Hermann Sudermann
Der Katzensteg
Hermann Sudermann

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13

Sr. Hochwohlgeboren dem Freiherrn Boleslav von Schranden auf Schloß Schranden.

Ew. Hochwohlgeboren

werden hierdurch angehalten, am 3. Januar anni futuri um zwei Uhr nachmittags im Gastlokale des Herrn Merckel zu Schranden sich persönlich zu gestellen und die erforderlichen Papiere mitzubringen, um Dero Angehörigkeit oder Nichtangehörigkeit zur preußischen Landwehr vor mir auszuweisen.

Im Auftrage des Kreisausschusses für Landwehrangelegenheiten:

Der Königliche Landrat v. Krotkeim.

Dieses Schreiben fand Boleslav am Neujahrsmorgen in dem Kasten der Zugbrücke.

Nicht sogleich begriff er das Bedrohliche des Inhalts, nur daß die Behörde auf sein Militärverhältnis hatte aufmerksam werden können, machte ihn stutzig. Seit er den Namen seines Vaters wieder angenommen, hatte er beschlossen, den Leutnant Baumgart verschollen sein zu lassen für alle Zeit. Er hatte seiner Pflicht genügt; kühner und opferfreudiger als tausend andre hatte er sich dem Tode preisgegeben. Nun, da der Friede geschlossen war und er aufs neue die Bürde ererbter Schmach auf seine Schultern geladen hatte, wünschte er, von müßigen Federfuchsereien verschont zu bleiben.

Erst allgemach sah er ein, welch neue Gefahren auf ihn lauerten. Das einzige, was seinem verdorbenen Leben Halt und Weihe gab, die Ehre seiner soldatischen Vergangenheit, sollte ihm unter den Füßen fortgezogen werden.

Wehrlos stand er dem drohenden Unheil gegenüber.

Nur wenig böser Wille gehörte dazu, um seine Handlungsweise als Fahnenflucht aufzufassen und demgemäß abzuurteilen, ja selbst die Führung des falschen Namens konnte ihm unter obwaltenden Umständen als Verbrechen angerechnet werden.

Der Sohn des Freiherrn von Schranden durfte nicht darauf zählen, daß man Gnade für Recht ergehen ließ. Und wenn man ihn auf der Stelle gefangennahm, um ihn dort, wo die Überbleibsel seines Regiments kantonierten, vor ein Kriegsgericht zu stellen, so durfte er sich nicht einmal über Härte beklagen.

Für einen Augenblick war der Gedanke an Flucht in ihm aufgestiegen, aber mit trotzigem Lachen hatte er ihn von sich gewiesen.

Oft genug war sein Leben ihm feil gewesen, es lohnte wahrlich nicht, die paar elenden Reste, die davon noch übrig waren, bei Nacht und Nebel ins Polenland hinüberzuschmuggeln. –

Aber was sollte aus Reginen werden? Ihm klopfte das Herz bei diesem Gedanken. Sie hatte keine Ahnung von dem, was ihm drohte. Seit der Weihnachtsnacht sprach er kaum das Nötigste mit ihr, und auch das kam finster und herrisch zum Vorschein. Die Kehle schnürte sich ihm zu, wenn er sie sah, und zentnerschwer wie die Ahnung hereinbrechenden Unglücks legte es sich auf seine Brust, sobald er ihrer nur gedachte.

Die Nächte über wälzte er sich ruhelos in den Kissen umher. Sie in ihrem Winkel rührte sich nicht. – Sie schien fest eingeschlafen in dem Augenblick, da sie sich auf ihr Lager geworfen hatte.

Aber ihr Atem ging leise und kurz und ward hin und wieder von einem tiefen, keuchenden Schlucken unterbrochen.

Wachte vielleicht auch sie? Horchte auch sie? – –

So dämmerte der Tag heran, an welchem Boleslavs Schicksal sich entscheiden sollte. Gegen Morgen hatte er endlich Schlaf gefunden. Nun weckte ihn der Rauch, der aus dem Hausflur atembedrückend ins Zimmer drang. Dort hatte er einen Notherd errichtet, der vorhalten mußte, bis die mildere Witterung eine Ausbesserung des Glasdaches gestattete.

Es war ein klarer, sonniger Frosttag. Glitzernder Raureif lag auf dem Gezweig, und über die weißen Schneeflächen glitt ein müder Purpurschein.

Den Vormittag brachte er beim Ordnen der Papiere zu. Was irgend belastend für das Andenken des Vaters war, sollte vernichtet werden, denn es war anzunehmen, daß, wenn man ihn heut in Verhaft nahm, morgen bereits fremde Hände in diesen Stößen wühlen würden.

Schon hielt er die Briefe in der Hand, um sie dem Ofenfeuer anzuvertrauen, da besann er sich eines Besseren. Wenn es ihm Ernst damit war, des Vaters Schuld auf sich zu nehmen, durfte er nichts vertuschen, nichts verheimlichen und seine Bürde nicht leichter machen! Die Wahrheit zu fälschen, war seiner nicht wert. Lieber in Schanden zugrunde gehen, als Leben und Ehre auf Lügen erbauen.

Als Regine ihm sein Mittagessen brachte, schwankte er einen Augenblick, ob er ihr alles sagen sollte. Aber wozu rührsame Szenen heraufbeschwören? Ein Brief tat denselben Dienst. »Wenn ich bis zur Dämmerung nicht hier bin«, so schrieb er, »wirst du mich schwerlich wiedersehen. Frage in Wartenstein auf dem Landratsamte nach. Dort wirst du erfahren, wohin man mich gebracht hat. Ich rate dir, Schranden sofort zu verlassen. Die Schenkung sichert deine Zukunft. Was mir nach allem noch bleibt, werde ich hinzufügen. Lebe wohl und hab' Dank.«

Das Blatt legte er an unauffälliger Stelle nieder, so daß sie es vor dem Aufräumen nicht finden konnte. Dann rüstete er sich zum Gange. Sein Sinn war hart und verbittert. Kein Abschiedsgedanke erwachte darin.

Als er im Hausflur an Reginen vorüberschritt, die am Herde beschäftigt war, zuckte der Wunsch in ihm auf, ihr die Hand zu drücken. Aber er bezwang sich um ihretwillen und gönnte ihr nicht Wort, nicht Blick. Vor der Zugbrücke sah er ein Rudel gaffender Jungen, die auf ihn zu lauern schienen und bei seinem Nahen mit großem Geschrei dem Gasthause zu liefen.

»Meine Herolde!« sagte er und lachte . . .

Zur selbigen Stunde vermochte die Schankstube des »Schwarzen Adlers« die herandrängenden Gäste nicht mehr zu fassen. – Bis weit hinaus auf den Kirchenplatz standen sie zusammengepfercht und prügelten sich um brauchbare Plätze. – Ein jeder wollte den Untergang des letzten der Schrandener Freiherren mit eigenen Augen sehen.

Fast schon drei Monate waren vergangen, seitdem die Eingabe an die oberste Behörde der Provinz abgesandt worden war, und schon begannen die eifrigsten der Patrioten an dem Erfolge des guten Werkes zu verzweifeln. Da kam vom Landratsamt die Freudenbotschaft, daß in Sachen von Schranden alias Baumgart Termin anberaumt sei, dem beizuwohnen die Unterzeichner jenes Schriftstücks eingeladen wurden.

Die Schrandener hatten sich würdig gerüstet. Drei Tage lang waren sie nicht nüchtern geworden. Wer von den entlassenen Landwehrmännern seine Litewka noch besaß, hatte sie angelegt, auch Piken und Säbel ragten aus dem Haufen. Es war ja möglich, daß es galt, auf der Stelle Justiz zu üben.

Um ein Uhr war der landrätliche Schlitten eingetroffen und hatte wie auch sonst auf dem Pfarrhofe Station gemacht, wo Herr Merckel und sein Sohn zur Bewillkommnung bereit standen. Ein Gendarm hatte nicht auf dem Bock gesessen, was die Schrandener höchlich befremdete. Aber schließlich waren sie ja da, um mit Gut und Blut für den Transport des Übeltäters einzustehen.

Kurz vor zwei Uhr hatte der Landrat gemeinsam mit dem alten Pfarrherrn dessen Haus verlassen und war von der Hinterseite aus in den Gasthof eingetreten, an dessen Schwelle Herr Merckel senior ihn wiederum dienernd empfing, während Felix als Überzähliger mißmutig hinterdrein trollte, da er fand, daß ihm von den Zivilbeamten nicht genug Respekt erwiesen wurde.

Der Landrat von Krotkeim war ein hochgewachsener, überschlanker Mann, auf dessen schmalen Schultern ein grauer Löwenkopf sich mühsam in ehrfurchtgebietender Pose hielt. Er trug den Backenbart der Mode der Zeit entgegen lang ausgewachsen, so daß die grauen Bartzotteln mit der wallenden Mähne hinter den Ohren zusammenflossen.

Herr von Krotkeim war ein um die Wehrhaftmachung des Vaterlandes hochverdienter Mann. – Er hatte vor zwei Jahren als Deputierter der eingesessenen Ritterschaft dem berühmten Landtage angehört, welchem das Vaterland die Gründung der Landwehr verdankte. Er hatte dem alten Yorck zugejubelt und die Adresse an den König unterzeichnen helfen. Darauf war er in die Heimat zurückgeeilt, um die Organisation daselbst in die Hand zu nehmen, und hatte Resultate erzielt, die seinen Kreis über das ganze Land hinaus als Muster leuchten ließen. Dann stellten die Marodeure des Erfolges, Eitelkeit und Eigensucht, sich bei ihm ein. Was zum Beginne ein Werk lauterster Opferfreude gewesen war, wurde allgemach ein Postament für die eigene Persönlichkeit, ein Denkstein, um seinen Ruhm der Welt zu verkündigen. – Im übrigen hatte er schon lange, bevor die Kunde vom Katzenstege in die Welt gedrungen war, als erbitterter Feind des Schrandenschen Hauses gegolten. Gutes stand von ihm nicht zu erwarten.

Als Boleslav den Kirchplatz betrat, hatte er mit seinen Hoffnungen abgeschlossen. Gefaßt, gleichgültig beinahe schritt er dem Haufen entgegen, der die Gasthaustür ummauert hielt. Nur einen einzigen scheuen Blick sandte er nach dem Pfarrhause hin. Ihm war, als sähe er an einem der Fenster ein lichtes Angesicht, das eiligst im Dunkel verschwand, als er mit einem matten Lächeln nach ihm hinübergrüßte.

Ein schadenfrohes Gemurmel empfing ihn, die Mauer vor ihm tat sich gutwillig auseinander, denn so viel Überlegung besaßen sie alle, um sich klar zu werden, daß ohne ihn der Skandal nicht losgehen könne.

Am Eingange des Herrenstübchens stand er dem Mann mit der Löwenmähne gegenüber, zu dessen Seiten der Pfarrer und der alte Merckel Platz genommen hatten, während Felix am Fensterbrette lehnte und eine vornehm lässige Haltung anzunehmen bestrebt war. Der einstige Jugendgespiele stand nun so tief unter ihm, daß es sich nicht mehr der Mühe verlohnte, ihm selbst im Hasse einige Aufmerksamkeiten zu schenken. Um so freundlicher lächelte der Alte Boleslav entgegen. Und wenn er gekommen wäre, um die ganze Gesellschaft mit Merckels berühmtem Muskatwein zu bewirten, dieses Lächeln hätte nicht wohlwollender und nicht unterwürfiger sein können.

Unter den Brauen des Pfarrers hervor schoß ein Blitz, und der Landrat besah kühl abwartend seine Hände, die weiß und knochig waren wie die eines Gerippes.

Boleslav fühlte, wie seine Brust in Stolz sich schwellte.

Seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn! So war es, so sollte es bleiben.

Aus dem Haufen rief eine lallende Stimme ein unflätiges Wort hinter ihm her. Die Schrandener lachten.

»Es ist der Vater – der unglückliche Vater«, flüsterte Herr Merckel dem Landrat wehmütig zu.

»Sind Sie der, welcher mich hierher bestellt hat«, rief Boleslav, »so verlange ich von Ihnen Schutz vor den Beleidigungen dieser Menge.«

Der Landrat kniff die Augen zusammen und verneigte sich.

»Ruhig, ihr lieben Leute«, bat er, indem er sich das glattrasierte Kinn strich, und einschmeichelnd fügte er hinzu: »Die Ruhestörer lass' ich hinauspeitschen.«

Dann griff er nach einer grünlichen Mappe, die auf dem Tische lag. Hinter ihm wurde ein graues Männlein sichtbar, welches eifrig langschweifige Gänsekiele probierte. Der Protokollführer wahrscheinlich.

Das Verhör begann. Mit eisiger Höflichkeit stellte der Landrat die Generalfragen. »Wo haben Sie gelebt – wenn es zu wissen erlaubt ist?«

Boleslav zählte die Orte auf.

»Ihr Wort sei heilig, Herr Baron, aber haben Sie Belege dafür?«

»Nein.«

»Bis zu welchem Zeitpunkt gelten Ihre Angaben?«

»Bis zum Frühlinge des Jahres dreizehn.«

»Und dann?«

»Dann trat ich in das Heer.«

»Haben Sie Belege dafür?«

»Nein.«

»Ich bedaure unendlich – aber der Name von Schranden findet sich nicht in den Listen.«

»Ich hatte einen andern gewählt.«

»Den Namen Baumgart?«

»Ja.«

»Aus welchem Grunde taten Sie dies?«

Boleslav biß die Lippen zusammen. Ein Schweigen entstand.

»Aha!« tönte es triumphierend vom Fenster her. Dieser Ruf half Boleslav über den qualvollen Augenblick hinweg.

»Mein wahrer Name hätte mir Schwierigkeiten bereitet.«

»Weshalb?«

»Weil er durch ein Gerücht, gegen das ich nicht ankämpfen konnte, besudelt war.«

»Welches Gerücht?«

Es war klar, dieser Mensch wollte ihn erst nach Kräften demütigen, ehe er ihn zugrunde richtete.

»Sie kennen es«, murmelte er zwischen den Zähnen hervor.

Der Landrat verneigte sich tief. »Ich bitte Sie trotzdem um gütige Auskunft.«

»Und ich verweigere sie.«

Ein Hohngelächter erhob sich im Haufen. »Macht doch ein End' mit ihm – legt ihn in Ketten«, ließ die lallende Stimme sich hören, die vorhin das Schimpfwort gerufen hatte.

Der Landrat schwenkte begütigend die langen, weißschimmernden Hände.

»Man hat die Weigerung notiert?« fragte er, ohne sich umzuwenden.

Ein dünnes Stimmchen hinter ihm sagte: »Sehr wohl«, was die Schrandener höchlich amüsierte.

In unbeirrbarer Höflichkeit fuhr er fort: »Doch darf ich vielleicht um Angaben des Truppenteils bitten, welchem Euer Hochwohlgeboren sich attachierten?«

Boleslav berichtete, was nötig war. Auch seine Kameraden von der Heide führte er auf.

Der Landrat blätterte gelangweilt in seiner Mappe. Die Angelegenheit, die sich »freiwillige Jäger« nannte, interessierte ihn nicht.

»Dort wählte man Sie zum . . . Offizier?«

»Ja.«

»Ihr Wort sei heilig, Herr Baron, aber haben Sie hierfür Belege?«

»Nein.«

»Man notiere diese Verneinung. Und dann traten Sie zur Landwehr über?«

»Ja.«

»Aus welchen Gründen?«

Boleslav wies auf seinen Jugendgespielen. »Weil ich jenem Manne nicht begegnen wollte.«

Felix schlug eine grelltönende Lache auf und rief: »Der Schwindel wäre sonst« – ein Wink des Landrats gebot ihm Schweigen.

»Zu welchem Regiment? – Bitte!«

Boleslav nannte den Namen des Kommandeurs.

Der Landrat beugte sich tief über die Mappe, so daß die ganze Mähne das welke, schmale Gesicht fast ganz bedeckte.

»Das stimmt allerdings mit meinen Angaben überein«, sagte er lesend. – »Dort gab es einen Leutnant Baumgart, der zur Zeit des Waffenstillstandes in das Regiment trat. Außerdem existierten in der Armee noch vier andre Offiziere dieses Namens. Der Betreffende aber, auf den Sie sich berufen, hat zwischen dem 1. und 3. März in den Kämpfen an der Marne seinen Tod gefunden.«

»Woher wissen Sie das, Herr Landrat?«

»Es steht in den Listen, Herr Baron! Auf einem Ordonnanzritte ist er von den Grenadieren des Korps Marmont erschossen worden.«

Boleslav fühlte, wie heiße Blutwellen ihm zu Kopfe fluteten. Die schwersten und stolzesten Stunden seines Lebens stiegen leibhaftig vor ihm auf. »Das ist ein Irrtum«, rief er, »der Leutnant Baumgart fiel schwerverwundet in die Gewalt der Feinde, kam aber mit dem Leben davon.«

»Und Sie wünschen demgemäß mit jenem toten Ordonnanzreiter als identisch betrachtet zu werden?«

»Ich glaube diesen Wunsch klar genug ausgedrückt zu haben.«

»Nun wohl – so werden Sie auch wissen, um was es sich bei dem bewußten Ritte handelte.«

»Selbstverständlich.«

»Ich bitte um Mitteilung.«

»Es war ein Aufruf nach Freiwilligen ergangen, um an den General von Kleist eine Botschaft zu überbringen. Tags zuvor hatte an einem Flusse namens Therouanne ein Gefecht stattgefunden, in dem der General mit seinem Korps von dem Hauptheere abgedrängt worden war. Die Truppen der Marschälle Marmont und Mortier hatten sich dazwischen geschoben, so daß eine Wiedervereinigung im Augenblick sich nicht ermöglichen ließ, zudem war, wie es hieß, Napoleon selber im Anmarsch. – Nun faßte der Feldmarschall Blücher plötzlich den Entschluß sich zurückzuziehen, um, glaube ich, Verstärkungen herankommen zu lassen. Davon mußte der General unter allen Umständen benachrichtigt werden, damit er nicht isoliert zurückblieb. Es galt, die Botschaft zur Nachtzeit an den Vorposten der Feinde vorbeizuschaffen. Unter den Freiwilligen gab man mir den Vorzug. – Major von Schack führte mich vor den Feldmarschall. – Der überreichte mir einen Brief.«

»Bitte, einen Augenblick«, unterbrach ihn der Landrat und las eifrig in seinen Papieren, dann sagte er leichthin: »Und dieser Brief enthielt natürlich den Befehl, auf den es ankam?«

»Nein.«

»Was sonst?«

»Dieser Brief diente dazu, die Feinde zu täuschen, für den Fall, daß man mich vom Pferde schoß. Den Befehl teilte der Feldmarschall mir mündlich mit. Ich mußte ihn auswendig lernen.«

»Wie lautete er?«

»Werde morgen den Feind in rechter Flanke angreifen, um Rückmarsch zu kaschieren. Der General von Kleist beteiligt sich nicht an dem Gefechte, sondern versucht während dieser Zeit südwärts die Marne zu gewinnen, um Fühlung mit mir zu bekommen. Sämtliche Brücken sind nach der Passage zu sprengen.«

Der Landrat nickte. »Und dann, Herr – Leutnant?«

»Dann führte ich den Befehl aus.«

»Es gelang Ihnen also, zu Ihrem Ziele durchzudringen?«

»Ich hoffe, Herr Landrat, daß Ihnen hierfür die Geschichte des Krieges die Belege geliefert hat.«

»Hm! – – Bei welcher Gelegenheit wurden Sie denn verwundet?«

»Auf dem Heimwege.«

»Warum blieben Sie nicht da, wo Sie waren?«

»Weil ich übernommen hatte, dem Feldmarschall eine Rückmeldung zu überbringen.«

»Dieses zweite Wagnis hätten Sie sich sparen können.«

»Ich hätte mir auch das erste sparen können.«

»Sie suchten den Ruhm.«

»Ich suchte unter anderm dem Vergnügen dieses Verhörs zu entgehen.«

Der Landrat richtete sich auf und warf die Mähne zurück: »Ich erlaube mir, Sie aufmerksam zu machen, daß Sie vor dem Vertreter Ihres Königs stehen, Herr Baron von Schranden.«

»Solch eine Unverschämtheit!« ertönte ein Murmeln vom Fenster her.

»Ich stehe vor meinem Vernichter«, erwiderte Boleslav, dem Landrat fest ins Auge schauend.

Der blickte mit einem verbissenen Lächeln in seine Papiere. »Das führt mich zu dem letzten Teile meiner Untersuchung«, fuhr er fort. »Es ist nicht zu bezweifeln, daß Ihre Angaben auf genauer Kenntnis des Geschehenen beruhen und daß Ihre Behauptung, mit dem pp. Baumgart, der in der schlesischen Landwehr unter dem Major von Wolzogen diente, identisch zu sein, an Wahrscheinlichkeit gewonnen hat, aber demgegenüber steht die Unmöglichkeit, daß der pp. Baumgart, der alles in allem ein tapferer und ehrliebender Offizier gewesen zu sein scheint, es für gut befunden haben soll, der Armee, in welcher er Ehren und Wunden geerntet hatte, heimlich wie ein Fahnenflüchtiger den Rücken zu kehren. Er mußte doch wissen, daß ein Truppenteil nicht wie eine Rotte Spatzen auseinanderflattern darf – und insbesondere die Landwehr« – seine Brust hob sich höher, seine Mähne schien sich zu sträuben –, »die glorreiche Landwehr, die der Linie zu beweisen hatte, daß sie, wie an Mut, so auch an Ordnungsliebe und Disziplin allezeit in erster Reihe steht . . . Freiherr von Schranden, ich hoffe, daß der Leutnant Baumgart sich dieses Vergehens nicht schuldig gemacht hat, und wünsche daher, er habe den Tod gefunden.«

Boleslav fühlte die Katastrophe nahen. Sein Blick glitt in die Runde, überall schaute er in Augen, die von Haß und Rachsucht glühten. Felix Merckel hatte die Hand an den Säbelkorb gelegt, als gälte es, im nächsten Augenblick über ihn herzufallen. In dem Haufen hinter ihm ertönte ein Klirren von bereit gehaltenen Waffen. Aus dem feisten Gesichte des Gastwirts lachte hämisches Vergnügen ihn an. – Nur der alte Pfarrer hatte den wilden Kopf in beide Hände gestützt und stierte vor sich nieder.

»Meine Schuld ist es nicht, Herr Landrat, daß man den Toten wieder lebendig macht. Er hatte, glaub' ich, seine Pflicht getan. Man hätte ihn ruhen lassen sollen.«

Der Landrat zuckte die Achseln. »Da nun aber einmal die Denunziation gegen ihn eingelaufen ist –«

»Eine Denunziation?« rief Boleslav in aufflammendem Zorne. Sein Blick traf das Auge des jungen Merckel. Dort las er, in Scham und Wut geschrieben, die Geschichte seines Verderbens. Er lächelte und nickte.

»Ich werde mich vor dem Kriegsgerichte zu verantworten haben. Ich war darauf gefaßt und bitte, mich in Verhaft zu nehmen.«

Der Haufen drängte nach vorne, um seine Bitte prompt zu erfüllen. – Boleslav, der bislang auf der Schwelle gestanden hatte, wurde gegen den Tisch hin geschoben und stand dem Landrat Brust an Brust gegenüber, hinter sich die Fäuste, die schon nach seinem Nacken tasteten.

»Geduld, liebe Freunde«, sagte der Landrat weich und freundlich. »Wer Hand an ihn legt, kommt selber in Verhaft. – Noch eine Frage, Herr Baron. – Da Sie gefangengenommen waren, wie Sie behaupten, wie kommt es, daß Sie bei der später erfolgten Auswechslung nicht ordnungsmäßig registriert und abgeliefert wurden?«

»Die Franzosen hatten mich, weil ich schwerverwundet war, bei ihrem eiligen Abzug zurückgelassen. Auf dem Felde bin ich von Bauersleuten aufgelesen worden. Monatelang lag ich darnieder. Als ich fähig war, meine Retter zu verlassen, war der Friede geschlossen und kein Verbündeter in der Nähe.«

»Ihr Wort sei heilig, Herr Freiherr, aber haben Sie hierfür vielleicht Belege?«

»Keine andern, als meine Narben, Herr Landrat.«

»Hm! – Man notiere auch dies.« – Er räusperte sich und strich die Mähne zurück, dann begann er, wie zu einer feierlichen Ansprache ausholend:

»Meine Herren! Wackere Wehrleute und Insassen von Schranden! Die Errichtung der Landwehr ist der Aufgang einer neuen Sonne, die fortan ewig über dem Ruhme des Preußenlandes leuchten wird. Preisen wir uns selig, daß wir in eine Zeit gesetzt worden sind, die so Großes von uns verlangte, und doppelt selig, daß wir uns dieses Verlangens würdig zeigten. Insbesondere dieser Kreis. Und in dem Kreise nicht zumindest die Gemeinde Schranden. Schauen wir doch um uns. Manch trübes Bild entrollt sich uns anderswo. Der König hatte gerufen, aber nicht überall antwortete ihm ein freudiger Widerhall . . . Oh, meine Freunde, das Herz blutet uns, wenn wir hören, daß in den Kreisen Konitz und Stargard zum Beispiel sich die gestellungspflichtigen Mannschaften in die Wälder und in das hohe Getreide geflüchtet hatten und daß ein wahres Kesseltreiben nach ihnen veranstaltet werden mußte, daß anderweitig Tausende über die Grenze flüchteten, um der Einstellung zu entgehen, und daß die schon gebildeten Kompanien sich über Nacht durch Massendesertationen wieder lichteten. Wie ganz anders in dem Kreise, den zu leiten ich das Vergnügen habe! – Freunde und Kameraden! Die Landwehr des Kreises Wartenstein hat innerhalb zweier Wochen fix und fertig bewaffnet und ausgerüstet auf dem Plan gestanden. Die Kadres waren doppelt so stark, als die Regierung uns auferlegt hatte, und achtzig Prozent davon bestanden aus Freiwilligen. Ja, in der Gemeinde Schranden gab es nur Freiwillige.« –

Der Volkshaufe erhob ein Hurrageschrei, und der Pfarrer nickte mit grimmig befriedigtem Lächeln vor sich hin. Er wußte wohl, wessen Werk das war.

»Ich gebe ja zu«, fuhr der Landrat mit einem eisigen Seitenblick auf Boleslav fort, »die Gemeinde Schranden hatte einen häßlichen Schmutzfleck abzuwaschen« – einzelne Verwünschungen wurden laut – »einen Flecken, der leider trotz aller Ruhmestaten für ewig an ihrem Namen kleben wird« – die Flüche verstärkten sich – »aber wenn die Gnade des Königs darüber hinwegschaut und nur die lichten Seiten des Namens Schranden zu beachten geruht, so ist das nicht zum mindesten jener Wehrhaftigkeit zuzuschreiben, deren Leiter ich mich mit Stolz und Freude nennen darf. Die Gnade des Königs –«

»Was will er nur mit der Gnade des Königs?« dachte Boleslav, »er könnte doch kurzen Prozeß machen.«

»– hat sich über uns ergossen, hat uns fast erdrückt mit ihren Segnungen. Und wer zuallererst die Früchte erntet, der mag sich erinnern, daß die braven Wehrleute – und nicht zum mindesten ihr Organisator – die Saat des Ruhmes säten, die er nun einheimst.« Er blätterte in seinen Papieren, dann fuhr er fort: »Nehmt eure Mützen ab, wackere Einsassen – stillgestanden, Wehrleute – bitte, erheben Sie sich gütigst, meine Herren – wer da hinten seine Mütze nicht abnimmt, wird 'rausgeworfen – ich habe Ihnen eine Allerhöchste Kabinettsorder zu verlesen. Sie lautet:

»Verhält es sich wahrheitsgemäß, daß der Freiherr Boleslav von Schranden auf Schloß Schranden und der Leutnant Baumgart vom 15. schlesischen Landwehrregiment ein und dieselbe Person sind, und bestätigt es sich, was bei einem so tapferen Offizier vorauszusetzen, daß eine böswillige Desertion nicht vorliegt, so ernenne ich denselben zum Kapitän meiner Landwehr, erteile ihm das Kommando der Kompanie seines Bezirks und verleihe ihm zum Lohne für seine ausgezeichnete Bravour das Eiserne Kreuz der ersten Klasse. – Die Erhebungen hat der Landrat des Kreises unter Zeugenschaft der Denunzianten zu führen. – Das Material ist ihm zuzustellen.

Friedrich Wilhelm, Rex

Ein langes Schweigen entstand. Die Schrandener Patrioten standen da und glotzten einander an. Der Leutnant Merckel war auf das Fensterbrett zurückgesunken. Seine Finger zerrten krampfhaft an dem Kreuze, das zwischen den schwarzen Fangschnüren seines Rockes erglänzte.

Boleslav fühlte ein Brausen, ein Klingen in seinem Kopfe. Er mußte sich an der Tür festhalten, denn er fürchtete, schwindlig zu werden. Von Freude verspürte er nichts, nur das Gefühl von Bitterkeit, das er so lange gewaltsam zurückgedrängt hatte, schwoll übermächtig in ihm empor. Er biß die Zähne zusammen. Er fürchtete, weinen zu müssen.

Der Landrat zog aus den Tiefen seines Rockes ein schwarzes Kästchen hervor, das er Boleslav mit überhöflicher Verbeugung hinhielt.

Der Deckel sprang auf, und aus dem blauen Samtgrunde leuchtete Boleslav der weiße Schimmer entgegen, der das schwarze, schlichte Stückchen Eisen gleich einem Kranze von Licht umrandete. In aufwallender Erregung riß er es an sich und streckte dem Landrat die Rechte entgegen.

Da trat dieser einen Schritt zurück, betrachtete seine langen, weißen Knochenhände aufmerksam von allen Seiten, als läge Gefahr vor, daß sie bei dem Akte der Übergabe Schaden genommen hätten, und verbarg sie dann auf dem Rücken.

»Herr Landrat, ich bot Ihnen meine Hand!« rief drohend Boleslav, dem der neue Schimpf die Zornröte ins Gesicht trieb.

»Ich war von Seiner Majestät beauftragt, den Allerhöchsten Willen kundzutun, bis zu einem Handschlag ging mein Auftrag nicht.«

In diesem Augenblick flog ein Kreuz, dem seinen gleich, Boleslav vor die Füße. – Felix Merckel hatte es von seiner Brust gerissen. In ehrlicher Entrüstung erglühend, trat er vor den Beamten, von dem, wie er nun wußte, nichts zu befürchten war, und rief: »Da liegt's. Ich mag's nicht mehr! Jeder wackere Soldat muß sich schämen, es zu tragen, nachdem es er da bekommen hat.«

Boleslav stieß einen Schrei der Wut und des Schmerzes aus und drang mit erhobenen Fäusten auf ihn los.

Felix Merckel zog seinen Säbel und machte Miene, auf den Waffenlosen einzuhauen.

Der alte Gastwirt warf sich zwischen beide. Der Landrat begnügte sich, begütigend die Hände zu schwenken, und der alte Pfarrer stand mit glühenden Augen auf der Lauer.

Er kannte seine Schrandener. Er las den Mord in ihren Blicken.

»Zurück da!« tönte seine eherne Stimme in den Tumult hinein. Mit ausgebreiteten Armen sprang er gegen die Tür, wo schon in den vordersten Reihen Piken und Knüttel sich erhoben hatten, um hinterrücks auf das Haupt des Verhaßten niederzusausen.

Boleslav wandte sich um, um schaudernd zu sehen, wie nahe er dem Tode gegenüberstand.

Der Pfarrer hatte die Pfosten des Türgerüstes umklammert und stemmte sich der Wucht der Herandringenden entgegen.

Wird der gebrechliche Greisenkörper dem Ansturm dieser entfesselten Wölfe Halt gebieten? Wird an ihm der Schwall mordlustiger Neugier sich brechen?

Wahrlich eine schwache Wehr! Und sie war die einzige, denn um den Landrat, dessen Hände gelenkig wie wehende Tücher über den Häuptern schimmerten und der einmal über das andre in den weichsten Flötenstimmen versicherte, er werde jeden Exzedenten auspeitschen und krummschließen lassen, kümmerte sich keiner mehr. – Das Männlein, welches die Protokolle geführt hatte, verkroch sich derweilen winselnd unter dem Tische. – –

In Boleslav schrie eine Stimme: »Wie? Von diesem Greise läßt du dich beschützen? Bist du dir nicht selber Wehr genug?«

Ein wilder Entschluß loderte in ihm auf. Diese Stunde war ihm zur Abrechnung vom Schicksal gesandt – und Feigheit war's, ihr auszuweichen.

Mit jähem Griff zog er den Greis zur Seite.

»Dies ist mein Platz, Ehrwürden«, sagte er und pflanzte sich an seine Stelle.

Er umfaßte die Türpfosten, wie der Alte es getan hatte, und bot die Brust weit offen den lauernden Waffen dar.

Sein Auge lag fest und gebieterisch auf der rasenden Schar. Ihr Geifer spritzte ihm entgegen, ihr Atem drang heiß und übelduftig auf ihn ein.

»Hier steh' ich«, rief er, »meine Pistolen hab' ich zu Hause gelassen. Ihr könnt mich ruhig niedermachen. Nur vorwärts – wer den Mut hat.«

Aber den Mut hatte keiner. Er drehte ihnen ja nicht mehr den Rücken zu.

Die Säbel senkten sich, und die Piken tauchten unter.

»Gut – also meucheln wollt ihr nicht«, fuhr er fort, sie mit den Augen meisternd. »Ihr wollt euch wie Menschen betragen und nicht wie wilde Tiere. So will ich wie zu Menschen mit euch reden. Tretet zurück und verhaltet euch ruhig.«

Die Masse geriet ins Wanken, die Schwelle wurde frei.

»Und nun – sprecht! Was wollt ihr von mir?«

Kein Laut gab ihm Antwort. Nichts wie das Keuchen der arbeitenden Lungen erscholl in dem Raum.

»Ihr haßt mich – ihr wollt mir ans Leben – gut – so sagt mir – warum? Hier steht ein Vertreter des Königs, dem wir alle dienen, der alle Strafen in seiner Hand hält. Hier steht der Vertreter des Gottes, an den ich glaube und ihr auch. Dem Gerichte der beiden will ich mich unterwerfen. Nun könnt ihr klagen . . . Was hab' ich euch getan?«

Das Schweigen dauerte fort. Nur jene lallende Stimme erhob sich für einen Augenblick, aber sie erstarb in leisem Gurgeln. – Es war, als ob man sie mit Gewalt erstickte.

»Ihr seid stumm. Ihr wißt nichts. Und Sie, meine Herren, bitte, helfen Sie den armen Leuten doch auf die Sprünge. Da liegt ein Kreuz, das höchste Ehrenzeichen der Nation, das jemand wegwarf, weil er es dadurch, daß ich ein gleiches habe, für besudelt hielt. Dort steht ein andrer Jemand, der mir den Händedruck verweigerte, den jeder Ehrenmann mit jedem, der nicht Schuft ist, auszutauschen pflegt. Es tut nichts, Herr Landrat, wenn Kläger und Richter sich dieses Mal vereinen. Klagen Sie nur, richten Sie nur, ich kann's vertragen.«

Eine neue Pause entstand. Der Landrat drehte verlegen Wickel in seinen Backenbart.

»Und Sie, Herr Pfarrer – es geziemt sich nicht, daß ich den Erzieher meiner Jugend zur Verantwortung ziehe – aber Sie haben mir vor einigen Monaten Ihre Tür gewiesen. – Möchten Sie nicht Ihrer Gemeinde als Wortführer dienen?«

Die Kiefern des Alten arbeiteten, seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam darüber. Seine Kraft schien erschöpft, nur der wilde, stiere Blick, der sich unter den buschigen Brauen hervor in Boleslavs Antlitz bohrte, wollte nichts Gutes bedeuten.

Der schlug ein Lachen auf. »So muß ich wohl selber zum Kläger gegen mich werden«, rief er. – Er war wie berauscht von dem eigenen Mute. »Deine Hand soll sein wider jedermann und jedermanns Hand wider dich«, jubelte es in ihm. – »Ihr meint, ihr müßtet die Sünden der Väter an mir rächen, an mir euren Zorn auslassen, weil er den Toten nicht mehr erreichen kann. Gut – ich bin sein Erbe. Ich nehme seine Schuld auf mich und weigere mich nicht, zu büßen, sobald Recht und Gerechtigkeit eine Buße von mir verlangen. Doch warum ist man nicht gegen den Toten eingeschritten? Warum machte man ihm nicht den Prozeß? Warum schleppte man ihn nicht zum Schafott, falls er's verdiente? Herr Landrat, Sie frage ich, Sie, der Sie die Staatsgewalt verkörpern, warum schwieg der Staat und duldete es, daß diese braven Männer, denen nichts Übels geschehen war, eine Rache nahmen, so kindisch, so grausam, wie sie nur das Hirn von blutdürstigen Wilden zu ersinnen vermag? Rache für eine Tat, die ich weder zugebe noch auch leugne, die aber bis heutigestags in Dunkel vergraben liegt? Wie sie geschah, ob sie geschah – wer weiß es von euch? Und trotzdem habt ihr ihn und sein Geschlecht geächtet, verfemt, ehrlos und rechtlos gemacht. – So zieht uns doch vor Gericht, mich und den Toten und – – –«, er hielt betroffen inne, er vermochte nicht den Namen Reginens in den Mund zu nehmen . . . Aus dem Auge des Pfarrers schoß ein Blitz über ihn hin . . . Sich zusammenraffend, fuhr er fort: »Fragt doch, sprecht doch, klärt das Dunkel und dann richtet . . . Aber dann richtet auch jene Untat, die mich um Hab und Gut gebracht hat, die mich zwingt, zwischen Trümmern zu hausen wie ein wildes Tier, und die noch immer ungerächt zum Himmel schreit. – – Von allen andern Freveln will ich schweigen, daß ihr mich und – – – – – die Meinen mit Mord und Totschlag bedrohtet, daß ihr der Leiche meines Vaters den Eingang zum Kirchhof verweigertet – es sei euch geschenkt . . . Aber den Brand das schwör ich euch, den werd' ich rächen. Bis heute hab' ich geglaubt, die Leuchte der Gerechtigkeit sei ausgelöscht für mich, aber ist sie's, so werd' ich sie wieder anzünden. Ich werde nicht rasten und ruhen, bis ich den Anstifter ans Tageslicht gezogen habe, und dann gnade Gott ihm und allen, die ihm zu Hehlern und Helfern wurden!«

In dem Haufen entstand neue Unruhe. Die Vorderen drängten noch weiter zurück, wie um sich vor der Rache des zornigen Mannes zu schützen. Aus der Gegend der Fenster her erschollen zwei, drei Laute eines heiseren Gelächters, das jedoch im Ansatz schon erstickt wurde. –

Im Herrenstübchen gab sich ein jeder nach Kräften den Anschein, Boleslavs Worte überhört zu haben. Der Landrat, der insbesondere peinlich berührt schien, blätterte heftig in seinen Akten. Der alte Merckel bemühte sich mit übergroßem Eifer, das Kreuz, das er von der Erde aufgerafft hatte, seinem sich sträubenden Sohne aufzuzwingen. Das graue Männlein, das inzwischen unter dem Tische hervorgekrochen war, befleißigte sich, den Staub von seinen Knien zu reiben.

Nur der alte Pfarrer stand auf der Lauer. Er hatte die Knebel gegen den Tisch gestemmt, das weiße, dünne Haar, das den kahlen Schädel umwölbte, zitterte leise. Wie ein Raubvogel, der auf seine Beute niederschießen will, so stand er da mit seinem Geierprofil und den glühenden Äuglein, über denen die weißen Brauenpinsel sich sträubten. –

Hätte Boleslav in diesem Momente einen Blick für ihn gehabt, er würde neue Herausforderung vermieden haben. Aber er wollte seinen Sieg bis auf den Grund auskosten. »Damit wir vollends ins klare kommen«, rief er, »ihr und ich – damit jeder weiß, auf welcher Seite das Recht ist und auf welcher das Unrecht, frag' ich: Wer von euch hat eine Forderung an mich? Wem hab' ich was Übles getan? Wer hat Klage zu führen wider mich?«

Da erscholl hinter ihm die Stimme des alten Pfarrers: »Ist der Tischler Hackelberg zur Stelle?«

Boleslav fuhr zusammen. Wie die Stimme des Gerichts war dieses heisere Dröhnen ihm ins Ohr gedrungen. Er wußte nicht, was über ihn hereinbrach, aber er fühlte: Gutes war es nicht.

Ein Schieben, ein Drängen bewegte den Haufen. Halb gestoßen, halb gezogen erschien die verlotterte Gestalt des Trunkenbolds in der vordersten Reihe. Er wehrte sich, er schlug mit den Fäusten um sich, und als er schon auf der Schwelle stand, versuchte er noch unterzuducken und Arm oder Schulter eines Hintermanns zur Deckung zu benutzen.

»Fürchte dich nicht, Hackelberg«, sagte der Pfarrer, »es soll dir nichts geschehen.«

Da wagte er sich aufzurichten und aus den verglasten Augen einen scheu prüfenden Blick auf die hohen Herren zu richten, vor denen er stand.

»Was ist das?« fragte der Landrat unwillig, »warum läßt man so etwas frei umherlaufen?«

»Weil man sich an seinem Unglück nicht zu vergreifen wagt«, erwiderte der Pfarrer.

Herr Merckel senior drängte sich an seinen Vorgesetzten und flüsterte ihm mit wehmütigem Lächeln zu: »Der arme, bedauernswerte Vater, von dem ich Euer Hochwohlgeboren erzählte.« – Aber sein Auge blinzelte voll Besorgnis den Vordersten der Schrandener zu, die ihre Fäuste bereit hielten, um den Trunkenbold im Augenblicke der Not zu packen und verschwinden zu lassen.

»Hast du nichts zu sagen, Hackelberg?« sprach der Pfarrer.

»Was sollt' ich zu sagen haben, Herr Pfarrer!« lallte er, aufs neue unterduckend, und zog die Klappen der zerlumpten Jacke über der nackten Brust zusammen.

»Hast du keine Klage zu führen?«

»Lassen Sie mich gehen«, greinte er, »ich hab' keine Klage zu führen.«

»Auch gegen den da nicht?« Er wies auf Boleslav. Eine trübe Flamme erglomm in dem erloschenen Auge. Er hatte begriffen. Der alte Merckel nickte ihm ermutigend zu, und in Erkenntnis des Berufes, den er hier zu erfüllen hatte, fing er, tränenbereit wie Säufer sind, bitterlich zu weinen an. Mit den schwarzen Händen wühlte er im Gesicht herum, so daß es alsbald einer erschreckenden Larve glich.

»Der arme, arme Vater!« klagte Herr Merckel senior und wischte sich gleichfalls die Augen.

»Wozu spielt man diese Komödie?« fragte Boleslav mit verächtlichem Lachen. Aber er war sehr blaß geworden.

»Man spielt hier nichts, sondern man hält Gericht«, erwiderte ihm der alte Priester.

Boleslav zuckte die Achseln. »Ich bin's zufrieden«, sagte er, und seine Stimme bebte, »ich hab' es so verlangt.«

Die Schrandener reckten die Hälse, kommenden Spektakels gewärtig. In der Stille, die für einen Augenblick entstand, hörte man den Volkshaufen, der im Gasthause nicht hatte Platz finden können und den Kirchenplatz erfüllte, sich mit Johlen und Lärmen die Zeit vertreiben. Der angstvolle Schrei einer weiblichen Stimme mischte sich darin.

Sollte am Ende gar Regine – – –? Doch wie war das möglich? – Und der Gedanke verschwand blitzschnell, wie er gekommen war. –

»Mein Kind, mein armes, elendes Kind!« heulte der Tischler, der sich nunmehr in gewohntem Fahrwasser befand.

»Was hat man denn deinem Kinde getan, Mensch?« fragte der Landrat, der nicht dulden wollte, daß die Leitung der Angelegenheiten seinen Händen entwischte. –

»Verführt hat man mein Kind – – – zur Dirne hat man es gemacht – – – mein Vaterherz ist – – zerfleischt – – worden. – – Ein Lump bin ich. – – Nur noch einen Sarg –«

»Ich glaube, diese Litanei hast du mir schon einmal vorgebetet«, fiel ihm der Landrat ins Wort. »Damals, als ich die Weibsperson, deine Tochter, wegen des Katzenstegs verhören kam. Wenn du in diesen fünf Jahren nichts Neues gelernt hast . . .« Und zum Pfarrer gewandt setzte er lächelnd hinzu: »Mir scheint, man hat diesem Strolche die Rolle des Virginius beigebracht.«

Das graue Männlein im Winkel ließ ein meckerndes Lachen hören und verstummte sofort, wie erschrocken über die eigene Kühnheit.

Der alte Pfarrer war weniger gesonnen, des Landrats gnädige Witze über sich ergehen zu lassen. »So werde ich für dich reden, Hackelberg«, sagte er, »mich wird man wohl ernst nehmen müssen. Für dich und für euch alle und für unseren Herrgott dazu, dessen heilige Gesetze hohen Herren nicht zum Gespötte dienen dürfen. Freiherr von Schranden, Sie haben mich aufgerufen. Sind Sie noch willens, mir Rede zu stehen?«

Er bejahte in banger Ungeduld. Ihm schien, als wäre jener Schrei zum zweitenmal an sein Ohr gedrungen, das Getöse der Menge übertönend.

»Sie haben das Erbe Ihres Vaters angetreten?«

»Zweifeln Sie daran?«

»Gott sei's geklagt! Nein!«

»Was heißt das?«

»Sie haben sich zu eigen gemacht, auch was er unrechtmäßig besaß.«

»Herr Pfarrer . . .« Ein dumpfes Erstarren hatte ihn überfallen. Er wollte reden, doch die Kehle schnürte sich ihm zu. »Wo ist dein Trotz geblieben?« schrie es in ihm.

»Sie fanden ein Weib, Herr Baron, welches die Dirne Ihres Vaters gewesen war. Sie fanden es erniedrigt, besudelt, durch Kot und Verbrechen geschleift. Jahrelange Knechtschaft hatte es von aller Menschenwürde entblößt. Es hauste dort wie ein Tier mit dem Tiere. Dieses elende Wesen gehörte hierher und gehörte mir. Ich hab' sie erzogen, meine Hand hat ihr das Taufwasser auf die Stirn geträufelt, meine Hand hat ihr den Kelch des heiligen Abendmahls gereicht. Ich habe Gott geschworen im Angesichte der Gemeinde, zu wachen über dieser jungen Seele, die doppelt verwaist war, da der, welcher sie gezeugt hatte, sich selber nicht bewachen konnte.«

»Ach, mein armes, verwaistes Kind!« lallte der Tischler. »Nur noch zwei – nur noch einen Sarg –«

»Ich bin verantwortlich für sie vor Gott und vor der Gemeinde. Von deinem Vater konnte ich sie nicht fordern, denn er steht vor Gottes Thron, darum fordere ich sie von dir und frage in dieser Stunde der Abrechnung, die du heraufbeschworen hast: Was hast du mit dieser Seele getan?«

Vor Boleslavs Augen schwammen rötliche Nebel. Und in diesen Nebeln wuchs die Gestalt des greisen Priesters empor, daß sie ihm schier übermenschlich erschien. – Nur ein Stammeln kam über seine Lippen: »Was sollt' ich – was konnt' ich . . .?«

Und der Alte fuhr fort: »Du bist heute von unserem Könige vor allen Menschen hochgeehrt worden. Nun sieh zu, Boleslav von Schranden, ob du auch vor unserem Gott in Ehren bestehen kannst. Was du solltest, fragtest du? Dieses Wesen, so schmutzig, so verworfen es vor dir lag, mußte dir hehr und heilig sein vor allen irdischen Geschöpfen. Was hast du getan, um die Schuld zu sühnen, die dein Vater auf dieses Weib gehäuft hat? Hast du ihren Geist frei gemacht von der Knechtschaft, in welche er versunken war? Hast du ihre Seele zu Gott emporgewiesen, dem Allgnädigen, dem Allbarmherzigen? Hast du versucht, sie der Menschheit zurückzugeben? Oder hast du sie tiefer und tiefer hinabgezogen in den frevelhaften Bann, mit dem dein Haus und dein Geblüt sie umstrickten? Und vor allem eins: Auf welche Art hast du gehaust mit ihr? Man spricht, daß nur ein einziger Raum zu bewohnen ist auf eurer wüsten Insel! – Hast du allzeit bedacht, daß deines Vaters Eigentum nach göttlichen und menschlichen Gesetzen unantastbar ist für dich? Hast du sie gelehrt beten und bereuen, oder hast du ihre armen, willenlosen Sinne noch mehr mit Gift durchtränkt? . . . Und dein eigen Blut, hast du es reingehalten von freventlichem Begehren? – Oder haben deine Gedanken wie gierige Bestien sie umkreist und sind ihr nachgeschlichen auf ihren Wegen und haben sie belauert in ihrer Schwäche . . . bis neue Schandtat kam –«

»Hören Sie auf!« schrie Boleslav. Ja, wahrlich, diesem Manne der christlichen Milde sprangen Skorpionen aus dem Munde. Geheimste Gedankensünden verstand er zu züchtigen, ja solche selbst, für die noch in keinem seiner Gedanken Raum gewesen und deren er sich dennoch schuldig bekennen mußte in dieser Stunde.

Nun ward alles, alles klar! Was ihn nicht schlafen ließ in den langen, wüsten Nächten, was ihm das Blut in jähem Ansturm durch die Adern jagte, was ihn antrieb, den Atem anzuhalten und zu lauschen, ob jener Atem nicht bald rascher, bald langsamer erscholl, um durch den Wechsel zu verkünden, daß sie wachte, wie er, und in Unruhe lauschte, wie er – das frevelnde Begehren war es nach ihrem Leibe, dem geschändeten, gemißhandelten, dem stolzen, herrlichen Leibe . . . Aber noch, Gott sei Dank, hatte das Verbrechen nur in seinem Innern gehaust. Noch war es Zeit, den Riegel vorzuschieben, ehe es sich hinausstahl über die verhängnisvolle Schwelle. Bis jetzt schuldete er sich nur selber Rechenschaft und hatte vor dem eigenen Richterstuhle abzuhandeln, was sein Gewissen bedrückte! – –

Bleich und verwirrt schaute er um sich und sah in all den haßverzerrten Gesichtern schon Triumph aufleuchten. Da kam er zu sich.

»Wer gibt Ihnen das Recht, mich eines solchen Frevels zu bezichtigen?« rief er dem Pfarrer entgegen.

»Ich bezichtige Sie nicht – ich fragte Sie nur«, unterbrach ihn der Alte. »Sie sind zu blaß geworden, Herr Baron, als daß wir Ihrer Entrüstung nicht mißtrauen sollten.«

»Er hat sich selbst gerichtet, der Unglückselige«, setzte Herr Merckel senior wehmütig hinzu.

Die Schrandener, aufs neue voll Hoffnung, daß es ihm an den Kragen gehen könnte, erhoben ein Lärmen, der Haufe drängte gegen die Schwelle.

Da – alles Stimmengebrause übertönend – drang vom Hofe her ein Schrei der Not markerschütternd an Boleslavs Ohr. Nun galt kein Zweifel mehr. Das war Regine.

»Regine!« schrie er auf und rannte an das Fenster, das zum Hofe führte. Dort war die wilde Jagd entfesselt. Über den Zaun, über Wagen, über Fässer, über gefrorene Düngerhaufen kletterte, sprang und stürmte eine Schar wütender Weiber. Bursche mit Knütteln hinterdrein. Steine flogen von allen Enden.

»Hilfe, Hilfe!« klang Reginens Schrei. Doch sie selbst war nicht zu sehen.

Da, als er die Hintertür aufriß, kam sie auf dem dunklen Korridor dahergeflogen. Die Meute johlend hinter ihr her.

Mit gewaltsamen Ruck zog er sie ins Zimmer herein und schloß eilends die Tür, an der die Wut der Weiber sich brach.

Sie sank zu seinen Füßen nieder und preßte schluchzend ihr Gesicht gegen den Zipfel seines Rockes. Ihren Händen entsanken zwei halb zersplitterte Dauben, die sie krampfhaft umklammert gehalten hatte – die Reste des Schildes, mit dem sie die fliegenden Steine von sich abzuwehren pflegte.

Ihr Haar war zerzaust, ihr Kleid zerrissen, der schöne Pelzbesatz, auf den sie so stolz war, hing in Fetzen an ihrem Leibe herunter. – –

»Das ist ja ein reizendes Liebespaar«, sagte Herr Merckel, indem er sich freundlich die Hände rieb.

Die Schrandener schienen, da sie beide so hübsch beieinander hatten, nicht übel Lust zu spüren, das Werk ihrer Weiber drinnen fortzusetzen. Reginens Erscheinen reizte sie stets mit unbezwinglicher Gewalt zum Werfen an. Sie stießen ein Freudengeheul aus und sahen sich nach Wurfgeschossen um. Schon flogen zwei Steinkrüge in das Herrenzimmer, von denen einer den Tischler an der Achsel streifte. Man wollte keinem mehr ans Leben, aber man wollte »schmeißen«.

Der Landrat schwenkte verzweifelt seine Knochenhände. All seine milde Vornehmheit ging diesen Teufeln gegenüber in die Brüche.

»Herr Landrat«, sagte Boleslav, auf das kniende Weib weisend, das halb besinnungslos sich an ihn schmiegte. »Ich bitte, sich diese Szene einzuprägen. Wenn Sie selber die Nötigung nicht fühlen, hier einzuschreiten, so könnte es doch sein, daß ich Sie vor Gericht als Zeugen gegen diese wackeren Leute gebrauchen muß.«

Er ahnte wohl selber kaum, der vornehme Herr Landrat, welch klägliche Rolle er spielte. Selbst seine schöne Löwenmähne war aus der Fassung gekommen und hing ihm in steifen Zotteln um den Kopf herum.

»Merckel«, krächzte er, »Sie sind Ortsvorstand. Ich lasse Sie absetzen, wenn Sie nicht sofort Ruhe schaffen. – Das gibt Gefängnis – – ich schick' euch alle ins Gefängnis. – – Mit den Waffen in der Hand – – kostet drei Jahre, volle drei Jahre, ihr lieben Leute. – – – Morgen lass' ich euch Gendarmen kommen, drei Gendarmen auf einmal –«

Es war sein guter Engel, der ihm diese Drohung eingegeben hatte, denn keine andre hätte auf die Sinnlosen noch gewirkt. Seit dem unglücklichen Kriege war in Schranden kein Gendarm mehr stationiert gewesen. Das war ein großes Glück, welches man nicht verscherzen durfte, denn den Gendarmen fürchteten sie mehr als den König.

Herr Merckel, der für sein Amt zu zittern begann, tat das Seinige, sie vollends zu beruhigen. Sein Sohn lehnte mit verschränkten Armen in der Fensterecke und gab sich den Anschein, als ob das Schauspiel ihn höchlich belustigte.

Der alte Pfarrer ließ keinen Blick von dem Paare, als wollte er ihnen bis auf den Grund ihrer Herzen schauen.

»Steh auf«, sprach Boleslav zu der Knienden nieder. »Man tut dir nichts – ich bin bei dir.«

Aber sie drückte sich nur noch angstvoller an ihn. – »Nicht wahr, Herr, man wird Sie nicht fortführen«, schluchzte sie, »ich lass' mich totfrieren – wenn's wahr ist.«

»Nein – aber steh auf.«

»Herr, ach, lieber, lieber Herr!« und sie preßte die Stirn gegen seine Knie.

»Boleslav von Schranden – leugnest du noch?«

»Was soll ich leugnen? Daß dieses arme, elende Weib, das ihr verfemt und verstoßen habt, in mir ihren Retter, ihren Heiland sieht, weil ich der erste war seit Jahren, der ein mildes Wort zu ihr gesprochen hat? Oder soll ich leugnen, daß dieses selbe elende Weib, welches das einzige Wesen war auf Gottes weiter Welt, das zu mir hielt, als alles mich verließ, mir lieb und wert geworden ist? – Müßt' ich nicht ein roher, plumper Klotz sein – wenn ich anders dächte nach allem, was sie für mich getan hat? Ich habe ihr nicht geheißen, meine Einsamkeit zu teilen – dort zwischen den Ruinen. Es ist gar nicht so lustig da oben, und all meine Güte zu ihr hat darin bestanden, daß ich zuließ, wie sie sich für mich opferte. – Freuden hab' ich ihr keine zu kosten gegeben – Unerlaubtes ist nicht zwischen uns geschehen. Will sie lieber meine Leibeigene sein, als sich von euch zu Tode steinigen lassen, so geht das niemand auf der Welt was an, am wenigsten euch Schrandener oder gar jenen Trunkenbold, der einst sein eigen Fleisch und Blut verkuppelte.«

Der Tischler, von dem alten Merckel leise aufgemuntert, fing an, den gerührten Vater zu spielen.

»Oh, meine Tochter, meine arme, unglückliche Tochter!« greinte er.

»Vorwärts«, raunte der Gastwirt, »reklamiere sie.«

»Komm, mein Kind, komm zu deinem unglücklichen, verlassenen Vater. Er hat sich aus Gram dem Trunk ergeben. Nur noch zwei Särge wird er machen – einen für sich und einen –«

Er streckte die schmutzige Hand nach ihr aus, die sie schaudernd mit einem heftigen Schlage zurückstieß.

»Gebt euch keine Mühe«, sagte Boleslav, »sie gehört zu mir, wie ich zu ihr gehöre.«

»Und dennoch fordere ich sie heute von dir, Boleslav von Schranden«, sagte der Pfarrer, indem er die Hand auf den Scheitel Reginens legte; – sie duckte sich scheu, aber ließ es geschehen.

»Damit ihr sie bequemer steinigen könnt, nicht wahr?«

»Ich verspreche dir, daß ihr fürder kein Leid geschehen soll. Ich werde sie selber zu einem Amtsbruder bringen, der sie dem Leben fürs Diesseits und fürs Jenseits wieder zurückgewinnen soll. Steh ihrem Heile nicht entgegen, indem du sie mit den Banden der Sünde noch enger an dich kettest.«

Boleslav schwieg. Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein. Der Alte war kein Betrüger. Sein Wort stand wie ein Felsen. Welches Recht hatte er selber an dieses Weib, das willenlos zu seinen Füßen lag? Was konnte er ihr bieten, daß er es wagte, ihr Leben für sich in Anspruch zu nehmen?

Da mischte der Landrat sich darein, der sich nun halbwegs vom Schrecken erholt hatte. – »Hat die Person das mündige Alter erreicht?« fragte er.

Der Pfarrer rechnete nach und bejahte.

»Die vis paterna ist also außer Kraft, auch ist ihr ein liederlicher Wandel nicht nachzuweisen – sonst könnte man sie in eine Besserungs . . .«

Das Hohnlachen Boleslavs ließ ihn verstummen.

»Nun gut, so mag sie selbst entscheiden. Sind Sie damit zufrieden, Herr Baron?«

»Ich halte sie nicht«, stieß er hervor und fühlte zugleich, wie der Körper zu seinen Füßen erbebte. Er beugte sich zu ihr nieder: »Regine – hörst du, was der Herr Pfarrer dir verspricht? . . . Du weißt, für deine Zukunft ist gesorgt. Willst du ihm folgen?«

Da hob sie das glühende, tränenüberströmte Angesicht zu ihm empor und schluchzte: »Bitte, Herr – treiben Sie – keinen Spott mit mir.« –

»Du willst also bei mir bleiben?«

»Sie wissen's ja, Herr! – Was quälen Sie mich?« –

»So steh auf, wir wollen gehen.«

Der Pfarrer stellte sich ihm in den Weg. Er war totenfahl geworden, und seine Geierblicke bohrten sich in Boleslavs Angesicht. Er legte feierlich die Hand auf seine Achsel, wie damals, als er die Schuld seines Vaters vor ihm ausgebreitet hatte.

»Mein Sohn«, sagte er, »auch dich habe ich in den Bund der heiligen Taufe aufgenommen. Auch dich hab' ich Gottes Namen lallen gelehrt und habe dir gewiesen die Wunder seiner Schöpfung. Du bist mir gewesen wie mein eigen Kind und mehr noch, denn du warst der Sohn meines Herrn. Auch für dich hab' ich einzustehen vor Gottes Thron. Du hast dich von dem Verdachte, der auf dir lastet, nicht reinigen können. Und wenn ich in deiner Seele lese – schlag nicht die Augen nieder, ich weiß genug. Und darum fordere ich noch einmal dieses Weib von dir. Ich fordere es im Namen ihres Vaters, im Namen der Gemeinde, im Namen unseres Gottes im Himmel, der ein Vater ist über alle Waisen und Unmündigen, denn sie weiß nicht, was sie tut. Gib du sie frei – so sollst du schuldlos sein und in Frieden deines Weges ziehen.«

Regine hatte sich aufgerichtet und umklammerte fröstelnd seinen Arm.

»Komm!« sagte er, »man wird uns hoffentlich die Bahn freigeben.« Und er machte Miene, an dem Alten vorbeizuschreiten.

Aber er trat ihm von neuem in den Weg und breitete die Arme gegen ihn aus.

»So bist du also deines Vaters würdig! Und wie ich deinen Vater einst verflucht hab', so verfluch' ich dich in dieser Stunde, dich und dieses Weib mit dir. Du sollst sein wie Kain, den der Herr verstieß von seinem Angesicht . . . Nirgends soll eine Stätte für dich bereitet sein. Auf Trümmern sollst du hausen dein Leben lang! Und dieses Weib mit dir! Jetzt geht . . . Macht Platz, ihr da – und wer Hand an sie legt, im Guten wie im Bösen, der soll verflucht sein mit ihnen.«

Boleslav stieß ein Gelächter aus, das mißtönig durch das Schweigen hallte.

»Komm«, sagte er und faßte Reginens Hand. »Komm, laß den alten Mann fluchen, es ist ja sein Gewerbe.« – Und doch rann ein Schauer ihm über den Leib.

Vor sich in dem dichten Haufen, der das Schankzimmer erfüllte, sah er eine Gasse sich öffnen, die im Bogen bis zur Tür reichte.

Er schritt mit Reginen hinein.

Keiner lachte, keiner schmähte, keiner rührte ihn an.

Abergläubische Scheu lag erstarrend auf all den rohen Gesichtern. – –

Der Hauch des Winterabends schlug ihm eisig ins Gesicht.

Siehe da, ob jemand vorausgeeilt war, den draußen Harrenden Kunde zu bringen – ob eine Ahnung des Geschehenen sich über sie gebreitet hatte, auch hier empfing sie tiefes Schweigen, auch hier die Gasse, durch die sie beide langsam, mit gesenkten Häuptern zum Fluß hinunterschritten.

 


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