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So müd und dabei so befriedigt war Felix Klein schon lange nicht mehr zu Bett gegangen wie in der ersten Nacht in Grünhaus. Das war ihm selbst verwunderlich.
Daß er ein paar Stunden lang unter der – übrigens sehr geschickten und geduldigen – Beihilfe Peters und Rudolfs an Hobel und Schnitzbank gearbeitet und am Wagen geflickt hatte, war für einen Mann, an den immerhin schon andere Ansprüche gestellt worden waren, noch kein einleuchtender Grund, um jetzt in dem geräumigen Bett zu liegen mit einem Gefühl, als habe man die Welt durch harte Arbeit und Mühe in eine neue und bessere Ordnung gebracht.
Es mußten – so erklärte er sich die Sache – durch dieses nächtliche Zimmer Schwingungen fluten, die alles Ruhevolle, alles Erfreuliche, das man in sich schlummern hatte, zum Mitschwingen brachten und alle versprengten Töne zur Harmonie sammelten.
Aber trotz Müdigkeit und Zufriedenheit fand der Mann keinen Schlaf. Sonst stand ihm die Pforte so bereitwillig offen, und heute waren Hindernisse da. Er fühlte sich wie auf der Schwelle festgehalten, und es zog ihn auch merkwürdigerweise weder vorwärts noch zurück.
Die große Lautlosigkeit schien es zu verschulden, daß man das Dröhnen der schwingenden Gestirne am Nachthimmel 120 und das Fluten der Ewigkeit in unbekannter Tiefe zu vernehmen glaubte.
Kam ein irdischer Laut auf, etwa ein Vogelruf, oder das Vorüberdonnern des Bahnzugs in der Ferne, dann argwöhnte der Mann, es werde ihm von unsichtbaren Händen ein Tau zugeworfen, an dem er sich aus der wundersamen Unendlichkeit heraus wieder in Raum und Zeit zurückarbeiten solle, und er fühlte Widerstreben gegen diese Zumutung.
Von den weitoffenen Fenstern her umtastete ihn die kühle Luft der Frühlingsnacht, als habe sie den Auftrag, schweigend ausfindig zu machen, wer den Platz in Großvaters Bett einnehme.
Mit Bangen lag er reglos unter diesem prüfenden Tasten, das etwas Ernsthafteres war als die Examensnöte vergangener Tage, die manchen Traum durchzuckten. Und nun war Großvater selbst da. Eine rote Rose hielt er in der Hand und trug den Frieden Gottes im Gesicht.
Den Frieden Gottes! Wie wunderbar, daß man ihm einmal Auge in Auge gegenüberstand! Man sah so recht den Abstand von jedem anderen Frieden.
Großvater, jetzt halte die rote Rose fest; es ist Krieg!
Dem Frieden Gottes kann kein Krieg etwas anhaben, sagst du? Das hat Ludwig Schwämmle auch gemeint, der 121 Fahrer bei meinem Geschütz. Er siedelt jetzt und Peter will ihn ausfindig machen.
Peter ist ein Mädel. Ich hab's gespürt, als ich nach ihrem Herzen tastete. Aber ein Artillerieleutnant darf das nicht wissen. Befehl von der Batterie: auf Mädels wird nicht geschossen!
Satan muß ans erste Geschütz! Der Wagen ist um 90 Grad zu leicht. Laden Sie noch mehr rote Rosen auf! Jeder Großvater ist ein Kraftfeld. Physik fällt heute aus, wir wollen zur Theologie übergehen! Herr Professor klettern sie hier über diese Buchstaben! – Sie stürzen nicht, die Versicherung hält – – –
Toller wurde der Tanz der Erinnerungsfetzen. Und dann kam der tiefe Schlaf, der alles zudeckte.
Als der Mann erwachte, flog eben ein Wiesenblumenstrauß durchs Fenster. Der noch Schlafbefangene dachte ärgerlich: Das war sicherlich der Lausbub! Er legte sich auf die andere Seite, um den verlorenen Faden wiederzufinden, darüber fiel ihm ein, daß der Lausbub ein Mädel war.
Das verschob die Sachlage und vertrieb den Schlafrest. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte fünfeinhalb.
Seufzend bückte sich der Aufgestörte nach dem Strauß, der dicht vor dem Bett lag. Er betrachtete ihn so eingehend, als müsse er das Programm des Tages davon ablesen. 122
Lichtnelken, Schaumkraut, Schlüsselblumen und Vergißmeinnicht waren mit einem kräftigen Grashalm mehr dauerhaft als künstlerisch zusammengebunden. Wie alte Bekannte aus früher Kindheit, die er unendlich lang nicht mehr gesehen, grüßten die taunassen Blumen. Merkwürdig! Es hatte doch in all den Jahren in jedem Lenz diese schönen Wiesenkinder gegeben – mußte man nach Grünhaus kommen, um ein Wiedersehen mit ihnen zu feiern? –
Auch das fiel dem Mann jetzt ein, daß er schon einmal – wahrscheinlich in seiner Seminarzeit – von einer Blumensprache gehört hatte, die insonderheit verliebten Mädels geläufig sei. Diese Weisheit war ihm nie sehr nahegekommen, da er weder Schwestern noch Freundinnen besaß.
Nun – dieser Peter, dem ein sehr leistungsfähiges Mundwerk zu Gebote stand, hatte es nicht nötig, zur Blumensprache zu greifen.
Der Mann stieg aus dem Bett und stellte den Strauß ins Wasser. Dann betrachtete er sich im Spiegel, ob er sich allenfalls in der Ländlichkeit von Grünhaus das Rasieren heute schenken könne.
Er kam zu dem Entschluß, den Rasierapparat ruhen zu lassen.
Unten klang es schon wieder: »Herr Leutnant.«
»Ich heiße Klein,« rief er erbost gegen das Fenster. 123
»Sind Sie denn immer noch nicht auf?« kam es hörbar verächtlich.
»Ich muß mich doch in Kuckucks Namen auch waschen,« verteidigte er sich.
Da erfolgte die Belehrung: »Das tut man am besten abends, dann kann man es in der Frühe kurz machen.«
Etwas Schwäbisches wollte ihm auf die Zunge treten, aber er beherrschte sich. »Danke schön!« rief er laut.
»Rasieren Sie sich auch, Ursel legt Wert darauf!« ging es weiter.
Er antwortete nicht mehr, aber er rasierte sich. Als er fertig war, trat er zum Fenster und schaute in den morgenstillen, frischen Garten hinab. Ein Gefühl der Heimeligkeit drang auf ihn ein, wie ein warmer Strom.
Auf buchsumsäumten Beeten hantierte Peter. Sie sang ganz leise vor sich hin, und der Hund stand daneben und schien zu lauschen.
Lang sah er ihr zu, ehe er hinabrief: »Was tust du eigentlich da unten?«
Sie richtete sich auf und schüttelte die Haare zurück. Der Hund, wie ärgerlich über die Störung, fing zu bellen an. Sie wies ihn zurecht und kam näher.
»Schlafen Sie eigentlich immer so lang?« rief sie statt 124 einer Antwort, »ich stehe um fünf Uhr auf, sonst sind sie alle weg.«
»Wer ist weg?«
»Die Schnecken natürlich,« klang es ungeduldig.
»Das kann ich doch nicht wissen.«
»Natürlich nicht, wenn Sie die Zeit verschlafen.«
»Fängst du jeden Morgen Schnecken?«
»Natürlich.«
»Es wäre natürlicher, du würdest länger schlafen.«
»Großvater stand immer um fünf Uhr auf.«
Ach so, fiel dem Gast ein, hier regiert und reguliert ja Großvater!
»Aber er war alt und du bist jung,« gab er zu bedenken.
Sie schüttelte den Kopf. »Er war nicht alt und ich bin nicht jung,« kam es mit einem spürbaren Anflug von Feindseligkeit, der den Mann bewog, das Thema zu verlassen.
»Darf ich hinunterkommen?« fragte er.
»Natürlich.«
Er trat zurück und zuckte die Achseln. Über diesem unabwendbaren »natürlich« fiel ihm ein, was ein Riedorfer Bauer seinem Vater geantwortet hatte, als ihm dieser das fortgesetzte Fluchen verwies:
»Herr Pfarrer, des tut mei' Maul von selber.« 125
Unten an der Treppe traf der Gast auf Monika. Sie machte den Flur rein; aber der Mann hatte das Gefühl, sie habe nebenbei auch auf ihn gewartet. Sie wechselten den Morgengruß und die Alte fragte mit seltsam prüfendem Aufblick: »Nun – wie haben Sie geschlafen?«
Ehrlich gestand er: »Nicht hervorragend. Es war die übergroße Stille.«
Sie nickte. »Ja, ja, die große Stille von Grünhaus! – So still ist es, daß man die von drüben hört, wenn man Ohren hat.«
Er begriff nicht sofort. »Die von drüben? Wohnt denn noch jemand in der Nähe?«
Sie lächelte und die versunkene Schönheit ihres Gesichtes schien emporzusteigen.
»Näher als Sie denken und anders als Sie denken. Hier sind alle da, die nicht mehr da sind.«
Jetzt verstand er. Kein Spott, kein Zweifel tauchte in ihm auf. Eher der Gedanke: also das war's, was du spürtest und dir nicht zu deuten wußtest in den von Lautlosigkeit durchströmten Stunden der Nacht! –
Ein Zutrauen zu der Alten überkam ihn. Etwa so, wie wenn ein Unerfahrener einen trifft, dem er Erfahrung anspürt.
»Sie meinen die Toten?« fragte er eigentlich überflüssigerweise. 126
»Die Gestorbenen, ja. Man sollte nicht von Toten reden, es gibt nichts Totes.«
Den Mann beleidigte die leise Zurechtweisung nicht. »Sie haben vielleicht recht,« sagte er entgegenkommend.
Sie lehnte ihren Besen an die Wand. Lächelnd meinte sie: »Wer einmal beim Vielleicht ist, kann in Grünhaus weiterkommen.«
»Warum gerade in Grünhaus?«
»Nun, Großvater macht es einem leicht.«
Sie blickten beide durch die offene Hintertür in den tauschimmernden Garten. »Hier ging er jeden Morgen hinaus,« raunte deutend die Magd, als könne der Besprochene sie hören.
Der Hund bellte draußen auf. »Auch Harras spürt ihn,« flüsterte sie.
Der Mann mußte eine Benommenheit von sich wegschieben.
»War denn der alte Herr etwas so Besonderes?« fragte er, um sich selbst zu ernüchtern.
Sie dachte nach und schüttelte den Kopf. »Besonderes? – nein, etwas Besonderes war er eigentlich nicht. Tierarzt war er einmal gewesen und hatte eine große Praxis gehabt. Dann kam das Herzeleid, und er setzte sich hierher zur Ruhe.« Sie lachte leise auf. »Der alte Herr und Ruhe! – Das 127 gibt's ja nicht! Dafür war er viel zu nah mit dem Herrgott selbst verwandt, der auch die Ruhe ist und doch keine Ruhe kennt.«
Deutlich spürte der Gast die echte Ehrfurcht, die hinter den befremdlichen Worten stand, und er glaubte jetzt auf dem belebten und verjüngten Gesicht der Magd etwas von jenem Merkwürdigen zu finden, das ihn auf den Zügen der Mutter überrascht hatte, als er zum erstenmal vom Feld in Urlaub kam.
Eine Überlegenheit, die nicht angemaßt, sondern ehrlich erstritten ist, festverankerte Ruhe, gelassenes Vertrauen, selbstverständliche Güte und ein Stück goldenen Humors schien da ineinandergemengt; und ein sicheres Wissen hatte ihm damals gesagt, daß diese Mischung Schild und Panzer war gegen eine furchtbare Zeit mit ihren unerhörten Anforderungen an ein Frauen, ein Mutterherz.
Von diesem Gemenge lag etwas auf dem Gesicht der Magd. Wahrscheinlich hatte auch sie einmal die Kunst lernen müssen, dem von außen Andringenden eine innere Welt entgegenzustellen.
»Nein,« wiederholte sie jetzt, »solang es in Grünhaus zu helfen gibt, ist der alte Herr zur Stelle.«
Der Mann wollte sagen, daß es schön sei, wenn ein Verstorbener so stark nachwirke; aber es kam ihm wie eine Redensart vor, die hier nicht am Platze sei. Schon sagte denn auch 128 die Magd: »Rudolf hält ja auch dafür, daß das Gedächtnis der Gerechten im Segen bleibe. Aber es ist noch ganz anders.«
»Wie glauben Sie, daß es ist?« fragte der Gast, als sie schwieg.
Ihre eindringenden Augen musterten ihn, als wolle sie prüfen, ob er würdig sei, zu hören, was sie zu sagen habe. Dann kam es leise: »Sie schwingen nicht Palmen und singen nicht Hallelujah. Sie stehen wieder in der Arbeit, wie hier auch. Denn man braucht sie alle, die in der Hülle und die Enthüllten, und es ist da kein großer Unterschied. Sie müssen alle an der Welt weiterbauen, die Guten wie die Bösen, die Starken und die Schwachen. Der alte Herr war ein Starker.«
Sie sprach mit einer so eindrucksvollen Nüchternheit und Überzeugung, daß für Widerspruch kein Raum blieb. Einen Schritt näher trat sie und sagte: »Eine rote Rose in der Hand ist er gestorben. Dort draußen von dem Bäumchen, das Sie von hier aus sehen, habe ich sie ihm abgeschnitten, als noch, wie jetzt, der Tau darauf lag.«
Der Mann schaute hinaus nach dem Rosenbäumchen, auf dessen dunklen Blättern Tautropfen funkelten. Ein Hauch von jener fremdartigen Leichtigkeit überströmte ihn, die er einst in der bitteren Stunde am Totenbett der Mutter gespürt hatte, als ihm wie unter unhörbarem Zuspruch aufging, daß, was da reglos vor ihm lag, nicht die Mutter sei. 129
Draußen bellte jetzt der Hund und zerriß so die webenden Fäden.
»Peter fängt Schnecken,« sagte ganz anderen Tones die Magd, »die ist im reinen mit Großvater.«
Der Mann trat hinaus. Schweifwedelnd kam der Hund herzu. Er streichelte ihm den schönen Kopf. »Kerl, du scheinst vergnügt; was freut dich so?«
Hinter dem Buchs hervor kam's: »Daß wir einen Leutnant zu Gast haben, natürlich.«
Niedergekauert, einen kleinen Blecheimer neben sich, tat Peter ihre mehr nützliche als schöne Arbeit.
»Dreiundvierzig,« zählte sie laut und warf eins der schleimigen Tiere zu den andern, die durcheinanderkrochen.
»Scheußlich,« sagte unwillkürlich der Nähertretende.
Sie blickte streitbar auf. »Haben Sie nie Scheußlicheres gesehen? – Dann können Sie sich glücklich preisen!«
Er besänftigte. »Ich meine ja nicht dein nützliches Tun, ich meine die schleimigen Biester, die sich da im Klumpen wälzen.«
Aufmerksam schaute sie in den Eimer. Dann setzte sie eine der Schnecken auf den Ärmel ihres Kittels.
»Hier schauen Sie her! Man darf Schnecken sowenig wie Menschen in der Masse und im Klumpen betrachten. 130 Einzeln sind sie schön – wenigstens die meisten –,« setzte sie mit nachdenklichem Zögern hinzu.
Er lachte. »Aha, auch schon Erfahrungen gemacht?«
Sie ging darüber hinweg. »Großvater war ein großer Schneckenkenner. Wieviel Arten meinen Sie wohl, daß es gibt?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe mich nie dafür interessiert!«
»Natürlich, wenn man gern den halben Tag verschläft!«
Er hielt ihr die Uhr hin. Sie warf keinen Blick darauf. »Großvater hat es gewußt. Ich selbst habe es vergessen.«
»Na siehst du! Du hast es vergessen und ich weiß es nicht. Im Effekt sind wir gleich. Du hast nicht nötig, so hochfahrend zu sein.«
Gleichmütig blickte sie ihn an. »Sie wären auch hochfahrend, wenn Großvater Ihr Großvater wäre.«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Schwerlich. Ich wäre ja dann mit dir verwandt, das würde mich in der rechten Demut erhalten.«
»Hm,« machte sie, »Demut ist noch widerwärtiger als Hochmut.«
»Je nachdem,« gab er zu.
Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Mein Pastor hat viel von der Demut geredet,« stieß sie zornig hervor. 131
»Meiner auch,« entgegnete er ohne Lachen.
Sie maßen sich mit den Blicken, wie zwei, die sich nicht völlig trauen. Dann sagte der Mann: »Vielleicht hat dein Pastor so wenig wie der meine gewußt, daß die Demut immer nur bei den Stolzen sein darf, wenn sie nicht widerlich sein soll.«
Sie strahlte auf. »Natürlich.«
Er schien zufrieden mit dieser knappen Zustimmung. Mit einiger Selbstüberwindung nahm er den Schneckeneimer vom Boden auf und betrachtete sich das schleimige Gewälze.
»Gut,« sagte Peter, »passen Sie fünf Minuten auf die Tiere auf; ich muß schnell nach den Bienen sehen.«
Schon verschwand sie hinter Sträuchern und ließ ihn mit dem Eimer stehen.
Er lachte auf. ›Schneckenkindsmagd‹ umklang es ihn, und er war nicht sicher, ob er es gedacht oder ob die Enteilende es gerufen hatte.
Er wollte den Eimer wegstellen, da sah er, daß schon eine ganze Anzahl der Tiere am Rand hochgeklettert waren, als liege ihnen das Entkommen im Sinn.
Er schüttelte kräftig und der Knäuel ballte sich wieder. Interessiert schaute er zu, wie die ungegliederten schmierigen Walzen sich durcheinander schoben. Wie war das Leben in diesen Leibern angeordnet? An welchen seltsamen Organen 132 hing es? Waren da noch Parallelen zu ziehen ins höhere Tierische – ja vielleicht sogar ins Menschliche hinüber?
Der Gedanke klang in ihm auf: Auch dieses Leben entstammt zuletzt keiner anderen Quelle als dein eigenes.
Das lautlose zähe Sichdurcheinanderwälzen der Tiere schien ihm unter einem geheimnisvollen Rhythmus zu stehen, den aufzufinden nicht mehr und nicht weniger bedeuten würde, als dicht am Schöpfungsgeheimnis zu landen. Er war so hingenommen von seiner Betrachtung, die ihm fast das Gefühl gab, einer unbekannten Melodie auf der Spur zu sein, daß er erschrak, als es hinter ihm sagte: »Die Bienen sind in Ordnung.«
Als er sich umschaute, meinte Peter lachend: »Aha! – Großvater hat sich auch oft in die Schnecken verguckt.«
Wie ertappt kam er sich vor und lenkte ab. »Was könnte allenfalls bei den Bienen nicht in Ordnung sein?« –
»Ist Ihr Vater nicht Imker?«
»Pfarrer – Pastor meinetwegen, wenn du geruhst, dich zu erinnern.«
»Nun ja, natürlich! Aber Pfarrer allein doch nicht! Das könnte doch kein Mensch aushalten! Man muß da doch etwas daneben haben, Bienen oder Karnickel oder so etwas – –«
Sie sprach wie aus tiefster Erfahrung und Überzeugung 133 heraus, so daß er lachen mußte. Aber er wurde rasch wieder ernst.
»Du irrst dich. Mein Vater hat nichts daneben.«
»Wirklich gar nichts?« klang es ebenso dringend wie ungläubig. Er schien sich zu besinnen. Aber seine Augen waren dabei leer und fern.
»Nichts mehr, seit meine Brüder fielen und meine Mutter starb.«
»Aber das ist ja schrecklich,« brach es aus ihr heraus.
Er nickte. »Es ist auch schrecklich. Wie ein Krampf ist es. Ein Glück, daß gerade die Betroffenen nichts davon merken.«
Sie blieb still, als müsse sie das Gehörte überdenken. Dann sagte sie halb kindlich, halb grimmig: »Krank war mein Pastor nicht, aber ein Komödiant.«
»Du hast früh deine Erfahrungen gemacht und gut waren sie nicht,« meinte der Mann.
Ihre Augen wurden dunkel. »Gut oder nicht – sie waren notwendig.«
»Inwiefern –?«
»Großvater sagte, jeder müsse zuletzt sein eigener Pastor sein, weil jeder auf den eigenen Füßen vor Gott stehen müsse.«
»Ähnliches hat schon Luther herausgefunden, wenn ich nicht irre.« 134
Sie nahm ihm den Eimer ab und schüttelte die Schnecken. Zornig klang's: »Dann muß es mein Pastor rein vergessen gehabt haben.«
Er lachte. »Es wird vergessen, was festgehalten gehört, und festgehalten, was man vergessen müßte; – es ist wie ein Verhängnis!« –
Sie gingen langsam den Gartenweg entlang. Der morgenfeuchten Erde entströmte eine wunderbare Frische. Dem Mann machte plötzlich der Gedanke Grauen, daß er in wenigen Tagen schon Asphalt unter den Sohlen und Steine um sich haben werde. Wie sollte er denn das aushalten, wenn sich ihm schon bei der bloßen Vorstellung eine Zentnerlast auf die Seele legte!
Als seien seine Gedanken aus sie übergesprungen, sagte Peter: »Sie passen eigentlich nicht nach Berlin.«
»Woher willst du das wissen?«
»Sie wissen es auch.«
»Mag sein. Aber was will man machen?«
Seelenruhig kam's: »Zum Schneckenhüten könnte man Sie brauchen. Berti hat kein Talent dazu. Ihm kriechen sie davon, weil er nicht Schneid hat, richtig zu schütteln. Sehen Sie – so!«
Sie schüttelte mit besonderem Schwung, so daß sich der entwirrte Knäuel augenblicklich ballte. 135
»Kunststück,« meinte er lachend, »wenn du jeden Funken eigenen Willens in den Biestern zusammenstauchst.«
»Das ist es ja eben! Meiner ist stärker und wichtiger, also stauche ich den Schneckenwillen zusammen.«
»So denkst du. Aber wie werden die Schnecken denken?«
»Dafür habe ich nicht zu sorgen.«
»Könnte deine Theorie nicht peinlich für dich werden, wenn etwa – –«
Sie unterbrach ihn. »Peinlich oder nicht! Wer stärker ist als ich und für Wichtigeres zu sorgen hat, der schüttelt mich und muß mich schütteln, sobald der höhere Zweck es verlangt.«
Verwundert blickte er sie an und wollte etwas entgegnen. Aber sie schwenkte den Eimer und deutete nach einem entfernten Teil des Gartens. »Wenn Sie noch mehr von solchen Dingen wissen wollen, dann gehen Sie zu Großvater dort hinten; dort liegt das alles in der Luft.«
Sie bog nach den Ställen ab und ließ ihn stehen.
Auf feuchten Wegen schritt er langsam in eine grüne stille Verwilderung hinein, in der ihn der Duft von Buchs und Flieder umspann und ferne Erinnerungen heraufstiegen. Der Garten der Kindheit, Mutter und Brüder tauchten auf. Sie schwebten vorüber, aber sie sahen ihm nicht ins Gesicht, er war für sie nicht da. 136
Er fand es in der Ordnung. Für Begegnungen Auge in Auge wäre er zu dicht und zu schwer gewesen, das empfand er mit quälender Deutlichkeit. Eine große Sehnsucht, die halb tiefes Glück, halb bitteres Leid war, geleitete ihn als unsichtbare Führerin schweigend in die grüne Einsamkeit hinein. Plötzlich stand er vor einem mächtigen Granitblock, einem verirrten Findling offenbar, um den wilde Rosen die noch blütenlosen Ranken spannten.
»Großvater« stand auf dem Stein, sonst nichts. Das Gold der Buchstaben leuchtete dem Fremdling entgegen wie ein stummer warmer Gruß, und aus den grauen Flächen flimmerte der eingesprengte Glimmer. Eine Gruppe junggrüner Birken neigte ihre Schleier über den Block. Eine kleine, im Sitz tiefe Bank schmiegte sich an die Flanke.
Ergriffen verharrte der Mann. In ihm klang es auf: Hier starb Großvater, eine rote Rose in der Hand und den Frieden Gottes im Gesicht. –
Er wagte nicht, sich auf die Bank zu setzen, so sehr sie lockte.
Eine Stunde aus der Kindheit fiel ihm ein, als Pfarrers Felixle, der sonst der tägliche, freundlich begrüßte Gast im bäuerlichen Nachbarhaus war, an der Haustür fortgewiesen wurde, weil drinnen der Großvater sterben wollte. Noch spürte er im Zurückdenken die tiefe Niedergeschlagenheit, 137 die ihn überfallen hatte, weil man ihn gerade da nicht dulden wollte, wo so Wichtiges und Unbekanntes vor sich ging.
So hinweggewiesen wie damals fühlte er sich in diesem Augenblick, und dabei so nahe an den letzten Geheimnissen.
Nach einem anderen Sitzplatz sah er sich um und ließ sich dann auf einen Baumstumpf neben den Birken nieder. Ihm war, als könne er nichts tun als warten, bis eine verborgene Tür aufgehe.
Plötzlich stand Peter neben dem Versunkenen. Sie war so leise gekommen, daß er keinen Tritt gehört hatte. Sie trat zu der Bank und strich behutsam über den breiten Sitz, so daß man nicht recht wußte, war es eine Gebärde der Zärtlichkeit oder wollte sie säubern. Dann ließ sie sich daneben ins Gras nieder und lehnte den Kopf an Großvaters Sitz.
Ihr ganzes Gehaben war Ehrfurcht und Ruhe, wie es gerade bei ihr der Mann niemals vermutet hätte.
Sie schwiegen beide. Ein unendlicher Friede umströmte die Stätte, in den hinein kein Menschenwort zu passen schien; und selbst das leise Schwanken der Birkenzweige sah aus, als stehe kein irdischer Lufthauch dahinter. Auf einmal flog ein schöner fremder Vogel über den Stein und strich den Weg entlang. Er tat es so ruhig, als wolle er den beiden stillen Menschen die weißen Bänder auf den ausgebreiteten Flügeln und die Schönheit seines ganzen Gefieders zeigen. 138
Peter fuhr auf und starrte ungläubig hinterher. Ihre Augen glänzten dunkel, ihr Gesicht war noch bleicher als sonst.
»Das war er,« flüsterte sie, und ein glückseliges Leuchten ging über ihre Züge.
»Wer?« fragte der Mann betroffen.
»Ach, nun ist er wieder da,« rief sie mit unterdrücktem Jubel.
»Wer ist wieder da?«
»Großvaters Würger. Der rotköpfige Würger. Er war Großvaters Liebling. Seit er starb, blieb er verschwunden. Nun ist er wieder da.«
Es sprach ein solches Glück aus ihren gestammelten Worten, daß der Gast verwundert den Kopf schüttelte.
Schweigend nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn, als ob er ein Kind wäre, hinaus aus der Einsamkeit des geheiligten Ortes. Erst vor der Bank unter der Pappel gab sie ihn frei und sagte: »So, hier können wir reden.«
Dann saßen sie beide mit baumelnden Beinen, weil auch diese Bank für ganz andere Körpermaße gemacht war. Peter schien das nicht zu beirren, ihm war es ein nahezu demütigendes Gefühl.
»Jetzt erkläre mir nur, warum dich der Vogel so aufregt?« begann er.
»Ich sagte Ihnen doch: es ist der rotköpfige Würger!« 139
»Ja, ist denn das so etwas Besonderes?« –
Ihre Augen flammten ihn an. »Es ist Großvaters Würger, der ihm sogar einmal aus der Hand fraß.«
Er spürte, daß er darauf nichts mehr sagen sollte, aber ihr temperamentvoller Ton reizte ihn, und er warf hin: »Es wird noch mehr rotköpfige Würger auf der Welt geben, wie kannst du wissen, daß es gerade der ist?«
Sie sank in sich zusammen, wie in Erschöpfung, und blieb eine Zeitlang stumm. Dann reckte sie sich wieder auf und sagte leise: »Wenn es doch Großvater versprochen hat – –«
Sie schwieg und er merkte, daß ihre Augen einen blanken Schein bekamen. Ohne daß er fragte, fuhr sie fort: »Großvater hat gesagt, er schickte mir einmal den Würger – –«
Stumm saßen sie. Der Mann mit dem peinigenden Gefühl, an etwas Unberührbares täppisch herangegangen zu sein.
Schmetternd begann jetzt zu ihren Häupten ein Fink sein diesseitsfreudiges Lied zu singen. Die helle Strophe, die jedesmal mit den gleichen Lauten schloß, war wie ein Zuspruch an die Versunkenen.
Peter raffte sich denn auch auf und fragte: »Haben Sie auch einen Großvater gehabt?«
»Gehabt schon, aber nicht gekannt.«
»Das meinte ich natürlich,« klang es ärgerlich, »Sie haben sogar zwei gehabt, wie jeder Mensch.« 140
»Du könntest recht haben. Darin sind wir alle einander gleich, wie in so manchem anderen wesentlichen Stück.«
»Wer waren denn Ihre Großväter?«
»Der eine ein Pfarrer, der andere ein Kanzleirat.«
»Ist das etwas Hohes?«
»Sehr hoch. Man braucht eine Leiter.«
Sie zuckte die Achseln. »Einer meiner Großväter war Rittmeister, der andere Tierarzt, natürlich,« klang es ziemlich großsprecherisch.
Er verbeugte sich, wobei ihm seine baumelnden Beine wieder unangenehm zum Bewußtsein kamen. »Alle Hochachtung! Könntest du mir ein wenig von ihnen erzählen?«
»Wozu denn?« –
»Nun, es heißt: Der Kinder Ehre sind ihre Väter.«
»Ach deshalb!«sagte sie verächtlich und machte eine wegwerfende Bewegung.
Er mußte lachen. »Lege nur los! Auch wenn du's wegen der Ehre nicht nötig hast!«
Sie zögerte, als müsse sie sich die Sache noch sehr überlegen, dann begann sie: »Vom Vater meiner Mutter, dem Rittmeister, weiß ich nicht viel. Er ist schon früh in Triest an Malaria gestorben. Auch meine Mutter ist früh gestorben. Als Berti geboren wurde. Großvater sagte, die Wurzeln, die nach Triest führen, seien alle verschüttet.« 141
»Schade,« sagte der Gast in halber Gedankenlosigkeit.
Sie blickte auf. »Wie können Sie das wissen? Vielleicht ist es auch ein Glück.«
»Demnach scheinst du diesen Vorfahren nicht viel Gutes zuzutrauen?«
»Unsinn,« entgegnete sie knapp. Und dann, als wolle sie die Barschheit gutmachen, deutete sie in die mächtige Pappelkrone hinaus. »Da droben die Äste und Zweige und Blätter kümmern sich auch nicht um ihre Wurzeln.«
»Sehr richtig. Aber schließlich sind wir eben Menschen und keine Bäume.«
»Glauben Sie vielleicht, daß wir nicht auch einmal von den Bäumen lernen könnten?«
»Man kann überall und von allem lernen, sogar vom vorlauten Peter.«
»Gut, wenn Sie das einsehen!« –
In ihr trotziges Schweigen hinein fragte der Schwabe: »Aber an deinen anderen Großvater denkst du dafür um so lieber?«
Ihre Augen glänzten auf. »Natürlich. Der ist ja auch kein Vorfahre.«
»Ach so – –«
»Vorfahren sind weit weg. Großvater ist nicht weit weg. Immer ist er da. Immer sorgt er für mich.« Ihre Stimme 142 versagte fast: »Jetzt hat er mir wieder den Würger zum Gruß geschickt.«
Nach einer Pause, in der auch der Fink im Baum schwieg, begann sie wieder: »Er war in seiner Jugend Menschenarzt, ist aber dann Tierarzt geworden, weil er die Tiere sehr liebte und auch weil Tiere nicht lügen. Lügen haßte er nämlich.«
»Du, da wäre es mit deinem verstauchten Fuß und dem toten Walter Hutmann so eine Sache!« –
Sie überhörte es. »Auch sein Vater, sein Großvater und Urgroßvater waren Ärzte gewesen. Wundarzt der eine.«
Also kümmert sie sich doch um ihre Wurzeln, dachte belustigt der Hörer, hütete sich aber darauf hinzuweisen.
»Einer von ihnen, der Wundarzt, stammte aus dem Bergischen Land, wie Rudolf. Aber damals war dort alles französisch, natürlich.«
»Unnatürlich,« knurrte der Zuhörer.
»Er war weit und breit berühmt und wurde im hohen Alter – ich glaube, er war schon beinahe sechzig – zum Jerome berufen nach Kassel.«
»Was du nicht sagst!«
»Wissen Sie überhaupt, wer Jerome war?«
»Könntest du es mir sagen, falls ich's nicht wüßte?«
»Er war der König von Westfalen und dabei der Schwiegersohn oder der Vetter vom ersten Napoleon.« 143
»Sagen wir lieber: sein Bruder.«
»Meinetwegen! Jerome hatte schreckliche Schmerzen im Knie, und mein Urahn sagte: Sire – so mußte man zum Jerome sagen – Sire, die Schmerzen kommen vom deutschen Boden und werden erst besser, wenn Sie den verlassen.«
»Bravo! Und was meinte darauf Jerome?«
»Was er gemeint hat, weiß natürlich kein Mensch, aber gesagt hat er, weil er ja nicht richtig deutsch konnte: Oh, je comprend, monsieur, vous êtes Spaßmaker. Aber mein Urahn war kein Spaßmacher. Er hatte ein Fläschchen Gift bei sich. Auf der Reise nach Kassel war er bei seinem besten Freund eingekehrt und hatte es dem verraten.«
»Das war unvorsichtig!« warf der Gast ein.
Sie winkte ab. »Ach wo! – Der Freund war ja ein Pastor, und verraten tun die nichts. Überhaupt: es scheint früher bessere gegeben zu haben.«
Der absolute Ernst, mit dem sie das sagte, ließ den Mann hell auflachen.
Aber er faßte sich rasch und fragte: »Was riet denn der Freund?«
»Er riet: Überlege dir die Sache dreimal. Erst vor dem Herrgott, dann vor Deutschland. dann vor dir!«
»Nun – und?« 144
Ungeduldig kam's: »Ist etwa Jerome vergiftet worden?«
»Ich habe nie dergleichen gehört.«
»Nun also! Aber seinen Spaß wollte mein Urahn haben. Er sagte: Sire, tun Sie wie ich! Und dabei streckte er die Zunge heraus, so weit er nur konnte und trat zur Seite.«
»Und Jerome?«
»Jerome sagte: Monsieur, je vois, vous n'êtes pas harlequin – und er ließ durch den Kammerdiener Wein bringen.«
»Aha, dann wurde sogar Brüderschaft getrunken?«
»Das hätten wohl Sie getan? Mein Urahn sagte, der Wein sei recht, um das kranke Knie damit zu waschen, und er ging, ohne zu trinken.«
»Er wird ihm vielleicht zu sauer gewesen sein,« neckte der Schwabe.
Sie blitzte ihn an: »Anders können Sie sich's natürlich nicht zurechtlegen.«
»Natürlich nicht.«
Der Hund, der neben Peter gelegen, erhob sich in diesem Augenblick und trottete davon.
»Er hat natürlich jedes Wort verstanden,« sagte Peter, hinter ihm herblickend.
»Oho,« meinte der Mann. 145
Sie blickte ihn strafend an. »Sie haben natürlich keinen Hund.«
»Wieso, natürlich?«
»Weil Sie über Hunde nicht Bescheid wissen.«
»Solang meine Mutter lebte, haben wir Hunde gehabt.«
»Das besagt noch nichts. Hunde haben können alle, die das Geld dafür aufbringen.«
»Mein Vater schätzte sie nicht sehr.«
»Die Hunde ihn sicher auch nicht.«
Er ging nicht darauf ein. Nachdenklich sagte er: »Unser letzter, ein kleiner Terrier, überlebte meine Mutter nur um vier Wochen.«
Sie nickte. »Heimweh.«
Er wollte korrigieren »Altersschwäche«, aber es schien ihm plötzlich wahrscheinlich, daß es Heimweh gewesen war. Es peinigte ihn, daß sich weder er noch sonst jemand für des Hündchens Sterben und die begleitenden Umstände interessiert hatte.
»Wie alt war der Hund?« examinierte Peter.
Beschämt gestand er: »Das weiß ich wirklich nicht.«
Sie machte eine Gebärde, als verschlage es ihr die Sprache, und brach los: »Und das in einem Pastorat!«
»Meine Mutter hat sich immer sehr um unsere Hunde gekümmert,« verteidigte er sich. 146
»Meine Mutter, meine Mutter,« äffte sie nach, »aber für den Herrn Leutnant und gar für den Herrn Pastor war es wohl zu wenig! Wissen Sie, was Großvater immer gesagt hat?«
Er wich ihren flammenden Augen aus und sie ergänzte: »Wer den Tieren nicht Licht in ihr dumpfes Leben zu tragen versuche, der habe noch weit zum echten Menschen.«
Ihm fiel da manche Szene von draußen ein, bei der er etwa das empfand, was Peter eben formuliert hatte. Damals war nur nicht Zeit gewesen, zur vollen Klarheit durchzustoßen.
Nach lastendem Schweigen sagte er: »Wir sind ganz von deinem Urahn abgekommen.«
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und nahm den Faden wieder auf.
»Komisch ging das dann weiter: In den paar Tagen, da er in Kassel war, lernte er eine Schwäbin kennen, die Kammerfrau bei der Königin war. Die Königin hatte sie eigens aus Schwaben mitgebracht, damit sie schwäbisch mit ihr reden konnte.«
»Das finde ich nett von der Königin. So nett sind nur Schwabenmädle, auch wenn sie Prinzessinnen sind.«
Sie überhörte den Einwurf. »Mein Urahn hat sich natürlich verliebt, so alt er war.« 147
»Natürlich.«
Nachdenklich fragte sie: »Ist es eigentlich wahr, daß viele Schwabenmädchen schön sind?«
Es kostete ihn Mühe, nicht hell aufzulachen. So gründlich wie soeben war sie noch nie aus ihrer Rolle gefallen. Unbewegt sagte er: »Ich kenne überhaupt nur schöne.«
Ebenso unbewegt entgegnete sie: »Ihnen gefällt wohl alles, was Röcke trägt?«
Er nickte. »Ganz richtig. Aber ich kenne auch ganz nette Burschen.«
Sie zuckte die Achseln und berichtete weiter: »Mein Urahn hat die Schwäbin geheiratet, obgleich er schon so alt war.«
»Sechzig ist bei uns schönste Jugend. Da fangen wir erst an zu leben.«
»Er hat dann noch eine Menge Kinder gehabt; ich glaube sechs, aber nur zwei Söhne.«
»Nun ja, schließlich sind Mädchen auch Menschen und zur Not können sie sich in Burschenkleider stecken.«
Sie verzog keine Miene. Nach dem Haus deutend, sagte sie: »Jetzt wird Kaffee gekocht.«
»Ich möchte erst noch ein wenig von deinem Urahn wissen. Wo lebte er?«
»Er zog mit seiner Schwäbin nach Stuttgart, dort sei er auch gestorben, erzählte Großvater.« 148
»Die Töchter werden dann wohl in Schwaben geheiratet haben?«
»Das weiß Ursel, ich habe mich nie darum gekümmert.«
»Wenn euer Geschlecht lang im Schwabenland saß, dann möchte ich eigentlich jede Wette eingehen, daß wir irgendwie miteinander versippt sind.«
Sie baumelte mit den Beinen. »Mir liegt nichts daran. Ich bin noch immer ohne Verwandtschaft ausgekommen. Ursel hat ein paar Vettern von ihrer Mutter her, die ich nicht ausstehen kann.«
»Wirklich? – Es werden eben keine Schwaben sein.«
»Sie sind unerträglich eingebildet,« fuhr sie ihn an.
»Fällt mir ja gar nicht ein. Du hast aber gestern gesagt, daß du an den Schwaben besondere Freude habest.«
»Besondere – nein,« klang es zurückweisend.
Der Geruch von frischgekochtem Kaffee durchzog jetzt die Morgenluft und wirkte besänftigend. Peter hob schnuppernd die Nase.
»Gratuliere! Ursel nimmt Sie für voll und läßt richtigen Kaffee kochen. Sonst gibt es bei uns nur geröstete Gerste.«
»Freut dich das nun um deinet- oder um meinetwillen?«
Sie lachte. »Für Sie freut mich, daß Ursel Sie für voll nimmt, für mich natürlich, daß es Kaffee statt Gerste gibt.« 149
»Willst du mir gefälligst sagen, warum mich Ursel etwa nicht für voll nehmen sollte?«
»Was weiß ich! Kürzlich war ein Hamburger Zimmermann ein paar Tage lang da, den hat sie nicht für voll genommen, und er war der netteste Kerl von der Welt. Samthosen, Perlmutterknöpfe, Schlapphut – alles pikfein, wie sich's gehört. Er hat mir im Holzstall gezeigt, wie man ein ganz richtiges Giebeldach aufschlägt.«
»Und den hat sie nicht für voll genommen?«
»Sie hat ihn im Heu schlafen lassen und Gerste statt Kaffee gekocht.«
»Unbegreiflich.«
»Ich habe ihm natürlich ein Kopfkissen in die Scheune getragen und auch einen Schnaps gegeben, weil doch das Giebeldach sehr nett war.«
»Interessierst du dich denn so sehr für Giebeldächer?«
Sie hielt plötzlich ihre baumelnden Beine an. »Sie etwa nicht?«
»Ehrlich gestanden: ich habe noch nie so recht darüber nachgedacht.«
Ihre Augen blitzten. »Also im Krieg Häuser zusammenschießen, das können Sie, aber wie man ein Haus aufbaut, darüber haben Sie noch nicht nachgedacht? – Ihnen hätte Großvater das Richtige beibringen können!« 150
Verblüfft schaute er sie an. Zusammenhänge zogen an ihm vorüber, die ihn auch schon gequält hatten. Erst nach einer Weile sagte er ablenkend: »Also der Hamburger hat dir imponiert?«
»Jeder, der etwas kann, imponiert mir,« entgegnete sie kurz, und dann kam die unerwartete Frage: »Was können denn Sie außer schießen?«
Vor ihn traten plötzlich alle seine überstandenen Examina; aber um eine Antwort war er verlegen.
»Ich,« klang es gedehnt, »ja, was kann ich denn eigentlich? – Griechisch, Lateinisch, Hebräisch – –«
Sie unterbrach ihn: »Dieses Zeug meine ich nicht.«
»Ja, was meinst du denn?«
»Können Sie reiten?«
»Frage Satan! Er wird dir sagen: wie ein Steppenkosak.«
»O fein! Und was noch?«
Er zuckte die Achseln. »Ein Geschütz richten und abfeuern läßt du ja nicht gelten.«
»Sogar sehr lasse ich das gelten, wenn Krieg ist. Aber jetzt? Jetzt müssen Sie doch auch etwas können?«
Ziemlich hilflos versicherte er: »Ich war immer ein guter Mathematiker.«
»Ich nicht,« warf sie hin in einem Ton, der ihm deutlich verriet, daß mit Mathematik hier nicht zu imponieren sei. 151
»Was können Sie noch?« drängte sie ungeduldig.
Er schaute angestrengt in den frühlingsgrünen Baum hinauf und fiel dann plötzlich ins Schwäbische: »Ha no, halt Klavier spiele' und singe' und orgle' und geige' – –«
Sie strahlte ihn an. Aber eine Ahnung sagte ihm, daß das mehr seiner Mundart als seinen Künsten galt.
»Schön,« sagte sie, »aber siedeln können Sie damit nicht.«
»Nun, das habe ich ja auch gar nicht im Sinn.«
Unbeirrt fuhr sie fort: »Reiten – das ginge, wenn Sie einen Gaul hätten. Es gibt da oft weite und eilige Wege zu machen. Wenn z. B. Ihre Frau krank ist, oder Ihre Kinder. Aber geigen und Klavier spielen – na ja, – am Sonntag, wenn dann Ihre Hände nicht zu rauh sind, wie meine.« Sie betrachtete ihre ausgebreiteten Hände, die allerdings sehr zerarbeitet waren, und machte weiter:
»Orgeln? – Das läßt sich nur einrichten, wenn die nächste Kirche nicht zu weit weg und der Kantor kein eifersüchtiges Scheusal ist, wie der von meinem Pastor, der mich nie an die Tasten ließ.«
»Hast du denn da Versuche gemacht?«
»Ich mache immer Versuche. Wie soll man denn sonst wissen, was man kann und was man nicht kann?« –
Er nickte. »Da hast du ganz recht. So mache ich jetzt auch den Versuch bei der Bank in Berlin.« 152
Mit verächtlicher Gebärde sagte sie: »Den machen jetzt alle! Aber die Verrücktheit nimmt auch einmal ein Ende und was dann?«
Er lachte unfrei: »Dann bin ich ein schwerreicher Mann, das kannst du dir doch denken. Wozu ginge ich denn sonst zur Bank?«
Es war ihm nichts weniger als behaglich, als er das sagte. Die ganze Erbärmlichkeit der Zeit und ihrer Ziele schien die Zähne gegen ihn zu fletschen.
Peter blieb still. Sie verarbeitete etwas in sich und fragte dann zögernd und seltsam verlegen: »Vielleicht könnten Sie mir dann das Geld leihen, damit ich Ursel nicht darum bitten muß?«
»Welches Geld?«
»Nun, zum Siedeln natürlich. Der Hamburger sagte, man braucht viel Geld, auch wenn der Staat den Grund und Boden stellt. Er wird mir dann das Haus bauen helfen.«
»Für das Kopfkissen und den Schnaps womöglich.«
Sein Spott glitt an ihr ab. »Ich helfe ihm – er hilft mir, wir haben schon manches zusammen abgesprochen.«
»Der Hamburger ist wohl ein Lebenskünstler?«
»Nein, ein Zimmermann, sagte ich doch. Schlapphut. Samthosen – Sie haben wohl nicht aufgemerkt?« 153
Er ärgerte sich und wußte nicht recht, worüber. »Schade, daß der Hamburger kein Mädel ist,« sagte er, »ihr könntet euch ja heiraten, wie sich's für Siedler gehört.«
Sie blickte auf. Das helle Vergnügen funkelte aus ihren Augen.
»Er ist ja bald vierzig. Nie würde ich eine so alte nehmen.«
Jetzt trottete der Hund wieder herzu, »Du sollst uns wohl zum Frühstück holen,« rief sie ihm entgegen und stand auf.
Der Gast ging benommen hinter ihr her. Was gefiel ihm nun eigentlich nicht!! – Seine eigene Rolle, oder die angemaßte Rolle Peters? Immerhin, – die Morgenfrühe schien einen anregenden Tag zu versprechen, und der war selten in den heutigen Zeitläuften.