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Todesbotschaft

Der alte Sandsteinheilige stand auf dem Hügel und breitete über das lachende, sonnengebadete Tal segnend seine Armstümpfe. Die Hände waren ihm nämlich in Wirklichkeit vor Jahrhunderten gerade an diesem Fleck abgehauen worden, ehe man ihn erschlug. Daß er nun schon lange in steinernem Bilde seinen Segen gerade von dem Ort her spendete, der sein Blut getrunken hatte, schien dem blühenden Lande, wie es da vor und unter ihm lag, wohl zugute zu kommen.

Es war, als ob es alle Sonne auffinge. Die gelben Ährenfelder leuchteten, die harzigen Spitzen der jungen Fichtenpflanzungen funkelten wie kostbare Steine, das Wässerchen, das sich durch die saftgrünen Wiesen wand, glitzerte und sprühte mit blausilbernen Funken – kurz, es war ein Lachen und Leuchten in dem ganzen Gesichtsfeld des heiligen Mannes, das ihm wohl gefallen konnte. Dafür sah es hinter seinem Rücken ganz anders aus. Da führte ein schmaler Weg in einen mächtigen, düsteren Wald. An dem schien die Sonne abzuprallen. Seine uralten Buchen wehrten sich gegen die heiße Flut, die draußen das Tal überströmte, und nur ärmliche, grüngoldene Wellchen zitterten über den Weg, der, langsam ansteigend, sich in grüner Dämmerung verlor.

Am Eingang dieses Weges stand eben eine einsame Frau, die aus einem der großen Sanatorien des Badeortes drüben hierhergekommen und im Vorübergehen mit dem alten Steinbild und all der goldenen Lebendigkeit ringsherum gut Freund geworden war.

Sie stand auch noch ein Weilchen da und sah mit den stillen Augen, aus denen das Leben Lachen und Weinen herausgeholt hatte, voller Verwunderung über so viel Glanz und Fülle um sich. Zu ihren Füßen standen Blumen in unbeschreiblicher Mannigfaltigkeit.

Als ob sie einen Teil der Sommerschönheit für sich bergen wolle, bückte sie sich trotz ihres kranken Herzens, dem, wie sie wohl wußte, hastige Bewegungen verderblich werden konnten, und fing an, eifrig davon zu pflücken … Rote Kuckucksnelken und tiefblaue Glockenblumen, weißglänzende Schafgarben, Wicken, Windengeranke, den gelben Steinbrech, der so stark und schwül duftet, und mancherlei anderes buntes und liebliches Sommergewächs.

Ehe sie sich dessen versah, hatte sie einen ganzen Armvoll. Und den Kopf mit dem schon silbern schimmernden Haar hineingedrückt, schlug sie nun in Gedanken den düsteren Waldweg ein.

Kühle und Dämmerung unter den hohen Bäumen strichen wie liebkosende Hände über ihren heißen Leib. Ein paar blasse, huschende Lichter tauchten in dem dunkeln Laub auf oder kletterten zitternd an den Stämmen empor. Ein Specht pochte in der Ferne, sonst war alles still … Die Wirklichkeit schien in dem Sonnental geblieben. Hier im Schatten standen die Träume auf …

Zuerst ging die Frau mit dem Arm voller Blumen weiter und weiter, unbewußt sich ihres Alleinseins freuend, ohne um sich zu hören und zu sehen. Allmählich aber sprangen aus dem Walddunkel Töne und Worte über sie her, ohne Zusammenhang – hier eines und dort eines, und plötzlich war es ein altes Studentenlied, das ihr in den Sinn kam.

Vor vielen Jahren hatte sie es von einem gehört, der schon lange tot war und der ihr auch eine Geschichte dazu erzählt hatte, die sie nicht mehr wußte. Aber die Worte waren nun da, und sie summte sie vor sich hin, im Takt danach schreitend:

Wo seid ihr
Zur Zeit mir
Ihr Lieben
Geblieben,
Die einen –
Sie weinen –
Die andern –
Sie wandern,
Die dritten –
Noch mitten
Im Strome der Zeit.
Gestorben –
Verdorben –
Zu den Toten
Entboten –
Ach alle, wie weit …

Im Gehen dämmerte ihr auch der Sinn der gedankenlos hingemurmelten Verse auf, und damit kam eine flüchtige Erinnerung angeschlichen. Dahinter eine andere und dann mehr und immer mehr, bis zuletzt nichts als ein großes Fragen in ihrer Seele war: »Ja, wo seid ihr alle, mit denen ich einmal wanderte, ich, die ich jetzt so allein bin?« Sie setzte sich auf eine Bank, die sich in ein Erlengebüsch schmiegte und von der aus man endlos weit in den grün dämmerigen Weg sehen konnte, lehnte den Kopf an den Stamm hinter sich und machte die Augen zu.

Aus den Fragen wurde eine große Sehnsucht und aus der Sehnsucht ein Rufen:

»Ach, wenn ihr doch wiederkämt – wenn ihr doch wiederkämt – du – und du – und du!« Und wie sie dann aus halbgeöffneten, traumverschleierten Augen aufsah, schien es ihr, als ob Schatten um sie heraufstiegen und langsam vorüberglitten. Sie fürchtete sich nicht.

»Ja, kommt nur«, sagte sie und suchte, ob sie nicht liebe entschwundene Gestalten unter den gleitenden zu erkennen vermöchte.

Fast war es ihr auch, als ob sie einen und den andern von ihren Heimgegangenen den dunkeln Weg heraufziehen sähe. Hier und da tauchte ein wohlbekanntes Gesicht hinter einem Baumstamm auf, aber es zerfloß, und ein anderes erschien, das irgend eines Weggenossen kurzer Stunden.

Und niemand von ihnen machte vor ihr Halt. Niemand hauchte ihr im Vorüberstreifen ein gutes Wort zu, auch die Liebsten glitten mit weit offenen und doch blicklosen Augen an ihr vorbei und zerflatterten in dem grünen Dämmer.

»Ich habe nicht Kraft genug, euch zu rufen oder zu halten«, dachte sie traurig, »sonst sprächt ihr wohl mit mir.«

Sie senkte die Blicke und drückte das Gesicht in die lebendigen Blumen …

»Was machst du mit all dem blühenden Unsinn?« fragte da aus dem Schattenzuge her eine spöttische Stimme.

Ja, was macht man mit blühendem Unsinn? – Man freut sich daran – man hebt ihn auf – man wirft ihn weg.

»Doch – wer fragte mich denn? – wer war das?«

Sie schaute auf, und da sah sie dicht vor sich den, der sie vor langer, langer Zeit jenes Lied gelehrt hatte, mit dessen Versen sie diesen Weg gegangen war.

»Wie kommst denn du her zu mir? An dich hab' ich kaum gedacht – und gerade du bist da?«

Ein leises Lachen. Und wie der Schatten immer körperlicher wurde! Zum Erstaunen lebendig, gar kein Traum mehr … die große, gedrungene Gestalt mit der nachlässigen Haltung … die breiten, festen Hände – das Gesicht, häßlich mit seinen hervortretenden Backenknochen, dem grausamen

Munde, um den Zärtlichkeit und Hohn spielten … Und die Augen. Ja auch diese merkwürdigen grauen Augen mit dem rasch wechselnden Blick …

»Es ist kaum zu glauben, wie deutlich ich dich sehe«, sagte die Frau. »Dich … dich? … Ja, hab' ich dich denn noch »du« genannt, als wir uns zuletzt sahen?«

»Ja, sage nur ›du.‹ Dein Mann ist ja nicht da. Auch keine beste Freundin … Und vergißt du ganz, daß ich schon lange gestorben bin?«

»Du lebst ja – du lebst vor mir in diesem Augenblick wie in jenen Jahren, als ich, kaum erwachsen, zu meiner alten Pate Stephany kam und wir in eurem Haus über eurer Schlosserwerkstatt wohnten … Und du Student auf Ferien, zum Examenarbeiten … Und wenn ich konnte, lief ich hinunter in den Garten über dem Moor … in dem der Kibitz schrie … und die Wasserhühner pfiffen … Und wir saßen zusammen und sahen zu, wie die Sternschnuppen fielen, und wünschten uns tausenderlei … so lebst du … jetzt mit einem Male, und warst doch so lange tot …«

»Ich lebe von deinen Gnaden. Ich feiere meine Auferstehung auf deinen Ruf.«

»Ich rief dich nicht; du warst gar nicht in meinen Gedanken.«

»Dein Sehnen rief mich, du weißt's nur nicht.«

»Wie sollte das wohl zugehen?« fragte sie. »Ich weiß, daß ich träume. Ich bin im Walde eingeschlafen. Du hast dich in meinen Traum geschlichen.«

»Soll ich wieder fortgehen?« fragte er, und es war, als ob er in das Gebüsch hinüberflösse.

»Nein, nein, bleibe. Und sprich. Es ist ein so merkwürdiger Ton in deiner Stimme. Keine hat je wieder so geklungen. Und dabei hast du mir nicht einmal viel Gutes gesagt damals.«

»Es war aber alles wahr. Und darum hast du es in deinem Herzen aufbewahrt. Darum ist anderes, was deinem Sinn schmeichelt, was du gerne hörst und doch innerlich nicht anerkennst, verklungen. Heute sind die Lebendigen tot, und ich, der Tote, lebe …«

»Du mußt nicht sagen, daß du tot bist. Wenn wir hier nebeneinandersitzen, sollst du diese Stunde ganz leben und mit mir reden …«

»Wie einst im Mai …« höhnte er.

»Geradeso war es immer mit dir«, sagte sie. »Wenn man ernst oder eindringlich mit dir sprechen wollte, fingst du an zu spotten.«

»Ich konnte Sentimentalität nie vertragen«, sagte er. »Du hattest immer Anlage dazu. Sonst hättest du auch später den langen Erwin, genannt ›Latte‹, nicht genommen, als er nach seiner auseinandergegangenen Verlobung Trost bei dir suchte.«

»Laß doch meinen Mann aus dem Spiel. Hat er nicht das Leben gezwungen?«

»Jawohl … Leiter so einer großen Bank ist eine schöne Sache … Ich wäre jetzt höchstens Justizrat irgendwo in Posemuckel – wenn ich nicht zugrunde gegangen wäre.«

»An den Weibern …«

»Sag: am Weibe, das ist präziser … Aber freilich Präzision und du! – Du mit den huschenden Gedanken und den fantastischen Reden … Wie hat mein vielgeliebter Korpsbruder Erwin, die präzise Klarheit in Wort und Wandel, da wohl gestaunt! Kennen tat er dich ja kaum, als ihr heiratetet …«

»Das ist auch nicht nötig. Dazu ist das gemeinsame Leben lang genug … Und dann – schließlich – nach allen Versuchen, sich kennen lernen zu wollen, ist doch jedes Menschen Los die Einsamkeit …«

»Ja – wenn der Lebensweg des sogenannten Gefährten in der Börse mündet, während die Frau Traumwege sucht und mit Toten geht …«

»Hätte ich Kinder, wäre das anders. Aber – es ist auch so gut. Ich bin jetzt längst jenseits aller Wünsche – ich gräme mich nicht mehr – ich freue mich nicht mehr – aber ich bin zufrieden.«

»Ist das deine Endweisheit, Sonntagskind? Als deine Haare noch dunkel waren, verlangtest du andres.«

»Sonntagskind?« sagte sie. »Das hab' ich vergessen in meinem langen Leben. Es hat auch keiner mehr danach gefragt, seit damals – seit wir unter der großen Birke – dein Vater hatte sie an deinem Geburtstag gepflanzt, erzähltest du« – er nickte und sah sie an wie damals, schien es ihr – »als wir unter jener Birke saßen an einem schönen Sonntagvormittag, an dem ich die Kirche geschwänzt hatte. Meine Pate und ihre Tochter waren fromm hingegangen. Da kamst du den langen Gang hinter eurer Schlosserwerkstatt her und wolltest mir Gedichte vorlesen. Aber die Sonne brannte, und darum gingen wir in eure Kaprifoliumlaube, in die du mir jeden Morgen ein paar schöne Verse legtest. Schade, daß ich sie nie zu nehmen wagte.«

»Ja … ich, ich, ich, den das Weib schon damals in den Fängen hielt, ich dichtete ein unreifes Mädel an …«

»An diesem Sonntag aber sagtest du eins aus dem Kopf, das ich schon kannte: ›Es war ein Kind in Avelun.‹ Und da erzählte ich dir, daß ich auch ein Sonntagskind wäre, und du sagtest, das hättest du längst gewußt.«

»Und jetzt müßte ich armer heraufbeschworener Schatten wohl den hübschen Schlußvers sagen: ›Wer Liebe singt, der singet Leid – o Sonntagskind – o Sommerzeit! …‹ Übrigens sprachen wir damals von Liebe noch wenig … wir sprachen von Wagner und Raabes Abu Telfan, von Genie und Charakter, von Ruhm und Zukunft …«

»Ja, ja, und von einem Roman, den du schreiben wolltest, haben wir viel geredet … Wahrhaftig, ich besinne mich … Vitium cordis sollte er heißen … Ach, wie war ich stolz auf ihn! … Wenn ich's mir recht überlege, war er naturalistisch vorempfunden …«

»Erlaube, das ist eine Bemerkung, die in das Reich der Lebendigen gehört. Vergiß nicht, daß ich da nicht mehr zu Hause bin.«

»Denk doch nicht an die Lebendigen«, sagte sie eifrig; »ich bin ja so froh, da nun all diese Bilder und Gedanken kommen, die ganz verschüttet in mir waren. Sprich weiter, sprich! …«

»Ich spreche ja eigentlich nicht … du bist es …«

»Ja, und weißt du, ich vergesse ganz, daß ich eine alte Frau bin und ein krankes Herz habe. In diesem schönen Traume schlägt es so stark wie in der Jugend.«

»Schlug es stark? Ja«, sagte er in dem halb nachdenklichen, halb spöttischen Ton, den sie so gut an ihm gekannt hatte, »ja, für allerhand Kinkerlitzchen – für den Sultan Abdul Hamid – für du-Bois-Reymonds Grenzen des Naturerkennens.«

Sie lachte hell und froh.

»Geradeso sagtest du damals und wolltest, ich sollte mich mit meinen Gefühlen auf meine Umgebung konzentrieren … Es lag wohl nahe, auf wen!«

»Glaubst du, daß dir das Schaden an deiner Seele getan hätte? Glaubst du, daß deine Lebenden von heute zu kurz gekommen wären, wenn? …«

»Nichts von den Lebenden. Das Leben liegt in diesem Augenblick so farblos hinter mir. Dieser Traum wird so schnell vergehen, und das Leben ist noch so lang …«

»Glaubst du?« fragte er.

»Glaubst du?« klang es wie ein leiser Widerhall in allen Büschen, von allen Seiten.

Sie drehte sich um.

»Aus dieser Frage kommt es wie ein kalter Hauch«, sagte sie erschauernd. »Was willst du damit sagen? Sollte mir der Abschied von der Erde so nahe sein? Willst du das damit sagen?«

»Hast du nicht schon Abschied genommen, als du sagtest, das Leben läge farblos hinter dir? Schlägt dein Herz, sonst so kraftlos und müde, nicht stark und jung, wenn du den alten Garten, wenn du mich siehst, und wenn du alles mit dem vergleichst, was dir da vorn in Tag und Sonne lebt?«

»Wenn ich Kinder hätte«, seufzte sie, »dann ginge ich mit in die Zukunft und brauchte meine Seele nicht an die Vergangenheit zu haken.«

»Du wolltest ja keine. Was überhaupt wolltest du je mit dem starken Willen, der schon Tat ist?«

»Bist du wiedergekommen, um mich zu quälen? Glaubst du, ich weiß nicht, daß ich mich verirrt habe? Zu den Höhen wollte ich …«

»Und bist in die fruchtbaren Niederungen der guten Diners gekommen, aus denen Rangordnung die Kraft des Empfindens und Handelns verjagt hat.«

»Ich höre dich sprechen wie einst, ich sehe dich blicken … ach, wie habe ich diesen Blick vergessen können? Wie sich die wehtuende Kälte darin löste – zu Weichheit, zu Liebe, zu bedingungslosem Aufgehen …«

»Wunder auch!« sagte er. »Du machtest mir ja damals meine Seele gesund. Und zweimal gab es in unserm fernen gemeinsamen Leben dieses heiße, geheimnisvolle Überströmen von Zusammengehörigkeit, das noch keine Weisheit erklärt hat … Weißt du? Ruf es dir ins Gedächtnis das erste Mal. Frau von Stephany hatte Gäste geladen und bewirtete sie in dem Garten. Für den Hauswirtssohn, dem sie sonst wohlwollte, war diesmal unter den vielen adligen Verwandten und Freunden kein Platz gewesen. In Erbitterung darüber hatte ich mich in die Laube, unsre Laube, gesetzt, von wo aus ich ungesehen alles beobachten konnte. Und ich sah dich mit einem Gefolge von dreien herumschwirren, sah, wie der alte Wüstling, der Landrat, in falscher Väterlichkeit deinen Arm drückte und dich um die Taille fasste … Und ich hörte dein Lachen, und ich fühlte einen großen Hass gegen dich. Aber da – wie ich wieder aufsah, standest du ganz allein, mit herabhängenden Armen und suchenden Augen, und dann kamst du langsam auf mein Versteck zu … und wußtest doch nicht, daß ich drin war.«

»Ach, ich hab's dir ja später gesagt – ich wußte es – ich weiß nicht, woher … Und als ich vor dir in der Laube stand, gaben wir uns die beiden Hände und sahen uns an.«

»Und da war es – das selige, glückselige Fühlen – du und ich – eins sind wir – eine unendliche Welt wir beide – ein starkes, heißes Gefühl – über den Worten stehend – weißt du?«

»Ich weiß, wie ich stumm und erschüttert fortging zu den Gästen, und mich bewegte und sprach und wußte nicht, wie und was … Und dann die Nacht durch saß ich auf meinem Fensterbrett, bis der Morgen zu dämmern anfing, und fragte mich immerzu: Was war das in der Laube? Was hatte mich da gepackt? Was ist über mich gekommen? Ich kann doch diesen Mann nicht lieben, der Jagd auf die Dienstmädchen der Nachbarschaft macht, der über Ehre und Recht lacht, der keine Gnade hat mit der Schwäche und keine Achtung vor der Kraft.«

»Von allem war etwas in mir, gerade wie du es dir dachtest. Und heute weißt du aus Erfahrung: das Leben ist eine Mischung von unendlich Rohem, Brutalem, Gemeinem und zierlichen Gebilden, die in unschuldiger und unbegreiflich zarter Schönheit dazwischen aufblühen. Solch ein schillerndes Ding war jene Minute.«

»Selig, wem sie beschieden war! … Leben, wo bist du? … Weiter – sprich weiter …«

»Ich wiederhole es dir – du bist es, die alle Worte aus mir quellen läßt. Dem Tode die Hand hinstreckend, empfängst du die Macht, die Toten in dir zu erwecken und sie zu dir zu rufen – zum Selbsterkennen – und zum Gericht …«

»Gericht?«

»Welcher Lebende, an den dich schmerzende Fäden binden, könnte richten über ein Wesen seiner Art, das noch mit ihm im Drang des Wollens, des Kämpfens und Unterliegens steht?«

»Wir wollen nicht von Kämpfen und Unterliegen sprechen. Nur noch einen Blick in das Versunkene und Vergessene, ehe ich aufwache. Laß uns davon reden, wie wir uns wiedertrafen.«

»Drei Jahre später. Über die scheuen und reinen Tändeleien der alten Zeit hatten sich Erfahrungen aller Art gehäuft … Auch bei dir … Weißt du, wie wir uns am Tage meiner Ankunft zufällig in der kleinen Buchhandlung am Markte trafen? Wie wir uns mit kühlen Blicken maßen und uns dann doch mit einem Frohgefühl die Hände drückten?«

»Ja, ja – und doch störtest du mich und beunruhigtest mich, wo wir zusammenkamen auch später. Und dazu gab es viel Gelegenheit. Man feierte so viele Feste bei uns.«

»Niemand wußte, daß wir uns mehr als flüchtig kannten. Und es kümmerte sich auch eigentlich einer um den andern nicht, aber das Geheimnis unserer Geißblattlaube koppelte uns aneinander. Und manchmal ohne irgendeine Veranlassung gab's ein plötzliches Zucken hinüber und herüber, und ein Wort, ein Blick tauchte in die versteckten Seelen … War's nicht so? Und dann kam ja auch wieder ein Sommertag …«

»Ja, es war wieder Sommer. Du solltest nun bald fort. Oft stand mir das Herz still, wenn ich daran dachte, aber dann schien es mir auch wieder, als ob ich mich freuen würde, wenn ich dich nicht mehr zu sehen brauchte – damit ich endlich zur Ruhe käme.«

»Als eine Art Abschiedsfest für mich war ein Ausflug in den Stadtwald, den »Wolfswinkel«, verabredet worden … Man ging zu zweien und dreien durch reifende Felder, über Wiesen, auf denen Heu ausgebreitet lag. Wir beide schlenderten zusammen dahin, von diesem und jenem sprechend, dann wurden wir stiller und stiller, gaben zerstreute Antworten, und zuletzt schwiegen wir ganz, benommen von Sonne und Sommerduft und hin und her schwirrenden Gedanken.«

»Mir war ganz verstört und seltsam zumute, und ich wachte aus meiner Versunkenheit erst auf, als du weit weg von mir warst. Jeder lachte und sprach nun doppelt so viel mit den andern, und unsere Blicke, die sich zuweilen streiften, sagten sich: Siehst du, wie wohl ich's mir hier sein lasse ohne dich.«

»Du trugst eine weiße Rose an deinem blauen Sommerkleid und spieltest damit. Sie fiel zur Erde.«

»Du sprangst hinzu und hobst sie auf, und unsere Hände kamen zusammen … Und da war's wieder wie vor Jahren … Aber jetzt wußte ich, was es bedeutete … Ein sekundenlanger heißer Traum voller Sehnsucht, voller Wonne, voller Glut und Erfüllung … Du warst ganz blaß, und deine Augen brannten … Keiner merkte etwas – die jungen schwatzten und liefen durcheinander, und die alten saßen auf den langen Holzbänken und waren mit sich beschäftigt.«

»Und wir standen mitten darunter und doch auf einer außerweltlichen Insel, an der berghohe Wellen heißesten Sehnens brandeten. Unter all dem zahmen Hausgetier zwei wilde Vögel, denen die Natur ein brausendes Lied von der höchsten Lebensvollendung in die Herzen schrie …«

»Still – still – ich hab's nie wieder gehört.«

»Dann liefen wir auseinander und machten die kindlichen Scherze und Spiele der anderen mit und sorgten dafür, daß wir uns nicht trafen.«

»Bis der Abend kam und ein glücklicher Zufall uns für den Heimweg zusammenführte. Erst sagtest du viel Böses und Höhnisches über den Zwang der öden Stunden – dann –«

»Deine Hand in meiner, jede mit Zucken sich wehrend, so gingen wir über das Waldmoos, den anderen weit voran … der Mond stand groß und rötlich hinter der alten heiligen Eiche … ein feuchtschwerer Nachtwind raschelte durch ihre Blätter … die alten Heidengötter sprachen.«

»Du sprachst … du … deine Worte brannten. Ein Glück so voller Glut, daß seine Seligkeit in den göttlichsten Schmerzen ersterben muß. Vernichtung des Menschen und Aufwachen des Gottes. Wo hast du die Töne hergenommen, woher quollen diese Worte, die mich mit Entsetzen und Wonne durchschüttelten?«

»Ich glaubte, du wärest eine Feuerseele, aber du warst nur ein zahmes Hausfrauenseelchen. Du ersticktest den kleinen Widerhall, den meine Glut in dir löste, du warfst dich nicht dem verschuldeten Referendar in die Arme und sagtest: Sturm, nimm uns und trag uns fort, gleichviel wohin … Du starrtest zitternd in die raschelnden Bäume am Wege und horchtest schon halb auf die näherkommenden Schritte des biedermeiernden Justizrats und des langen Erwin … die Schritte deines Schicksals …«

»Ja … ist es denn ein so schlimmes geworden? Habe ich Erwin nicht liebgehabt? Bin ich nicht glücklich gewesen? Hab' ich nicht lachen und weinen können, als ich noch nicht müde war? Hab' ich an dich und all die tollen Sehnsüchte und Träume gedacht, die du in mir erwecktest und die doch sterben mußten?«

»Sie sind nicht gestorben. Sie schliefen nur in dir, wie ich. Solange das Leben fließt und die Alltagswellen darüberströmen, so lange schläft das Unterdrückte, das Innerste. Aber es kommt der Tag, an dem der Strom einen anderen Lauf nimmt und den Lebenswillen nicht mehr trifft, es kommt die Stunde, die euch in den Schattenweg führt, wie eben dich. Dann wacht das auf, was widerrechtlich zum Schweigen gebracht war, und es ruft stärker und stärker, bis es uns Tote in euch auferweckt … dann stehn wir mit der vergewaltigten Natur zusammen richtend vor euch und heulen euch in die Ohren: »Was habt ihr aus euerm Leben gemacht? – – –«

Mit einem hellen Schrei sprang die Frau auf.

Es war niemand da – alles leer, nur die Sommerblumen lagen verstreut um sie herum.

Das Blut jagte mit tausend Stichen durch ihren Körper, das kranke Herz flatterte, ein eisiges Grauen kroch über sie hin und verzehrte ihre Gedanken. Sekundenlang stand sie da und starrte um sich. Aber es blieb alles totenstill in der grünen Dämmerung. Nur der Specht hämmerte in der Ferne … Da stürzte sie den dunkeln Weg zurück, über Wurzeln stolpernd, mit versagendem Atem, bis zu dem Waldeingang, wo in der leuchtenden Sonne der Heilige das Tal bewachte.

»Sonne, Leben … haltet mich, behaltet mich!« stöhnte die Erschöpfte und sank bei dem Bildnis in die Knie …

»Welche Wirrnis, welches Grauen!« dachte sie, sich allmählich beruhigend. Diese verschollene kleine Liebesgeschichte! Wie ein Todesgruß!

Und doch – erhob sich in allem Fürchten und Verwundern nicht schon wieder eine schwache Stimme, die sie in das Versunkene zurücklocken wollte, dem sie eben in Todesangst entflohen war?

»Is Ihna net recht?« fragte da ein altes Weibchen, das mit seinem Rückenkorb den Weg heraufkam. »Se schaun aber schlimm us!«

Die Frau nickte ihr mit mühsamem Lächeln zu. »Es geht schon, ich habe mich übermüdet und war im Wald da eingeschlafen.«

Das Weibchen schüttelte den Kopf.

»Oh, oh, das is aba nimma gut in den sprindigen, kalten Wald. Wenn ma kann, soll ma schon in de Sonn bleibe.«

Und sie ging langsam weiter.

»Ja, solange man kann, soll man in der Sonne bleiben«, dachte die Frau, von heißen und kalten Schauern überrieselt.

Und dann schlich sie mit stechend schlagendem Herzen den lieblichen Weg hinab zu ihresgleichen – Menschen, die lebten und atmeten. Wie heute auch sie noch … Heute noch! …

* * *


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