur mir zuliebe zum Theater gegangen ist, gibt sich redlich Mühe, ein dauerndes Engagement zu finden, leider bis jetzt immer vergeblich. Wie gerne würde er einen anderen Beruf wählen, aber der einzige, der ihn durch seine angesehene Stellung als Pastor dazu verhelfen könnte, mein Vater, hat mich verstoßen, weil ich, bei der Unmöglichkeit mich mit meiner Stiefmutter zu verständigen, eine Künstlerlaufbahn eingeschlagen hatte; eine Laufbahn, die mir keine Lorbeeren, aber viele Dornen brachte.« Sie atmete tief auf und wäre sicher in ihren Bekenntnissen fortgefahren, wenn nicht plötzlich die Fenster der gegenüberliegenden Nähstube aufgerissen worden wären, und sämtliche dort befindliche Mädchen unter lebhaften Gestikulationen und großer Erregung nach der Küche der Frau Lampart, die gleichfalls nach dem Hofe zu lag, geschaut hätten.

Als Holmer sehen wollte, was los sei, mußte er eilig den Kopf zurückziehen, wollte er nicht von einem Kochtopf getroffen sein, der dicht an seinem Fenster vorbeiflog und klirrend im Hofe zerschellte. Unmittelbar darauf zertrümmerte ein zweites Wurfgeschoß aus dem Küchenarsenal eine Scheibe in der Nähstube und zwang die kreischenden Mädchen, sich in den Hintergrund ihres Zimmers zurückzuziehen.

Noch bevor Holmer sich diese eigentümliche Szene erklären konnte, wurde seine Türe heftig aufgestoßen und seine Wirtin, Frau Lampart, stürmte mit dem Ausdruck des Entsetzens in sein Zimmer.

»Um Gotteswillen, retten Sie mich! mein Mann will mich ermorden,« schrie sie in höchster Verzweiflung. »Herr Holmer, retten Sie mich!«

»Was ist denn geschehen?« fragte dieser, und stellte den Fuß so wider die Türe, daß sie von außen nicht geöffnet werden konnte.

»Er hat den Verstand verloren! er ist tobsüchtig!« schluchzte die geängstigte Frau. »Ich hatte ihm den Pfandschein der Kaisernadel heimlich weggenommen und sie ausgelöst, vorhin suchte er nun den Schein, um ihn zu verkaufen, und als er ihn nicht fand, geriet er so in Wut, daß ihm der Schaum vor den Mund trat, und er mich erstechen wollte. Ich flüchtete aus der Küche und schloß ihn ein, und jetzt tobt er und schreit: »Ich müsse sterben, ich hätte ihn angezeigt, daß er die Nadel gestohlen und daß er deshalb hingerichtet werden sollte. Lauter tolles, verwirrtes Zeug! O mein Gott, mein Gott! was soll ich anfangen?«

»Vor allen Dingen ruhiger sein und die Sanitätswache verständigen.«

»Ist schon von der Familie unter uns geschehen, aber bis sie kommt, kann er die Türe eingetreten und mich ermordet haben!«

Ein wildes Geschrei der Schneiderinnen veranlaßte Holmer, an das Fenster zu eilen und hinauszusehen. Lampart, der mit zerfetzten Kleidern rittlings auf der Fensterbrüstung saß, machte verzweiflungsvolle Versuche auf das äußere Gesims zu klettern, von wo er unfehlbar in die Tiefe stürzen mußte. Durch die gellenden Zurufe der Mädchen stutzig gemacht, gab er sein Vorhaben jedoch wieder auf und begnügte sich, beide Beine zum Fenster hinauszuhängen und drohende Verwünschungen auszustoßen. Es war die höchste Zeit, ihn aus dieser gefahrvollen Lage zu befreien. Während Holmer noch unschlüssig dastand und nachsann, was zu tun sei, öffnete sich heftig die Türe, und sein Zimmernachbar, der Schauspieler Ludowsky, erschien auf der Schwelle und rief:

»Bitte, mein Herr, helfen Sie mir den Unglücklichen retten, ehe es zu spät ist. Wir müssen ihn auf den Flur locken, und sobald er die Küche verläßt, das große nasse Leintuch, das ich hier habe, überwerfen und auf diese Weise bewältigen.«

»Er wird sich nicht locken lassen,« meinte Holmer.

»Wenn er die Stimme seiner Frau hört, gewiß,« entgegnete der Schauspieler.

»Ermorden wird er mich!« jammerte die alte Dame.

»Er soll Sie gar nicht sehen, nur hören. Folgt er Ihrem Ruf, eilen Sie mit meiner Frau auf unsere Stube und riegeln sich ein. Es ist nicht die geringste Gefahr für Sie dabei.«

Durch diese Zusicherung etwas beruhigt, folgte Frau Lampart dem Schauspieler nach dem Korridor, wo dieser nähere Weisungen gab. Dann stellte er und Holmer sich rechts und links der Küchentüre auf und hielten das nasse, halb ausgebreitete Leintuch so hoch, als sie es vermochten, empor. Hierauf schloß die zitternde Frau die Türe geräuschlos auf und rief durch die Spalte in die Küche: »Wilhelm, Wilhelm! der Schein hat sich gefunden.«

Der Verrückte wandte den Kopf etwas nach rückwärts, fletschte die Zähne und horchte auf. Als aber Frau Lampert, bevor sie sich nach Ludowskys Zimmer flüchtete, ihm nochmals lauter zurief: »Wilhelm, der Schein hat sich gefunden!« zog er plötzlich die Beine zurück, kollerte auf den Boden, sprang wieder in die Höhe, ergriff ein Messer und brüllte: »Aas, verdammtes! Du hast mich dem Henker überliefert, du mußt sterben.« Wie eine gereizte Bestie, das Messer hochschwingend, stürzte er auf die Türe zu, riß sie auf und wollte in wahnsinniger Wut nach dem Flur stürmen, als das nasse Leintuch über ihn fiel. Heulend und um sich schlagend, versuchte er, die kalte Umhüllung abzustreifen, verstrickte sich aber nur desto mehr in sie, so daß es seinen Angreifern gelang, ihn zu Boden zu werfen und wehrlos zu machen. Gleich darauf erschien die Sanitätswache und Schutzmannschaft, und einige Minuten später befand sich der Rasende auf dem Wege nach der Charité.

Obgleich der ganze Vorfall, von dem Ausbruch des Deliriums bis zum Fortschaffen des Kranken, noch keine fünfzehn Minuten gedauert hatte, fühlten sich doch die Zeugen desselben völlig erschöpft. Frau Lampart hatte sich, krampfhaft schluchzend, nach dem Salon zurückgezogen und die Türe hinter sich abgeschlossen, während Frau Ludowsky, noch selbst vor Aufregung zitternd, sich bemühte, ihr geängstigtes Kind zu beruhigen, was um so notwendiger war, als die Kleine weinend nach ihrem Vater verlangte, der aber zur Vorstellung nach dem Theater mußte. Holmer sah sich außer stande, eine Zeile zu schreiben, so sehr hatte die widerliche Szene seine Gemütsstimmung verschlechtert. Mit großen Schritten durchmaß er sein Zimmer, und die Ueberzeugung, daß er sich in der Wahl seines Heims vergriffen, kam bei ihm mehr und mehr zum Durchbruch. Er hatte, mit den Berliner Wohnungsverhältnissen nicht vertraut, diese Stube vor etlichen Wochen ermietet. Damals durchflutete Sonnenschein den Raum, und da es draußen bitter kalt war, herrschte tiefe Stille in dem weiten Hof. Er glaubte deshalb, eine ruhige Arbeitsstätte im Herzen der gewaltigen Stadt gefunden zu haben. Bald aber nahm er wahr, wie sehr er sich getäuscht hatte. Das allabendliche Konzert im Salon nebenan zwang ihn häufig, vorzeitig sein Tagewerk zu beenden; auch die Arbeitsstube ihm gegenüber, deren Fenster voraussichtlich während des Sommers offenstanden, und die Kinderscharen, die bei gutem Wetter im Hofe lärmten, machten sein Heim für einen Schriftsteller nicht gerade begehrenswert. Dazu war noch die lebhafte Nachbarschaft neben seinem Zimmer gekommen und der nervenerschütternde Auftritt vorhin; lauter Dinge, die seinen Entschluß befestigten, das Quartier zu räumen. Er überlegte nur noch, ob er schon jetzt, wo sich seine Wirtin in einer so kritischen Lage befand, oder erst später, wenn sich ihre Verhältnisse geklärt, kündigen sollte. Da es allmählich dämmerig geworden, hüllte er sich in seinen Ueberzieher, ergriff seinen Hut und suchte die Straßenkreuzung auf, wo er in der Regel Emilie begegnete.

Er hatte nicht nötig lange zu warten, denn das Mädchen bog alsbald um die Ecke und bot ihm freundlich die Hand.

»Juten Abend, Herr Holmer, es ist mir sehr anjenehm, daß Sie schon da sind.«

»Sie haben wohl große Eile?«

»Das nich – für Sie jewiß nich – aber wenn ich hier rumstehe und die Meechens aus unserer Bude sehen mir, is der Spektakel morjen wieder da.«

»Stört Sie das?«

»Nee, aber anjenehm is es nich. Ich will wenigstens meine Mahlzeit im Jeschäft mit Jemütsruhe verzehren und nich bei jeden Bissen uffjezogen sin,« erwiderte Emilie und legte ihren linken Arm in den rechten Holmers. »Sie jlooben nich, wie unjemütlich es eben bei uns is – sie mokieren sich über allens, was ich tue.«

»Lassen Sie sie schwatzen, wenn sie müde sind, hören sie von selber auf.«

»Tu ich, aber wenn mal später die Fenster den janzen Tag uff sind, haben Se ooch das Pläsiervergnüjen, un die Horchlappen können Se sich nich zukleistern.«

Holmer mußte laut auflachen über die drastische Art, in der Emilie, sobald sie in Extase geriet, sich auszudrücken pflegte; zumal sie sich sonst redliche Mühe gab, alle Eigenarten ihrer Mundart zu unterdrücken.

»Machen Sie sich über die Zukunft keine Sorgen, bis dahin wohne ich nicht mehr dort,« sagte er dann.

Höchlich erschrocken zog das Mädchen ihren Arm zurück und rief: »Was! Sie wollen fort von Berlin?«

»Nein, nur meine Wohnung will ich wechseln,« tröstete sie Holmer und setzte, indem er ihre Hand zärtlich streichelte, innig hinzu: »Berlin ist mir in den letzten Tagen erst eigentlich lieb geworden, aber ich muß in ruhigerer Lage wohnen, wo ich mich mehr in meine Entwürfe vertiefen kann.«

»Wer weeß, wann ich Sie da mal zu sehen krieje.«

»So oft Sie es wünschen, bei den Verkehrsmitteln hier gibt es keine Entfernung. Auch haben Sie dann nicht mehr die Hänseleien Ihrer Freundinnen zu fürchten.«

»Hm!« meinte sie nach einer Pause. »Im Jrunde jenommen haben Se woll recht – aber es war so mollig, Sie in der Nähe zu wissen.«

Holmer fühlte sich durch die Billigung seiner Absichten erleichtert, und als er Emilie in der Nähe ihrer Wohnung verließ, um sich nach Hause zu begeben, waren die unbehaglichen Eindrücke des Tages völlig aus seiner Seele entschwunden.

Am nächsten Morgen suchte Frau Lampert die Irrenanstalt in Dalldorf auf, wohin man ihren Mann vom Krankenhause gebracht hatte, um sich nach dessen Befinden zu erkundigen. Die Auskunft, die ihr dort wurde, war wenig tröstlich. Man erklärte ihr, daß es sich bei ihrem Gatten um delirium tremens handele und außerdem Anzeichen einer weit fortgeschrittenen Lungenkrankheit vorhanden seien. Ihn zu sehen, wurde ihr nicht gestattet, da Geisteskranke nach ihrer Einlieferung erst durch völlige Abgeschlossenheit von der Außenwelt beruhigt werden müßten. Der Auskunft erteilende Arzt hatte noch hinzugefügt, daß der Seelenzustand eines solchen Patienten einem Glase schmutzigen Wassers vergleichbar sei, welches sich erst klären müsse, bevor sich die Ursache der Trübung genau feststellen lasse.

Mit diesem Bescheide war Frau Lampert, äußerst niedergeschlagen, nach Hause gekommen und hatte Holmer aufgesucht, um ihm das Resultat ihres Besuches mitzuteilen.

»Ich bin auf das Schlimmste gefaßt,« schloß sie ihren Bericht. »Sollte er sich wirklich wieder erholen, so fürchte ich, daß es trotzdem der Anfang vom Ende ist.«

Holmer wollte sie mit dem Hinweis auf ihm bekannte Heilungen trösten, sie aber schüttelte mit dem Kopfe und meinte:

»Eine Umkehr zu einer geordneten Lebensweise ist bei meinem Manne ausgeschlossen. Mein Trost ist, daß ich mich entschieden gegen mein Schicksal gewehrt und mich rechtzeitig auf eigene Füße gestellt habe – nur Arbeit wird mich mein Los vergessen lassen.«

Daß die alte Frau von dieser Erkenntnis durchdrungen war, bewies sofort ihre fast fieberhafte Tätigkeit im Hauswesen. Sie lüftete die Zimmer, klopfte die Betten aus, scheuerte den Boden und schien keinen Augenblick rasten zu wollen.

Holmer, der von seinem Verleger gedrängt wurde, noch einen Artikel zu einer Novellenserie beizusteuern, empfand diese Unruhe im Hause mit großem Unbehagen. Um möglichst ungestört arbeiten zu können, hatte er seine kleine Freundin Mignon bei ihrem frühen Morgenbesuche veranlaßt, ihre Mutter zu bitten, mit ihr nach dem Lustgarten zu gehen, wo eine Truppenschau stattfand. Obgleich nun in dem Nachbarzimmer tiefe Stille herrschte, mußte er doch alle Augenblicke die Feder bei Seite legen, weil jetzt der Lärm aus dem Korridor ihm immer und immer wieder den Gedankenfaden zerriß, Endlich um die Mittagsstunde schien der Rumor zu verstummen, und Holmer beschloß deshalb, seine Mahlzeit nicht wie gewöhnlich um ein Uhr im Restaurant einzunehmen, sondern auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, um sein Opus beenden zu können. Die Arbeit ging ihm auch flott von der Hand, doch hatte er noch keine zwanzig Zeilen auf das Papier gebracht, als sein Nachbar nebenan, der Schauspieler, das Zimmer betrat und dröhnenden Schrittes darin auf- und abging.

Holmer wollte sich eben erheben und den Unruhigen über die Abwesenheit seiner Familie aufklären, als er Frau Ludowsky und Mignon eintreten und das Kind freudig rufen hörte: »Papa, wir haben den Kaiser gesehen! wenn Herr Holmer aus dem Restaurant zurückkommt, muß ich es ihm auch erzählen.«

Der Schauspieler schien nicht darauf zu antworten, denn seine Frau bemerkte gekränkt: »Hast du kein freundliches Wort für das Kind?«

Jetzt blieb er stehen und rief in einem Tone, der wie ein unterdrücktes Schluchzen klang:

»Was helfen ihm freundliche Worte, wenn es Brot verlangt, kann ich keines schaffen! Wir sind am Ende, Marie, das Theater ist gesperrt, der Direktor flüchtig.«

»Und die Gage morgen?«

»Es gibt keine Gage.«

»Aber die Miete und das Leben!« jammerte die Frau.

»Ich sage dir ja, wir sind am Ende! Als ich das Furchtbare erfuhr, rannte ich in meiner Verzweiflung zuerst zu dem Agenten Fischer – er hat jetzt ein Engagement für mich an einem großen Stadttheater in Süddeutschland.«

»Gott sei Dank!«

»Ja, Gott sei Dank! für kleine Rollen und Chorverpflichtung.«

»Greife zu, Moritz, was es auch ist – ich kann ja gleichfalls mitverdienen.«

»Chorverpflichtung,« fuhr Ludowsky bitter fort, »das bedeutet für einen Schauspieler, der Rollen gespielt hat, eine Verzichtleistung auf bessere Tage. Trotzdem hätte ich in den saueren Apfel gebissen – aber das Schicksal äfft mich nur – übermorgen müßte ich dort zum Probesingen eintreffen.«

»Nun?«

»Wie soll ich hinkommen ohne einen Pfennig Reisegeld? Vorschuß vor Antritt des Engagements gibt es nicht, und dann, wovon lebt ihr, bis ich von meiner Gage etwas schicken kann.«

Eine lange Pause folgte diesen Worten, endlich sagte Frau Ludowsky:

»Nirgends fühlt sich der Mensch an einem fremden Orte verlassener als in dem Getümmel einer großen Stadt, das empfinde ich jetzt doppelt, wo sich mein Gehirn Hülfe suchend abquält. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit nur noch eines Amtsbruders meines Vaters, der nach Berlin als Seelsorger berufen wurde; ob er aber noch lebt und hier lebt, das weiß ich ebensowenig, als ob er uns helfen kann und will.«

Wie ein Ertrinkender, der sich an einen Strohhalm klammert, erfaßte ihr Mann die entfernte Möglichkeit einer Rettung und rief: »Dann ist noch nicht alles verloren! Die Adresse sollst du gleich erfahren, nenne mir nur den Namen.«

Frau Ludowsky tat, wie ihr geheißen, worauf ihr Mann forteilte und schon nach wenigen Minuten mit der freudigen Nachricht zurückkam, daß er die Wohnung des Pastors im Adreßbuche gefunden habe.

»Gut,« sagte mit bebender Stimme die gebeugte Frau, »so will ich diesen sauren Gang auch noch tun. Ohne Vorwürfe und Ermahnungen wird mich der fromme Herr nicht anhören, und wer weiß, ob meine Demütigung einen Zweck hat.«

Frau Ludowsky ging, und ihr Mann und das Kind begleiteten sie.

Holmer war nun ungestört, aber die Freudigkeit, mit der er vorhin gearbeitet hatte, war geschwunden. Das widrige Schicksal seiner Nachbaren ging ihm zu Herzen, besonders des Kindes wegen, aber er wußte nicht, wie er hier helfen sollte, ohne weit über seine Mittel gehen zu müssen. Mißmutig legte er die Feder bei Seite und suchte sein Restaurant auf, aber auch nach beendeter Mahlzeit fühlte er sich nicht zu neuer Tätigkeit aufgelegt und beschloß deshalb, einen kleinen Ausflug nach den Havelseen zu machen. Erst in später Abendstunde kehrte er von dort zurück und suchte, da er sich ermüdet fühlte, zeitig seine Lagerstätte auf, wo ihn bald ein traumloser Schlaf umfing. Gegen Morgen weckte ihn ein Geräusch in dem Zimmer des Schauspielers, er hörte ein leises Flüstern, ohne die Worte verstehen zu können; dann war's ihm, als wenn die Türe geöffnet würde und sich Schritte über den Korridor bewegten. Bald darauf verfiel er wieder in tiefen Schlaf, und als er erwachte, schien die Sonne in sein Zimmer, und ein Blick auf die Uhr überzeugte ihn, daß es höchste Zeit zum Aufstehen war.

Rasch erhob er sich, kleidete sich an und rief nach seinem Frühstück, das ihm seine Wirtin sofort brachte.

»Sie sind fort,« sagte nach dem üblichen Morgengruße Frau Lampert und warf einen Blick auf die Türe neben dem Schreibtische.

»Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.«

»Nun, von ihren Nachbaren, der Schauspielerfamilie. Mein Gott, ist das auch eine Ehe!«

»Sie sind fort – abgereist?« frug überrascht Holmer und setzte seine Tasse, aus der er eben trinken wollte, wieder nieder.

»Ja, abgereist; das Geld, das ihnen ein Pfarrer geborgt hatte, reichte gerade für die Fahrt. Mit meiner Miete muß ich nun warten, bis sie ihre Trauringe auslösen, aber ich konnte nicht hart sein, nachdem sie mir bei der Erkrankung meines Mannes hülfreich beigesprungen waren.«

»Hoffentlich geht es ihnen an ihrem neuen Wohnsitze besser als hier.«

»Das ist auch mein Wunsch. Ihr Lamento gestern Abend rührte mich. Die Kleine wollte partout nicht zu Bette gehen, ohne Ihnen Lebewohl gesagt zu haben. Um sechs Uhr heute früh sind sie abgereist.«

»Arme Leute!«

»Jeder hat seinen Bündel Sorgen durchs Leben zu tragen. Jetzt steht mir die Stube wieder leer – wer weiß auf wie lange? Ja, wenn ich zwei nebeneinanderliegende Zimmer hätte, könnte ich sie gut vermieten.«

»Auf sofort?«

»In zehn Tagen, Es sind zwei Damen vom Zirkus, die früher schon einmal bei mir gewohnt haben.«

»Nun,« meinte Holmer, dem die Gelegenheit zu einer Kündigung günstig erschien, »wenn es solange Zeit hat, kann ich Ihnen vielleicht behülflich sein.«

»Sie werden mich doch nicht verlassen wollen? Sie sind mir ja mein angenehmster Möblierter.«

»Sehr schmeichelhaft für mich, aber welche Garantieen haben Sie, daß ich nicht morgen oder übermorgen mein Domizil ändern muß? Die Damen wohnen sicherlich während der ganzen Dauer ihres Engagements bei Ihnen und werden gewiß auch weit höhere Preise als ich bezahlen.«

»Das schon, aber das Opfer, welches Sie mir bringen wollen, kann ich kaum annehmen,« bemerkte Frau Lampert, ließ aber doch durch die zögernde Art,. mit der sie es sagte, die Vermutung zu, daß ihr der Vorschlag nicht unangenehm war. »Ich darf bei der hohen Wohnungsmiete kein Zimmer leerstehen lassen, das ist richtig; daß aber gerade Sie mich verlassen wollen, schmerzt mich doch.«

Es war Holmer ein leichtes, mit wenigen Worten Frau Lampert umzustimmen und ihre dankbare Anerkennung für seine Liebenswürdigkeit, wie sie seine Kündigung nannte, abzuwehren. Beim Verlassen des Zimmers blieb sie noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen und sagte:

»Eines, Herr Holmer, müssen Sie mir versprechen, daß Sie Ihre alte Wirtin nicht vergessen und sie ab und zu besuchen.«

»Daran soll es nicht fehlen!« rief er ihr nach, »wir scheiden ja in Frieden und Freundschaft und haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen.«

Als Holmer allein war, zündete er sich eine Cigarette an, summte ein Liedchen vor sich hin und beugte sich dann, wie von einer drückenden Sorge befreit, frohgemut über seine Arbeit, die ihm heute wie eine Erholung vorkam. Schon nach wenigen Stunden hatte er sie beendet, und als er sein Manuskript nochmals flüchtig durchlas, umspielte ein zufriedenes Lächeln seine Lippen.


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