August Strindberg
Fräulein Julie
August Strindberg

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Vorwort.

Das Theater ist mir schon lange, gleichwie die Kunst überhaupt, wie eine »Biblia pauperum« erschienen, eine Bibel in Bildern für diejenigen, welche nicht Gedrucktes oder Geschriebenes lesen können, und der Theaterschriftsteller wie ein Laienpriester, welcher die Gedanken der Zeit in populärer Form kolportiert, so populär, daß die Mittelklasse, welche hauptsächlich das Theater füllt, ohne viel Kopfzerbrechen fassen kann, worum es sich handelt. Das Theater ist daher immer eine Volksschule für die Jugend, die Halbgebildeten und die Frauen gewesen, welche noch das Vermögen zurückbehalten haben, sich selbst zu täuschen und sich täuschen lassen, das heißt die Illusion zu bekommen, vom Verfasser die Suggestion zu empfangen. Es ist mir daher in unserer Zeit, da das rudimentäre, unvollständige Denken, welches sich durch die Phantasie vollzieht, sich zur Reflexion, zur Untersuchung und Prüfung zu entwickeln scheint, so vorgekommen, als wenn das Theater, gleichwie die Religion, auf dem Wege wäre, sich gleich einer aussterbenden Form hinzubetten, zu deren Genuß uns die erforderlichen Voraussetzungen fehlen. Für diese Annahme spricht die durchgehende Theaterkrisis, welche jetzt in ganz Europa herrscht, und nicht zum wenigsten der Umstand, daß in den Kulturländern, welche die größten Denker der Gegenwart hervorbringen, nämlich England und Deutschland, die Dramatik tot ist, gleichwie größtenteils die andern schönen Künste.

In andern Ländern wieder hat man geglaubt sich ein neues Drama schaffen zu können, indem man die alten Formen mit dem Gehalt der neueren Zeit erfüllte; aber teils haben die neuen Gedanken noch nicht Zeit gehabt, populär zu werden, sodaß das Publikum den Verstand besäße zu erfassen, worum es sich handelt, teils haben Parteistreitigkeiten die Gemüter erregt, sodaß ein rein objektiver Genuß nicht hat eintreten können, da man sich hier in seinem Innersten widersprochen sah und dort eine applaudierende oder zischende Majorität ihren Druck so öffentlich ausübte, als es in einem Theatersaal möglich ist, teils hat man nicht die neue Form für den neuen Gehalt gefunden, sodaß der neue Wein die alten Flaschen gesprengt hat.

In dem vorliegenden Drama habe ich nicht versucht etwas Neues zu bringen – denn das kann man nicht – sondern nur die Form gemäß den Forderungen zu modernisieren, welche, nach meiner Meinung, die neuen Menschen unserer Zeit an diese Kunst stellen sollten. Und zu diesem Zwecke habe ich gewählt oder mich ergreifen lassen von einem Motiv, von welchem man sagen kann, es liegt außerhalb der Parteikämpfe des Tages, da ja das Problem vom socialen Steigen oder Fallen, von Höherem und Niedrigerem, Besserem oder Schlechterem, Mann oder Weib, von bleibendem Interesse ist, gewesen ist und sein wird. Als ich dieses Motiv aus dem Leben nahm, so, wie ich es vor einer Reihe von Jahren erzählen hörte, als das Ereignis einen starken Eindruck auf mich machte, fand ich, daß es sich für ein Trauerspiel eigne, denn noch macht es einen traurigen Eindruck: ein unter glücklichen Verhältnissen lebendes Individuum untergehen zu sehen, um wieviel mehr also ein Geschlecht aussterben zu sehen. Aber es wird vielleicht eine Zeit kommen, da wir uns so entwickeln, so aufgeklärt werden, daß wir gleichgültig diesem jetzt rohen, cynischen und herzlosen Schauspiel, welches das Leben darbietet, zusehen werden, da wir diese niedrigeren und unzuverlässigen Gedankenmaschinen, welche Gefühle genannt werden, abgelegt haben, weil sie überflüssig und schädlich werden, sobald unsere Urteilskraft ausgewachsen ist. Dieses, daß die Heldin Mitleid erweckt, beruht nur auf unserer Schwäche, da wir dem Gefühle der Furcht nicht widerstehen können, dasselbe Schicksal könnte auch uns treffen. Ein sehr gefühlvoller Zuschauer wird vielleicht jedoch nicht durch dieses Mitleid befriedigt sein, und der Zukunftsmensch wird vielleicht einige positive Vorschläge, dem Übel abzuhelfen, eine Art Programm mit andern Worten, fordern. Aber erstens giebt es kein absolutes Übel, denn daß ein Geschlecht untergeht, ist ja etwas Gutes für ein anderes Geschlecht, welches dadurch emporkommen kann, und der Wechsel von Steigen und Fallen bildet gerade eine der größten Annehmlichkeiten des Lebens, da das Glück nur in dem Vergleich liegt. Und den Programmenschen, welcher dem peinlichen Umstande, daß der Raubvogel die Taube frißt und die Laus wieder den Raubvogel, will ich fragen: warum soll dem abgeholfen werden? Das Leben ist nicht so mathematisch-idiotisch, daß nur die Großen die Kleinen auffressen, sondern es kommt oft vor, daß die Biene den Löwen tötet oder ihn zum wenigsten toll macht.

Daß mein Trauerspiel einen traurigen Eindruck auf viele macht, ist also der Fehler dieser. Wenn wir stark werden, wie die ersten französischen Revolutionsmänner, wird es unbedingt einen guten und frohen Eindruck machen, der Ausrottung eines Parkes von morschen, überjährigen Bäumen zuzusehen, welche anderen zu lange im Wege standen, die ebenfalls das gleiche Recht hatten, ihre Zeit zu vegetieren – einen guten Eindruck, gleich wie wenn man einen unheilbar Kranken sieht, der endlich sterben kann.

Man warf kürzlich meinem Trauerspiel »Der Vater«Deutsche Ausgabe von E. Brausewetter, Universal-Bibliothek Nr. 2489. vor, es wäre so traurig, gleich als wenn man ein lustiges Trauerspiel forderte. Man ruft anspruchsvoll nach der Lebensfreude, und die Theaterdirektoren fordern Farcen, gleich als wenn die Lebensfreude darin läge, albern zu sein und Menschen zu zeichnen, welche allesamt am Veitstanz oder Idiotismus litten. Ich finde die Lebensfreude in den starken, grausigen Kämpfen des Lebens, und es bereitet mir Genuß, etwas erfahren, etwas lernen zu können. Und darum habe ich einen ungewöhnlichen, aber lehrreichen Fall gewählt, mit einem Wort eine Ausnahme, aber eine große Ausnahme, welche die Regel bekräftigt, was sicherlich diejenigen, die das Alltägliche lieben, verletzen wird. Was ferner bei einzelnen Anstoß erregen wird, ist, daß meine Motivierung der Handlung nicht einfach ist, und es nicht nur einen Gesichtspunkt dafür giebt. Ein Ereignis im Leben – und das ist eine ziemlich neue Entdeckung – wird gewöhnlich von einer ganzen Reihe mehr oder minder tiefliegender Motive hervorgerufen, aber der Zuschauer wählt meistens dasjenige, welches seiner Urteilskraft das am leichtesten faßliche oder für seine Urteilsgabe das ehrenvollste ist. Es ist z.B. ein Selbstmord begangen worden. »Schlechte Geschäfte!« sagt der Bürger. – »Unglückliche Liebe!« sagen die Frauenzimmer. – »Krankheit!« der Kranke. – »Getäuschte Hoffnungen!« der Schiffbrüchige. Aber nun kann es vorkommen, daß das Motiv hier überall oder nirgend zu suchen war, und daß der Verstorbene das Grundmotiv dadurch verbarg, daß er ein ganz anderes vorschob, welches das vorteilhafteste Licht über sein Gedächtnis werfen könnte!

Fräulein Juliens trauriges Schicksal habe ich durch eine ganze Menge von Umständen motiviert: die Grundinstinkte der Mutter; die falsche Erziehung des Mädchens durch den Vater; das eigene Naturell und die Suggestionen des Bräutigams auf das schwache degenerierte Hirn; sodann auch momentane: die Feststimmung der Johannisnacht; die Abwesenheit des Vaters; die Beschäftigung mit dem Tiere; der aufregende Einfluß des Tanzes; die Dämmerung der Nacht; die starke, berauschende Wirkung der Blumen; und schließlich der Zufall, welcher die beiden in einen geheimen Raum zusammentreibt, sowie die aufregende Zudringlichkeit des Mannes.

Ich bin also nicht einseitig physiologisch verfahren, auch nicht monoman psychologisch, ich habe die Schuld nicht nur der Vererbung von der Mutter oder ausschließlich der »Unsittlichkeit« aufgebürdet, noch bloß Moral gepredigt.

Dieser Mannigfaltigkeit der Motive will ich mich rühmen, da sie mit der Forderung der Zeit übereinstimmt! Und haben es andere schon vor mir so gemacht, so rühme ich mich mit meinen Paradoxen, wie alle Entdeckungen genannt werden, nicht allein zu stehen.

Was die Charakterzeichnung anbetrifft, so habe ich die Figuren ziemlich »charakterlos« gezeichnet und zwar aus folgenden Gründen:

Das Wort Charakter hat im Lauf der Zeiten eine mehrfache Bedeutung bekommen. Es bedeutete wohl ursprünglich den herrschenden Grundzug im Seelenkomplex und wurde mit Temperament verwechselt. Dann wurde es der Ausdruck der Mittelklasse für den Automaten; sodaß ein Individuum, welches ein für allemal bei seinem Naturell stehen geblieben ist oder sich einer gewissen Rolle im Leben angepaßt hat, welches also mit einem Wort gesagt, aufgehört hat zu wachsen, ein Charakter genannt wurde, und der in der Entwickelung Befindliche, der geschickte Schiffer auf dem Strome des Lebens, welcher nicht mit fester Schote segelt, sondern den Kahn vor dem Windstoß fallen läßt, um ihn hernach wieder aufzuluven, wurde charakterlos genannt. Im herabsetzenden Sinne natürlich, da er ja so schwer einzufangen, einzuregistrieren und zu kontrollieren war. Dieser bürgerliche Begriff von der Unveränderlichkeit der Seele wurde dann auf das Theater übertragen, wo ja das Bürgerliche immer geherrscht hat. Ein Charakter war dort ein Herr, welcher fix und fertig war, welcher unveränderlich als Betrunkener, als Spaßmacher, als Betrübter auftrat; und um zu charakterisieren bedurfte es nur, dem Körper ein Gebrechen anzudichten, einen Klumpfuß, ein hölzernes Bein, eine rote Nase, oder daß man den Betreffenden einen Ausruf gebrauchen ließ wie diesen: »das war galant«, »Barkis will gern« oder dergleichen. Bei dieser Art und Weise, die Menschen so einseitig aufzufassen, bleibt noch sogar der große Molière stehen. Harpagon ist nur geizig, obgleich Harpagon hätte geizig und zugleich ein ausgezeichneter Finanzier, ein prächtiger Vater, ein guter Bürger sein können, und was schlimmer ist, sein Gebrechen ist gerade äußerst vorteilhaft für seine Tochter und seinen Schwiegersohn, welche ihn beerben und ihn daher nicht tadeln dürfen, wenn sie auch ein wenig warten müssen, bis sie sich kriegen. Daher glaube ich nicht an einfache Theatercharaktere. Und gegen das summarische Urteil der Verfasser über die Menschen: der ist dumm, der ist brutal, der ist eifersüchtig, der ist geizig u.s.w. sollte von den Naturalisten Einspruch erhoben werden, welche wissen, wie reich der Seelenkomplex ist, und welche verstehen, daß das Laster eine Rückseite hat, welche sehr stark der Tugend ähnelt.

Als moderne Charaktere, die in einer Übergangszeit leben, welche mehr eilig hysterisch als zum mindesten die vorhergehende ist, habe ich meine Figuren schwankender, zerrissener, von Altem und Neuem zusammengesetzter geschildert, und es scheint mir nicht unwahrscheinlich, daß moderne Ideen durch die Zeitungen und Gespräche auch in die Gesellschaftsschichten hinabgedrungen sein können, in denen selbst ein Dienstbote sich bewegt.

Meine Seelen Charaktere sind Konglomerate von vergangenen Kulturgraden und Brocken der angehenden Zeit, welche aus Büchern und Zeitungen entlehnt wurden, Stücke von Menschen, abgerissene Fetzen von Feiertagskleidern, welche zu Lumpen geworden sind, ganz wie die Seele zusammengeflickt ist. Und ich habe außerdem ein wenig Entwicklungsgeschichte gegeben, indem ich den Schwächeren stehlen und Worte wiederholen lasse von dem Stärkeren, die Seelen »Ideen«, Suggestionen, wie es genannt wird, voneinander holen lasse.

Fräulein Julie ist ein moderner Charakter, nicht als wenn es das Halbweib, die Männerhasserin, nicht zu allen Zeiten sollte gegeben haben, sondern darum, weil es jetzt entdeckt, hervorgetreten ist und Lärm gemacht hat. Das Halbweib ist ein Typus, welcher sich hervordrängt, sich jetzt für Macht, Ansehn, Auszeichnungen und Diplome, sowie früher für Geld verkauft und die Entartung andeutet. Es ist keine gute Art, denn sie ist nicht lebensfähig, pflanzt sich aber leider mit all' ihrem Elend noch ein Glied fort, und entartete Männer scheinen unbewußt die Auswahl unter ihnen zu treffen, sodaß sie sich vermehren und Wesen unbestimmten Geschlechtes hervorbringen, welchen das Leben eine Qual ist, die aber glücklicherweise zu Grunde gehen, entweder in Disharmonie mit der Wirklichkeit oder infolge unaufhaltsamen Hervorbrechens des unterdrückten Triebes, oder der getäuschten Hoffnungen den Mann nicht erlangen zu können. Der Typus ist tragisch, da er das Schauspiel eines verzweifelten Kampfes gegen die Natur darbietet, tragisch als ein romantisches Erbe, welches nun von dem Naturalismus zerstreut wird, der nur das Glück will, und zum Glücke gehören starke und lebensfähige Arten.

Aber Fräulein Julie ist auch ein Überbleibsel des alten Kriegeradels, welcher jetzt vor dem neuen Nerven- oder Großgehirn-Adel untergeht; ein Opfer der Disharmonie, welche der Mutter »Schuld« in eine Familie hineinbringt, ein Opfer der Verirrungen der Zeit, der Umstände und ihrer eigenen schwächlichen Konstitution, was alles zusammen soviel bedeutet, als: das Schicksal früherer Zeiten oder die Weltordnung. Die Schuld hat der Naturalist mit Gott zusammen ausgestrichen, aber die Folgen der That, die Strafe, Haftbarkeit oder die Furcht davor, kann nicht gestrichen werden, aus dem einfachen Grunde, weil sie bestehen bleiben, ob er nun freispricht oder nicht, denn die Leute, denen Unrecht geschehen, sind nicht so wohlwollend gestimmt, wie diejenigen, denen keins widerfahren, es billig sein können. Selbst wenn der Vater aus zwingenden Gründen auf die Strafe verzichten sollte, würde die Tochter sie an sich selbst vollziehen müssen, wie sie es hier thut, infolge des angeborenen oder erworbenen Ehrgefühls, welches die höheren Klassen ererben – von wo? Von der Barbarei, von der asiatischen Urheimat, von dem Rittertum des Mittelalters? – und welches sehr schön ist, jetzt aber unvorteilheit für das Bestehen der Art. Es ist des Edelmannes »Harakiri«, des Japanesen Gewissensgesetz, welches ihm gebietet sich den Leib aufzuschlitzen, wenn ein anderer ihn beschimpft, welches in modifizierter Form im Duell, dem Adelsprivilegium, weiterlebt. Darum bleibt der Bediente Jean am Leben, aber Fräulein Julie kann nicht leben ohne Ehre. Das ist der Vorzug des Knechtes vor dem Herrn, daß er frei ist von diesem lebensgefährlichen Vorurteil betreffs der Ehre; und in uns alten Ariern existiert etwas vom Edelmann oder Don Quijote, was bewirkt, daß wir mit dem Selbstmörder sympathisieren, welcher eine ehrlose Handlung begangen und so seine Ehre verloren hat, und wir sind genug Edelleute, um Schmerz zu empfinden, wenn wir eine gefallene Größe daliegen sehen, selbst wenn der Gefallene sich erheben könnte, und suchen es durch ehrenvolle Handlungen wiedergutzumachen. Der Diener Jean ist ein Artbilder, einer, bei welchem sich die Differenzierung bemerkbar macht. Er ist ein Kätners Sohn und hat sich nun zu einem werdenden Herrn ausgebildet. Es ist ihm leicht geworden zu lernen, da er fein entwickelte Sinne hatte Geruch, Geschmack, Gesicht und Schönheitssinn. Er hat sich bereits emporgeschwungen und ist stark genug, es sich nicht übel zu nehmen, aus den Diensten anderer Menschen Vorteile zu ziehen. Er ist seiner Umgebung bereits fremd, welche er als zurückgelegtes Stadium verachtet und dennoch fürchtet und flieht, da sie seine Geheimnisse kennen, seine Absichten ausspüren, voll Neid sein Steigen sehen und mit Vergnügen seinen Fall erwarten. Daher sein zweideutiger, unentschiedener Charakter, der zwischen Sympathie für das, was auf der Höhe steht, und Haß gegen diejenigen, die nun oben sind, hin- und herschwankt. Er ist, wie er selbst sagt, Aristokrat, hat die Geheimnisse der guten Gesellschaft gelernt, ist gewandt im Benehmen, aber bisweilen roh, trägt bereits mit Eleganz den Überrock, ohne jedoch eine Garantie zu bieten, daß er rein auf dem Körper ist.

Er hat Respekt vor dem Fräulein, aber Angst vor Christine, da sie seine gefährlichen Geheimnisse kennt; er ist gefühllos genug, nicht die Ereignisse der Nacht störend in seine Zukunftspläne eingreifen zu lassen. Mit der Rohheit des Knechtes und dem Mangel an Weichherzigkeit des Herrschers kann er Blut sehen, ohne zu erblassen, ein Mißgeschick auf den Rücken nehmen und es aus dem Wege schleudern; darum geht er auch unverwundet aus dem Kampfe hervor und endet wahrscheinlich als Hotelwirt, und wenn er nicht rumänischer Graf wird, so wird sein Sohn wahrscheinlich Student und möglicherweise Kronvogt.

Es sind übrigens recht wichtige Aufklärungen, die er über die Lebensauffassung der unteren Klassen giebt, wenn er nämlich die Wahrheit spricht, was nicht oft der Fall ist, denn er spricht mehr, was für ihn vorteilhaft, als was wahr ist. Wenn Fräulein Julie die Vermutung aufwirft, daß alle in den unteren Klassen den Druck von oben so schwer empfinden, so stimmt Jean natürlich bei, da es ja seine Absicht ist, ihre Sympathie zu gewinnen, aber er korrigiert sofort seine Äußerung, wenn er es für vorteilhafter hält, sich von der Masse zu scheiden.

Außerdem daß Jean ein Steigender ist, steht er auch darin über dem Fräulein, daß er ein Mann ist. Geschlechtlich ist er Aristokrat durch seine männliche Stärke, seine feiner entwickelten Sinne und seine Fähigkeit zur Initiative. Seine Unterlegenheit besteht zunächst in dem zufälligen socialen Milieu, in welchem er lebt, und welches er wahrscheinlich mit dem Bedientenrock ablegen kann.

Der Knechtssinn äußert sich in seiner Hochachtung für den Grafen die Stiefeln und seinem religiösen Aberglauben; aber er achtet den Grafen vornehmlich als den Inhaber des höheren Platzes, nach welchem er strebt; und diese Achtung bleibt sogar noch zurück, wenn er die Tochter des Hauses erobert hat und gesehen, wie leer die schöne Schale war.

Daß ein Liebesverhältnis in »höherem« Sinne zwischen zwei Seelen von so ungleichem Gehalt entstehen könnte, glaube ich nicht, und darum lasse ich Fräulein Juliens Liebe von ihr selbst als Entschuldigung oder Verteidigung erdichten; und Jean lasse ich vermuten, daß seine Liebe noch unter andern socialen Verhältnissen würde hervorwachsen können. Ich denke, es ist mit der Liebe wohl wie mit der Hyacinthe, welche im Dunkeln Wurzel schlagen soll, bevor sie eine kräftige Blüte treiben kann. Hier schießt sie empor und setzt Blüten an, und darum erstirbt das Gewächs so schnell.

Christine endlich ist ein weiblicher Knecht, voll Unselbständigkeit und Stumpfsinn, den sie am Herdfeuer erworben, vollgepropft mit Moral und Religion als Deckmantel und Sündenbock. Sie geht zur Kirche, um leicht und schnell ihre Hausdiebstähle auf Jesus abzuwälzen und eine neue Ladung Sündenvergebung einzunehmen. Übrigens ist sie eine Nebenperson und darum absichtlich nur skizziert, wie ich es mit dem Pfarrer und Doktor im »Vater« gemacht habe, da ich sie gerade als Alltagsmenschen haben wollte, wie Landpfarrer und Provinzialärzte es meist zu sein pflegen. Und daß diese meine Nebenfiguren etwas abstrakt erscheinen, beruht darauf, daß die Alltagsmenschen in gewissem Sinne in Ausübung ihres Berufes abstrakt, das heißt unselbständig sind; sie zeigen bei der Verrichtung ihres Berufes nur eine Seite, und solange der Zuschauer nicht das Bedürfnis empfindet sie von mehreren Seiten zu sehen, ist meine abstrakte Schilderung ziemlich richtig.

Was schließlich den Dialog anbetrifft, so habe ich mit der Tradition insofern ein wenig gebrochen, als ich meine Personen nicht zu Katecheten gemacht habe, welche sitzen und dumme Fragen stellen, um eine prompte Replik hervorzurufen. Ich habe das Symmetrische, das Mathematische in dem französisch konstruierten Dialog vermieden und die Gehirne ungehindert arbeiten lassen, wie sie es in der Wirklichkeit thun, wo in einem Gespräch das Thema ja nicht völlig erschöpft wird, sondern das eine Gehirn von dem andern gleichsam aufs Geratewohl einen Radzahn empfängt, in welchen es eingreifen kann. Und darum wogt der Dialog auch hin und her, versieht sich in den ersten Scenen mit einem Material, welches später bearbeitet, wiederaufgenommen, repetiert, entwickelt und wiederaufgelegt wird, gleich dem Thema in einer musikalischen Komposition.

Die Handlung ist reich genug, und da sie eigentlich nur zwei Personen angeht, habe ich mich auf sie beschränkt, und nur eine Nebenperson eingeführt, die Köchin, und den unglücklichen Geist des Vaters über und hinter dem Ganzen schweben lassen. Dieses Letztere habe ich gethan, da ich zu bemerken geglaubt habe, daß für Menschen der neueren Zeit die psychologische Entwicklung das ist, was sie am meisten interessiert, und unsere wißbegierigen Seelen sich nicht damit begnügen, etwas vor sich gehen zu sehen, ohne zu erfahren, wie es zugeht! Wir wollen gerade die Fäden, die Maschinerie sehen, die doppelbodige Schachtel untersuchen, den Zauberring in die Hand nehmen, um die Fuge zu finden, in die Karten gucken, um zu entdecken, mit was für Zeichen sie versehen sind.

Was das Technische in der Komposition anbetrifft, so habe ich die Akteinteilung gestrichen, weil ich bemerkt habe, daß unser Mangel an Fähigkeit, uns von einer Illusion beherrschen zu lassen, möglicherweise durch Zwischenakte erzeugt wird, in denen der Zuschauer Zeit bekommt zu reflektieren und sich dabei dem suggestiven Einfluß des Verfasser-Magnetiseurs zu entziehen. Mein Drama währt wahrscheinlich sechs Viertelstunden, und wenn man eine Vorlesung, eine Predigt oder eine Kongreßverhandlung ebenso lange und länger anhören kann, so habe ich mir gedacht, daß ein Theaterstück während anderthalb Stunden nicht ermüden würde.

Der Monolog ist von unsern Realisten als unwahr verbannt, aber wenn ich ihn motiviere, mache ich ihn wahrscheinlich und kann ihn also mit Vorteil verwenden. Es ist ja wahrscheinlich, daß ein Redner allein in seinem Zimmer auf- und abgeht und laut seine Rede durchgeht, wahrscheinlich, daß ein Schauspieler laut seine Rolle memoriert, daß ein Mädchen mit seiner Katze plaudert, eine Mutter mit ihrem Kinde scherzt, ein altes Fräulein mit ihrem Papagei schwatzt, ein Schlafender im Schlafe spricht. Und um einmal dem Schauspieler zu selbständiger Arbeit Gelegenheit zu geben und einen Augenblick dem Zeigefinger des Verfassers zu entschlüpfen, ist es am besten, daß die Monologe nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet werden. Denn da es ziemlich gleichgültig ist, was im Schlafe, zum Papagei oder zur Katze gesprochen wird, da es ja keinen Einfluß auf die Handlung ausübt, so kann ein begabter Schauspieler, der mitten in der Stimmung und Situation drinnen ist, dies besser improvisieren, als der Verfasser, der nicht im voraus berechnen kann, wieviel und wie lange geschwatzt werden kann, bis das Publikum aus der Illusion erweckt wird.

Wo der Monolog unwahrscheinlich werden sollte, habe ich zur Pantomime gegriffen und hier lasse ich dem Schauspieler noch mehr Freiheit, zu dichten und selbständig Ehre zu gewinnen. Um gleichwohl das Publikum nicht zu stark auf die Probe zu stellen, habe ich die Musik, die durch den Tanz in der Johannisnacht wohl motiviert ist, ihre verführerische Macht während des stummen Spiels ausüben lassen, und bitte den Musikdirektor wohl zu beherzigen, daß er nicht fremde Stimmungen erwecken darf durch die Erinnerung an das Operetten- oder Tanzrepertoire des Tages oder durch allzu ethnographisch volkstümliche Melodieen.

Das Ballett,Der Verfasser meint hier mit Ballett natürlich einen Tanz, einen Volkstanz, und denkt nicht etwa an die berühmten kurzen Röckchen und die fleischfarbenen Tricots. Der Übers. welches ich eingeführt habe, konnte durch keine Volksscene ersetzt werden, da Volksscenen schlecht gespielt werden, und eine Menge Spaßmacher die Gelegenheit benutzen würden, sich bemerkbar zu machen und dadurch die Illusion stören. Da das Volk seine Böswilligkeiten nicht selbst improvisiert, sondern bereits fertiges Material benutzt, das einen doppelten Sinn geben kann, habe ich das »Schmähgedicht« nicht gedichtet, sondern ein weniger bekanntes Tanzspiel benutzt, welches ich selbst in der Umgebung von Stockholm aufgezeichnet habe. Die Worte treffen ungefähr die Sache, und das genügt völlig, denn die Feigheit der Menge gestattet ihr nicht direkte Angriffe.Um dieser Absicht des Dichters möglichst genau gerecht zu werden, wählte ich dafür ein älteres deutsches »Gesellschaftslied«. Der Übers. Also keine ausgesprochenen Späße in einer ernsten Handlung, kein rohes Grinsen gegenüber einer Situation, die den Deckel auf den Sarg eines Geschlechtes legt.

Was die Dekorationen anbetrifft, so habe ich von der impressionistischen Malerei das Unsymmetrische und Abgeschnittene entlehnt und glaube dadurch die Illusion zu erhöhen; denn dadurch, daß man nicht die ganze Scene und das ganze Möblement sieht, ist es einem möglich gemacht den Raum zu ahnen: die Phantasie wird erregt und ersetzt das Fehlende. Auch habe ich es dadurch erreicht, daß ich das ermüdende Gehen und Kommen durch die Thüren los wurde, besonders da die Theaterthüren aus Leinwand sind und bei der geringsten Bewegung flattern. Ebenso habe ich mich an eine einzelne Dekoration gehalten, damit die Personen sich mit der Umgebung verschmelzen können, und um mit dem Dekorationsluxus zu brechen.

Ich habe die Hintergrundsdekoration und den Tisch schräg gestellt, um die Schauspieler zu veranlassen »en face« und in halbem Profil zu spielen, wenn sie am Tisch einander gegenüber sitzen.

Eine andere vielleicht nicht unnötige Verbesserung würde die Entfernung der Rampe sein. Dieses Licht von unten scheint die Aufgabe zu haben die Schauspieler im Gesichte voller erscheinen zu lassen; aber ich muß fragen: Warum sollen alle Schauspieler volle Gesichter haben? Ob das Licht von unten nicht eine Menge feiner Züge in den unteren Partieen des Gesichtes, namentlich der Kiefer, verwischt, ob es nicht die Form der Nase verändert und Schatten über die Augen wirft? Und wenn nicht, so ist doch sicher, daß es den Augen des Schauspielers unangenehm ist, sodaß das wirkungsvolle Spiel des Blicks verloren geht, denn das Licht der Rampe trifft die Netzhaut auf Stellen, die sonst geschützt sind und darum sieht man selten andere Bewegungen der Augen, als ein dummes Starren zur Seite oder hinauf zu den Logenreihen, sodaß das Weiße im Auge zu sehen ist. Möglicherweise kann man derselben Ursache das müde Blinzeln mit dem Augendeckel bei den Schauspielern und namentlich bei den Schauspielerinnen zuschreiben. Und wenn jemand auf der Bühne mit den Augen sprechen will, kann er nur geradeaus ins Publikum sehen, mit dem er oder sie außerhalb des Rahmens des Stückes eine direkte Korrespondenz einleitet; eine Unsitte, die mit Recht oder Unrecht »Bekannte begrüßen« genannt wird.

Sollte nicht genügend starkes Seitenlicht mit Reflektoren oder dergleichen dem Schauspieler dieses neue Hilfsmittel bieten können: die Mimik durch den ausdrucksvollsten Teil des Gesichtes, die Augen, zu stärken?

Die Illusion, die Schauspieler dahin zu vermögen, für und nicht mit dem Publikum zu spielen, nähre ich nicht, wenn dieses auch in hohem Grade wünschenswert wäre. Ich glaube nicht, daß ich eine ganze Scene hindurch den ganzen Rücken eines Schauspielers werde zu sehen bekommen, aber ich wünsche von ganzem Herzen, daß die Hauptscenen nicht, gleich Duetten, vorn am Souffleurkasten gespielt werden mögen, in der Absicht, Beifall zu ernten, sondern ich will sie auf einen Platz haben, der zu der Situation paßt. Also keine Revolution, sondern nur kleine Modifikationen.

Wenn ich nun beginne vom Schminken zu sprechen, so nähre ich keine Hoffnung, von den Damen gehört zu werden, die lieber hübsch, als wahr sein wollen. Aber der Schauspieler sollte doch genau überlegen, ob es für ihn vorteilhaft ist, durch das Schminken seinem Gesichte einen abstrakten Charakter zu geben, der wie eine Maske auf demselben sitzen bleibt. Denken wir uns einen Herrn, der sich mit Kohle einen scharfen, zornigen Zug zwischen den Augen anbringt, und nehmen wir an, daß dieser ständig zornig aussehende Mensch bei einer Replik lachen soll. Welch' schauderhafte Grimasse wird das nicht werden? Und wie soll eine falsche Stirn, die blank ist, wie eine Billardkugel, gerunzelt werden können, wenn der Alte zornig wird.

Mit einem modernen psychologischen Drama, wo die feinsten seelischen Empfindungen sich mehr in den Gesichtszügen als in den Bewegungen und im Geschrei widerspiegeln sollen, thäte man wohl am besten, es mit starkem Seitenlicht auf einer kleinen Bühne und mit Schauspielern ohne Schminke oder zum mindesten einem Minimum davon zu versuchen.

Könnten wir das sichtbare Orchester mit seinem störenden Lampenlicht und den gegen das Publikum gewandten Gesichtern loswerden; würde das Parkett so erhöht, daß die Augen des Zuschauers höher träfen, als auf die Kniee des Schauspielers; schafften wir die Prosceniumslogen ab und dazu vollständige Dunkelheit im Theater während der Vorstellung, sowie zuerst und vor allem eine kleine Bühne und einen kleinen Zuschauerraum, dann könnte vielleicht eine neue dramatische Kunst erstehen, und das Theater wieder eine Institution zur Freude der Intelligenteren werden.

Indem wir auf dieses Theater warten, müssen wir auf Lager schreiben und das Repertoire der Zukunft vorbereiten.

Ich habe einen Versuch gemacht! Ist er mißglückt, so ist noch Zeit genug, einen neuen zu machen.

Kopenhagen im Sommer 1888.
Der Verfasser.


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