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Am nächsten Morgen nahm er eines der Gewehre aus dem Schrank und wanderte in den beschneiten Forst hinaus. Den Tag über irrte er in der Wildnis umher, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen. Die Rehe und die Hasen hatten gute Ruhe vor ihm; er stierte an ihnen vorbei ins Leere.
Erschöpft und elend kehrte er mit sinkender Dunkelheit nach Hause zurück. Am Katzensteg stand Regine wie ein Steinbild aufgepflanzt und wartete auf ihn. Als sie ihn kommen sah, machte sie Miene, ihm entgegenzustürzen, aber sie besann sich, kehrte kurz um und schritt leise lachend und murmelnd vor ihm her ins Haus.
Schweigend wie sonst trug sie ihm das Essen auf. Er aß und starrte vor sich nieder. Da plötzlich hörte er sie in ein kurzes, krampfhaftes Schluchzen ausbrechen.
»Was hast du?« rief er, aus seinem Brüten emporfahrend.
Aber sie rannte hinaus, ohne ihm Rede zu stehen.
Er machte eine Bewegung, als wolle er hinter ihr her, dann biß er die Zähne aufeinander und setzte sich wieder. Ein dumpfer Groll gärte in ihm. Er konnte ihr noch nicht verzeihen, daß sie ihm den Wahn genommen, in dem er sich's seit Wochen hatte wohl sein lassen.
Aber nun galt es, den Kelch bis auf die Neige leeren, mochte der Bodensatz auch noch so bitter schmecken.
Nach einer Weile trat Regine zum Ausgehen gerüstet ins Zimmer.
»Du willst fort?« fragte er barsch.
Sie hielt den Kopf halb abgewendet, damit er ihre verweinten Augen nicht sähe. »Morgen ist Weihnachts-Heiliger-Abend, Herr. Und in der Christnacht will er seine Ruh' haben, hat der Krämer gesagt.«
Weihnachts-Heiliger-Abend! Wie seltsam, wie märchenhaft des klang! Also gab es noch Freude und Freudenfeste in der Welt? Noch immer umkreiste man jubelnd strahlende Tannenbäume?
»Du wünscht dir doch auch deine Bescherung, Regine?« fragte er mit bitterem Lächeln.
»Ach, Herr«, erwiderte sie, »das ist hier nie Mode gewesen. Ich würd' mich auch gar nicht mal drüber freuen.«
»Warum nicht?«
Sie zögerte. »Lassen Sie mich gehen, Herr«, bat sie beklommen.
»Ich habe dich noch vieles zu fragen, Regine.«
»Es muß bleiben, Herr, sonst –«
»So geh!«
»Gute Nacht, Herr!«
»Gute Nacht!« Aber noch einmal rief er sie zurück.
»Erst gesteh mir, warum du vorhin das Schluchzen bekamst.«
Aus ihren geröteten Augen brach ein Leuchten verschämter Glückseligkeit.
»Sie können sich's doch denken, Herr«, stammelte sie.
»Durchaus nicht.«
»Weil ich Angst gehabt hab', Sie könnten am End' nicht wiederkommen.« – Dann wandte sie sich zur Tür. Ihre Schritte verhallten in der Nacht. – – –
Am folgenden Morgen wurde Boleslav durch ein Sausen und Singen geweckt, das schon eine Weile unheimlich in seinen Halbschlaf hineingedrungen war.
Es stürmte aus Leibeskräften. Die Kronen der Pappelbäume peitschten gegeneinander – am Boden fegten weiße Wolken dahin – aber die Luft war klar – ein Schneegestöber schien nicht zu befürchten.
In dem öden, kalten Hause war heute kein Bleiben. Es zog ihn hinaus ins Freie – dem Sturm entgegen.
»Sie hat ein schweres Tagwerk heute«, sagte er sich, während der Nord ihm seine Eisnadeln ins Gesicht schnob, so daß der Atem ihm fast verging.
Im Walde war's ein wenig besser. Dort raste der Sturm sich in den Wipfeln satt, die knarrend und kreischend aneinanderschlugen. Er schritt dahin, ohne zu wissen wohin, und schließlich fand er sich auf dem Wege nach Bockeldorf.
»Das sieht ja fast aus, als lief ich ihr entgegen«, so schalt er sich und bog mit ärgerlichem Lachen in das ungebahnte Dickicht hinein.
Es ist doch merkwürdig, dachte er, wie ein so niedriges Geschöpf, wenn man tagaus, tagein ausschließlich mit ihm zusammen ist, sich in die Gedanken eines ernsten und nichts weniger als leichtsinnigen Mannes einzunisten vermag. Beinahe beängstigend war es ihm heute, sich klar zu werden, wie er sich ihr von Tag zu Tag näher fühlte, wie ihm schon manches in ihr verständlich und entschuldbar, ja beinahe großgeartet erschien, was er früher als Zeugnis ihrer Verrohtheit mit Abscheu von sich fortgewiesen haben würde.
Es war zweifellos: das Zusammensein mit ihr tat ihm nicht gut. Sie zog ihn zu sich herab in den Schlamm ihrer würdelosen Existenz.
Dem mußte abgeholfen werden. Vor allen Dingen war notwendig, daß er sie wieder aus seiner Nähe entfernte und in die Stellung der verachteten Magd zurückwies. Das Weihnachtsfest bot ihm Gelegenheit, sie abzulohnen, so reich und überreich, daß er für alle Zeit des Schuldtums gegen sie enthoben war. Mit einem Federstriche wollte er ihre Zukunft sichern und sich zugleich das Recht erkaufen, sie als das zu betrachten, was sie tatsächlich war – seine Leibeigene.
Heute zum letztenmal mochte sie ihm noch Gesellschaft leisten. Noch brauchte er sie und ihr Zeugnis, denn jetzt, da der Bann einmal gebrochen war, mußte er alles wissen. Vornehmlich aus jenen zwei fürchterlichen Nächten, die wie Schuld und Sühne, wie Blut und Flamme einander gegenüberstanden.
»Und wenn sie mir alles gebeichtet hat«, dachte er, »dann werde ich sie hinausschicken in ihr Glashaus, wohin sie gehört. Mag sie doch den ganzen Park auf ihrem Herd verheizen, falls es sie friert.«
Aber schließlich schickte es sich nicht für ihn, daß er sich hier in der Einsamkeit so viel mit ihr beschäftigte. Er beschloß dem Unfug ein Ende zu machen.
Ein Hase, der des Wegs dahergelaufen kam, brachte ihn auf andre Gedanken. Er schoß und traf. Das Häslein schlug drei Purzelbäume und blieb dann auf der Nase liegen.
»Darüber wird sie sich freuen«, meinte er, seine Beute über die Schulter hängend. Da dachte er schon wieder an sie.
Der Himmel hatte sich inzwischen umwölkt. Weiße, prickelnde Schauer stäubten zwischen den Stämmen dahin. In das Rauschen und Brausen der Kronen mischten sich wilde, zischende Laute, die ihm Mark und Bein durchschauerten.
Der Kompaß wies ihm den Heimweg. Als er aufs freie Feld hinaustrat, fand er den Schneesturm zu voller Gewalt entwickelt. Kaum vermochte er noch gegen ihn standzuhalten . . . Die Schneemassen verfinsterten die Luft. Von dem Buschwerk des Parkes, der kaum dreihundert Schritt entfernt sein mochte, war keine Spur zu erkennen.
»Hoffentlich ist sie zu Hause«, dachte er und kämpfte sich weiter.
Auf dem Katzensteg lag frischer Schnee. Doch Fußtapfen fanden sich nicht darin. Sie konnten freilich bereits verweht sein.
Das Herz begann ihm zu pochen. Er rannte zum Hause hin, er rief ihren Namen – kein Laut gab Antwort. Der Herd war kalt, die Betten lagen, wie er sie verlassen hatte.
So steckte sie also mitten im Schneesturm, den sie auf ihrem Wege mehr als die Schrandener fürchtete.
Eine quälende Unruhe bemächtigte sich seiner. Er rannte von einem Raum in den andern, machte sich Feuer, verlöschte es wieder, versuchte zu essen und warf voll Widerwillen das Messer fort.
Dann fand er sein Treiben lächerlich. Seit sechs Wintern zog sie in Sturm und Schneewehen hinaus und war noch niemals verunglückt. Warum sollte sie gerade heute – –
Um die Zeit zu töten, setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte mit erstarrenden Fingern einen Schenkungsbrief. Die Ziffer, um die es sich handelte, hatte drei Nullen – Regine durfte zufrieden sein.
Die Dunkelheit nahm zu. Der Zeiger wies auf drei Uhr, und schon schien es Nacht zu werden.
Da hielt es ihn nicht länger im Hause. Wenigstens bis zum Katzensteg wollte er gehen, um nach ihr auszuschauen.
Dort mußte er sich am Geländer festhalten, wollte er vom Sturme nicht heruntergerissen werden. Das Holzwerk knirschte in allen seinen Fugen. Auf dem Eise tief unter ihm tanzten spiralige Wirbel. Lilienstengel wuchsen zu ihm empor und sanken in Häuflein weißen Staubes zusammen, die im nächsten Augenblick von dannen gerissen wurden, um andern Platz zu machen. Der Garten des Madonnenbildchens tauchte vor ihm auf, aber er verschwand sofort, und andre Gestaltungen drängten sich an seine Stelle.
Und plötzlich trat aus der grauen Dämmerung ein Schatten, der schwer und schwankend näher kam.
»Regine! Gott sei gelobt!«
Er wollte ihr entgegeneilen, da durchrieselte ihn heiß ein Gefühl der Scham, das ihm die Glieder lähmte und das Blut zum Herzen trieb.
An derselben Stelle, wo er jetzt auf sie wartete, hatte sie gestern gestanden und in die Dämmerung hinausgeschaut, weil die Sorge um ihn sie nicht hatte ruhen lassen, wie heute ihn die Sorge um sie.
Für einen Augenblick war ihm zumute, als müßte er in den Büschen untertauchen, damit sie ihn nicht sähe, doch im nächsten schämte er sich dieser Scham und trat ihr auf dem Katzensteg entgegen.
»Du hast es schwer gehabt, Regine«, rief er zu ihr nieder und wollte ihr den Sack abnehmen, den sie auf dem Rücken trug. –
Aber hastig trat sie zur Seite und streckte den Ellbogen abwehrend gegen ihn aus. Zu reden vermochte sie nicht, denn Mund und Nase waren in Tücher eingehüllt.
Schweigend schritten sie hintereinander her. An der Schwelle des Hausflurs drehte sie sich um und riß die Tücher vom Gesicht.
»Ich hab' 'ne Bitte, Herr«, sagte sie keuchend.
»Nun?«
»Bleiben Sie für 'ne halbe Stunde draußen oder in der Küche, damit ich heizen und aufräumen kann.«
»Aber ausruhen wirst du doch erst?«
»Später, Herr, wenn Sie erlauben.«
Und sie schritt ins Haus, wo sie im Dunkel ihre Lasten zur Erde fallen ließ.
»Mag sie ruhig drinnen hantieren«, dachte er und wandte sich nach den Ruinen, um dort einen Unterschlupf zu suchen.
Aus den Kellergewölben wehte es warm herauf. Er zündete sich Licht an und schritt die schlüpfrigen Stufen hinunter. Ihm war so wohl, so leicht zumute, als hätte der Christabend ihm wunder was für Freuden gebracht.
Er sah die Weinflaschen mit ihren grünen und roten Kappen lüstern aus ihren Gestellen gucken.
»Sie soll wissen, daß Weihnacht ist!« sagte er lächelnd, und zog aus der hintersten Ecke, dort, wo der Schatz der Schätze aufgespeichert lag, ein paar spinnwebüberzogene Flaschen. Da drinnen gor ein Saft, den noch die Sonne des achtzehnten Jahrhunderts gezeitigt hatte.
Sein jüngster Beschluß kam ihm zu Sinn, doch der fing ja erst morgen zu gelten an. – In der Christnacht schließt sich zusammen, auch was nicht zusammengehört, in der Christnacht soll keiner einsam und traurig sein.
Gehorsam Reginens Wünschen spazierte er eine halbe Stunde lang in den Gewölben hin und her, von deren Mauern eine glitzernde Eiskruste ihre Funken auf ihn niedersprühte. Dann nahm er die Flaschen unter den Arm und stieg in die Sturmnacht hinauf.
Seinem Hause zueilend, bemerkte er mit Erstaunen, daß dessen Läden geschlossen waren, was sonst niemals geschah.
»Sollte der Sturm durch die Ritzen gefegt sein?« dachte er bei sich, aber die Ritzen waren ja wetterfest. – Erst als er den Hausflur betrat, fand er des Rätsels fröhliche Lösung. Dort stand Regine glückstrahlend und verschämt und riß die Stubentür weit vor ihm auf. Erstaunt blieb er stehen.
Kerzenschimmer und Tannenduft drangen ihm festlich entgegen. Auf dem weiß gedeckten Mitteltische stand ein Weihnachtsbaum, mit Wachslichtern besetzt und mit goldenen Äpfeln behangen. Das ganze Gemach strahlte in friedlich-feierlichem Glanze.
Noch nie in seinem Leben hatte für ihn ein Weihnachtsbaum gebrannt. Von fremden Türschwellen her hatte er mit feuchtem Auge in den Glanz des fremden Glückes gestarrt.
Wo war Regine? Hinter ihm, in den finstersten Winkel des Hausflurs gedrückt, stand sie und schaute mit schüchternem Stolze nach ihm aus.
Er ergriff ihre Hand und zog sie ins Zimmer.
»Wie bist du auf diesen Gedanken gekommen, Kind?«
»Die Krämersfrau putzte gerad' ihren Weihnachtsbaum, wie ich dort ankam des Morgens um drei Uhr. Und weil mir das gefiel, dacht' ich: Er soll auch seinen Weihnachtsbaum haben, damit er weiß, daß einer da ist, der für ihn sorgt. – Und dann ließ ich mir zeigen, wie man Äpfel vergoldet, und machte mir gleich 'nen Vorrat, kauft' mir auch Lichter und nahm 'nen Sack mit, damit Sie den Baum nicht gleich bemerkten.«
»Und wer gab dir den?«
»Den schnitt ich mir am Waldrand ab, nicht weit von hier.«
»Mitten im Sturm.«
Sie lachte verächtlich. »Das bißchen Wind, Herr, das tut mir nichts.« Und plötzlich, in hellen Jubel ausbrechend, rief sie: »Da, sehen Sie nur, Herr, wie schön er brennt und wie fromm er aussieht! Nicht wahr, er macht ein ganz frommes Gesicht? Es könnt' ihn ein Engel gebracht haben.«
Er bejahte lächelnd und sagte ihr ein paar Dankesworte voll gezwungener Herablassung, denn er fürchtete, allzu herzlich zu werden.
Aber schon das schien ihr zu viel. »Warum reden Sie so, Herr?« bat sie vorwurfsvoll. »Es ist ja alles für Ihr Geld geschehen. Ich hab' ja keins. Ich bin ja 'ne arme Person – sonst – ach – sonst!« Und sie schlug die Hände über dem Kopfe zusammen.
Der Schenkungsbrief kam ihm zu Sinn. »Damit du siehst, daß ich an deinen Weihnachten auch gedacht hab'«, sagte er und reichte ihr das Blatt.
Befremdet blickte sie ihn an. »Das soll ich lesen?« fragte sie und faßte das Papier respektvoll mit zwei Fingern an.
Und als sie die Schrift genugsam studiert hatte, schaute sie sich ratlos nach allen Seiten um.
»Verstehst du's nicht?«
»Oh – ich – . . . verständ' . . . schon, Herr. – Aber – erstens . . . kann es doch nicht Ihr Ernst sein . . . Und dann . . . wenn's Ihr Ernst wär', was sollt' ich wohl damit?«
»Dir deine Zukunft sichern!«
»Meine Zukunft ist ja gesichert . . . Ich hab' mein gutes Essen, und angezogen geh' ich wie 'ne Dame. Was fehlt mir denn noch!«
»Aber wir können doch nicht allezeit beisammen bleiben!«
Sie stieß einen Angstschrei aus. »Wollen Sie mich fortjagen, Herr?« rief sie mit gefalteten Händen.
»Nicht doch! Aber setz einmal den Fall, daß ich stürbe.«
Sie schüttelte nachsinnend den Kopf. »Dann sterb' ich auch«, sagte sie.
»Oder daß ich in den Krieg müßte.«
»Dann geh' ich als Marketenderin mit.«
Ihre Ausdauer wurde ihm unangenehm. »Tu, wie du willst«, sagte er, »aber nimm, was ich dir gebe.«
Ihr schien ein erlösender Gedanke zu kommen. »Gut, Herr«, rief sie, »ich nehm's, aber nächste Weihnachten schenk ich Ihnen dafür, was mir paßt.« Und glücklich in dieser Hoffnung rannte sie hinaus. – –
Der Weihnachtsbaum war erloschen. Im Ofenwinkel stand er dunkel und bescheiden, und nur von Zeit zu Zeit glitt von seinen goldenen Lasten ein Leuchten aufblitzend zum Tische hin, wo Herr und Dienerin einander gegenübersaßen.
Regine hatte heute mit ihm zusammen Abendbrot essen dürfen, hatte sich sehr ungeschickt dabei benommen und es kaum über sich gebracht, einen Bissen zum Munde zu führen. Das große, unerwartete Glück betäubte sie fast. Nun waren die Schüsseln abgeräumt. Nur Gläser und Flaschen standen noch zwischen ihnen. Sie trank den alten, feurigen Wein in langen, unvernünftigen Zügen. – Nun glühte ihr Gesicht. Ihre Augäpfel schimmerten in verschwommenem Glanze unter den halbgesenkten Lidern hervor. Sie reckte und streckte sich auf ihrem Sitze. Eine wilde Lässigkeit ließ ihre Glieder erschlaffen.
»Bist du müde, Regine?«
Sie schüttelte voll Entrüstung den Kopf. Ihre Scheu vor ihm schien verschwunden. Fast übermütig war der Glanz, der von Zeit zu Zeit in dem glückstrunkenen Auge erglomm.
Auch ihm goß der Wein Flammen in die Glieder. Sein Blick hing wie gebannt an ihrer Gestalt, die sich in mänadenhafter Anmut wand und dehnte.
Inzwischen raste draußen der Sturm, pfiff um die Ecken und schüttelte prasselnde Schauer gegen die Fensterläden. In dem Gebälke des Daches erscholl ein Ächzen und Knarren, als ob das morsche Holz aus seinen Fugen gerissen würde.
»Ich fürchte, es geschieht ein Unglück«, sagte er horchend.
»Mag doch«, erwiderte sie mit träumerischem Lächeln und kauerte sich zusammen, und dann hub sie aus freien Stücken zu schwatzen an: »Ich mein', es tut nicht gut, Herr«, sagte sie, »daß Sie so gut zu mir sind. Ich hab' mein Lebtag nur Schläg und Schimpfe bekommen – zuerst vom Vater, dann von Ihm – und die fremden Leute gar nicht zu rechnen, und ich werd' wohl auch nichts Besseres verdient haben. Aber wenn Sie mich verwöhnen, Herr, dann werd' ich stolz werden – und Stolz ist ein großes Laster, hat der Pfarrer gesagt . . . ich werde denken, ich sei 'ne Prinzessin geworden und hätt' nicht mehr nötig, dienen zu gehen.«
Sie brach in ein tolles Lachen aus und ließ die Arme am Leibe heruntersinken. Leiser, wie mit sich selber redend, fuhr sie fort: »Es ist überhaupt noch die Frage, ob ich ein Dienstbote bin. Manchmal scheint's mir, als sei ich 'ne verwunschene Prinzessin – und Sie, Herr, werden mich erlösen. – Werden Sie, ja?« –
Und sie blinzelte an ihrem Weinglas vorbei zu ihm hinüber.
Er nickte ihr freundlich zu. Mochte sie in ihren Träumen schwelgen. Es war ja Weihnacht.
»Es sind Fälle vorgekommen«, fuhr sie fort, »wo eine Prinzessin ganz zur gewöhnlichen Kröte geworden ist. Die haben die Menschen auch mit Steinen geworfen und haben ausgespien vor ihr, und haben gerufen: Schlagt sie tot, die schmutzige Kröte. Und doch hat 'ne Prinzessin dahinter gesteckt.«
»Glaubst du denn an Kindermärchen?« fragte er verwundert.
Sie lachte vor sich hin. »Nein, Herr. Aber wenn man so viele Stunden im Jahr allein und unterwegs ist, muß man zu denken haben. Und wenn der Regen platscht und der Sturm saust – hören Sie nur, Herr, was für'n Spektakel er macht – denken Sie mal, wenn ich nun jetzt unterwegs wär'. Und ich bin schon oft so unterwegs gewesen. Aber ich hab' nie was davon gespürt. – Wenn ich in den Wald 'reinkam, hab' ich mich gefragt: Willst du 'ne Königin sein und auf einem goldenen Throne sitzen? . . . oder willst du 'ne katholische heilige Jungfrau sein und unseren lieben Herrn und Heiland zum Sohne haben? . . . oder willst du dem Teufel seine Großmutter sein und alle Schrandener in Pech und Schwefel schmoren? . . . oder willst du lieber 'ne gnädige Frau sein und« – – sie stockte.
»Und?«
Sie reckte sich und lachte beklommen. »Das sag' ich nicht – das ist zu dumm. – Kurz und gut, ich hab' dann bloß zu wählen. Und während ich durch Nacht und Nebel marschier', mal' ich mir alles aus und bin mit einem Male in Bockeldorf, als wär' ich durch die Lüfte geflogen. Manchmal denk' ich mir auch, ich flieg'. Und dann flieg' ich wirklich. Es ist im Leben alles genau so wie im Märchen. Nicht wahr, Herr?«
Er betrachtete sie mit Neugier und Verwunderung, als hätte er sie noch nie gesehen. Und es war ja auch das erstemal, daß er einen Blick in ihre Seele tat, da der Wein ihr die Zunge gelöst hatte. Nun wurde ihm manches an ihr klar, was er bisher verständnislos hingenommen hatte.
»Glückseliges Geschöpf«, murmelte er.
»Bin ich auch«, erwiderte sie trotzig und stemmte die Ellenbogen auf den Tisch, indem sie ihn in fröhlicher Herausforderung anblickte. »Daß ich hier mit Ihnen zusammensitz' und Wein trink' und wie ein Mensch behandelt werd', das ist akkurat so wie im Himmelreich . . . Meinen Sie überhaupt, daß ich je dahin kommen werd'? . . . Ich glaub's nicht! Ich bin ein zu schlechtes Frauenzimmer . . . Und eigentlich hab' ich auch Angst davor . . . Denk's mir in der Hölle viel lustiger . . . Dort gehör' ich auch hin . . . Schon der Herr Pfarrer pflegte zu sagen, ich sei ein kleiner Deiwel, und ich hab' mich nie darüber gegrämt. Warum sollt' ich mich auch grämen? Ich war der Teufel und Helene der Engel. So war alles vortrefflich eingerichtet! . . . Nicht wahr, Herr, die Helene sah doch aus wie'n leibhaftes Engelchen? So weiß und rosenrot und die Augen so blau, und immer ging sie mit gefalteten Händen. Und schöne . . . Schleifen . . . trug sie um . . . den Hals und roch immer nach . . . Rosenseife.«
Ihn durchrieselte es kalt. Ein dumpfes Gefühl sagte ihm, daß er sich und die Geliebte herabwürdigte, wenn er diese halbtrunkene Dirne von ihr wie von ihresgleichen reden ließ.
»Hör auf!« stieß er heiser hervor.
Sie antwortete ihm nur noch mit einem verträumten Lachen. Wein und Müdigkeit hatten sie plötzlich bewältigt. Nun lag sie auf dem Stuhle ausgestreckt, den Kopf über die Lehne geworfen, und kämpfte mit dem Schlafe. – Wie eine Bacchantin lag sie in seligem Taumel da. –
In ihm wogte ein Zorn, der sich hob und senkte wie die Schauer des Sturmes draußen.
»Das macht der Wein«, dachte er und trank.
Er wollte sie wecken, sie hinausschicken, aber er vermochte den Blick nicht von ihr loszureißen. Und allgemach fühlte er sich versöhnlicher werden.
»Sie hat es nicht bös gemeint«, dachte er und faltete die Hände, indem er dicht an sie herantrat. »Es wird ja das letztemal sein, daß sie bei mir drinnen sitzt, und morgen ist alles vergessen. Von morgen an soll sie nur noch den Herrn in mir finden.«
Ihm kam in den Sinn, was er sie alles hatte fragen wollen. – »Es ist gut so«, dachte er weiter. »Wozu sich die Christnacht verderben. Ein andermal.«
Der Sturm schien noch zu wachsen. Die Schlösser klirrten, die Läden erzitterten. – Eigentlich war es grausam, sie in das eisige Glashaus hinauszujagen, aber was half das Mitleid?
»Regine!« rief er, sie an der Schulter packend. –
In diesem Augenblick erscholl ein Prasseln, ein Donnern, ein Dröhnen, so fürchterlich, daß die Mauern zu wanken und der Erdboden sich zu öffnen schien.
Regine schrie hell auf, versuchte seine Hand zu umklammern und sank dann wieder zurück. Er schritt hinaus, um nach der Ursache des Lärms zu forschen. Im Hausflur war nichts zu entdecken; doch als er die Tür des Glashauses öffnete, stob ein Schneeschauer ihm entgegen, als ob er ins Freie träte. Ringsum schwarze Nacht. Er ging zurück und zündete seine Laterne an. Das Bild der Zerstörung, das nun, grell beleuchtet, sich ihm darbot, übertraf seine schlimmsten Ahnungen.
Reginens Heimstätte, von der aus sie geräuschlos die ganze Wirtschaft versah, schien in einen Trümmerhaufen verwandelt.
Das Dach war zur Hälfte eingestürzt und hatte einen Teil der Mauer mitgerissen. Zwischen der Tür und dem Herde lag ein Schneewall von Mannshöhe, gespickt mit Balken, Ziegeln und Glassplittern.
Was nun? Wohin mit Reginen? Wollte auch er sie wie einen Hund vor seiner Schwelle liegen lassen? Lieber wanderte er nach den Ruinen aus und suchte sich ein Lager in den Kellergewölben.
Sein Entschluß war rasch gefaßt. Es gab nur ein Mittel. Das mußte ergriffen werden.
Er zog Reginens Betten aus dem Schnee hervor, schüttelte sie im Hausflur sorgfältig ab, so daß nicht eine Flocke daran hängenblieb, und trug sie dann in das Zimmer. In dem Ofenwinkel, halb unter dem Weihnachtsbaum, bereitete er auf der Diele ein Lager.
Regine schlief, vom Scheine der Öllampe friedlich beleuchtet.
Er trat zu ihr und rief und schüttelte sie. Aber sie war nicht zu erwecken.
Da hob er sie empor, um sie zu ihrem Bette hinzutragen. – Sie seufzte tief auf, umschlang mit ihren Armen seinen Hals und ließ den Kopf an seine Schulter sinken.
Sein Herz begann zu klopfen. Der blühende Leib, der auf ihm ruhte, machte ihm angst. – Halb trug, halb schleppte er sie durch das Zimmer. – Ihr Atem überrieselte ihn mit lauer Wärme . . . ihr Haar streifte seinen Hals.
Als er sie auf ihr Lager hinsinken ließ, griff sie mit den Armen wie sehnsüchtig in die Luft und riß dabei das Tannenbäumchen mit.
Er zog es unter ihrem Leibe hervor und stellte es als Schirm und Wache zwischen sich und sie. »Morgen werd' ich eine spanische Wand aufrichten«, dachte er.
Dann kleidete er sich aus und ging zu Bette.
Das Licht erlosch, aber an ein Einschlafen war nicht zu denken. Draußen raste der Sturm und zerrte in ohnmächtiger Wut an Schlössern und Riegeln.
Boleslav hörte nichts davon. Während er auf den Atem des schlafenden Weibes horchte, ging schwer und angstvoll sein Atmen durch die Nacht.