Auguste Supper
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Der beinerne Herrgott

Frau Langgut, die Schlosserswitwe, und ihr einziges Kind Ernst hatten zwar von Hause aus den beschwingten Sinn, der nicht tatenlos haften bleibt am Unabänderlichen. Aber wenn alle Freunde und Nichtfreunde jahrelang versichern, es sei ein betrübliches Mißgeschick, ein herbes Schicksal, daß der Bub mit einem verkümmerten Fuß zur Welt gekommen sei, dann bohrt sich dieses beharrliche Gerede schließlich doch ein und fängt an, sein aussaugendes Schmarotzerwesen zu treiben.

Als der Sohn ein hübscher Jüngling, ein stattlicher Mann geworden war, hatte sich in der Mutter die Meinung, ihr Ernst sei ein Benachteiligter, so stark herausgebildet, daß in all ihren mütterlichen Stolz ein kräftiger Schuß Mitleid einfloß. Davon war es abzuleiten, daß in das Zusammenleben der beiden eine Art Knochenerweichung kam. Ein Mangel an Kraft und an Reibung, wie sie nötig ist, wenn man den rechten Nutzen voneinander haben soll.

Ernst Langgut war ein guter Zeichner und hatte ein großes Geschick in den Händen, als sollte dadurch die Plumpheit und Hilflosigkeit seines einen Fußes wettgemacht werden. Manchen verschwiegenen Traum von Künstlerschaft träumte der Knabe, und 6 er verband damit die Vorstellung von etwas ganz Heiligem und Hohem.

Aber seine Mutter, der alles Künstlerische ans Seiltänzerhafte und Scheunenpurzlerische anstreifte, schlug ihm vor, Damenschneider zu werden und so leicht eine Menge Geld zu verdienen. Da packte ein Unmut den Sohn und machte ihn für lange reizbar und verschlossen.

Als er darum nach einiger Zeit, bestochen von den Herrlichkeiten in des Nachbars Schaufenster, vorschlug, ein Beindreher zu werden, da wagte es die Mutter nicht zum zweitenmal, ihm entgegen zu sein, so wenig sie für den Beruf und besonders für den Lehrherrn übrig hatte.

Dieser hieß im Städtchen »der Meister Lorenz« und war ein Junggeselle. Einer von den schrullenhaften, denen die Kundigen anspüren, daß einmal in ihrem Leben ein Stoß oder Hieb niedergesaust sein muß, dessen vernarbende Wunden für die Außenstehenden zu knöchernen Wunderlichkeiten wurden.

Im Städtchen dachte niemand über solche Zusammenhänge nach. Der Alte galt einfach als Grobian, als Menschen und besonders Weiberverächter, mit einem starken Einschlag von Geiz und allgemeiner Narrheit. Aber daß er sehr geschickt sei und schon manches schöne Stück seiner feinen Kunst geliefert habe, das sprach ihm niemand ab. Ja darüber wußte man erstaunliche Geschichten.

Er war von fast kümmerlicher Leibesbeschaffenheit. Über dem kahlen Schädel trug er in der Werkstatt 7 die alte Samtkappe, auf der Straße den breitkrempigen Schlapphut. Auffallend sauber war der Alte, nur in den grauen, buschigen, wie bei einem Luchs spitzen Augenbrauen hing immer ein wenig Beinstaub. Der bartlose, meist schweigsame und festgepreßte Mund hatte einen spöttischen Zug. Die Augen hoben sich nicht oft, dann aber scharf und klug zu einem Besucher.

Unter den Leuten zeigte er sich wenig. Er las gerne, und lieber noch schweifte er einsam im Wald und Feld umher, wenn ihn die Arbeit nicht in der Werkstatt festhielt.

Bedienung hatte er keine. Er wirtschaftete jahraus, jahrein, und solange man überhaupt denken konnte, eigenbrötelig in der Stube hinter der Werkstatt. Selten betrat ein Mensch diesen Raum. Aber wer ihn gesehen hatte, der sagte, daß es wohl kunterbunt, aber nicht im geringsten schmutzig darin aussehe. Das erklärten sich die Frauen im Städtchen damit, daß der Alte nicht kochte. Es hieß, er esse Früchte, Salat und Gemüse, wie es geerntet werde. Am meisten aber halte er sich an Nüsse, und er trinke Unmengen Wein dazu. Doch hatte ihn nie jemand berauscht gesehen.

Als Ernst Langgut vor dem Ladenfenster des Meisters den Entschluß gefaßt hatte, ein Beindreher zu werden, kostete es noch manche Mühe, bis die Sache in die Wege geleitet war. Der Alte wollte keinen Lehrling aus dem Städtchen und keinen, der eine Mutter hinter sich hatte. Aber 8 dann ließ er sich doch bewegen, niemand wußte recht wodurch.

Die Nachbarinnen meinten, das Mitleid mit dem Krüppeltum des Lehrbuben werde den Ausschlag gegeben haben. – Die Lehrjahre verliefen dann nicht ohne stürmische Zeiten. Manchmal gelüstete es den Jungen, der daheim an viel Nachsicht und Sorgfalt gewöhnt war, durchzubrennen. Aber dann spürte er doch wieder etwas wie Genugtuung. wie Erfrischung und Kräftigung, weil der Meister streng und kurz mit ihm verfuhr, als hätte er gar keinen Krüppelfuß. Manchmal war auch der Meister daran, den Buben fortzujagen. Denn er war nicht gewillt, in irgendeinem Stück umzubiegen oder umzulernen, nur weil da ein Lehrjunge war, der von seiner Mutter gepäppelt wurde wie ein junges Hühnchen. Aber der Ärger, der dem Meister solche Gedanken eingab, verflog immer wieder vor dem stillen Fleiß und der wachsenden Kunstfertigkeit des Jungen. Nach und nach keimte in den beiden eine stillschweigende Hochachtung vor dem Wesen des anderen auf. Sie wußten vielleicht selbst nichts davon; aber unmerklich gewöhnten sie sich ins Gespann und taten gute Arbeit nebeneinander.

Nach ein paar Jahren machten sie manches schöne, feine Stück, von dem man nachher nicht recht wußte, hatte der Meister oder der Geselle das Beste daran geleistet.

Hier und da, aber nur ganz selten, tat Frau 9 Langgut einen Blick in den Laden. Zwar die beinernen Broschen und Nadelbüchsen, die Knöpfe, Federhalter und Messergriffe aus Hirschhorn und Knochen hätten ihr schon gefallen. Aber dann hing in einer Ecke noch das große beinerne Kruzifix, von dem sie durch Ernst wußte, daß es des Alten Meisterstück gewesen sei, das ihm viel Lob eingetragen habe in seiner fernen Jugend.

Dieser weißgelbe, hagere, verzerrte Mannsleib mit dem schmerzvollen Antlitz und der Dornenkrone hatte für die scheue Beschauerin, trotzdem er hell aus der Ecke leuchtete, etwas Dunkles und Beklemmendes. Zwar, daß er, wie der Meister ihr grinsend bedeutet hatte, aus echten Menschenknochen gemacht sei, und zwar aus den Knochen eines am Galgen Gerichteten, das glaubte sie nur in vorüberhuschenden Augenblicken der Weltverachtung. Aber immerhin entströmte für sie dem Bildwerk soviel Fremdes, fast Unheimliches, daß sie sich gerne den Anblick ersparte. Ganz abgesehen davon, daß des Meisters kurzangebundenes und grobes Wesen sie von dem Laden fernhielt.

* * *

Nach der Lehrzeit kamen für Ernst Langgut ein paar Jahre Fremde. Als er zurückkehrte, fand er den Meister wunderlicher, verschrumpfter, menschenfeindlicher als je. Aber er selbst war inzwischen draußen gereift. Zwar absonderlich weltkundig und gewandt war er nicht geworden. 10 Sein Gebrechen hatte ihn überall von den lautesten Märkten zurückgehalten. Aber er war jetzt imstande, die Alterszeichen an dem Einsamen richtig zu deuten und ihnen zu begegnen.

So kamen die beiden ein zweites Mal gut miteinander aus, und als Ernst Langgut fünfundzwanzig Jahre alt war, übergab ihm Meister Lorenz sein Geschäft zusamt dem Kruzifix, von dem er sagte, daß es dazu gehöre von Rechts wegen.

Der Alte zog in ein Häuschen vor der Stadt, das er sich schon vor Jahren erworben hatte. Es lag in einem verwilderten, steilen Weinberg auf einer kleinen Hochebene, zu der ein schmaler steinerner Staffelweg emporführte, falls man nicht auf großem Umweg von hintenher auf staubiger Landstraße dazu gelangen wollte.

Im Winter war es fast abgeschlossen von der Welt und sah verwahrlost und ärmlich übers Tal hin. Aber im Sommer, wenn der große Nußbaum darüber schattete, wenn es von blühenden Klematis umrankt, von üppiger Waldrebe überschüttet war, dann mochte auch ein anderer, als der wunderliche Meister, denken, daß da gut wohnen sein müsse für einen Einsamen.

Ernst Langgut war nun selbständig, was man so heißt. Seine Mutter führte den Haushalt weiter wie zuvor, nur war sie jetzt bei ihm, statt er bei ihr. Es war eigentlich alles ganz gleich geblieben für des jungen Meisters Gefühl, und das schien ihm dumpf und dunkel nicht das Richtige 11 zu sein. Es ließ keine völlige Ruhe und Befriedigung in ihm aufkommen. Aber wenn er nachdachte und klar sehen wollte, so war es nur immer sein Fuß, der ihm sein Lebensschicksal verkümmerte. An schönen Sonntagen pflegten sie wie früher Mutter und Sohn einen Gang in den nächsten Wald zu machen. Der Weg war eben und nicht allzuweit. »Gerade recht für den Fuß,« liebte die Mutter festzustellen. Meist schlossen sich ein paar Nachbarsfrauen, Freundinnen und Altersgenossinnen der Mutter, den beiden an. Blieb unterwegs der Meister einmal aufatmend stehen, so sagte jemand: »Halt, der Herr Ernst!« Schlug eine Unbesonnene ein entfernteres Wanderziel vor, so warfen ihr besorgte Stimmen vor: »Aber der Herr Ernst ist doch dabei!« Ging ein Glied der Gesellschaft zu rasch, so riefen alle: »Langsam! Der Herr Ernst!« Oft flammte in dem jungen Meister etwas auf, wie Ungeduld oder Wut. Aber das galt, so fühlte er, seiner Schicksalsbürde, an der alle mittragen mußten.

Oft wäre er lieber daheim geblieben, statt als umsorgter Hemmschuh der Gesellschaft mitzuhumpeln. Aber dann wollte sofort die Mutter, dann wollten alle daheim bleiben. Er kam nicht los, außer wenn er bei der Arbeit war. An seiner Drehbank, vor seinem Zeichenbrett, da war er ein freier Mann, da vergaß er die Last. Darum wurde ihm der Werktag fast lieber als der Sonntag, und manchmal zog es ihm leise vorüber, daß Meister Lorenz, der Einsame, ein kluger Mann sei und 12 beileibe kein halber Narr, wie die Leute meinten. Auch er fing jetzt an, Eigenheiten zu bekommen, wie seine Mutter die tastenden, oft gewundenen Versuche nannte, die er machte, um sich loszuschälen von Liebes- und Rücksichtsketten. Er heuchelte manchmal, ja, er log manchmal, er war oft verschlossen und oft bitter, so daß Frau Langgut oft irre wurde und hinter dem neuen, seltsamen Wesen des Sohnes eine versteckte, heranschleichende Krankheit witterte. Das machte ihr Sorge und trieb sie öfters als je in seine Nähe, öfter als je in den Laden und unter die Augen des sonst gemiedenen beinernen Herrgotts.

Und einmal, als sie wieder so recht gründlich die Scheu und das leise Grauen vor dem Kreuzbild verspürt hatte, träumte sie sogar davon. Wirres Zeug, das sie sich mit der alten und von ihr immer verehrten Kunst des Joseph in Ägypten zurechtlegte, und das ihr verriet, daß das ungute Schnitzwerk ihren Sohn verdreht, wunderlich und krank mache, ja, ihm das Schlimmste zuzufügen imstande sei.

Da nahm sie es an einem schönen Abend aus der Ecke, wickelte es in ein paar Schürzen und legte es in eine Schublade.

Ernst merkte die Sache nicht sofort. Aber nach zwei Tagen gab es einen Sturm. So entschieden, wie er noch nie mit seiner Mutter geredet hatte, forderte er, daß sie das Kreuzbild herausgebe.

Erst sagte sie, es sei herabgefallen, zerbrochen und 13 von ihr fortgeworfen worden. Aber das Lügen war ihre Sache nicht.

Halb weinend und halb scheltend brach sie dann los, wie er doch wisse, daß sie das Ding nicht sehen könne.

Aber Ernst ließ nicht mit sich reden. Es sei ein Kunstwerk, sagte er, und ein ehrendes Vermächtnis vom Meister, das wieder an seinen Platz müsse, sonst könne er dem Alten nicht mehr in die Augen sehen.

Die Mutter, fast mehr erbost als besorgt, hatte das Gefühl, es gelte nun eine Kraftprobe zwischen ihr und dem Meister. Sie verschwieg die nachhelfende Ausdeutung und sagte wegblickend – die leise Scham über ihre halbe Lüge gab der Sache einen merkwürdig glaubhaften Ton von Scheu und Zurückhaltung: »Weißt du, mir hat geträumt, du müssest sterben, wenn das Greuelbild nicht wegkomme. –«

Nun war es aber mit Frau Langguts Träumen eine seltsame Sache. Irgendwie oder irgendwann trafen sie immer ein. Man mußte sie nur richtig verstehen und auslegen. Hundert Fälle bewiesen das. Und wenn sonst niemand, so wußte die Frau, daß es eine Herausforderung bösester Sorte gewesen wäre, einmal einem dieser Träume Trotz zu bieten.

Der junge Meister sagte nichts mehr. Er fühlte, wie ihm die Waffen aus der Hand gewunden wurden und ging an die Drehbank. Er war nur froh, daß der Alte so selten von seinem Berge herunterstieg. 14

Aber wenn es verkehrt gehen soll, dann wachsen Äpfel auf Birnbäumen. Schon am Nachmittag trat Meister Lorenz in den Laden, warf seinen Künstlerschlapphut auf den Glaskasten mit den Broschen und sah sich um. Dieses Umsehen, von unten herauf, mit halbgeducktem Kopf, hatte sonst immer den jungen Meister leise lächeln gemacht. An einen alterssteifen, grauen, mißtrauischen Vogel, an eine verscheuchte Nebelkrähe hatte es ihn gemahnt, die unmutig und scheu ihre Umwelt betrachtete.

Aber heute lächelte Ernst Langgut nicht. Er hatte ein schlechtes Gewissen für seine Mutter und für sich.

Und schon sah der Alte die Lücke. Die grauen, spitzen Büsche seiner Augenbrauen zuckten. Fast stechend heftete er den Blick auf seinen Schüler. »Der Herrgott –? Was ist mit dem Herrgott?«

Ernst Langgut bekam eine flammende Stirne. »Sie hat ihn weg.« – Ganz kurz und leise sagte er's.

Der Alte machte ein paar trippelnde Schritte. Seinen Hut nahm er auf und warf ihn wieder hin. »Sie, sie – – sind Weibsleute Herr im Laden, – he – –?« Ein warnendes Grollen war in der Stimme, ein nahender Sturm in der Frage.

»Die Mutter sagt – –«

»Ich will nicht wissen, was die Mutter sagt,« rief der alte Meister, »was du sagst, will ich wissen. Hab' ich mein Geschäft einem Hosenmatz gegeben? Wo ist das Bild –?« 15

Da grollte es auch in Ernst Langgut. »Wenn ich's wüßte,« schrie er, »was brauchen Sie mich zu beschimpfen! Sie hat es gut gemeint.« –

Meister Lorenz stand auf einmal ganz starr. Mit großen, mehr verwunderten als zornigen Augen schaute er den Schüler an. »Gut gemeint,« sagte er dann sonderbar ruhig; »sie meinen's immer gut, immer gut. Und wenn sie dir den Stuhl unter dem Leib wegziehen und das Dach überm Kopf anzünden. Schaff' das Bild wieder her, Bub, sonst, sag' ich dir, ist deine Mannheit beim Teufel.«

Der Ernst, den der Alte an die Sache verschwendete, brachte den jungen Meister wieder ins Gleichgewicht.

»Es ist so,« sagte er versöhnlich und mit einem erklärenden Lächeln, »sie hat geträumt, das Bild bringe mir ein Unglück oder den Tod, oder was weiß ich. Jetzt muß ich ihr eben den Willen lassen – nicht?«

Meister Lorenz verzog keine Miene. »Laß ihr den Willen, ja – –« sagte er und stülpte sich den Hut auf, »den ihrigen und den deinen auch dazu. Was ein Hosenmatz ist, braucht keinen eigenen Willen. Aber mir, Bürschlein« – seine Stimme schwoll an – »mir komm nicht mehr unter die Augen, ehe du deinen Willen wieder aus Weiberklauen gerissen hast! –« Er spuckte aus und schritt aus der Türe.

»Ein Narr,« sagte nach einer Pause der Starrheit der Zurückbleibende. 16

* * *

Die Garben reiften im Tal, und leise schwollen die Trauben an den Hängen. Da fuhr es herunter auf das liebe Land wie ein Blitz aus Himmelsbläue: Krieg.

Im Städtchen war es, wie im ganzen Vaterland: Die Herzen flammten in gerechtem Zorn, in stolzer Begeisterung; aber sie brannten und zuckten auch in heimlichen Schmerzen und Nöten. Wenn jetzt die Nachbarinnen und Freundinnen zu Frau Langgut kamen, wenn sie beim sonntäglichen Spaziergang mit auszogen, dann hieß es manchmal: »Du brauchst nicht zu sorgen, – dein Ernst – –« Sie schwiegen und sahen ins Weite. Und als das Riesengroße, das draußen geschah, ein paarmal seine sengenden Strahlen in das Städtlein zückte und hinterher die Trauerschleier zu wehen anfingen, da klang es wie Neid: »Dein Ernst, ja dein Ernst – – –.«

Der junge Meister hörte alles und sah alles. Auf dem ebensten und kürzesten Weg brannte ihn jetzt sein Fuß, als fresse ein Feuer drin. Wenn der Blick aus einem Männerauge ihn traf, so hieß das: »Ach, du kannst ja nie Soldat sein, zu was bist du eigentlich auf der Welt?«

War's ein Weiberauge, so klang's: »Deine Mutter braucht nicht zu sorgen – aber –«

So hörte er Stimmen um sich, deren er sich nicht zu erwehren wußte, die ihn quälten und reizten, daß er innerlich oft am Kochen war. Seine Mutter spürte ihm wohl die große Not an. Aber 17 sie war zu blind, um sich alles recht zu deuten. So trug sie oft Stroh in das Feuer, das sie löschen wollte. Sie pries des Sohnes Gebrechen, wie sie es früher bejammert hatte, und mühte sich, dem Benachteiligten zu zeigen, wo, wie und wodurch er nun im Vorteil sei. Da, mitten auf einem Sonntagsausgang in den nächsten Wald, riß dem Gemarterten die Geduld. Mit einem zornigen Wort brach er aus der Reihe der überraschten Frauen und schlug hastend einen Seitenweg ein, den er in humpelnder Eile verfolgte, solange sein Fuß die Anstrengung aushielt.

Bleich und perlenden Schweiß auf der Stirne blieb er dann stehen, auf seinen Stock gestützt. Er wußte nicht, wo er eigentlich war. Alle diese steinigen, leeren Ackerwege waren ihm fremd. Es kam ihm bitter zum Bewußtsein, daß er nie, wie andere Buben, das Gelände ums Städtchen abenteuernd durchstreift hatte.

Ein alter Mann tauchte hinter einem Acker voll hoher Roggenhalme auf. Sonnverbrannt war sein Gesicht unter dem schneeweißen Haar. Seine Augen streiften prüfend und schätzend das reife Feld. Ohne Gruß blieb er neben dem Ausruhenden stehen und deutete auf die Ähren. »Heuer schneid' ich's. Ein Sohn ist mir draußen und sechs Enkel.« Er lachte und schritt weiter an dem Ackerrand hin, spähend und aufmerksam, als umschleiche er eine künftige Beute.

Ernst Langgut strebte weiter. Es war ihm auf 18 einmal, als müsse er heim an die Drehbank. Nur eine Arbeit jetzt, nur etwas leisten, da doch alle anpacken und eingreifen und ihre Hände an ein Werk legen! Sonntag. Was war ihm der Sonntag? Hatten die draußen Sonntag? –

Er humpelte und biß auf die Zähne und unterdrückte ein Stöhnen, das ihm sein Fuß durch brennende, zuckende Schmerzen entlocken wollte.

Er konnte nicht mehr. An den Ackerrain setzte er sich, mitten in den Staub. Es war ihm, als würde er nun nie mehr aufstehen können, und das wollte ihm fast recht sein. Wer brauchte ihn? Zu was taugte er? Könnte er wohl, und wenn man ihm Indiens Schätze versprechen würde, diesen Acker voll wogender Ähren abmähen, wie der Weißhaarige, der dort drüben durchs Feld schweifte? Könnte er? – – In ein halb spielerisches, halb selbstquälerisches Fragen kam er hinein, das von einem zum andern irrte, und das, wie Binsen aus dem Moor, aus der dunklen Unruhe und Trauer in seinem Innern unversehens emporwuchs. Dazu rieb er mit verzerrtem Gesicht sein Bein und sah in die Weite, ohne etwas zu erblicken, als die Bilder, die seine Seele ihm malte.

Auf einmal klangen Schritte und ließen ihn aufwachen. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Meister Lorenz stand neben ihm und musterte ihn verwundert. »Du? Was tust denn du da?«

Ernst Langgut spürte einen abweisenden Trotz. »Ausruhen,« sagte er kurz. 19

Der andere drehte den Kopf, als suche er etwas. »Wo sind denn deine Kindermädchen?«

Es war nicht etwa Scheu vor dem Lehrer und Meister, was jetzt ein grobes und zorniges Wort auf der Lippe des Jüngeren zurückhielt, sondern in seltsamer Ruhe zog es ihm durchs Herz: »Er hat ja so recht,« – und er antwortete fest: »Entlaufen bin ich ihnen.«

Dem Alten zuckten die Brauen. Es war, als ob ihm der andere durch dieses Wort plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Sein hämisches Gesicht veränderte sich. »Du? – Allein? – Entlaufen? –«

Ernst Langgut lachte. Es war ihm auf einmal ganz frei und leicht, als sei es nun an ihm, den Meister zu höhnen. »Ich, ja. Und ganz allein. Wenn Sie den Stecken da nicht zählen wollen.« Damit schleuderte er seinen Stock mit großer Wucht weit den Weg entlang, und er dachte dabei grimmig zufrieden, daß er nun festgebannt sei auf seinen Platz.

Da nahm der Alte seinen Schlapphut ab und warf ihn neben den Sitzendem »Gut,« sagte er, »du hast's erfaßt. Ich würde mich zu dir setzen; aber ich habe meine beste Hose an und muß sie selber putzen. Dir putzt sie deine Mutter. He du, was sagst du denn, daß Krieg ist –?«

Ernst Langgut gab keine Antwort. Lästig war ihm der Mann, fast hanswursthaft, jetzt, da das Große wieder emporstieg. 20

»Dich geht er ja natürlich nichts an, der Krieg,« fuhr der andere fort und stieß mit dem Fuß einen Stein aus dem Weg, »aber wenn man Anno siebzig dabei war –«

Der Jüngere drehte sich jäh um. Es war das erstemal, daß Meister Lorenz etwas von seiner Vergangenheit sagte.

»Waren denn Sie dabei?« entfuhr es verwundert dem Sitzenden.

»Hast du etwas dagegen?« antwortete im alten hämischen Ton der andere, und, als wollte er das Gespräch auf etwas anderes bringen, deutete er nach dem fortgeschleuderten Stock: »Wer holt dir den? Meinst du, er komme, wenn du pfeifst?«

»Was haben Sie mitgemacht, dazumal?« fragte Ernst Langgut, als hätte er gar nichts gehört.

»Dazumal? –« der Alte nahm jetzt seinen Hut wieder vom Boden auf und klopfte den Staub vom Rand, »dazumal hab' ich mitgemacht – – Bub,« unterbrach er sich, »glaubst du, das zähle ich dir auf, solange du da im Dreck sitzt? Das ist nichts zum Zerschwatzen –«

Langsam schritt er nach dem Stock, ihn herbeizuholen. Aber als er ihn dem Sitzenden reichen wollte, griff er nicht danach, sondern sah nur mit feindseligen und zornigen Augen empor. »Sie hätten ihn liegen lassen können,« sagte er, »wenn es nicht der Mühe wert ist, mit mir zu reden, brauchen Sie keinen Schritt für mich zu tun.«

Der Alte lachte. »Wie willst du heimkommen, 21 Bürschlein! Mußt warten, bis deine Gluckhenne dich holt.«

»Sie brauchen meine Mutter und mich nicht zu verspotten,« fuhr Ernst Langgut auf, und alle Gelassenheit, die er sonst immer für den wunderlichen Mann in Bereitschaft gehabt hatte, verließ ihn plötzlich, »es ist eine schlechte Kunst, über einen Krüppel zu lachen; jeder Narr kann das.«

Der Alte blickte mehr verwundert als grimmig. »Recht hast du,« sagte er, »aber ich wüßte nicht, daß ich über deinen Fuß gespottet hätte. Nur du selber hast ihn immer angesehen mit Altweiberaugen.« Er lachte stoßweis, wie es sein Schüler an ihm gewohnt war und fuhr fort: »Mir ist er vorgekommen wie eine Gottesgabe, daß du nicht jeder öden Narretei nachlaufen konntest. Denn zu was sonst brauchen die Leute meist ihre Füße? Aber jetzt – ja, jetzt möchte wohl jeder rechte Kerl seine geraden Glieder haben, jetzt, da der Herrgott oder der Teufel die Männer heraussiebt aus dem scheckigen Menschenhaufen.«

»Wenn's die Füße allein machen –« spöttelte mit verdunkeltem Blick der Sitzende.

Wieder lachte der Meister. »Die Füße und – weißt du – der Mannswillen, der ein ander Ding ist als Weiberträume. Denk an meinen beinernen Herrgott. Danach's deiner Mutter träumt, geht dir die Mannheit flöten. Da –« zum zweitenmal hielt er dem Sitzenden den Stock hin.

Ernst Langgut griff danach und schleuderte ihn 22 aufs neue den Weg entlang, daß er gleitend ins aufrauschende Kornfeld fuhr.

Meister Lorenz sah ihm nach und sagte dann ruhig: »Dort liegt er gut. Noch einmal hole ich ihn nicht. Du bist ein Kindskopf, aber ich nicht dein Hausknecht. Von mir aus kannst du da anwachsen.«

Ohne zurückzublicken schritt er davon und verschwand hinter den gilbenden Ähren.

Die heiße, stille Einsamkeit war um den Zurückbleibenden her; aber er konnte ihrer nicht froh werden. Sie grinste ihn höhnend an; sie raunte, sie machte sich über ihn lustig. »Ei du,« flüsterte sie, »wer wird dir nun deinen Stock holen? Wer wird dir aufhelfen vom Grabenrand? Wer wird dir den kürzesten Weg nach Hause zeigen? Mordskerl du! So sollte man lauter Männer haben im Vaterland!«

Immer wieder rieb er das schmerzende Bein, das zwischen Brennen und Stechen ihn anklagte: »Du springst unbarmherzig mit mir um. Ich will geschont sein! Ich will mich nicht so mißhandeln lassen.«

Er lachte auf. Zornig, erbittert. Des Alten Wort klang in ihm wieder: »Du siehst deinen Fuß an mit Altweiberaugen!« Aufhören mußte das von heute an. Grimmig dachte er's. Und schon mühte er sich unbeholfen und mit zusammengebissenen Zähnen in die Höhe zu kommen.

Es war ein schweres Stück Arbeit, und 23 unwillkürlich streckte er ein paarmal die Hand aus, als müsse die Mutter oder eine Nachbarin dastehen, um ihm aufzuhelfen.

Zitternd und mit nasser Stirne stand er endlich. Scheu blickte er in die Runde, ob niemand seine Kraftleistung beobachtet habe. Aber nur das leise Ährenrauschen drang zu ihm, und es klang ihm fast wie raunendes Beifallsgemurmel.

Er klopfte sich unsicher und mühsam den Staub von den Hosen. »Siehst du,« sagte er dabei innerlich zu seinem Meister, »ich mache das jetzt auch selbst, wie du. Du brauchst mich nicht zu höhnen.«

Nach der Stelle schaute er jetzt, wo sein Stock im Kornfeld verschwunden war. Wenn er kommen wollte auf einen Pfiff.

Er lachte mit schmerzlich verzogenem Mund. Ein paar leise Pfiffe tat er, wie um sich selbst zu höhnen, und dann setzte er sich in Bewegung.

Es war ein böses Humpeln, den ausgefahrenen, harten Weg entlang, und die hastenden, leichtfüßigen Käfer, die den sonnenheißen Pfad kreuzten, schienen der Plumpheit und Unbeholfenheit des schwerfälligen Menschen zu spotten.

Aber endlich war das ferne Ziel erreicht und der hilfereiche Stock wieder in des Herrn Hand.

Ernst Langgut stand. Was hatte er nun von seinem Durchbrennen, seinem Zorn, seiner Erbitterung? Eine tödliche Müdigkeit und scharfe Schmerzen und Hohn und Spott. – Und nun 24 gab's nichts, als wieder zurückkriechen ins alte Gefängnis. Heimzuwanken, sich ausfragen, sich schelten, sich umsorgen zu lassen. –

Von den fernen Rebenhängen kam Gesang. Eines der Lieder, die jetzt nicht mehr verklangen im Land: »Ich muß an Kaisers Seiten ins ferne Welschland reiten –«

Dem Einsamen brannten die Augen, brannte das unruhige Herz. Und wieder tauchte, wie eine Rettung aus heißer Not seine Drehbank vor ihm auf, seine Werkstatt, seine Arbeit.

Es war spät, als er heimkam. Seine Mutter empfing ihn mit Vorwürfen, hinter denen die überstandene Angst hervorlugte.

In der Nacht durchschauerte ihn ein leises Fieber und ließ ihn nicht schlafen. Sein Fuß zuckte und glühte. Aber er biß auf die Zähne und hatte einen seltsamen Trotz in sich. »Recht so,« dachte er, »jetzt muß jeder mehr tun, als er kann, warum sollte ich es besser haben!« Und der verschwundene beinerne Herrgott kam, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich will wieder an meinen Platz. Was gehen mich Altweiberträume an! Und wenn du stirbst, was ist's dann Großes? Jetzt sterben noch ganz andere. Die Tapferen sterben jetzt. Aber du bist feig. Du fürchtest dich vor Träumen. Hosenmatz, Hosenmatz!«

Der Schweiß brach an ihm aus. Er fiel in ein unruhiges, durch jähes Aufschrecken unterbrochenes Schlummern, und immer wieder rang es sich als 25 die einzige Klarheit hindurch, daß das Kreuzbild wieder an seinen Platz müsse.

Am Morgen fühlte Ernst Langgut sich elend und zerschlagen. Aber er kehrte sich nicht daran. Wie hatte doch der Meister gesagt? Ein Mannswille ist ein ander Ding, als ein Weibertraum. Er schaute seine Mutter an. »Mutter, gib den Herrgott heraus; er muß wieder an seinen Platz.«

Sie riß die Augen auf, ungläubig und verwundert. Die ganze Sache hatte sie längst abgetan und vergessen gewähnt. »Was fällt dir ein! Sei froh, daß das Scheusal fort ist.« Da verfinsterte sich sein blasses, übernächtiges Gesicht. »Gib ihn heraus, sag' ich dir, es ist mir nicht um Narreteien.«

Sie stand langsam auf. »Narreteien? Guck' in den Spiegel! Mit dir steht's nicht so, daß du eine Warnung verspotten dürftest.« Er lachte. »Was meinst du, wenn es jetzt allen Müttern geträumt hätte, ihre Söhne kämen nicht wieder, wenn sie hinausziehen? –« Er konnte nicht ausreden. Wie zur Antwort klang auf der Straße der Gleichtritt Marschierender und der helle Gesang: »Heimat, o Heimat, bald muß ich dich verlassen.«

Die Mutter sagte nichts mehr. Aus ihrer Schlafkammer holte sie das Bild und legte es auf den Tisch und ging hinaus. Ernst Langgut aber hängte es behutsam wieder an den alten Platz und hatte eine stolze und verschwiegene Freude in sich, als hätte er einen Sieg errungen. Sie half ihm ein gute Stück weiter, diese Freude. Aber dann 26 ging es in den Winter hinein. Die Tage waren trüb und dunkel, das Geschäft ging schlecht, eine müde Leere kam oft über Ernst Langgut.

Mit einem merkwürdigen Gefühl der Sehnsucht dachte er dann an jenen Sommertag, da der große Heroismus über ihn gekommen war; da er allerlei Fesseln gesprengt hatte in einer hellen Kraft, die er jetzt nicht mehr aufbrachte. Sein Befinden war schlecht. Die Mutter schüttelte den Kopf und sprach von dem beinernen Herrgott.

Der alte Meister kam nie mehr in den Laden, und der junge hatte Heimweh nach der Zeit, da das wunderliche Männlein noch neben ihm gearbeitet hatte. »Wenn er es doch wüßte,« dachte er oft, »daß der Herrgott wieder am Platz ist, daß ich meinen Willen aus Weiberklauen gerissen habe! –« Aber wer sollte es ihm vermelden dort droben in seiner unwegsamen Einsamkeit? Und auf einmal fiel es dem still Arbeitenden an seiner Drehbank ein: er selbst wolle die Botschaft in die Höhe tragen. So toll war das, so abenteuerlich, daß er erschrak. Er hielt der unbekannten Stimme, die ihm den närrischen Rat gab, die verzweifelte Sache mit dem Fuß entgegen. »Ich kann doch nicht, ich kann doch ganz unmöglich. Es ist viel zu weit, zu steil, zu beschwerlich. Ich breche ja unterwegs zusammen und bleibe liegen. Bin doch schon damals fast nicht mehr heimgekommen! Habe mir Fieber geholt und ein Herzweh, das jetzt noch oft aufflammt! Ein schwacher Krüppel bin ich.« 27

»Ach was,« klang es dagegen, »du siehst alles mit Altweiberaugen. Wollen muß man, dann kann man auch.«

So ging es lange hin und her zwischen aufloderndem Gelüst und mutloser Verzagtheit. Und weil nichts schlimmer an der Kraft frißt, als unentschlossenes Erwägen, waren das keine leichten Zeiten für Ernst Langgut. Aber dann kam der Tag, da es kein Zaudern und kein Erwägen mehr gab. Da einfach die innere Notwendigkeit ihr Wort sprach.

Wieder war's ein Sonntag. Die Mutter saß bei einer Nachbarin, und der Sohn las in seiner einsamen Stube Kriegsgeschichten. Er konnte nicht genug davon bekommen und doch auch nie das Rechte. Wie Geschichten aus Tinte und Hirnschmalz waren sie ihm alle, und je grausiger es darin zuging, je weniger wollte ihm grausen. Dies aber, das große, bis ins Mark gehende Grausen, ersehnte er sich oft mit einer brennenden Gier. Einmal nur teilhaben an dem Furchtbaren! Einmal umschauert sein von dem Dunkelgewaltigen, das jetzt alle Männer in seine unheimlichen Strudel riß! Einmal nicht nebendraußenstehen bei den jammernden Weibern! Er kam nicht hindurch durch Papier und Druckerschwärze. Er, der immer Geschonte und abseits Gehaltene, hatte zu wenig Erlebtes in sich, um hinter Worten und Bildern das Leben selbst zu erfühlen. Auf einmal sprang es vor ihm auf: Meister Lorenz ist dabei gewesen! 28 Er schob die Groschenhefte weg, in denen er gelesen, und nahm Hut und Stock. Grauverhangen war der Himmel. Halbverharschter Schnee lag an den Wegrändern, Raben strichen über die leeren Äcker. Scheu, als ob er auf verbotenen Wegen wäre, hatte sich Ernst Langgut durch die Gassen gedrückt. Es hätte ihn jemand fragen mögen, wo er denn seine Mutter habe am Sonntag? Nun, da die menschenleeren, schmutzigen Pfade vor ihm lagen, tat er langsam, wie einer, der die Gefahr hinter sich hat.

Einmal zögerte er, ob er den näheren Staffelweg oder die weite Straße nehmen sollte. Dann fing er an, die schlechten, schiefen Stufen emporzuklimmen. Nach einer Weile merkte er, daß er nicht hinaufkommen würde; da drehte er um und nahm die Straße. In einer langgestreckten Schleife ging's empor. Der schon fast Erschöpfte mühte sich, nicht an die ganze Länge der Wegstrecke zu denken und nur tapfer und geduldig Schritt um Schritt zu tun. »Was einer will, das kann er auch,« klang es dabei in ihm. Erst zusprechend und tröstlich, dann antreibend und aufpeitschend, zuletzt schroff und hohnvoll. Bleich und am ganzen Leibe zitternd erreichte er endlich, endlich die Hochfläche. Schwer stützte er sich auf seinen Stock und blieb stehen, denn er war am Zusammenbrechen. Als sein hart klopfendes Herz etwas zur Ruhe gekommen war, schaute er aus nach dem Nußbaum, der wie ein Wahrzeichen des Meisters Häuslein überragte 29 und es so heraushob aus den übrigen Hütten, die überall in den Weinbergen zerstreut lagen.

Kein Baum war rings zu erblicken.

Ein kalter Schrecken überfiel den Todmüden. War er, der Wegunkundige, Hilflose eine falsche Straße gegangen? Wieder und wieder irrten seine Augen suchend und zuletzt angstvoll über das Gelände. Da waren graue Häuschen mit grauem Himmel darüber, grauer Schmutz und graue Weinbergsmauern; aber nirgends ein Nußbaum.

Und wie er die stille, schwere Düsterheit ringsum liegen sah, fiel ihm ein, daß es wohl stark gegen die Nacht ging, und daß er unendlich lang unterwegs gewesen sei.

Ein Gefühl tiefer Verlassenheit und zugleich bitterer Selbstverachtung überkam ihn. Gab es denn nichts, was er ausführen konnte, wie ein Mann es ausführt? Mußte er sich immer an der Gebärde des trotzigen Buben genügen lassen? Die Beine zitterten ihm vor übergroßer Müdigkeit. Am liebsten wäre er in den Schmutz der Straße niedergesunken. Da klang es in ihm auf: »Ja, ja, das kannst du tun, weil dir die Mutter die Hosen wieder putzt. Unsereiner bleibt stehen.« –

Hilflos überflog er die Straße mit flackerndem Blick. Ein gefällter Baumstamm lag seitwärts im Graben. Dorthin, wenn er kommen könnte! Aber als er den gemarterten Fuß von neuem zu heben versuchte, ging's nicht mehr. Mit einem 30 dumpfen Schmerzenslaut sank er ohnmächtig nieder.

* * *

Als Ernst Langgut das erstemal wieder völlig zu sich kam, lag er in seinem Bett in der schmalen Kammer neben der Werkstatt. Mit unsäglichem Verwundern sah er seine Mutter eben durch die Türe verschwinden. Wie kam er auf einmal hierher? Er war lang fortgewesen, hatte Furchtbares erlebt. Im Gedröhn der wildesten Schlacht, auf einer dunklen, blutigen Walstatt, über der der graue Schneehimmel hing, in zerschossenen, schmutzigen Gräben hatte er sich herumgedrückt. Ein Hagel von Kugeln und Splittern hatte ihm den Fuß zerschmettert. Abgerissen, abgeschossen, abgesägt war er ihm worden und war doch immer von neuem dagewesen, um zu schmerzen und zu zucken.

Und in all dem wilden Erleben war Meister Lorenz nebenhergeschritten, hatte ein höhnendes Gesicht gezeigt und geflüstert: »Das ist noch nicht das Rechte, ist nichts zum Grausen. Das zum Grausen weiß nur ich.« –

Er schloß die Augen wieder. Es stieg vor ihm herauf, daß er am trüben Sonntagnachmittag sich auf den Weg gemacht hatte zu dem Häuslein unter dem Nußbaum, und daß sein Schmerzensgang in eine dunkle Leere verlaufen war. Er richtete sich auf. Er hatte begriffen, daß er schwerkrank gewesen sein mußte. Dann kam die Mutter, lachte, weinte und erzählte. Von dem beinernen Herrgott 31 kam darin vor und dann von Meister Lorenz. Der hatte Botschaft gebracht, daß Ernst oben liege, keine dreißig Meter von seinem Häuslein. Man hatte ihn heimgeholt in dunkler Winternacht. Seither lag er schwerkrank im Bett. Das war's, was in kurzen Zügen aus der Mutter Erzählung heraussprang an das Ohr des Lauschenden. Ihre Fragen und Klagen, ihre Vermutungen und Ausschmückungen glitten spurlos hinab in die dunkle Leere, die rings um die paar erfaßten Ereignisse gähnte. Bohrend und tastend, von leisen, letzten Fieberschauern immer wieder überrieselt, lag dann der Kranke und suchte Sinn und Zusammenhang in die paar Bilder zu bringen, die er festhalten konnte. Wie eine Erleuchtung kam es plötzlich über ihn, daß er zuerst wissen müsse, wo der Nußbaum sei.

Die Mutter verstand ihn nicht. Einen neuen Ansturm der Krankheit vermutete sie in seinen wirren Reden. Sie setzte sich zu ihm und streichelte seine heißen Hände. Aber eine tiefe Unruhe quälte den Liegenden. Hatte er nicht mit Meister Lorenz etwas reden wollen? Etwas sehr Wichtiges, das keinen Aufschub litt? Klarer und folgerichtiger kam jetzt herauf, was gewesen war und wie alles zusammenhing.

»Mutter,« bat er leise, »laß dem Lorenz sagen, daß der beinerne Herrgott wieder in der Ecke hängt.«

Die Frau erschrak. Sie verstand nicht, was der Kranke meinte. Ihr schien's, als wolle er sagen, daß es nun mit ihm zum Sterben gehe. Ihre 32 Augen füllten sich mit Tränen. »Ernst,« sagte sie, »er hängt ja nicht mehr dort. Der Meister selbst hat ihn weggenommen. Gestern erst. Alle paar Tage war er da und sah nach dir.«

Der Fiebernde lag ganz still. Es war ihm, als ob er in ein lindes, kühles Bad gestiegen sei, so körperlich wohlig umspülte ihn plötzlich eine tiefe Freude, deren innersten Grund zu erfassen er viel zu müde war. Er ließ alles Grübeln und Bohren und wartete wunschlos und still, bald wachend, bald schlummernd irgendeinem Kommenden entgegen.

Und einen Tag später kam Meister Lorenz. Im Laden empfing ihn die Mutter. »Was macht er?« fragte kurz und mürrisch das Männlein. »Es geht ihm besser,« entgegnete die Frau, und sie setzte mit einem leisen Auftrumpfen hinzu: »Seit der beinerne Herrgott weg ist.«

Danach saß der Alte an Ernsts Bett und hatte seinen Schlapphut auf die Decke gelegt. Grimmig sah er aus und immer wieder zuckten die spitzen Büschel über den Augen.

»Hast eine sträfliche Narrheit gemacht! Zu mir auf den Berg kraxeln wollen – he. Hast deiner Mutter Eigensinn. Was ist dir denn durchs Hirn gefahren?«

Ernst Langgut hörte all das Knurren und Schelten wie aus weiter Ferne her, und es konnte ihn nicht schrecken, nicht irremachen. So deutlich sah er auf einmal das Ziel all seiner Mühen und Nöte vor sich, 33 daß er nur ruhig daraufzuzugehen brauchte. Und er fragte leise und mit geschlossenen Augen: »Meister, was war denn das Schrecklichste, dazumal, das ganz Große bei dem einem das Grausen kam? –« Und das Männlein neben dem Bettrand hob den Kopf. Die scharfen Augen wurden groß, dunkel und stet, als schauten sie weit hinaus über die Enge der Stube und die Enge der Zeit. Einen völlig veränderten Ausdruck bekam der Kopf des Alten. Alle Wunderlichkeit, alles Verschrumpfte verschwand.

»So,« sagte er, »das willst du wissen? Ich hab's noch keinem gesagt, weil sie mich ohnedies für einen Narren halten. Aber dir sag' ich's. Dir ist das Lachen vergangen.«

Er schwieg und strich über die Bettdecke und bewegte ein paarmal den Mund, als wüßte er nicht recht, wo er mit Worten ansetzen solle. Dann begann er leise und feierlich: »Wie grausig er ist, der Krieg, das ist mir nicht in der Schlacht gekommen und nicht auf Patrouille und nicht beim Krachen der Granaten. Ganz still, wie huschende Ratten, hat sich's an mich herangemacht, damals, an jenem Augusttag, als es gegen den Abend ging.«

Er senkte die Stirne, als müsse er sich über den Fortgang besinnen, und machte dann weiter: »Das war so: Der Unteroffizier, ein Jäger aus Oberbayern, und ich suchten Hafer für unsere Gäule. Auf einer Wiese hinter grünen Hecken war die Schwadron abgesessen. Wie das Nest hieß, von dem man den niederen Kirchturm und ein 34 paar zerschossene Dächer sah, weiß ich nicht mehr. Hab's vielleicht nie gewußt. Im Krieg ist's einem nicht ums Wissen. Dorthin also zogen wir aus, um Hafer. Befohlen war's nicht. Verboten auch nicht. Unsere Gäule waren schlapp. Wir wollten ihnen aufbessern. Eine Straße, so weiß wie verschüttete Milch, führte ins Dorf. Wir waren guten Muts, pfiffen und sangen und machten Witze. Der Mond stand schon am Himmel; aber bläßlich und ohne Schein, weil es noch Tag war. »Kerl,« sagte der Bayer und lachte hinauf, »mogst au en Hafer, weil d' gar so schwindsüchtig ausschaugst?« Im Dorf nahm jeder einen andern Weg, weil wir dachten, das Suchen gehe so schneller.

Es lagen schon Preußen in dem Nest; aber man sah keinen. Wie ausgestorben waren die Gassen, und eine Bruthitze hockte noch vom Mittag her in allen Winkeln.

Ich kam an der Kirche vorüber. Nicht groß; aber doch wuchtig und schwer, wie ein einziger Steinblock, lag sie ein wenig auf der Seite hinter zwei hohen Lebensbäumen. Als ich davor stand, sah ich, daß sie ein paar Treffer in den Mauern hatte, daß Steine und Mörtel vor der Türe lagen, als dürfe da niemand eintreten. Und die Wasserspeier am niederen Dach grinsten und fletschten die Zähne. Aber ich bin immer gern in fremde Kirchen gegangen und freute mich auf die Kühle da drinnen.

Über den Mörtelhügel kletterte ich, glitt aus und fiel gegen die Türe. Das gab innen einen 35 donnernden Hall, daß ich mächtig erschrak; aber zurückhalten ließ ich mich nicht. Ich drückte die Türe auf und trat ein.

Zuerst sah ich gar nichts. Wie ein Blinder tastete ich mich ein paar Schritte vor. Aber, so sachte ich ging, es gab dennoch Lärm in der dunklen Kühle, die mir eisig vorkam nach der Hitze von draußen. Da blieb ich stehen und nahm die Mütze ab. Und ganz langsam, wie wenn Nebel vor meinen Augen niedersänken, sah ich, was um mich war.

Und was ich da sah, das habe ich nie wieder vergessen und werde es nicht vergessen, auch wenn ich noch hundert Jahre zu leben hätte.«

Er schwieg und schaute mit einem merkwürdig schweren Blick auf seinen Zuhörer, der sich emporgerichtet hatte und mit brennenden Augen lauschte.

»Da habe ich den Krieg gesehen, du, den Krieg um und um, das ganz Große, das ganz Grausige, das ganz Stille. – –

Graue Mauern waren da, von denen der Mörtel rieselte. Schwarze kleine Kreuze hatten sie daraufgemalt, immer eines in so ein graues Viereck. Eine Granate hatte von außen daran gerüttelt, nun war da ein Brocken abgefallen und dort einer. Aber immer wieder hockte zwischen der Zerstörung so ein kleines schwarzes Kreuz.«

Er sprach jetzt wie in die Luft und zeichnete mit den welken Händen Linien und Bilder ins Leere. »Da stand eine einzige Säule. Holz war's. Und 36 ein wenig angekohlt. Der Sockel viereckig, hoch, plump. Daneben hatten sie einen Kandelaber hingestellt; einen, der wohl einst auf einen Altar gehört hatte, einen hohen, schlanken, bronzenen. Und eine Jungfrau Maria, die war schwarz, wie von Pulverrauch und streckte die Hände aus zum Segen und lächelte, weil sie von allem nichts wußte, oder weil alles so eisig war, so furchtbar leer, so wie ein letzter Überrest von einer ganzen Welt. Ich sage dir: grausig war das, wie die Maria in der ausgeräumten Kirche lächelte. Und da, du, – da vor der angebrannten Säule und vor der lächelnden Gottesmutter, in der schrecklichen Stille lagen auf dem grauen, steinernen Boden zwei deutsche Soldaten. Zwei tote, preußische Gardisten, baumlang und starr und in ihre Mäntel gewickelt. Daneben stand ein zugedeckter Sarg.«

Er verstummte. Seine Hand lag auf des Kranken Hand und drückte sie, ohne daß er es wußte.

Mit veränderter Stimme, als sei ihm der Hals zugeschnürt, fuhr er fort: »Das sag' ich so, und ist doch nichts zum Sagen. Läßt sich doch nicht packen und nicht auf den Erdboden stellen. War doch das Grausen selber. Weiß nicht, wie lang ich gestanden bin. Weiß nur, daß sich's mir eisig ins Herz fraß, wie graue Verzweiflung. Und da habe ich auf einmal gewußt, wie er aussehen mußte, der beinerne Herrgott, der daheim in der Werkstatt lag, und der mein Meisterstück werden sollte. – Aus der schrecklichen Leere, aus dem kahlen Entsetzen heraus ist 37 er mir geboren, sonst hätte mich's übermannt.« – Es blieb ganz still in der Stube und vor dem Fenster stäubte lautlos der Schnee.

Ernst Langgut konnte die Augen nicht von dem Alten lassen. Es war ihm, als sehe er ihn zum erstenmal in seiner wahren Gestalt und ohne täuschende Maske. Und in der freien Beschwingtheit, die jetzt oft den Genesenden durch die Stille seiner Stunden trug, dachte er: »Er ist ein Künstler, der Meister, darum ist dieses Erlebnis so an ihn herangetreten, darum hat er den Krieg nicht im Getöse erschaut, sondern in der Abendstille, in der Kirche, bei der lächelnden Gottesmutter.« Ganz glücklich stimmte ihn diese Erkenntnis, so, als ob ihm von irgendwoher gesagt sei: »Die geraden Glieder, die starken Beine, die machen's nicht! Zu den Herzen, zu den richtigen Herzen kommt alles Große, alles Erlebenswerte.«

Die Hände krampften sich ihm ineinander zu einem brennenden Gebet ohne Worte; sehnsüchtig drängte seine Seele nach dem Quell, den sie rieseln hörte.

Und der Meister, als hätte er ihm ins Innerste geschaut, fuhr leise fort: »In zehn Schlachten kann einer gewesen sein und doch den Krieg nicht gesehen haben. Und zu einem, der in der Kammer liegt, kann er kommen, wenn nur der Weg gebahnt ist.« Da schloß Ernst Langgut die Augen und dachte an die schmerzvolle Scham, an die Bitterkeit, an das quälende Nebendraußenstehen, das ihm die 38 große Zeit zu einer Kette von Leid gemacht hatte.

Und wieder griff der Meister diese Gedanken auf als hätte er sie gelesen. »Die Lauten,« sagte er. »die spüren das Beste nicht. Bei Lärm und Getöse, meinen sie, müsse das Große sein. Damals war ich froh, daß der andere, der Jäger, nicht mit mir in der Kirche war. Dem wäre kein Grausen gekommen. Dich hätte ich mögen dabei haben, du! Dir hat auch der Herrgott den Mund verboten und die Ohren aufgetan. Dein Fuß macht's. Dein Fuß hat mir von Anfang an gefallen. Bei mir hat's etwas anderes gemacht. Aber das geht keinen Menschen an.«

Seine Stirne faltete sich, sein Gesicht zeigte die alte, harte Grämlichkeit. Er stand auf um zu gehen.

»Meister,« sagte wie erwachend der Kranke, »was ist's mit dem Nußbaum, daß ich ihn nicht fand?«

»Standest ja daneben,« antwortete der Alte, »nur daß er im Graben lag. So hast du es meist. Weißt nie, wie weit du gekommen bist. Traust dir nichts zu. Kannst dich bei den alten Weibern bedanken.« Mürrisch und grob stieß er es hervor und stülpte den Hut auf den Schädel.

Dem Liegenden glitt das Blut übers Gesicht. »Warum steht der Baum nicht mehr?«

»Warum? Warum? Weil ich ihn abgesägt habe, natürlich. Sie brauchen Gewehrschäfte da draußen. Es ist das einzige, was ich diesmal tun kann. 39 Ein Schelm gibt mehr als er hat. Schlaf du jetzt! Schlaf dich gesund! Und nachher steh auf und drehe beinerne Hosenknöpfe. Das ist gescheiter, als auf den Berg kraxeln, wenn man das Zeug dazu nicht hat.« Die Türe schloß sich hinter dem Alten.

Ernst Langgut starrte ohne Blick in den lautlosen Flockenfall vor dem Fenster. Des Meisters brummiges Schelten konnte ihm nicht nehmen, was ihm die letzte Stunde gegeben hatte.

War er nicht eingereiht in die Scharen derer, die in Wahrheit um den Krieg wußten? Hatte ihn nicht der Alte selbst eintreten heißen dort, wo die eisige Stille, das abgründig Geheimnisvolle, das echte Grausen wohnt?

Er richtet sich auf. Die Augen brannten ihm von Tränen. Den beinernen Herrgott hatte Meister Lorenz sich dort geholt, – was würde wohl für ihn aus der dunklen Tiefe steigen? Dem Elend all seiner Kriegswochen schaute er ins furchtbare Gesicht. Und auf einmal klang es beklemmend selig in ihm auf: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!« Und lächelnd schlief er in die Abenddämmerung hinein. 40



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