Auguste Supper
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Der Mähder

Sie sind kühl und herb, die Frühsommermorgen zwischen den dunkelbewaldeten Bergen. Dazu hatte der Regen die halbe Nacht schwer gegen das Kammerfenster geschlagen, hinter dem der Knecht vom Hasenhof unruhig schlief und bald im Traum, bald im Wachen an die draußen dachte.

Es ist sonst nicht Bauernart, in der besten Arbeitszeit unruhig zu schlafen. Aber der Jakob vom Hasenhof war in manchem Stück ein Besonderer. Sein Herr meinte, sie hätten ihn darum auch nicht zum Militär genommen. Seine zwei jüngeren Brüder waren längst von Pflug und Egge weggeholt. Der eine lag schon über ein Jahr drüben im Elsaß neben einem Bahndamm unter grünem Rasen. Der andere, der jüngste, stand in Rußland. Er schrieb bald froh und keck, bald mißmutig und verzagt auf den Hasenhof, wo ihm, dem Elternlosen, der einzige Angehörige noch lebte.

Nicht oft kamen die kurzen, inhaltsarmen Briefe. Und jedesmal spürte es der Empfänger vorher und wog sie bei ihrem Eintreffen lange in der schwieligen Hand, ehe er sie bedächtig öffnete. Er sah aus, als ob er sie schon vor dem Lesen mit geheimnisvollen Sinnen durchprüfen würde, um sich nachher ohne Hast und Neugier mit den dunkelüberbuschten 41 Augen zu vergewissern, daß er sich nicht getäuscht habe. Der Soldatendoktor hatte etwas vom Herzen geredet, als er den Knecht ausmusterte. Aber die Burschen sagten, er habe das Hirn gemeint. Jakob selbst sagte gar nichts. Daß er untauglich sei zum Krieg, das hatte er schon vorher gewußt. Woher? Das war ihm nicht klar. Am Singen hatte er es zuerst gemerkt. Wenn seine Brüder und ihre Kameraden von Welschland und Franzosenblut sangen, dann war ihm der Mund verhalten. Wie über einen Berg hinüber sah er dann seine Mutter, wie sie den Jüngsten, den Gotthilf, auf dem Arm hielt und ein Lied sang, das ihm nie einfiel, von dem er nur wußte, daß es merkwürdig geglänzt hatte.

Geglänzt! – Als ob gesungene Lieder glänzen könnten! Aber es war schon so. Immer war ein Funkeln und Sprühen vor seinen inneren Augen, wenn er an der Mutter Lied dachte. Ja, manchmal kam dieses Leuchtende, wenn ihm der Gotthilf einfiel, der damals als ein kleines Kind dem Singen der Mutter gelauscht hatte und der jetzt Briefe aus Rußland schrieb. Sein bald dreißigjähriges Leben hatte den schon lange Elternlosen und viel Herumgestoßenen eine Weisheit gelehrt, die ihn im Gleichgewicht erhielt wie die Stange den Seiltänzer. Wollte man diese Weisheit nach üblichem Brauch in Worte pressen, so hieß sie etwa: Alles kommt, wie es kommen muß! – Aber der Knecht spürte, daß damit nicht alles gesagt war. Daß große Stücke seiner innerlichen Gewißheit rechts und 42 links über diese Formel hinausgingen und sich nicht meistern ließen. Das gab ihm die nachdenkliche Zurückhaltung, die die anderen Duckmäuserigkeit schalten. Darum war er einsamer als seine Kameraden, auch wenn er mit ihnen zusammensteckte. Denn das Einsamsein ist keine Sache, die von außen her zu machen oder zu verhüten ist.

Wenn die endlosen Wiesen am Bach, die zum Hasenhof gehören, gemäht werden müssen, dann fängt der Tag früh an. Als der Knecht aus seinem schweren Bett kroch, lag noch die Dämmerung in der heißen Kammer neben dem Pferdestall.

Er gähnte, langte nach den Kleidern und besann sich, ob und was er eben geträumt hatte. Aber es fiel ihm nichts Klares ein. Nur wie ein Nachschmack, ein zurückgebliebener Ruch von Entschwundenem lag es ihm in der Erinnerung.

Schläfrig trat er hinaus auf den nassen Hof und starrte eine Weile ins Morgengrauen. Vor den Scheunen und Ställen blinkten dunkle Pfützen, die Dächer tropften, und in den krummen Pflaumenbäumen hinterm Zaun hingen Nebelfetzen. Er fröstelte, fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs struppige Haar, reckte sich und trat an den Brunnen. Der plätschernde Strahl rieselte ihm über den Kopf; aber die Klarheit der Erinnerung, nach der er immer noch bohrte, wollte nicht kommen.

In der niederen Stube im Erdgeschoß war Brot und Schnaps für ihn zurechtgestellt. Er aß und trank ohne Hast und ließ dabei die Augen 43 hinauswandern in den grauen Morgen und nach dem Himmel, der schwer über den nahen Wäldern hing. Vielleicht dachte er, daß die Nässe gut sei beim Mähen, denn er straffte sich ein wenig und schaute bewußter drein. Vielleicht war es auch der reichliche und scharfe Trank, der ihm die bessere Haltung und den helleren Blick gab.

Dann ging er in die Scheune, die Sense zu holen. Wohl ein halbes Dutzend blinkte in dem von Heu- und Staubgeruch erfüllten Halbdunkel von der Wand. Aber so zögerlich er sonst zu wählen pflegte, heute griff er sicher zu. Dann nahm er noch den Wetzstein im hölzernen Köcher und hängte ihn hinten an den Hosengurt.

Barhäuptig schritt er vom Hof, dem herben Frühwind entgegen, der ihm an der Hausecke unwirsch ins Haar fuhr und ein feines, durchdringendes Nebelsprühen mit sich trug.

Der Weg nach den Bachwiesen ging über einen runden, einsamen Hügel. Auf der ebenen Kuppe lagen nasse, graue Steine im triefenden Heidekraut. Still und reglos, wie geduldig Wartende, ragten dunkel Wacholderbüsche. Da und dort einer einsam und verloren, dann eine Gruppe, als seien Bangende zusammengeflüchtet und harrten aneinandergeschmiegt der kommenden Dinge oder flüsterten zueinander vom Gewesenen.

Der Knecht fröstelte stärker. Der Schnaps hielt nicht vor. Einen schweren, scheuen Blick ließ er über die nebel- und regentriefenden Büsche schweifen. 44 Er wußte, wie alle vom Hasenhof es wußten, daß auf dem Platz der Reglosen in alten Zeiten der Galgen gestanden war. Noch heute hieß die Heide danach. Und noch heute erzählte man wunderliche Geschichten von der öden Kuppe und allen Wegen, die zu ihr führten.

Diesen Geschichten dachte der Schreitende jetzt nach. Schwer und schläfrig war ihm der Kopf, und die Arbeit des vergangenen Tages lag ihm noch in den Gliedern.

Sagte es nicht neben ihm: »Früh bist du dran! Kein Hahn hat noch gekräht?« – Er meinte so, aber er erschrak nicht darüber, und wunderte sich nicht. Wunderte sich auch nicht, daß neben ihm ein alter Mann schritt, dem der Wind das graue Haar in die Stirn trieb und der einen Mantel trug wie ein Schafhirt. Das mochte wohl der »arme Friederle« sein, der Gerichtete, der auf allen Wegen da oben anzutreffen war, den schon mancher in stillen Nächten gesehen hatte. Kalt ging es aus von dem alten Männlein, oder war es der nasse Nebel, der so durch die Knochen ging? Der Knecht konnte sich nicht klar werden. Es war ihm auch merkwürdig gleichgültig, denn wie ein Hund, der eine Fährte kreuzt und aufnimmt, so hatten sich seine Gedanken plötzlich wieder hinter dem entschwundenen Morgengrauen hergemacht und kümmerten sich nicht um anderes.

Der kleine Alte im Mantel sagte jetzt: »Ich will dir wetzen, bis die Sonne kommt.« Ja, so 45 sagte, wie alle wußten, der arme Friederle. Der Knecht wischte sich die Tropfen von der besprühten Stirn und dachte, daß heute die Sonne wohl nicht kommen werde. Aber es war ihm nicht der Mühe wert, das zu sagen. Auch sah er niemand neben sich. Es standen nur die stillen Büsche da, um die sich graue Nebelfetzen schlangen.

An des Hügels Flanke ging es jetzt bergab. Einen schmalen, glatten Lehmweg, an dem da und dort ein Schlehenbusch stand. Leere Raupennester hingen häßlich und zerrissen im nassen, zerfressenen Blattwerk.

Zu zweien hatte man nicht Platz auf dem kümmerlichen Pfad. Deshalb war wohl der Alte hinter den Knecht getreten. Unbehaglich war das dem vorsichtig Schreitenden. Aber er mochte den Kopf nicht wenden. Nur das Genick zog er ein, als könne eine Hand danach greifen. Aber es geschah nichts dergleichen. Nur einmal war's, als werde der Wetzstein aus dem hölzernen Köcher genommen. Da stand der Knecht und sah scheu zurück. Aber wieder sah er nur die stillen, dunklen Wacholderbüsche im Ödland, und der Wetzstein lag friedlich im Lehmweg, als sei er herausgehüpft bei einem ungeschickten Tritt.

Das Nebelsprühen wurde stärker. Über dem schmalen Tal am Bache hin lag ein grauer Schleier, der sich lautlos bauschte und bewegte. Trüb und angeschwollen von der Regennacht trieb der Bach unter den Bohlen einer kleinen Brücke hin. 46

Der Knecht blieb stehen und starrte in das Wasser. Und da stemmte er den Ellbogen von sich. War's nicht, als rücke der arme Friederle gar so nahe her? Oder war das im Traum so gewesen, daß jemand leise gesagt hatte: »Blut, wenn das wäre –?«

Das graue Geschäume da unter den Bohlen zeigte auf einmal dunkelrote Spiegel und schickte einen bösen Brodem empor. Ein tiefes Herzeleid, ein brennender Jammer überkam den Schauenden. Rauschte der Bach nicht an dem Bahndamm vorüber, drüben im Elsaß? Dort, wo der Karl schlief?

Der Schlag einer Wachtel riß den Knecht aus der Versunkenheit. Aber da deutete schon der arme Friederle nach dem unruhigen Himmel. Oder der Ast einer Schwarzerle war's; aber der sah aus wie ein Mannesarm, über den der Mantel hing. Der Knecht blickte empor, lang, suchend, verwundert. Er war noch im Elsaß mit seinen Gedanken; aber er sah trotzdem aus Wolkenfetzen und Dunstballen ganze Knäuel von Gestalten steigen. Da wurden Pferdeleiber und fremde Reitersmänner. Darunter solche, die halb in den Bügeln schleiften. Dann begann ein wildes Rasen in die Ferne. Fliehende tauchten auf mit angstverzerrten Gesichtern. Und dann kamen Gelassene mit festem, dröhnendem Schritt und mit ihnen und ihnen zu Häupten Schwebende, die lächelnd vorüberwallten. Er wollte aufschreien, denn sein Karl war eben vorbeigezogen; aber man kann nicht schreien im Traum. Auch spürte er jetzt den 47 nassen Stiel der Sense im Arm und schätzte, daß der Tag vielleicht noch hell werden könne, denn der Wind, der aufkam, war gut und machte sich hinter Nebel und Wolken, als könne er in ein paar Stunden mit ihnen fertig werden.

Schön und reich, ja über die Maßen reich sind die Bachwiesen, wenn sie so vor dem ersten Schnitt stehen. Doch gehen die meisten vorüber und sehen es nie. Sie haben das Herz voll Alltag und denken an ihre unfruchtbaren Dinge. Da ist jedes Wunder ganz vergeblich an ihren Weg gestellt, und umsonst prangt neben ihrem steinigen Sorgenacker der liebliche Garten, in dem die Sehenden in Herrlichkeit wandeln.

Der Knecht vom Hasenhof stand, nahm die Sense von der Schulter und stellte sie aufrecht, wie sich's zum Wetzen gehört.

Aber als er mit leisem, klirrendem Strich an dem Eisen dahinfuhr, war es in ihm wie Trauer und Widerstreben, und wenn nicht der arme Friederle den Stein ein paarmal hin und her geführt hätte, es wäre keine rechte Schärfe in die Sense gekommen. Jetzt streifte der Mähder das Wams ab und trat oben an den Wiesenrand. Er sah sie noch einmal an, die Gräser, die Halme, die Blütenstengel. An manchem Sonntagnachmittag, wenn die anderen im »Ochsen« saßen, war er auf dem Rücken in den Bachwiesen gelegen. Warum? Das wußte er nicht. Weil er wenig Geld hatte. Weil es schön war. Weil es still war. Still und laut. Voll Singen und Klingen. Der Mutter Lied 48 war auch dabei. Das, das ihm nie einfiel. Das glänzende, leuchtende. – Schneid zu, Jakob!

Es war ihm wie ein verhaltener Krampf in den Armen. Aber dann holte er aus. Und die Sense schnitt. Sie riß ihn hinein in die nassen Schwaden, sie zog ihn, als sei sie lebendig, sie fraß sich durch das Gras mit sattem Knirschen, sie wütete vorwärts und bekam nicht genug.

Eine wilde, mit Entsetzen gemischte Freude wachte in dem Mähder auf. Die hohe Blüte dort, die kannte er, und da den Halm und jenes Kraut . . . Sie zitterten vor ihm, sie schauerten, sie flehten . . . Drauf, Jakob, drauf! Mordzeit ist, Totschlägerzeit! Sterbezeit! – Der Knecht hieb und hieb. Sein Gesicht war verzerrt, seine Arme taten jetzt ihre Arbeit wie auf eigene Faust, zügellos, wild, wie durchgehende Gäule. Ein Grauen ging dem Manne durch die Knochen. Roch das Gras nicht wie vorhin der blutige Bach? Er wollte innehalten in Angst und Ekel. Aber die Sense zog und zog. Waren es Stunden, Tage, Monde, daß er so mähte? Er sah keine Erlösung, kein Freikommen und bekam stiere Augen.

Da traf ein Sonnenblitz das mörderische Eisen.

Mitten im Hieb, wie von dem goldenen Strahl gefällt, hielten die Arme ein. Die Knie zitterten dem Knecht. Die Knie und das Herz, das damals dem Soldatendoktor nicht gefallen hatte. Es schlug und bebte und flatterte wie ein erschreckter Vogel, der in ein Garn geraten ist und los will. 49

Und dem bleichen Mann war's, als müsse er ihn freigeben und in seine schöne Heimat fliegen lassen, jetzt auf der Stelle.

Auf die nassen Schwaden sank er ächzend nieder, und ihm vor den Füßen lag die blanke Sense und höhnte.

Er schloß die Augen schwer in dumpfer Erschöpfung und Not.

Als er sie wieder auftat, war rings ein Sprühen, Glänzen, Leuchten, als seien mit vollen Händen strahlende Kleinodien ins nasse Gras gestreut. Golden stand die Sonne da drüben, wo der Krauskopf litt und stritt, der Jüngste, den die Mutter im Arm hielt, wenn sie sang.

Da legte des todbleichen Mannes Herz die wildflatternden Schwingen noch einmal zusammen und fügte sich. Mit letztem wehem Zittern lauschte es in die strahlende Stille hinaus. Da kam der vergessene Morgentraum auf leisen Sohlen gegangen. War nicht die Mutter dagewesen und hatte lächelnd gesagt: »Jakob, wenn du mein Lied wüßtest, du trügest nicht länger Leid um den Karl im Elsaß und sorgtest nicht mehr um den Gotthilf in Rußland –« Dann war sie entschwunden, als gehe sie durch eine goldene Tür.

Der Mann atmete tief und erlöst, die braune, nasse Hand aufs Herz gedrückt. Ja, so war's gewesen. Und nun gab's nichts mehr zu tun, als das verlorene Lied zu suchen. Tausend Perlen sprühten aus den Schwaden, die Sense funkelte, 50 köstlich duftete das Gras, wie Abels Opferrauch, der vor den Höchsten steigt, so oft eine Blüte ihre Seele aushaucht.

Irgendwo zwischen dem Leuchtenden, selbst ein Leuchtendes und Schimmerndes, lebte das Lied.

Der Mann stand auf und nahm die Sense, um weiterhin sein Morgenwerk zu tun. Weit fort waren seine Gedanken. Als er nach dem Wetzstein griff, war der Köcher leer.

Er suchte. Die Schwaden durchwühlte er. Alle die Stengel und Blüten, die da geopfert lagen, grüßten ihn noch einmal. Sie glänzten, lachten, funkelten ihn an. Dahin und dorthin griff seine Hand, den verlorenen Stein zu fassen. Und fand ihn nicht. Und streifte dabei immer an das Lied an, an das verlorene Lied, das hier aufblinkte und dort weghuschte, wenn die tastende Seele ihm nahekam und es fassen wollte.

Der Schweiß trat dem Suchenden auf die bleiche Stirn. Dann gab er die Hoffnung auf. Ein Wetzstein ist die Welt nicht. Und wenn die Sonne steigt, ist ohnehin kein Hauen mehr im Gras. Über die Schwaden sah er hin. Was da lag, das mähte ein anderer nicht in der doppelten Zeit. Der Bauer konnte zufrieden sein.

Über die Galgenheide schritt er heimwärts. Es hingen keine Nebelfetzen mehr in den Wacholderbüschen. Still und freundlich grüßten sie den Vorüberschreitenden. Das arme Friederle war nicht mehr um den Weg. Den scheucht der 51 Hahnenschrei und bannt die Sonne. Hinter dem Hügel bog der Knecht ab und hielt rechts auf das Haus des Krämers zu. Einen Wetzstein wollte er erstehen, ehe er vor seinen Bauern trat. Denn der war grob und knapp und wetterte um einen Pfifferling, wenn er dahinterkam. Und viele Worte um ein Nichts waren dem Jakob verhaßt wie Spitzgras. Sonst hätte er ja auch leicht daheim sagen können: »Das arme Friederle hat zuletzt mit dem Stein gewetzt und ihn nicht mehr an den Ort zurückgesteckt.« Das alles wollte er nicht. Er wollte Stille um sich her und inwendig in sich. Am Schulhaus kam er jetzt vorüber, und er sah die ersten Sonnenstrahlen in die hohen, offenen Fenster fluten und in den Scheiben funkeln. Und das Summen und Rumoren hörte er da drinnen, dann des Lehrers Stimme und Geigenton. Und jetzt brach es hervor, von hellen, jungen Stimmen gesungen: »Die güldne Sonne, voll Freud und Wonne, bringt unseren Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht.«

Wie festgebannt stand der Knecht und horchte. Der Arm, der die Sense hielt, zitterte, das Herz fing wieder an zu flattern. Da war das Lied, das glänzende, das ungreifbare hergehuscht vor der Seele; der Mutter Lied, das lang vergessene.

»Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder. Aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.«

Als der Horchende sich eben besann, was der 52 Karl im Elsaß und der Gotthilf in Rußland mit dem hellen Lied zu tun hätten, da sangen sie: »Und wo die Frommen dann sollen hinkommen, wenn sie in Frieden von hinnen geschieden aus dieser Erde vergänglichem Schoß.«

Dann ward eine große Stille, durch die man nur des Lehrers Stimme leise hörte.

Und die große Stille kam auch in den Lauschenden. Dazwischen eine leise Stimme: »Also auch der Gotthilf!«

Bleich und langsam schritt er die Stufen hinauf zum Krämer. Der sagte: »Was schreibt dein Gotthilf?«

»Oh,« antwortete der Knecht mit abwesenden Augen, »dem geht's besser als mir.«

»Das Mähen ist nichts für dein Herz,« meinte der Krämer mit einem Blick in das bleiche Gesicht.

Da lachte der Jakob ein wenig. »Das arme Friederle wetzt mir.«

»Dann kann's nicht fehlen,« sagte, nun gleichfalls lachend, der Krämer und scheuchte die erwachenden Fliegen vom Sirup. Dem Knecht aber fiel im Heimwärtsschreiten wie vom Himmel herunter auch der letzte Vers ein von seiner Mutter Lied: »Trübsal und Zähren nicht ewig währen. Nach Meeresbrausen und Windessausen leuchtet der Sonne erwünschtes Gesicht. Freude die Fülle und selige Stille darf ich erwarten im himmlischen Garten; dahin sind meine Gedanken gericht't.« 53

Da ging sein Herz stet, wie eines gesunden Mannes Herz in der Brust gehen soll. Und als sie ihm daheim einen Brief gaben von einer fremden Hand, da hielt er ihn ohne Zittern in der schwieligen Rechten und wog ihn. Danach tat er ihn langsam auf, zu sehen, ob alles stimmte.

Und es stimmte alles. 54



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