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Als Carlsson am Sonntag beim Hahnenschrei erwachte, waren alle Betten leer, und die Mägde standen am Feuerherd, während die Sonne mit blendendem Glanz in die Stube schien.
Carlsson fuhr schnell in die Kleider und ging auf den Hof hinaus, um sich zu waschen, hier saß der junge Norman bereits auf einer Heringstonne und ließ sich von dem vielseitigen Rundquist, der ein reines Vorhemd angelegt hatte, die Haare schneiden. Auch die besten Stiefel hatte der Alte angezogen. Vermittels eines eisernen Kochtopfes, dem die Füße fehlten und der ihm als Waschschale angewiesen war, sowie eines Kleckses grüner Seife konnte Carlsson jetzt seine sonntägliche Reinigung vornehmen.
Am Stubenfenster sah man Gustavs sommersprossiges Gesicht, das eingeseift und einer Spiegelscheibe zugewendet war, die unter dem Namen der ›Sonntagsgucker‹ eine Rolle im Hause spielte. Mit den furchtbarsten Grimassen fuhr er hin und her, während das Rasiermesser in der Sonne funkelte.
»Geht ihr heute zur Kirche?« fragte Carlsson als Morgengruß.
»Nein, wir kommen nicht allzuoft ins Gotteshaus,« antwortete Rundquist; »wir haben zwei Meilen hinzurudern und zwei zurück, und man soll den Feiertag nicht durch unnütze Arbeit entheiligen.«
Lotte kam jetzt heraus, um die Kartoffeln zu waschen, während Klara in das Vorratshaus ging, um gesalzene Fische aus dem Winterfaß, dem sogenannten ›Familiengrab‹, zu holen; in dies Faß wurden nämlich alle kleinen Fische geworfen, die in den Netzen oder dem Hütfaß tot geblieben waren und nicht aufbewahrt werden konnten; sie wurden bunt durcheinander, ohne Auswahl, eingesalzen und für den täglichen Tisch verbraucht. Dort lagen blasse Bleien neben Schollen, Steinbutten, Barschen, Hechten, Schleien, Aalquappen, Lachsen, und alle hatten sie den einen oder den andern Verkaufsfehler: eine zerrissene Kieme, ein verletztes Auge, einen Stich mit der Aalgabel im Rücken, ein Loch im Magen usw.
Klara nahm ein paar Hände voll aus dem Faß, wusch den größten Teil des Salzes davon ab, und dann wanderte die ganze Gesellschaft in den Kessel.
Während das Frühstück bereitet wurde, kleidete Carlsson sich an und betrachtete dann die Gegend genauer.
Das Haus, das eigentlich aus zwei zusammengesetzten Gebäuden bestand, lag auf einer Anhöhe an dem südlichen oder inneren Ende eines langen, ziemlich seichten Einschnitts der Bucht; man sah nichts von dem Meer und konnte daher glauben, daß man sich an einem kleinen Binnensee im Lande befinde. Der Höhenrücken fiel nach dem Tal zu in Weiden, Wiesen und von Laubwäldern, Birken, Ellern und Eichen umrahmten Grasplätzen ab. Die nördliche Seite der Bucht war gegen die kalten Winde durch einen mit Tannen bewachsenen Höhenzug geschützt, und der südliche Teil der Insel bestand aus kleinen Fichtengruppen, Birkengestrüpp, Mooren und Sümpfen, zwischen denen hier und da ein Stückchen Acker bestellt war.
Auf dem Hügel stand außer dem Wohnhaus der Vorratsschuppen, und in geringer Entfernung davon lag das Hauptgebäude, ein ziemlich großes, rotangestrichenes Holzhaus mit Ziegeldach, das der alte Flod als Altenteil für sich selber hatte aufführen lassen und das nun unbewohnt dastand, weil die Witwe nicht allein dort leben wollte und auch der Ansicht war, daß zu viele Feuerstätten unnötig an dem Walde zehrten. Ein wenig weiterhin, nach der Koppel zu, lagen der Kuhstall und die Scheune; zwischen einer Gruppe von hohen Eichen hatten die Brauerei und der Keller ihren schattigen Platz, und ganz im Hintergrund, nach Süden zu, erhob sich das Dach einer verfallenen Scheune.
Unten, am Ufer der Bucht, standen die Schuppen zur Aufbewahrung der Boots- und Fischereigerätschaften, ganz in der Nähe der Landungsbrücke, die gleichzeitig den Bootshafen bildete.
Ohne die Schönheiten der Landschaft zu bewundern, fühlte sich Carlsson doch von dem Ganzen angenehm berührt. Die fischreiche Bucht, die flachen Wiesen, die sanft abfallenden Acker, die vor dem Wind geschützt lagen, der dichte Wald und die prächtigen Baumgruppen, die hier und da emporragten, alles das versprach eine gute Einnahme, sobald nur eine energische Hand die Vorteile zu verwerten und den Schatz zu heben wußte.
Nachdem er über mancherlei hin und her gedacht hatte, wurde er aus seinen Gedanken aufgeschreckt durch ein gellendes »Hallo!«, das, aus einer der oberen Luken des Hauses kommend, über Bucht und Land hintönte und sofort aus der Scheune, aus der Koppel und von der Schmiede her in derselben Tonart beantwortet wurde.
Es war Klara, die zum Frühstück rief, und nach wenig Augenblicken saßen die vier Männer um den Küchentisch, auf dem frischgekochte Kartoffeln standen, gesalzener Fisch, Butter, Schwarzbrot und Branntwein – letzterer aus Anlaß des Sonntags. Die Alte ging umher und forderte zum Essen auf, hin und wieder warf sie einen Blick auf den Feuerherd, wo das Fressen für die Hühner und Schweine kochte.
Carlsson hatte an dem oberen Ende des Tisches Platz genommen, Norman an dem unteren, Gustav hatte die eine Langseite gewählt und Rundquist die andere, so daß man nicht recht wissen konnte, wer eigentlich den Ehrenplatz einnahm,– sie machten den Eindruck von vier gleichgestellten Mitgliedern einer Kommission. Carlsson führte freilich das Wort und betonte seine Aussprüche, indem er von Zeit zu Zeit mit der Gabel auf den Tisch schlug. Er sprach von Ackerwirtschaft und Viehzucht; Gustav antwortete ihm jedoch nicht, sondern redete über Jagd und Fischerei, wobei ihn Norman unterstützte, während Rundquist als unparteiischer Geist des Zwiespalts dasaß; sobald es aussah, als wolle man Frieden schließen, war er gleich da, blies ins Feuer, wenn dies im Begriff war zu erlöschen, stichelte nach rechts und links und zeigte der Gesellschaft, daß sie alle miteinander gleich dumm und unwissend wären und daß er allein Verstand besäße.
Gustav antwortete Carlsson niemals direkt, sondern wendete sich immer an einen seiner Nachbarn, und Carlsson sah bald ein, daß er von dieser Seite keine Freundschaft zu erwarten habe.
Norman, als der Jüngste, überzeugte sich erst vorsichtig, ob er an dem Hausherrn einen Rückhalt habe, es war doch das sicherste, sich ihn zum Freund zu halten.
»Ja, Ferkel aufziehen, wenn man keine Milch im Keller hat, das ist nichts wert,« dozierte Carlsson, »und Milch kann man nur haben, wenn man im Frühling Klee zwischen die Saaten sät. Denn die Hauptsache bei der Landwirtschaft beruht auf der Zirkulation, es muß alles zirkulieren, eins nach dem andern.«
»Ja, das ist mit der Fischerei auch nicht anders,« sagte Gustav zu seinem Nachbar,– »denn siehst du, man kann keine Heringsnetze auswerfen, ehe die Flundernzeit vorbei ist, und Flundern bekommt man nicht, ehe es mit den Hechten aus ist. Eins greift in das andere, und wo das eine aufhört, da fängt das andre an. Ists nicht so, Norman?«
Norman gab seine Zustimmung auf das bereitwilligste zu erkennen und wiederholte der Sicherheit halber den Refrain, als er bemerkte, daß Carlsson sich anschickte, wieder loszulegen.
»Ja, so ists, das eine fängt an, wo das andere aufhört.«
Und während Carlsson, einen Fischschwanz zwischen den Zähnen haltend, bemüht war, mit gewaltigen Armbewegungen die Unterhaltung wieder auf seine Seite hinüberzuziehen, machte Rundquist in aller Ruhe einen Witz nach dem andern, bis Carlsson schließlich nicht mehr umhin konnte und in das Gelächter der übrigen einstimmen mußte. So vom Glück begünstigt, fuhr Rundquist noch eine Weile in seinen Bemühungen fort, bis schließlich niemand mehr auf ein ernstes Wort achtete.
Als das Frühstück beendet war, kam die Alte herein und bat Gustav und Carlsson, mit ihr auf den Wirtschaftshof zu kommen, um sich über die Verteilung der Arbeit zu beraten und zu erwägen, was getan werden könne, um den Hof wieder in die Höhe zu bringen; später wollte man sich im Hause versammeln, um eine Predigt zu lesen.
Rundquist legte sich auf die Bank beim Herd und zündete sich eine Pfeife an, Norman aber holte seine Handharmonika und setzte sich in den Ausbau, während die andern sich auf den Wirtschaftshof begaben. Hier sah Carlsson mit einer gewissen Befriedigung, daß der Zustand, in dem sich alles befand, seine Erwartungen bei weitem übertraf. Zwölf Kühe lagen auf den Knien und kauten Moos und Stroh; das regelrechte Futter war längst aufgezehrt. Jeglicher Versuch, sie aufzurichten, war vergebens, und nachdem Gustav und er sich bemüht hatten, sie vermittels eines unter den Bauch geschobenen Brettes auf die Beine zu bringen, überließ man sie einstweilen ihrem Schicksal.
Carlsson schüttelte bedenklich den Kopf, wie ein Arzt, der ein Sterbebett verläßt, behielt sich jedoch einstweilen seinen guten Rat sowie seine Vorschläge zur Verbesserung der Dinge vor.
Mit den Lastpferden war es fast noch schlimmer, denn diese hatten kürzlich die Frühlingsbestellung vollendet; die Schafe hatten nichts zu fressen als Rinde, nachdem sie längst die Blätter an den Reisigbündeln abgenagt hatten. Die Schweine waren so schlank wie Jagdhunde; die Hühner liefen wie wild umher, und die Düngerhaufen lagen beliebig zerstreut, während das Wasser nach Gefallen in kleinen Strömen abfließen konnte.
Nachdem alles besehen und in bejammernswertem Zustande befunden war, erklärte Carlsson, daß hier nichts weiter zu tun sei, als das Messer zu gebrauchen.
»Sechs Kühe, die Milch geben, sind besser als zwölf, die hungern!« Und dann untersuchte er die Euter und die Milchzeichen und bezeichnete mit großer Sicherheit die sechs, die fett gemacht und an die Schlachter verkauft werden sollten.
Gustav erhob Einspruch, Carlsson bestand aber darauf, daß sie sterben sollten. Sie sollten sterben, so wahr er lebte!
Und dann sollte eine andere Ordnung in die Sache kommen. Vor allen Dingen aber müsse gutes, trockenes Heu gekauft werden, ehe das Vieh losgelassen und in den Wald getrieben würde.
Als Gustav hörte, daß die Rede vom Heukaufen war, machte er die lebhaftesten Einwendungen, Geld für etwas auszugeben, das man selber erzeugen könne; die Alte aber schloß ihm den Mund mit der Erklärung, daß er von diesen Dingen nichts verstehe.
Und nach allerlei weniger wichtigen vorbereitenden Beschlüssen verließ man den Wirtschaftshof und wanderte aufs Feld hinaus. Hier lagen weite Strecken brach.
»Du großer Gott!« rief Carlsson bedauernd aus, als er eine so veraltete Behandlung eines so guten Bodens erblickte. »Herr des Himmels! Das ist doch geradezu kindlich! Kein Mensch in der ganzen Welt läßt die Felder mehr brachliegen, man benutzt sie eben zu Kleefeldern. Wenn man jedes Jahr ernten kann, weshalb es dann anders machen?«
Gustav meinte, daß man der Erde, wenn man jahraus, jahrein säen wollte, zu viel Kraft entzöge; die Erde bedürfe ebensogut der Ruhe wie der Mensch. Carlsson widerlegte diese Ansicht jedoch mit einer richtigen, wenngleich ein wenig unklaren Auseinandersetzung, wie der Klee den Boden dünge, statt ihn auszusaugen, während er gleichzeitig den Acker frei von Unkraut halte.
»Hat man je so was gehört? Klee, der düngt! So ein Blödsinn!« meinte Gustav, der Carlssons kurze Erklärung, daß die Grasgewächse ihre Hauptnahrung aus der Luft zögen, nicht verstehen konnte.
Dann wurden die Gräben untersucht und voller Grundwasser gefunden; sie waren zugewachsen und hatten schlechten Ablauf. Die Saat stand auf vereinzelten Stellen, als habe man eine Handvoll Saatkorn hierhin, eine andre dorthin geworfen, und dazwischen wuchs das üppigste Unkraut. Die Wiesen waren nicht bestellt; vorjähriges Laub bedeckte und erstickte das Gras gleich einem zusammengefilzten Kuchen. Die Zäune waren zerbrochen; die Brücken fehlten stellenweise gänzlich – kurz, alles war in einem so verkommenen Zustande, wie die Mutter es Gustav am vorhergehenden Abend geschildert hatte. Gustav hörte jedoch nicht auf Carlssons tiefsinnige Untersuchungen, er wies sie von sich wie etwas Unangenehmes, das man aus der Vorzeit an das Licht des Tages zog; er fürchtete sich vor der vielen Arbeit, die ihm in Aussicht gestellt wurde, und noch mehr vor den Ausgaben, die der Alten erwachsen würden.
Als sie später nach der Kälberkoppel abbogen, blieb Gustav ein wenig zurück, und als die andern in den Wald kamen, war er verschwunden. Anfangs rief ihm die Alte noch einige »Hallo!« nach, aber sie erhielt keine Antwort.
»Ja, dann muß er gehen,« meinte die Frau; »so ist es nun einmal mit Gustav, er ist immer so schlaff und träge, wenn er nicht mit der Flinte auf die See kommen kann. Aber daran muß Er sich nicht kehren, Carlsson, denn er meint es nicht böse. Es ist die ganz natürliche Folge seiner Erziehung. Sein Vater wollte etwas Besseres aus ihm machen, er wollte nicht, daß er als Knecht dienen sollte, er ließ ihn tun, was ihm gefiel. Als er zwölf Jahre alt war, bekam er sein eigenes Boot und seine Flinte, und seit der Zeit ist er nicht zu halten gewesen. Aber jetzt geht es mit der Fischerei zurück, deshalb habe ich an den Grund und Boden denken müssen, der doch schließlich sicherer ist als die See. Und es wäre auch alles gegangen, wenn Gustav es nur verstanden hätte, mit den Leuten umzugehen; aber er muß sich nun immer mit den Knechten gemein machen, und da kommt die Arbeit natürlich nicht von der Stelle.«
»Nein, es taugt nichts, daß man die Leute verwöhnt,« fiel ihr Carlsson in die Rede; »und das wollte ich Euch sagen, Mutter, und zwar hier unter vier Augen, daß, wenn ich hier gleichsam die Stellung eines Verwalters einnehmen soll, ich im Zimmer essen und allein in der Kammer schlafen muß, sonst verschaffe ich mir keinen Respekt und kann mit den Leuten nicht auskommen.«
»Ja, Carlsson, sieh Er, was das Essen in der Stube betrifft,« antwortete die Alte bedenklich, während sie über den Erdwall schritt, »so läßt sich das nicht einrichten. Die Leute sind heutzutage nun einmal so, daß sie es nicht leiden, wenn man anderswo ißt als in der Küche zusammen mit ihnen; das wagte selbst Flod in der letzten Zeit nicht einmal, und auch Gustav hat es nie getan. Wollte man das tun, so würden sie aufsässig und hätten alle Augenblick etwas am Essen zu bemäkeln. Nein, daraus kann nichts werden. Daß Er aber oben auf der Kammer schläft, das ist was andres, und das läßt sich schon einrichten; übrigens sind die Leute wohl auch der Meinung, daß ihrer genug in der Küche sind, und Norman, denk ich, schläft lieber allein in seiner Bettstatt als mit einem andern zusammen.«
Carlsson hielt es für das richtigste, sich mit dem, was er erreicht hatte, zu begnügen, und so ließ er es vorläufig dabei bewenden.
Sie kamen nun in den Tannenwald, wo der Schnee noch stellenweise, beschmutzt mit Staub und herabgefallenen Tannennadeln, zwischen dem Geröll lag. In der glühend heißen Aprilsonne schwitzten die Tannen schon Harz aus, und an ihrem Fuße blühten weiße Anemonen, während unter den Haselbüschen ihre blauen Namensschwestern unter dem porösen Adernetz des dürren Laubes hervorguckten. Eine warme Feuchtigkeit entstieg dem moosbedeckten Boden; zwischen den Baumstämmen hindurch sah man das glänzende Spinnengewebe über der Hecke zittern, und weiterhin blaute die Bucht unter einer leichten Brise. Das Eichhörnchen nagte oben zwischen den Tannenzweigen, und der Specht hämmerte und schrie.
Die Alte trippelte auf dem festgetretenen Wege voran, über Tannenabfall und Wurzeln; und als Carlsson, der hinter ihr ging, sah, wie die Schuhsohlen sich unter ihren elastischen Schritten bogen und unter den Falten des Kleides verschwanden, fand er, daß sie ihm heute weit jünger erschien als gestern. Er fühlte sich veranlaßt, seiner Frühlingsstimmung Luft zu machen:
»Ihr könnt aber noch tüchtig marschieren, Mutter!«
»Ach, wo will Er hin? Man sollte glauben, Er wolle sich über eine alte Frau lustig machen.«
»Nein, ich meine stets, was ich sage,« versicherte Carlsson; »und wenn ich mit Euch Schritt halten soll, Mutter, so fange ich an zu schwitzen!«
»Wir wollen lieber nicht weitergehen,« erwiderte die Frau und hielt an, um Atem zu schöpfen, »Hier sieht Er nun den Wald, Carlsson, und hier haben wir im Sommer meistens das Vieh, wenn es nicht draußen auf dem Werder ist.«
Carlsson betrachtete den Wald mit sachkundigem Blick und fand, daß gutes Brennholz in Klaftern dastand und daß auf den Wurzeln vorzügliches Bauholz saß.
»Aber – das ist doch entsetzlich schlecht gehalten – und hier liegen ja Baumkronen und Reisig wirr durcheinander, so daß kein Teufel vorwärts kommen kann!«
»Ja, Carlsson, da sieht Er selber, wie es hier bestellt ist, und jetzt kann Er bestimmen und tun, was Er für das beste hält; Er wird alles aufs schönste ordnen, davon bin ich überzeugt, nicht wahr, Carlsson?«
»Ich will mein Teil schon tun, wenn die andern nur das ihre tun wollen, und dafür müßt Ihr sorgen, Mutter,« sagte Carlsson, der wohl fühlte, daß es keine Kleinigkeit war, sich eine Stellung als Korporal zu erobern, wo die Gemeinen länger im Dienst waren.
In eifriger Unterhaltung darüber, wie Carlsson am besten seine Herrschaft erlangen und bewahren könne – ein Umstand, den er der Alten als Hauptbedingung für den Aufschwung des Hofes hinstellte –, erreichten sie endlich das Haus. Die beiden Jäger waren mit ihren Flinten in den Wald gegangen, und Rundquist versteckte sich wohl wie gewöhnlich in irgendeinem sonnigen Winkel; dies pflegte stets der Fall zu sein, wenn man Gottes Wort hören sollte, Carlsson meinte, es könne auch ebensogut ohne Zuhörer gehen, und wenn die Mägde die Küchentür öffneten, könnten sie ja ein Wort abbekommen; während die Kochtöpfe brodelten. Und als die Alte ihre Bekümmernis aussprach, daß sie nicht lesen könne, war Carlsson sofort bereit, dies Amt zu übernehmen. –
Großer Gott! Er hatte seinerzeit beim Kammeradvokaten so viele Predigten gelesen, daß ihm das ein leichtes war.
Die Alte holte den Kalender herbei und suchte nach dem Text, der als am zweiten Sonntag nach Ostern von dem guten Hirten handelte. Carlsson holte dann Luthers Hauspostille von dem Bücherbrett herunter und nahm auf einem Stuhl mitten im Zimmer Platz, so daß er sich einbilden konnte, von einer ganzen Versammlung gesehen zu werden. Dann schlug er das Gesangbuch auf und begann mit lauter Stimme im Predigerton den Text vorzulesen, indem er die Stimme die ganze Tonskala auf und nieder laufen ließ, wie er das von den Kolporteuren gehört hatte.
»Zu jener Zeit sagte Jesus zu den Juden: Ich bin der gute Hirte; ein guter Hirte lässet sein Leben für die Schafe; ein Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, siehet den Wolf kommen und verlasset die Schafe und fleucht.«
Ein wunderbares Gefühl von persönlicher Verantwortlichkeit bemächtigte sich des Vorlesers, als er die Worte aussprach: »Ich bin der gute Hirte«, und er blickte zum Fenster hinaus, als suche er nach den geflüchteten Mietlingen: Norman und Rundquist.
Die Alte nickte traurig beistimmend und nahm die Katze auf den Schoß, als öffne sie die Arme dem verlorenen Schaf.
Carlsson aber las mit vor Rührung erstickter Stimme weiter, als habe er die Worte selber geschrieben:
»Der Mietling aber fleucht« – »ja, er fleucht,« setzte er hinzu – »denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht.«
»Ich bin der gute Hirte, und ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich,« sagte er auswendig her, als sei es eine Stelle aus dem Katechismus. Dann senkte er die Stimme, schlug die Augen nieder, als sei er tief traurig über die Schlechtigkeit der Menschen, und fuhr seufzend fort, stark betonend und mit Seitenblicken, die etwas Listiges hatten, als wolle er einige unbekannte Spitzbuben angeben, ohne doch ihr öffentlicher Ankläger zu sein:
»Und habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall, und die muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören!« Und mit verklärtem Lächeln, prophetisch, hoffnungsvoll und mit reichem Trost flüsterte er: »Und es wird ein Hirte und eine Herde sein.«
»Und eine Herde!« wiederholte die Alte, welche an etwas ganz andres gedacht hatte als Carlsson.
Dann ergriff er die Postille; er machte einen Überschlag über die Zahl der Seiten und rümpfte die Nase, als er ausfindig machte, daß die Predigt »verteufelt lang sei«,– endlich faßte er jedoch Mut und begann. Die Behandlung des Themas paßte nicht ganz für seine Zwecke. Sie hielt sich mehr an die christlich-symbolische Seite der Sache, weswegen sein Interesse dafür nicht so lebhaft war als vorhin für den Text. In rasender Eile durchflog er die Spalten und vermehrte die Schnelligkeit noch, damit die Alte es nicht bemerke, wenn er beim Umschlagen zwei Blätter übersprang. Als er aber sah, daß er sich dem Schlusse näherte und bald an das Amen kam, las er in langsamerem Tempo; doch es war zu spät, denn beim letzten Umschlagen hatte er zu reichlich auf die Finger gespuckt und drei Blätter auf einmal genommen, und so stieß er ganz oben auf der neuen Seite auf das Amen, als sei er mit seiner Stirne gegen die Wand gerannt. Die Alte erwachte durch den Stoß und sah schlaftrunken nach der Uhr, weshalb Carlsson das Amen noch einmal mit einigen kleinen Variationen wiederholte: »Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, und um Jesu Christi, unseres Erlösers, willen.«
Um den Schluß abzurunden und als Vergütung für das Ausgelassene betete er ein Vaterunser in so gemessenem Tone, daß die Alte, die mitten im Sonnenschein saß, wieder einnickte und Zeit bekam, richtig aufzuwachen, während Carlsson, um allen unangenehmen Erklärungen vorzubeugen, den Kopf in der linken Hand barg und ein stilles Gebet verrichtete, das nicht unterbrochen werden durfte.
Die Alte, die sich ihrerseits auch für verpflichtet hielt, wollte ihre Aufmerksamkeit während des Lesens bekunden und in selbstgewählten Ausdrücken zeigen, was sie gelernt hatte; sie wurde jedoch von Carlssons bestimmten Forderungen unterbrochen, die in Übereinstimmung mit den eigenen Worten des Textes und des Erlösers auseinandersetzten, daß es völlig unmöglich sei, wenn nicht ein Hirte da wäre und eine Herde! Nur ein einziger, einer für alle, einer, einer, einer!
Im selben Augenblick rief Klara zu Tisch, und jetzt erklangen aus dem Innern des Waldes ein paar frohe, beantwortende Rufe, die von einem Büchsenknall begleitet waren, und dem Schornstein der Schmiede entstieg, gleichsam wie aus einem hungrigen Magen kommend, Rundquists originelles »Hallo!«, das unverkennbar war.
Und gleich darauf sah man die verirrten Schafe leichten Schrittes den Fleischtöpfen zueilen. Sie wurden von der Alten ihrer Abwesenheit wegen mit Vorwürfen empfangen, aber keinem der Unschuldigen fehlte es an einer Antwort: sie versicherten, daß sie das Rufen nicht gehört hätten, sonst wären sie natürlich sofort gekommen.
Carlsson trat bei Tisch feierlich auf, wie es dem Sonntag entsprach; Rundquist aber sprach in mystischen Worten von den »wunderbaren« Fortschritten des Ackerbaus, so daß Carlsson begriff, daß der Alte bereits in die Oppositionspartei aufgenommen und eingeweiht worden war.
Nach dem Mittagessen, bei dem ein paar in Milch und ganzem Pfeffer gekochte Eidergänse als Hauptgericht fungierten, gingen die Männer abseits, um zu schlafen; Carlsson dagegen holte sein Gesangbuch aus der Kiste und setzte sich draußen auf einen trockenen Stein, den Rücken dem Stubenfenster zugewendet, was die Alte in hohem Grade entzückte. Bald nickte er jedoch ein wenig ein.
Nachdem eine genügende Zeit vergangen war, um die Andacht glaubwürdig erscheinen zu lassen, erhob sich Carlsson und trat, ohne anzuklopfen, in das Zimmer, wo er seinen Wunsch, die Kammer zu besichtigen, vorbrachte. Die Alte wollte Zeit gewinnen und schützte vor, daß dort erst gründlich reingemacht und allerlei verändert werden müsse; Carlsson aber bestand auf seinem Willen und wurde dann auf den Boden geführt, auf dem ganz oben, zwischen den Hahnenbalken, eine kleine viereckige Kajüte mit einem von einem blaugestreiften Vorhang verdeckten Fenster zusammengezimmert war. In der Kammer standen ein Bett und ein kleiner Tisch mit einer Wasserflasche. An der Wand hing etwas, das sich durch die weißen, schützenden Laken wie Kleidungsstücke ausnahm und sich auch bei näherer Besichtigung als solche herausstellte, denn hier ragte ein Rockkragen hervor, dort stahl sich ein Hosenbein heraus. Und darunter stand eine ganze Schwadron von Fußbekleidungen, von Männer- und Frauenstiefeln bunt durcheinander, und neben der Tür erblickte man eine mächtige, eisenbeschlagene Kiste mit einem Schlüsselschild von getriebenem Kupfer.
Carlsson zog den Vorhang zurück und öffnete das Fenster, um den erstickenden Dunst von Feuchtigkeit, Kampfer, Pfeffer und Wermut, der die Kammer erfüllte, herauszulassen. Dann legte er seine Mütze auf den Tisch und erklärte, daß er hier gut würde schlafen können, und als die Alte ihre Befürchtung aussprach, daß die Kälte einen schädlichen Einfluß auf seine Gesundheit haben könne, erklärte er, daß er gewohnt sei, in einem kalten Zimmer zu schlafen – ein Vorzug, auf den er in der warmen Küche verzichten müsse.
Die Alte meinte, daß es sich nicht so schnell machen ließe, sie wolle erst die Kleider fortnehmen, des Tabakrauchs wegen; aber Carlsson versprach, daß er gar nicht rauchen wolle, und bat und bettelte, daß die Kleider hängen blieben, die Mutter solle sich seinetwegen keine Umstände machen. Er wolle am Abend schnell in sein Bett kriechen und am Morgen sein Waschwasser ausgießen und sein Bett machen; niemand brauche zu ihm heraufzukommen, denn er könne wohl begreifen, daß die Mutter um ihre Sachen besorgt sei, und es schienen ja auch viele und gute Dinge zu sein.
Nachdem er die Bedenken der Alten überwunden, ging Carlsson hinab, schleppte seine Kiste und die Branntweinflasche hinauf, hing seine Jacke an einen Nagel am Fenster und stellte seine Wasserstiefel in die Nähe der übrigen.
Darauf bat er um eine Unterredung, bei der Gustav zugegen sein müsse, denn jetzt solle die Arbeit verteilt und jedem Mann sein Platz angewiesen werden.
Es machte einige Umstände, Gustavs habhaft zu werden. Schließlich ließ er sich überreden, eine kurze Zeit im Zimmer zu sitzen; er nahm aber nicht an den Verhandlungen teil, beantwortete die Fragen nur mit Einwendungen und machte Schwierigkeiten – mit einem Wort: er war streitsüchtig.
Carlsson versuchte, ihn mit Schmeicheleien zu gewinnen, mit Sachkenntnis zu zermalmen, ihm durch seine Überlegenheit als Älterer Achtung einzustoßen, aber es half alles nicht. Schließlich ermüdeten alle Teile, und ehe man sichs versah, war Gustav verschwunden.
Inzwischen war es Abend geworden, und die Sonne ging in einem Nebelschleier unter, der bald heraufzog und den Himmel mit leichtem Gewölk bedeckte. Die Luft war noch immer warm. Carlsson spazierte aufs Geratewohl die Wiese hinab und gelangte in die Pferdekoppel, von da wanderte er weiter unter den blühenden, erst halb belaubten Haselbüschen, die über dem Hohlweg, der zum Strand hinabführte, gleichsam einen Tunnel bildeten.
Plötzlich hielt er inne und erblickte zwischen den Büschen Gustav und Norman, die sich an einer Verengung des Weges gegen eine glatte Felswand gestellt hatten und, mit gespannten Flinten auf dem Anstand stehend, sich nach allen Seiten umsahen.
»Still! Da kommt er!« flüsterte Gustav, jedoch so laut, daß Carlsson es hören konnte, und in dem Glauben, daß von ihm die Rede sei, kroch er unter die Büsche.
Aber über die jungen Tannen kam ein Vogel geflogen, langsam und schwerfällig wie eine Eule mit schlaffen Schwingen, und gleich hinterher kam ein zweiter.
Ein Vogelschrei ward in der Luft hörbar und dann ein Paff! Paff! von beiden Büchsen, aus denen sich der Schrot und der Rauch in dichtem Strom ergoß.
Es knackte in den Zweigen der Birken, und eine Waldschnepfe fiel einen Steinwurf von Carlsson entfernt zur Erde.
Die Jäger liefen herzu und nahmen ihre Beute auf, was Veranlassung zu einem kurzen Wortwechsel gab.
»Die hat ihren Lohn bekommen,« sagte Norman und glättete die Brustfedern des noch warmen Vogels.
»Ich weiß jemanden, dem es auch nicht schaden würde, wenn er seinen Lohn bekäme!« meinte Gustav, der trotz seines Jagdfiebers von andern Gedanken erfüllt war. »Denke dir, so ein Bursche, der nun noch obendrein auf der Kammer schlafen soll!«
»Nein, wirklich! Soll er da schlafen?« fragte Norman.
»Ja, und dann soll Ordnung in das Ganze gebracht werden! Als ob wir nicht zehnmal besser wüßten, was Ordnung ist. Aber das ist ja eine alte Geschichte: neue Besen fegen am besten – solange sie neu sind, versteht sich; laß ihn nur ein wenig warten, da soll er den Besen schon zu sehen bekommen. Ich bin nicht der Mann danach, einem solchen Hausnarren aus dem Wege zu gehen! Laß ihn nur kommen, da soll er schon fühlen, wie es tut, hart zu sitzen, – Still! Nun kommt der andere Vogel!«
Die Jäger hatten von neuem geladen und begaben sich nun wieder an ihre alte Stellung in den Engpaß; Carlsson aber schlich sich vorsichtig fort, fest entschlossen, eine Angriffsstellung einzunehmen, sobald er mit den nötigen Vorbereitungen fertig war.
Als er am Abend auf seine Kammer kam, den Vorhang geschlossen und das Licht angezündet hatte, fühlte er sich im Anfang ein wenig bedrückt von der Einsamkeit, die ihn umgab; ein Gefühl der Sehnsucht nach den Menschen, von denen er sich abgesondert hatte, überkam ihn. Er war stets daran gewöhnt gewesen, zu allen Zeiten des Tages mit andern zusammen zu sein, angeredet zu werden und, wenn er sprechen wollte, einen Zuhörer zu haben. Jetzt war es überall still, so still, daß er aus alter Gewohnheit erwartete, angeredet zu werden und Stimmen zu hören, wo keine waren; und sein Kopf, der sich bis dahin in Worten von dem Ballast der Gedanken befreit hatte, füllte sich jetzt mit einem Überschuß unverbrauchten Gedankensamens, welcher wuchs, drängte und sich in einer beliebigen Form zu befreien suchte, wodurch eine Unruhe im Körper erzeugt wurde, die ihn keinen Schlaf finden ließ.
Deshalb begann er auf Socken zwischen Tür und Fenster in der engen Kammer auf und nieder zu gehen und seine Gedanken auf die Arbeit des nächsten Tages zu konzentrieren; er ordnete die Geschäfte im Kopfe, verteilte sie, machte sich auf Widersprüche gefaßt, überwand Hindernisse und hatte nach einer Stunde Arbeit Ruhe und Fassung wiedererlangt; sein Kopf war jetzt so geordnet und liniiert wie ein Hauptbuch, in dem alle Posten eingetragen und zusammengezählt sind, so daß man mit einem Blick den Status übersehen kann.
Dann ging er zu Bett, und als er sich allein in den frischen Laken befand, ohne befürchten zu müssen, daß ihn jemand stören würde, fühlte er sich gleichsam erst Herr seiner eigenen Person; er kam sich vor wie ein Ableger, der Wurzeln geschlagen hat und nun bereit ist, sich vom Mutterstamm zu trennen und sein eigenes Leben im eigenen Kampf zu leben, mit größeren Schwierigkeiten, wohl aber auch mit größerer Lust.
Und so schlief er ein, um dem Montagmorgen des Lebens und der Arbeitswoche mit frischen Kräften entgegenzugehen.