Bertha von Suttner
Die Waffen nieder!
Bertha von Suttner

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Fünftes Buch.

Friedenszeit.

Die Stadt Berlin fanden wir in hellem Jubel. Jeder Ladenschwengel und jeder Eckensteher trug ein gewisses Siegesbewußtsein zur Schau. »Wir haben die anderen drunter gekriegt!« das scheint doch eine sehr erhebende und unter der ganzen Bevölkerung verteilbare Empfindung zu sein. Dennoch, in den Familien, die wir aufsuchten, fanden wir so manche tief niedergeschlagene Leute, solche nämlich, welche einen unvergeßlichen Toten auf den deutschen oder böhmischen Schlachtfeldern liegen hatten. Am meisten fürchtete ich mich, Tante Kornelie wiederzusehen. Ich wußte, daß ihr herrlicher Sohn Gottfried ihr Abgott, ihr alles gewesen, und ich konnte den Schmerz ermessen, der die arme beraubte Mutter jetzt erdrücken mußte – ich brauchte mir nur vorzustellen, daß mein Rudolf, wenn ich ihn großgezogen hätte ... nein, den Gedanken wollte ich gar nicht ausdenken.

Unser Besuch war angesagt. Mit Herzklopfen betrat ich Frau von Tessows Wohnung. Schon im Vorzimmer bekundete sich die im Hause herrschende Trauer. Der Diener, der uns einließ, trug schwarze Livree; im großen Empfangszimmer, dessen Sitzmöbel mit Überzügen bedeckt waren, war kein Feuer angezündet und die Spiegel und Bilder an den Wänden waren sämtlich mit Flor verhängt. Von hier wurde uns die Tür von Tante Korneliens Schlafzimmer geöffnet, wo sie uns erwartete. Dasselbe, ein sehr großer, durch einen Vorhang – hinter welchem das Bett stand – geteilter Raum, diente Tante Kornelie jetzt als beständiger Aufenthalt; sie verließ nie mehr das Haus, außer um allsonntäglich in den Dom zu gehen – und nur selten das Zimmer, nur täglich eine Stunde, welche sie in Gottfrieds gewesenem Studierkabinett verbrachte. In diesem Zimmer war alles auf derselben Stelle stehen und liegen geblieben, wie er es am Tage seiner Abreise verlassen. Sie führte uns im Laufe unseres Besuches hinein und ließ uns einen Brief lesen, den er auf seine Mappe gelegt:

»Meine einzige, liebe Mutter! Ich weiß ja, meine Herzliebste Du, daß Du nach meiner Abreise hierherkommen wirst – und da sollst Du dieses Blatt finden. Der persönliche Abschied ist vorbei. Desto mehr wird es Dich freuen und überraschen, noch ein Zeichen zu entdecken, noch ein letztes Wort von mir zu hören, und zwar ein frohes, hoffnungsvolles. Sei guten Muts: ich komme wieder. Zwei so aneinanderhängende Herzen, wie die unseren, wird das Schicksal nicht auseinanderreißen. Meine Bestimmung ist es, jetzt einen glücklichen Feldzug zu überstehen, Sterne und Kreuze zu erringen – und dann: Dich zur sechsfachen Großmutter machen. Ich küsse Deine Hand, ich küsse Deine liebe sanfte Stirn – o Du aller Mütterchen angebetetstes.

Dein Gottfried.«

Als wir bei Tante Kornelie eintraten, war dieselbe nicht allein. Ein Herr in langem, schwarzem Rocke, auf den ersten Blick als Pastor erkenntlich, saß ihr gegenüber.

Die Tante erhob sich und kam uns entgegen; der Pastor stand gleichfalls von seinem Sitze auf, blieb aber im Hintergrunde stehen.

Was ich erwartet hatte, geschah: Als ich die alte Frau umarmte, brachen wir beide, sie und ich, in lautes Schluchzen aus. Auch Friedrich blieb nicht trockenen Auges, indem er die Trauernde an sein Herz drückte. Gesprochen wurde in dieser ersten Minute gar nichts. Was man in solchen Augenblicken – beim ersten Wiedersehen nach einem schweren Unglücksfall – zu sagen hat, das drücken Tränen vollständig aus ...

Sie führte uns an ihren Sitzplatz zurück und wies uns nebenstehende Sessel an. Dann, nachdem sie die Augen getrocknet:

»Mein Neffe, Oberst Baron Tilling, – Herr Militäroberpfarrer und Konsistorialrat Mölser,« stellte sie vor.

Stumme Verneigungen wurden gewechselt.

»Mein Freund und geistlicher Berater,« ergänzte sie, »der es sich angelegen sein läßt, mich in meinem Schmerze aufzurichten –«

»Dem es aber leider noch nicht gelungen ist, Ihnen die richtige Ergebung, die richtige Freudigkeit des Kreuztragens beizubringen, geschätzte Freundin,« sagte jener. »Warum mußte ich eben einen neuerlichen, so mattherzigen Tränenerguß sehen?«

»Ach, verzeihen Sie mir! Als ich meinen Neffen und seine liebe junge Frau zum letzten Mal sah, da war mein Gottfried –« Sie konnte nicht weiter reden.

»Da war Ihr Sohn noch auf dieser sündigen Welt, allen Versuchungen und Gefahren ausgesetzt, während er jetzt in den Schoß des Vaters eingegangen ist, nachdem er den rühmlichsten, seligsten Tod für König und Vaterland gefunden hat. Sie, Herr Oberst,« wandte er sich nun an meinen Mann, »die Sie mir eben auch als Soldat vorgestellt wurden, können mir helfen, dieser gebeugten Mutter den Trost zu geben, daß das Schicksal Ihres Sohnes ein neidenswertes ist. Sie müssen es wissen, welche Todesfreudigkeit den tapferen Krieger beseelt – der Entschluß, sein Leben auf dem Altar des Vaterlandes zum Opfer zu bringen, verklärt ihm alles Scheideweh, und wenn er im Sturm der Schlacht, beim Donner der Geschütze sinkt, so erwartet er, zu der großen Armee versetzt zu werden und dabei zu sein, wenn der Herr der Heerscharen droben Heerschau hält. Sie, Herr Oberst, sind unter jenen zurückgekehrt, welchen die göttliche Vorsehung den gerechten Sieg verliehen –«

»Verzeihen Sie, Herr Konsistorialrat – ich habe in österreichischen Diensten gestanden –«

»O ich dachte ... Ah so ...« entgegnete der andere ganz verwirrt ... »Auch eine prächtige, tapfere Armee, die österreichische.« Er stand auf. »Doch ich will nicht länger stören ... die Herrschaften wollen gewiß von Familienangelegenheiten sprechen ... »Leben Sie wohl, gnädige Frau – in einigen Tagen will ich wiederkommen ... Bis dahin erheben Sie Ihre Gedanken zu dem Allerbarmer, ohne dessen Wille kein Haar von unserem Haupte fällt und welcher jenen, die ihn lieben, alle Dinge zum besten dienen läßt, auch Trübsal und Leid, auch Not und Tod. Ich empfehle mich ergebenst.«

Meine Tante schüttelte ihm die Hand:

»Hoffentlich sehe ich Sie bald? Recht bald, ich bitte –«

Er verneigte sich gegen uns alle und wollte der Türe zuschreiten.

Friedrich aber hielt ihn auf:

»Herr Konsistorialrat – dürfte ich eine Bitte an Sie richten?«

»Sprechen Sie, Herr Oberst.«

»Ich entnehme Ihren Reden, daß Sie ebenso sehr von religiösem wie von militärischem Geiste durchdrungen sind. Da könnten Sie mir einen großen Gefallen erweisen –«

Ich horchte gespannt auf. Wo wollte Friedrich nur hinaus?

»Meine kleine Frau hier,« fuhr er fort, »ist nämlich mit allerlei Skrupel und Zweifel erfüllt ... sie meint, daß vom christlichen Standpunkte aus der Krieg nicht recht zulässig sei. Ich weiß zwar das Gegenteil – denn nichts hält mehr zusammen als der Priester- und der Soldatenstand – aber mir fehlt die Beredsamkeit, dies meiner Frau klar zu machen. Würden Sie sich nun herbeilassen, Herr Konsistorialrat, uns morgen oder übermorgen eine Stunde der Unterredung zu schenken, um –«

»O, sehr gern,« unterbrach der Geistliche. »Wollen Sie mir Ihre Adresse? ...« Friedrich gab ihm seine Karte und es wurde sogleich Tag und Stunde des erbetenen Besuches festgesetzt.

Hierauf blieben mir mit der Tante allein.

»Gewährt dir der Zuspruch dieses Freundes wirklich Trost?« fragte sie Friedrich.

»Trost? Den gibt es für mich hienieden nicht mehr. Aber er spricht so viel und so schön von den Dingen, von welchen ich jetzt am liebsten höre – von Tod und Trauer, von Kreuz und Opfer und Entsagung ... er schildert die Welt, die mein armer Gottfried verlassen mußte, und von welcher auch ich mich weg sehne, als ein solches Tal des Jammers, der Verderbnis, der Sünde, des zunehmenden Verfalles ... und da erscheint es mir denn weniger traurig, daß mein Kind abberufen worden. – Er ist ja im Himmel und hier auf dieser Erde–«

»Walten oft Höllengewalten, das ist wahr – das habe ich jetzt wieder in der Nähe gesehen,« erwiderte Friedrich nachdenklich.

Hierauf wurde er von der armen Frau über die beiden Feldzüge ausgefragt, wovon er den einen mit – den anderen gegen – Gottfried mitgemacht.

Er mußte hundert Einzelheiten anführen und konnte dabei der beraubten Mutter denselben Trost geben, den er einst mir aus dem italienischen Kriege gebracht: nämlich, daß der Betrauerte eines raschen und schmerzlosen Todes gestorben sei. Es war ein langer, trauriger Besuch. Auch die ganzen Einzelheiten der schaurigen Cholerawoche habe ich da wiedererzählt und meine Erlebnisse auf den böhmischen Schlachtfeldern. Eh' wir sie verließen, führte uns die Tante noch in Gottfrieds Zimmer, wo ich beim Durchlesen des oben angeführten Briefes – von dem ich mir später eine Abschrift erbat – von neuem bittere Tränen vergießen mußte.

* * *

»Jetzt erkläre mir,« sagte ich zu Friedrich, als wir unseren vor Frau von Tessows Wohnung wartenden Wagen bestiegen, »warum du den Konsistorialrat –«

»Zu einer Konferenz mit dir gebeten? Verstehst du nicht? ... Das soll mir als Studienmaterial dienen. Ich will wieder einmal hören – und diesmal notieren – mit welchen Argumenten die Priester den Völkermord verteidigen. Als Führerin des Streites habe ich dich vorgeschoben. Einer jungen Frau geziemt es besser, vom christlichen Standpunkte aus Zweifel über die Berechtigung des Krieges zu hegen als einem »Herrn Oberst« –«

»Du weißt aber, daß wir solche Zweifel nicht vom religiösen, sondern vom humanen Standpunkt –«

»Diesen müssen wir dem Herrn Konsistorialrat gegenüber gar nicht hervorkehren, sonst würde die Streitfrage auf ein anderes Feld verlegt. Die Friedensbestrebungen der Freidenkenden leiden an keinem inneren Widerspruch, und gerade den Widerspruch, welcher zwischen den Satzungen der Christenliebe und den Geboten der Kriegführung besteht, wollte ich von einem militärischen Oberpfarrer – d.h. also von einem Vertreter christlichen Soldatentums – erläutern hören.« Der Geistliche stellte sich pünktlich ein. Offenbar war ihm die Aussicht verlockend, eine belehrende und bekehrende Predigt vorbringen zu können. Ich hingegen blickte der Unterredung mit etwas peinlichen Gefühlen entgegen, denn es fiel mir darin eine unaufrichtige Rolle zu. – Aber zum Wohle der Sache, welcher Friedrich fortan seine Dienste geweiht, konnte ich mir schon einige Überwindung auferlegen und mich mit dem Satze trösten: Der Zweck heiligt das Mittel.

Nach den ersten Begrüßungen – wir saßen alle drei auf niederen Lehnstühlen in der Nähe des Ofens – begann der Konsistorialrat also:

»Lassen Sie mich auf den Zweck meines Besuches eingehen, gnädige Frau. Es handelt sich darum, aus Ihrer Seele einige Skrupel zu bannen, welche nicht ohne scheinbare Berechtigung sind, welche aber leicht als Sophismen dargelegt werden können. Sie finden z.B., daß das Gebot Christi, man solle seine Feinde lieben, und ferner der Satz: »Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen« in Widerspruch zu den Pflichten des Soldaten stehen, der ja doch bemächtigt ist, den Feind an Leib und Leben zu schädigen –«

»Allerdings, Herr Konsistorialrat, dieser Widerspruch scheint mir unlöslich. Es kommt auch noch das ausdrückliche Gebot des Dekalogs hinzu: »Du sollst nicht töten.«

»Nun ja – auf der Oberfläche beurteilt, liegt hierin eine Schwierigkeit; aber wenn man in die Tiefe dringt, so schwinden die Zweifel. Was das fünfte Gebot anbelangt, so würde es richtiger heißen (und ist auch in der englischen Bibelausgabe so übertragen) »Du sollst nicht morden.« Die Tötung zur Notwehr ist aber kein Mord. Und der Krieg ist ja doch nur die Notwehr im großen. Wir können und müssen, der sanften Mahnung unseres Erlösers gemäß, die Feinde lieben; aber das soll nicht heißen, daß wir offenbares Unrecht und Gewalttätigkeiten nicht sollten abwehren dürfen.«

»Dann kommt es also immer darauf hinaus, daß nur Verteidigungskriege gerecht seien, und ein Schwertstreich nur dann geführt werden darf, wenn der Feind ins Land fällt? Die gegnerische Nation aber geht von demselben Grundsatz aus – wie kann da überhaupt der Kampf beginnen? In dem letzten Kampfe war es Ihre Armee, Herr Konsistorialrat, welche zuerst die Grenze überschritt und –«

»Wenn man den Feind abwehren will, meine Gnädige – wozu man das heiligste Recht hat, so ist es durchaus nicht nötig, die günstige Zeit zu versäumen und erst zu warten, bis er uns ins Land gefallen, sondern es muß unter Umständen dem Landesherrn freistehen, dem Gewaltsamen, Ungerechten zuvorzukommen. Dabei befolgt er eben das geschriebene Wort: Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen. Er stellt sich als Gottes Diener und Rächer über den Feind, indem er trachtet, denjenigen, der gegen ihn das Schwert nimmt, durch das Schwert umkommen zu lassen –«

»Da muß irgendwo ein Trugschluß stecken,« sagte ich kopfschüttelnd, »diese Gründe können doch unmöglich, für beide Parteien gleich rechtfertigend sein –«

»Was ferner den Skrupel betrifft,« fuhr der Geistliche fort, ohne meine Anrede zu beachten, »daß der Krieg an und für sich Gott mißfällig sei, so fällt dieser bei jedem bibelfesten Christen weg, denn die heilige Schrift zeigt zur Genüge, daß der Herr dem Volke Israel selber befohlen hat, Kriege zu führen, um das gelobte Land zu erobern, und er verlieh seinem Volke Sieg und Segen dazu. 4. Mose 21, 14 ist die Rede von einem eigenen Buche der Kriege Jehovas. Und wie oft wird in den Psalmen die Hilfe gerühmt, die Gott seinem Volke im Kriege angedeihen ließ. Kennen Sie nicht Salomos Spruch (22, 31):

Das Roß steht gerüstet für den Tag der Schlacht,
Aber von dem Herrn kommt der Sieg.

Im 44. Psalm dankt und lobt David den Herrn, seinen Hort, der »seine Hände lehrt streiten und seine Fäuste kriegen.«

»So herrscht denn der Widerspruch zwischen dem alten und dem neuen Testament: der Gott der alten Hebräer war ein kriegerischer, aber der sanfte Jesus verkündete die Botschaft des Friedens und lehrte Nächsten- und Feindesliebe.«

»Auch im neuen Testament spricht Jesus im Gleichnis Lukas 14, 31 ohne jeglichen Tadel von einem König, der sich mit einem anderen König in den Krieg begeben will. Wie oft gebraucht auch der Apostel Paulus Bilder aus dem Kriegsleben. Er sagt (Römer 13, 4), daß die Obrigkeit das Schwert nicht umsonst trägt, sondern Gottes Diener und ein Rächer ist über den, der Böses tut.«

»Nun also – dann liegt in der heiligen Schrift selber der Widerspruch, den ich meine. Indem Sie mir zeigen, daß derselbe in der Bibel auch zu finden ist, räumen Sie ihn nicht weg.«

»Da sieht man die oberflächliche und zugleich anmaßende Urteilsweise, welche die eigene, schwache Vernunft über Gottes Wort erheben will. Widerspruch ist etwas Unvollkommenes, Ungöttliches; indem ich also nachweise, daß ein Ding in der Bibel vorkommt, ist der Beweis erbracht, daß es in sich – mag es der menschlichen Einsicht noch so unverständlich sein – keinen Widerspruch enthalten kann.«

»Wenn nicht vielmehr durch das Vorhandensein des Widerspruchs der Nachweis geführt wäre, daß die betreffenden Stellen unmöglich göttlichen Ursprungs sind.« Diese Antwort schwebte mir auf den Lippen, doch habe ich sie unterdrückt, um das Streitobjekt nicht gänzlich zu verrücken.

»Sehen Sie, Herr Konsistorialrat,« mischte sich jetzt Friedrich in das Gespräch, »noch viel kräftiger als Sie hat ein Oberststückhauptmann im 17. Jahrhundert die Zulässigkeit der Kriegsgreuel durch Berufung auf die Bibel dargetan. Ich habe mir das Schriftstück aufgehoben und auch meiner Frau schon vorgelesen, sie wollte sich aber mit dem darin ausgesprochenen Geiste nicht befreunden. Ich gestehe, mir kommt das Ding auch etwas – stark vor ... und ich möchte gern Ihre Ansicht darüber hören. Wenn Sie erlauben, so bringe ich das Dokument.« Er holte aus einem Schubfach ein Papier hervor, entfaltete es und las:

»Der Krieg ist von Gott selbst inventieret und den Menschen gelehret worden. Den ersten Soldaten setzte Gott ein mit einem zweischneidigen Schwert vor das Paradies, um dem ersten Rebellen, Adam, solches zu verbieten. Im Deuteronomium ist zu lesen, wie Gott sein Volk durch Moses zum Sieg encouragieren läßt und ihnen sogar seine Priester als Avantgarde gibt.

Das erste Stratagema ward der Stadt Hai beigebracht. In diesem Judenkrieg mußte die Sonne zwei ganze Tage aneinander am Firmament stehend leuchten, damit der Krieg und die Victori konnte persequieret und viele Tausende erschlagen und die Könige aufgehenkt werden.

Alle Kriegsgreuel sind vor Gott gebilligt, denn die ganze heilige Schrift ist voll davon und beweiset genugsam, daß der rechtmäßige Krieg von Gott selbst inventieret, daß also ein jeder Mensch von gutem Gewissen in demselben dienen, leben und sterben kann. Seine Feinde mag er verbrennen oder versengen, schinden, niederstoßen oder in Stücke zerhauen – es ist alles recht –, mögen andere daran judizieren was sie wollen: Gott hat in diesen Stücken nichts verboten, sondern die grausamsten Manieren, Menschen umzubringen, gebilliget.

Die Prophetin Deborah nagelte dem Kriegsobersten Sissara den Kopf am Erdboden an. Gideon, der von Gott verordnete Führer des Volkes, rächt sich an den Obersten zu Senhot, die ihm etwas Proviant verweigert hatten, soldatisch; Galgen und Rad, Schwert und Feuer waren zu schlecht; sie wurden mit Dornen gedroschen und zerrissen – gleichwohl war es recht vor den göttlichen Augen. Der königliche Prophet David, ein Mann nach dem Herzen Gottes, inventierte die grausamsten Martern über die schon überwundenen Kinder Ammon zu Rabboth; er ließ sie mit Säbeln zerschneiden, mit eisernen Wagen über sie fahren, zerschnitt sie mit Messern, zog sie hierdurch, wie man Ziegelsteine formieret, und also tat er in allen Städten der Kinder Ammon. Ferner hat –«

»Das ist greulich, das ist abscheulich!« unterbrach der Oberpfarrer. »Nur einem rohen Söldling aus der verwilderten Zeit des 30jährigen Krieges sieht es gleich, solche Beispiele aus der Bibel heranzuziehen, um darauf die Berechtigung der Grausamkeit gegen den Feind zu stützen. Wir verkünden jetzt ganz andere Lehren: im Kriege darf weiter nichts erstrebt werden, als die Unschädlichmachung des Gegners – bis zum Tode – ohne böswillige Absicht gegen das Leben eines einzelnen. Tritt solche Absicht, oder gar Mordlust und Grausamkeit gegen Wehrlose ein, dann ist das Töten im Kriege gerade so unmoralisch und unzulässig wie im Frieden. Ja, in vergangenen Jahrhunderten, wo Landsknechtsführer und fahrendes Volk den Kriegs als Handwerk betrieben, da konnte der Oberststückhauptmann solches schreiben; aber heutzutage wird nicht für Sold und Beute und nicht ohne zu wissen, gegen wen und warum zu Felde gezogen, sondern für die höchsten idealen Güter der Menschheit – für Freiheit, Selbständigkeit, Nationalität – für Recht, Glaube, Ehre, Zucht und Sitte ...«

»Sie, Herr Konsistorialrat,« warf ich ein, »sind jedenfalls sanfter und menschlicher als der Stückhauptmann; Sie haben daher aus der Bibel keine Belege für die Statthaftigkeit der Greuel – an welchen unsere mittelalterlichen Vorfahren und vermutlich noch mehr die alten Hebräer – ihre Lust hatten – beizubringen; aber es ist doch dasselbe Buch und derselbe Jehova, der nicht sanfter geworden sein kann, von dem aber jeder nur so viel Bestätigung sich holt, als es zu seiner Anschauung paßt.«

Auf dieses hin erhielt ich eine kleine Strafpredigt über meinen Mangel an Ehrerbietung dem Worte Gottes gegenüber und über meinen Mangel an Urteil bei dessen Auslegung.

Es gelang mir jedoch, das Gespräch wieder auf unser eigentliches Thema zurückzuleiten und jetzt erging sich der Konsistorialrat in lange, diesmal ununterbrochen bleibende Ausführungen über den Zusammenhang zwischen soldatischem und christlichem Geiste; er sprach von der religiösen Weihe, »die dem Fahneneid innewohnt, wenn die Standarten mit Musikbegleitung feierlich in die Kirche getragen werden unter der Ehrenbedeckung zweier Offiziere mit gezogenem Degen; da tritt der Rekrut zum erstenmal öffentlich mit Helm und Seitengewehr auf und zum erstenmal folgt er der Fahne seines Truppenteils, die jetzt entfaltet ist vor dem Altare des Herrn, zerfetzt wie sie ist und geschmückt mit dem Ehrenzeichen der Schlachten, in der sie getragen worden« ... Er sprach von der allsonntäglichen kirchlichen Fürbitte: »Beschütze das königliche Kriegsheer und alle treuen Diener des Königs und des Vaterlandes. Lehre sie, wie Christen ihres Eides gedenken und laß dann ihre Dienste gesegnet sein zu deiner Ehre und des Vaterlandes Besten. »Gott mit uns,« führte er weiter aus, »ist ja auch die Inschrift auf der Gürtelsschnalle, mit der der Infanterist sein Seitengewehr sich umgürtet, und diese Losung soll ihm Zuversicht geben. Ist Gott mit uns – wer mag wider uns sein? Da sind auch die allgemeinen Landes-, Buß- und Bettage, die beim Beginn eines Krieges ausgeschrieben werden, damit das Volk im Gebete des Herrn Hilfe erflehe, zugleich in der getrosten Hoffnung auf seinen Beistand und im Vertrauen auf den durch diesen Beistand zu erlangenden glücklichen Ausgang. Welche Weihe liegt für den ausziehenden Krieger darin – wie mächtig hebt dies seine Kampfes- und Todesfreudigkeit! Er kann getrost, wenn ihn sein König ruft, in die Reihen der Kämpfer treten und auf Sieg und Segen für die gerechte Sache rechnen; Gott der Herr wird dieselben unserem Volke ebensowenig entziehen, wie einst seinem Volke Israel, wenn wir nun zu ihm betend die Arbeit des Kampfes tun. Der innige Zusammenhang zwischen Gebet und Sieg, zwischen Frömmigkeit und Tapferkeit ergibt sich leicht – denn was kann mehr Freudigkeit im Angesicht des Todes gewähren, als die Zuversicht, wenn im Schlachtgewühl die letzte Stunde schlägt, vor dem himmlischen Richter Gnade zu finden? Treue und Glauben in Verbindung mit Mannhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit gehören zu den ältesten Traditionen unseres Volkes.« In diesem Tone ging es noch lange fort: bald in öliger Milde, gesenkten Hauptes, mit sanftem Tonfall von Liebe, Himmel, Demut, »Kindlein«, Heil und »köstlichen Dingen«; – bald mit militärischer Kommandostimme, bei stolz in die Brust geworfener Haltung, von strenger Sitte und strammer Zucht – scharf und schneidig – Schwert und Wehr. Das Wort »Freude« wurde nicht anders als in den Znsammensetzungen Todes-, Kampfes- und Sterbensfreudigkeit gebraucht. Vom feldprobstlichen Standpunkt scheinen eben Töten und Getötetwerden als die vornehmsten Lebensfreuden zu gelten. Alles übrige ist erschlaffende, sündhafte Lust. Auch Verse wurden deklamiert. Zuerst das Körnersche:

Vater, du führe mich,
Führ' mich zum Siege, führ' mich zum Tode!
Herr, ich erkenne deine Gebote.
Herr, wie du willst, so führe mich,
Gott, ich erkenne dich!

Dann das alte Volkslied aus dem 30jährigen Kriege:

Kein sel'ger Tod ist in der Welt,
Als wie vom Feind erschlagen,
Auf grüner Au', im freien Feld,
Darf nicht hören groß Wehklagen.
Im engen Bett, da einer allein
Muß an den Todesreih'n,
Hier aber find't er Gesellschaft sein –
Fallen wie Kraut im Maien.

Ferner das Lenausche Lied vom kriegslustigen Waffenschmied:

Friede hat das Menschenleben
Still verwahrlost, sanft verwüstet,
Wie er seiner Tat sich brüstet,
Alles hängt voll Spinneweben ...
Ha! nun fährt der Krieg dazwischen,
Klafft und gähnt auch manche Wunde,
Gähnt man selt'ner mit dem Munde,
Kampf und Tod die Welt erfrischen.

Und schließlich noch das Wort Luthers:

»Sehe ich den Krieg an als ein Ding, das Weib, Kind, Haus, Hof, Gut und
Ehre schützt und Frieden damit erhält und bewahrt, so ist er eine gar köstliche Sache.

»Nun ja – sehe ich den Panther als eine Taube an, so ist der Panther ein gar sanftes Tierchen,« bemerkte ich ungehört.

Gern hätte ich auch auf seine poetischen Ergüsse die Worte Bodenstedts entgegnet:

Ihr mögt von Kriegs- und Heldenruhm
So viel und wie ihr wollt verkünden,
Nur schweigt von eurem Christentum,
Gepredigt aus Kanonenschlünden.

Bedürft ihr Proben eures Muts,
So schlagt euch wie die Heiden weiland.
Vergießt so viel ihr müßt des Bluts,
Nur redet nicht dabei vom Heiland.

Noch gläubig schlägt das Türkenheer
Die Schlacht zum Ruhme seines Allah,
Wir haben keinen Odin mehr,
Tod sind die Götter der Walhalla.

Seid was ihr wollt, doch ganz und frei
Auf dieser Seite wie auf jener,
Verhaßt ist mir die Heuchelei
Der kriegerischen Nazarener.

»Aber unser »kriegerischer Nazarener« sah nicht, was in meinem Geiste vorging; er ließ sich in seinem Redefluß nicht irre machen und als er sich empfahl, da hatte er das Bewußtsein, mich zweier Dinge überführt zu haben; daß der Krieg vom christlichen Standpunkte aus ein gerechtfertigter – und an und für sich eine köstliche Sache sei. Durch diesen rhetorischen Sieg seiner Berufspflicht nachgekommen zu sein und damit dem fremden Herrn Obersten einen beträchtlichen Dienst erwiesen zu haben, war ihm sichtlich sehr befriedigend, denn als er sich zum Gehen erhob und wir ihm unseren Dank für die bereitwillige Bemühung aussprachen, erwiderte er abwehrend:

»Es ist an mir, Ihnen zu danken, mir die Gelegenheit geboten zu haben, durch mein schwaches Wort, dessen ganze Wirksamkeit dem vielfach herangezogenen Worte Gottes zuzuschreiben ist, solche Zweifel zu verscheuchen, welche sowohl der Christin als der Soldatenfrau nur quälend sein mußten. Der Friede sei mit Ihnen!«

»Ach!« stöhnte ich, nachdem er sich entfernt hatte, »das war eine Qual!«

»Ja, das war es,« bestätigte Friedrich. »Besonders unsere Unaufrichtigkeit war mir nicht behaglich – die falsche Voraussetzung nämlich, unter welcher wir ihn zur Entfaltung seiner Beredsamkeit bewogen haben. Einen Augenblick drängte es mich, ihm zu sagen: Halten Sie ein, hochwürdiger Herr, ich selber hege die gleichen Ansichten gegen den Krieg, wie meine Frau, und was Sie sprechen, soll mir nur dazu dienen, die Schwäche Ihrer Argumente näher zu untersuchen. Aber ich schwieg. Wozu eines redlichen Mannes Überzeugung – eine Überzeugung, die noch dazu die Grundlage seines Lebensberufes ist – verletzen?«

»Überzeugung? – bist du dessen sicher? Glaubt er wirklich die Wahrheit zu sprechen, oder betört er seine Soldatengemeinde absichtlich wenn er ihr den sicheren Sieg verspricht, durch den Beistand eines Gottes, von dem er doch wissen muß, daß er von dem Feinde gerade so angerufen wird? Diese Berufungen auf »unser Volk«, auf »unsere«, als die einzig gerechte Sache, die zugleich Gottes Sache ist, die waren doch nur möglich zu einer Zeit, da ein Volk von allen übrigen Völkern abgeschlossen, sich für das einzig Daseinsberechtigte, das einzig Gottgeliebte hielt. Und dann diese Vertröstungen auf den Himmel, um desto leichter die Hingebung des irdischen Lebens zu erlangen, alle diese Zeremonien – Weihen, Eide, Gesänge – welche in der Brust des in den Krieg Befohlenen die so beliebte »Todesfreudigkeit« – mit graut vor dem Worte – erwecken sollen, ist das nicht –«

»Alles hat zwei Seiten, Martha,« unterbrach Friedrich. »Weil wir den Krieg verwünschen, erscheint uns alles, was ihn stützt und verschönt, was seine Schrecken verschleiert, hassenswert.«

»Ja, natürlich, denn dadurch wird das Gehaßte erhalten.«

»Nicht dadurch allein ... Alte Einrichtungen stehen mit tausend Fasern festgewurzelt, und so lang sie da waren, war's doch auch gut, daß diejenigen Gefühle und Gedanken bestanden, durch die sie verschönt – durch die sie nicht nur erträglich, sondern sogar beliebt gemacht wurden. Wieviel armen Teufeln half jene anerzogene »Todesfreudigkeit« über das Sterbensweh hinweg; wieviel fromme Seelen bauen vertrauensvoll auf die ihnen vom Prediger zugesicherte Gotteshilfe; wieviel unschuldige Eitelkeit und stolzes Ehrgefühl ward nicht durch jene Zeremonien geweckt und befriedigt, wieviel Herzen schlugen nicht höher bei den Klängen jener Gesänge? Von allem Leid, das der Krieg über die Menschen gebracht hat, ist doch wenigstens jenes Leid abzurechnen, welches wegzusingen und wegzulügen den Kriegsbarden und den Feldgeistlichen gelungen ist.«

* * *

Wir wurden von Berlin sehr plötzlich wieder abberufen. Eine Depesche meldete mir, daß Tante Marie schwer erkrankt sei und uns zu sehen wünsche.

Ich fand die alte Frau von den Ärzten aufgegeben.

»Jetzt ist die Reihe an mir,« sagte sie. »Eigentlich gehe ich recht gern... Seit mein armer Bruder und seine drei Kinder hinweggerafft wurden, hat es mich ohnehin auf dieser Welt nicht mehr gefreut – von diesem Schlag konnte ich mich nie mehr erholen... Drüben werde ich die anderen wiederfinden... Konrad und Lilli sind dort auch vereint ... es war ihnen nicht bestimmt, auf Erden vereint zu werden...«

»Wäre zu rechter Zeit abgerüstet worden –« wollte ich zu widersprechen beginnen, aber ich hielt mich zurück: mit dieser Sterbenden konnte ich doch keinen Streit anheben und doch nicht an ihrer Lieblingstheorie »Bestimmung« zu rütteln versuchen.

»Ein Trost ist mir,« fuhr sie fort, »daß wenigstens du glücklich zurückbleibst, liebe Martha... Dein Mann ist aus zwei Feldzügen zurückgekehrt – die Cholera hat euch verschont – es hat sich deutlich erwiesen, daß ihr bestimmt seid, miteinander alt zu werden ... Trachte nur, aus dem kleinen Rudolf einen guten Christen und einen guten Soldaten heranzuziehen, damit sein Großvater noch da oben seine Freude an ihm haben möge« ...

Auch darüber schwieg ich lieber, daß ich fest entschlossen war, aus meinem Sohne keinen Soldaten zu machen.

»Ich werde unaufhörlich für euch beten ... damit ihr lange und zufrieden lebt –«

Natürlich hob ich den Widerspruch nicht auf, daß eine »unverrückbare Bestimmung« durch den Einfluß unaufhörlichen Betens zum Guten gelenkt werden solle, doch unterbrach ich die Arme, indem ich sie bat, sich mit Sprechen nicht anzustrengen und erzählte ihr, um sie zu zerstreuen, von unseren Schweizer und Berliner Erlebnissen. Ich berichtete, daß wir auch mit Prinz Heinrich zusammengekommen und daß derselbe in seinem Schloßpark dem Andenken der ebenso schnell gewonnenen als wiederverlorenen Braut ein Marmordenkmal aufrichten lasse.

Nach drei Tagen, ergeben und gefaßt, mit den selbstverlangten – andächtig empfangenen Sterbesakramenten versehen, entschlief meine arme Tante Marie; – und so waren denn alle die Meinen, alle, in deren Mitte ich aufgewachsen, von der Erde geschieden... In ihrem Testament war als Universalerbe ihres kleinen Vermögens mein Sohn Rudolf eingesetzt und zum Vormund – Minister »Allerdings« bestellt.

Dieser Umstand brachte mich nun in häufige Berührung mit diesem einstigen Freunde meines Vaters. Er war auch ziemlich der einzige, der unser Haus besuchte. Die tiefe Trauer, in welche mich die Grumitzer Unglückswoche versetzt hatte, brachte es selbstverständlich mit sich, daß ich ganz zurückgezogen lebte. Unser Plan, nach Paris zu übersiedeln, konnte erst ausgeführt werden, wenn alle meine Geschäfte in Ordnung gebracht waren, was jedenfalls noch einige Monate in Anspruch nehmen mußte.

Unser Freund, der Minister, welcher, wie gesagt, beinahe unseren einzigen Umgang bildete, hatte in der letzten Zeit seinen Abschied genommen oder bekommen – das habe ich nie ergründen können – kurz, er hatte sich ins Privatleben zurückgezogen, liebte es aber noch immer, sich mit Politik zu beschäftigen. Er wußte stets das Gespräch auf dieses sein Lieblingsthema zu lenken und wir gaben ihm auch willig die Replik. Da sich Friedrich jetzt so eifrig mit dem Studium des Völkerrechts befaßte, so war ihm jede Diskussion willkommen, welche dieses Gebiet streifte. Nach dem Speisen (Herr von Allerdings – wir bezeichneten ihn unter uns immer mit diesem Spitznamen – war zweimal wöchentlich bei uns zu Tisch geladen) pflegten die beiden Herren sich in ein langes politisches Gespräch zu vertiefen, wobei mein Mann es jedoch vermied, dieses Gespräch in die ihm so verhaßte Kannegießerei ausarten zu lassen, sondern bemüht war, dasselbe auf verallgemeinernde Standpunkte zu lenken. Hierin konnte ihm »Allerdings« allerdings nicht immer folgen, denn in seiner Eigenschaft als eingewurzelter Diplomat und Bureaukrat hatte er sich angewöhnt, die sogenannte »praktische Politik« oder »Realpolitik« zu betreiben – ein Ding, welches ja nur auf die nächstliegenden Sonderinteressen gerichtet ist und von den theoretischen Fragen der Gesellschaftskunde nichts weiß.

Ich saß daneben, mit einer Handarbeit beschäftigt und mischte mich nicht in das Gespräch, was dem Herrn Minister ganz natürlich schien, denn bekanntlich ist für Frauen die Politik »viel zu hoch«; er war überzeugt, daß ich dabei an andere Dinge dachte, während ich – im Gegenteil – sehr aufmerksam zuhörte, da es meines Amtes war, mir so gut als möglich den Wortlaut dieser Dialoge in das Gedächtnis zu prägen, um dieselben hernach in die roten Hefte einzutragen. Friedrich machte von seinen Gesinnungen kein Hehl, obwohl er wußte, welche undankbare Rolle es ist, gegen das allgemein Geltende sich aufzulehnen und Ideen zu vertreten, so lange dieselben noch in jenem Stadium sind, wo sie – wenn nicht als umstürzlerisch verdammt – so doch als phantastisch verlacht werden.

»Ich kann Ihnen heute eine interessante Nachricht mitteilen, lieber Tilling,« sagte der Minister eines Nachmittags mit wichtiger Miene. »Man geht in Regierungskreisen, das heißt im Kriegsministerium, mit der Idee um, auch bei uns die allgemeine Wehrpflicht einzuführen.«

»Wie? Dasselbe System, welches vor dem Krieg bei uns so allgemein geschmäht und verspottet wurde? »Bewaffnete Schneidergesellen« und so weiter?«

»Allerdings hatten wir vor kurzer Zeit ein Vorurteil dagegen – aber es hat sich bei den Preußen doch bewährt, das müssen Sie zugestehen. Und eigentlich – vom moralischen Standpunkt – selbst vom demokratischen und liberalen Standpunkt, für welchen Sie mitunter zu schwärmen scheinen – ist es doch eine gerechte und erhebende Sache, wenn jeder Sohn des Vaterlandes, ohne Rücksicht auf Stand und Bildungsstufe, die gleichen Pflichten zu erfüllen hat. Und vom strategischen Standpunkt: hätte das kleine Preußen jemals siegen können, wenn es die Landwehr nicht gehabt hätte – und wäre diese bei uns schon eingeführt gewesen, wären wir jemals besiegt worden?«

»Das heißt also, wenn wir ein größeres Material gehabt hätten so hätte dem Feinde das seine nichts genützt. Ergo– wenn überall die Landwehr eingeführt wird, ist sie für niemand mehr zum Vorteil. Das Kriegsschauspiel wird mit mehr Figuren gespielt, die Partie hängt aber doch wieder von dem Glück und der Geschicklichkeit der Spieler ab. Ich setze den Fall, alle europäischen Mächte führen die allgemeine Wehrpflicht ein, so bliebe das Machtverhältnis genau dasselbe – der Unterschied wäre nur der, daß um zur Entscheidung zu gelangen, statt Hunderttausende, Millionen hingeschlachtet werden müßten.«

»Finden Sie es aber gerecht und billig, daß nur ein Teil der Bevölkerung sich opfere, um die höchsten Güter der anderen zu verteidigen, und diese anderen, zumal wenn sie reich sind, ruhig zu Hause bleiben dürfen? Nein, nein – mit dem neuen Gesetz wird das aufhören. Da gibt es kein Loskaufen mehr – da muß jeder mittun. Und gerade die Gebildeten, die Studenten, solche, die etwas gelernt haben, die geben intelligente und daher auch sieghafte Elemente ab.«

»Bei dem Gegner sind dieselben Elemente vorhanden – also heben sich die durch gebildete Unteroffiziere zu gewinnenden Vorteil. Dagegen bleibt – gleichfalls auf beiden Seiten – der Verlust an unschätzbarem geistigen Material, welches dem Lande dadurch entzogen wird, daß die Gebildetsten – diejenigen, welche durch Erfindungen, Kunstwerke oder wissenschaftliche Forschungen die Kultur gefördert hätten – in Reih' und Glied als Zielscheiben feindlicher Geschütze aufgestellt werden.«

»Ach was – zu dem Erfindungmachen und Kunstwerkproduzieren und Schädelknochen-Untersuchungen – alles Dinge, welche die Machtstellung des Staates um kein Quentchen vergrößern –«

»Hm!«

»Wie?«

»Nichts, bitte fahren Sie fort.«

»– dazu bleibt den Leuten noch immer Zeit. Sie brauchen ja nicht ihr ganzes Leben lang dienen – aber ein paar Jahre strammer Zucht, die tun sicherlich allen gut und machen sie zur Ausübung ihrer übrigen Bürgerpflichten nur desto befähigter. Blutsteuer müssen wir nun einmal zahlen – also soll sie unter allen gleich verteilt werden.«

»Wenn durch diese Verteilung auf den einzelnen weniger käme, so hätte das etwas für sich. Das wäre aber nicht der Fall – die Blutsteuer würde da nicht verteilt, sondern vermehrt. Ich hoffe, das Projekt dringt nicht durch. Es ist unabsehbar, wohin das führte. Eine Macht wollte dann die andere an Heeresstärke überbieten und endlich gäbe es keine Armeen mehr, sondern nur bewaffnete Völker. Immer mehr Leute würden zum Dienst herangezogen, immer länger würde die Dauer der Dienstzeit, immer größer die Kriegsteuerkosten, die Bewaffnungskosten ... Ohne miteinander zu fechten, würden sich die Nationen durch Kriegsbereitschaft alle selber zu Grunde richten.«

»Aber lieber Tilling, Sie denken zu weit!«

»Man kann niemals zu weit denken. Alles, was man unternimmt, muß man bis zu seinen letzten Konsequenzen – wenigstens soweit, als der Geist reicht, auszudenken wagen. Wir verglichen vorhin den Krieg mit dem Schachspiel – auch die Politik ist ein solches, Exzellenz, und das sind gar schwache Spieler, welche nicht weiter denken als einen Zug, und sich schon freuen, wenn sie sich so gestellt haben, daß sie einen Bauer bedrohen. Ich will den Gedanken der sich unablässig steigernden Wehrmacht und der Verallgemeinerung der Dienstpflicht sogar noch weiter ausspinnen, bis zu der äußersten Grenze –, bis zu jener nämlich, wo das Maß übergeht. Wie dann, wenn, nachdem die größten Massen und die äußersten Altersgrenzen erreicht sind, es einer Nation einfiele, auch Regimenter von Frauen aufzustellen? Die anderen müßten es nachahmen. Und in der Bewaffnung – in den Zerstörungsmitteln – wo wäre da die Grenze? O dieses wilde, blinde In-den-Abgrundrennen!«

»Beruhigen Sie sich, lieber Tilling ... Sie sind ein rechter Phantast. Sagen Sie mir ein Mittel, den Krieg abzuschaffen, so wäre es allerdings ganz gut. Nachdem aber das nicht möglich ist, so muß doch jede Nation trachten, sich darauf so gut als möglich vorzubereiten, um sich in dem unausweichlichen Kampf ums Dasein (so heißt das Schlagwort des jetzt so modernen Darwin, nicht wahr?) die größte Gewinnchance zu sichern.«

»Wenn ich die Mittel, Kriege aufzuheben, vorschlagen wollte, so würden Sie mich noch einen ärgeren Phantasten schelten, einen sentimentalen, von 'Humanitätsschwindel' (so heißt doch das beliebte Schlagwort der Kriegspartei?) angekränkelten Träumer!« ...

»Allerdings könnte ich Ihnen nicht verhehlen, daß zur Erreichung eines solchen Ideals aller praktischer Untergrund fehlt. Man muß mit den vorhandenen Faktoren rechnen. Dazu gehören die menschlichen Leidenschaften, Rivalitäten, die Verschiedenheit der Interessen, die Unmöglichkeit, sich über alle Fragen zu einigen –«

»Ist auch nicht nötig: wo die Zwistigkeiten beginnen, hat ein Schiedsgericht – nicht aber die Gewalt – zu entscheiden!«

»Einem Tribunal werden sich die souveränen Staaten, werden sich die Völker niemals fügen wollen.«

»Die Völker? Die Potentaten und Diplomaten wollen es nicht. Aber das Volk, man frage es nur, bei ihm ist der Friedenswunsch glühend und wahr, während die Friedensbeteuerungen, die von den Regierungen ausgehen, häufig Lüge, gleißnerische Lüge sind – oder wenigstens von den anderen Regierungen grundsätzlich als solche aufgefaßt werden. Das heißt ja eben 'Diplomatie'. Und immer mehr und mehr werden die Völker nach Frieden rufen. Sollte die allgemeine Wehrpflicht sich verbreiten, so würde in demselben Maße die Kriegsabneigung zunehmen. Eine Klasse von für ihren Beruf begeisterter Soldaten ist noch denkbar: durch ihre Ausnahmestellung, die als eine Ehrenstellung gilt, die ihr für die damit verbundenen Opfer Ersatz geboten; aber wenn die Ausnahme aufhört, hört auch die Auszeichnung auf. Es schwindet die bewundernde Dankbarkeit, welche die Heimgebliebenen den zu ihrem Schutze Hinausgezogenen weihen – weil es ja Heimgebliebene überhaupt keine mehr gibt. Die kriegsliebenden Gefühle, die dem Soldaten immer untergeschoben – und damit auch häufig erweckt werden, die werden dann seltener angefacht; denn wer sind diejenigen, die am heldenmütigsten tun, die am heftigsten von kriegerischen Großtaten und Gefahren schwärmen? Diejenigen, die davor schön sicher sind – die Professoren, die Politiker, die Bierhauskannegießer – der Chor der Greise, wie im ›Faust‹. Nach dem Verlust der Sicherheit wird dieser Chor verstummen. Ferner: wenn nicht nur jene dem Militärdienst sich widmen, die ihn lieben und loben, sondern auch alle jene zwangsweise dazu herangezogen werden, die ihn verabscheuen, so muß dieser Abscheu zur Geltung kommen. Dichter, Denker, Menschenfreunde, sanfte Leute, furchtsame Leute: alle diese werden von ihrem Standpunkte aus das aufgezwungene Handwerk verdammen!«

»Sie werden diese Gesinnung aber wohlweislich verschweigen, um nicht für feige zu gelten – um sich höheren Orts nicht der Ungnade auszusetzen.«

»Schweigen? Nicht immer. So wie ich rede – obwohl ich lange geschwiegen habe – so werden die anderen auch mit der Sprache herausrücken. Wenn die Gesinnung reift, wird sie zum Wort. Ich einzelner bin vierzig Jahre alt geworden, bis meine Überzeugung die Kraft gewann, sich im Ausdruck Luft zu machen. Und so wie ich zwei oder drei Jahrzehnte gebraucht – so werden die Massen vielleicht zwei oder drei Generationen gebrauchen, aber reden werden sie endlich doch.«

* * *

Neujahr 67!

Wir feierten Sylvester ganz allein, mein Friedrich und ich. Als es zwölf Uhr schlug:

»Erinnerst du dich des Trinkspruches,« fragte ich seufzend, »den mein armer Vater voriges Jahr um diese Stunde ausgebracht? Ich wage es gar nicht, dir jetzt Glück zu wünschen – die Zukunft birgt mitunter so unerwartet Fürchterliches in ihrem Schoß und noch kein Mensch hat solches abzuwenden vermocht...«

»So benutzen wir die Jahreswende, Martha, um, statt vorauszudenken, zurückzuschauen in das eben verflossene Jahr. Was hast du, meine arme, tapfere Frau da alles leiden müssen! So viele deiner Lieben begraben ... und jene Schreckenstage auf den böhmischen Schlachtfeldern –«

»Ich bedaure nicht, die dortigen Greuel gesehen zu haben – wenigstens kann ich nunmehr mit der ganzen Kraft meiner Seele an deinen Bestrebungen teilnehmen.«

»Wir müssen deinen – unseren Rudolf dazu erziehen, diese Bestrebungen weiter durchzuführen; in seiner Zeit wird vielleicht ein sichtbares Ziel am Horizont aufsteigen – in unserer schwerlich. – Wie die Leute auf den Straßen lärmen – die bejubeln doch wieder das neue Jahr, trotz der Leiden, welche ihnen das – ebenso eingejubelte – alte gebracht. O diese vergeßlichen Menschen!«

»Schilt sie nicht zu sehr ob ihrer Vergeßlichkeit, Friedrich. Mir fängt auch schon an, das vergangene Leid wie traumhaft aus dem Gedächtnis zu entflattern und was ich gegenwärtig empfinde, ist das Glück der Gegenwart, das Glück, dich zu haben, Einziger! Ich glaube auch – wir wollen zwar nicht von der Zukunft sprechen – aber ich glaube, wir haben eine schöne Zukunft vor uns ... Einig, liebend, selbständig, reich – wie viele herrliche Genüsse kann uns das Leben noch bieten: wir werden reisen, die Welt kennen lernen, die so schöne Welt ... Schön, solange Frieden herrscht, und der kann jetzt viele, viele Jahre andauern ... Sollte doch wieder Krieg ausbrechen, so bist du nicht mehr daran beteiligt ... auch Rudolf ist nicht bedroht, da er nicht Soldat werden soll«...

»Wenn aber, wie Minister Allerdings berichtet, jeder Mensch militärpflichtig sein wird –«

»Ach, Unsinn. – Was ich also sagen wollte: wir reisen, wir ziehen uns in Rudolf einen Mustermenschen auf, wir verfolgen unser edles Ziel der Friedenspropaganda, und wir – wir lieben uns!«

»O du mein holdes Weib!« ... Er zog mich an sich und küßte mich auf den Mund. Es war das erste Mal, nach all der Trennungs-, Schreckens- und Trauerzeit, daß sich der milden Zärtlichkeit seiner Liebkosungen wieder eine Flamme beimischte – eine Flamme, die mich mit süßer Glut umloderte. Vergessen war Krieg, Cholera, Allerseelen in dieser seligen Sylvesternacht und – – unser am 1. Oktober 1867 geborenes Töchterchen haben wir Sylvia getauft.

Der Fasching desselben Jahres brachte wieder Bälle und Vergnügungen aller Art. Natürlich nicht für uns – meine Trauer hielt mich von solchen Dingen fern. Was mich aber wunderte, war, daß nicht die ganze Gesellschaft solchem rauschenden Treiben entsagte. Es mußte doch beinah in jeder Familie ein Verlustfall vorgekommen sein; aber, wie es scheint, man setzte sich darüber hinaus. Zwar blieben einige Häuser geschlossen, namentlich in der Aristokratie, aber an Tanzgelegenheiten fehlte es der Jugend nicht und natürlich waren die beliebtesten Tänzer diejenigen, welche von den italienischen oder böhmischen Schlachtfeldern heimgekehrt; und am meisten gefeiert wurden die Marineoffiziere – namentlich die Mitkämpfer bei Lissa. In Tegethoff, den jugendlichen Admiral (wie nach dem Feldzug von Schleswig-Holstein in den schönen General Gablenz), war die halbe Damenwelt verliebt. »Custozza« und »Lissa«, das waren überhaupt die beiden Trümpfe, welche in jedem Gespräch über den abgelaufenen Krieg ausgespielt wurden. Daneben Zündnadelgewehr und Landwehr – zwei Institutionen, welche schleunigst eingeführt werden sollten, und künftige Siege waren uns verbürgt. Siege – wann und gegen wen? Darüber sprach man sich nicht aus; aber der Revanchegedanke, der jede verlorene Partie – wenn es auch nur eine Kartenpartie ist – zu begleiten pflegt, der schwebte über allen Kundgebungen der Politiker. Wenn wir auch selber nicht gegen Preußen losziehen würden, vielleicht würden es andere auf sich nehmen, uns zu rächen. Allem Anschein nach wollte Frankreich mit unseren Überwindern anbinden und da könnte ihnen so manches heimgezahlt werden – das Ding hatte in diplomatischen Kreisen sogar schon einen Namen: »La revanche de Sadowa.« So teilte uns Minister Allerdings befriedigt mit.

Es war zu Anfang des Frühjahrs, daß wieder so ein gewisser »schwarzer Punkt« am Horizont aufstieg – eine sogenannte »Frage«. Auch die Nachrichten von französischen Rüstungen verschafften den Konjektural-Politikern das so beliebte »Krieg in Sicht«. Die Frage hieß diesmal die Luxemburger.

Luxemburg? Was war denn das wieder so Weltwichtiges? Da mußte ich erst wieder Studien anstellen, wie einst über Schleswig-Holstein. Mir war der Name eigentlich nur aus Suppés »Flotte Bursche« geläufig, worin bekanntlich ein »Graf von Luxemburg« sein ganzes Geld verputzt, putzt, putzt ...« Das Ergebnis meiner Forschungen war folgendes:

Luxemburg gehörte nach den Verträgen von 1814 und 1816 (ah, da haben wir's: Verträge – da läßt sich schon ein Völkerprozeß daraus ableiten – eine hübsche Einrichtung, diese Verträge) laut Vertrag dem König der Niederlande und zugleich dem deutschen Bunde. Preußen hatte in der Hauptstadt das Besatzungsrecht. Nun hatte aber Preußen im Juni 1866 seine Teilnahme am alten Bund gekündigt, wie sollte es jetzt mit dem Besatzungsrecht gehalten werden? Das war sie, die Frage. Der Prager Frieden hatte ja ein neues System in Deutschland eingesetzt und mit diesem war die Zusammengehörigkeit mit Luxemburg aufgehoben – warum behielten dann die Preußen ihr Besatzungsrecht? »Allerdings«– das war verwickelt und konnte am vorteilhaftesten und gerechtesten durch Abschlachtung neuer Hunderttausende geschlichtet werden – das muß doch jeder »einsichtige?« Politiker zugeben. Dem holländischen Volke hat niemals etwas an dem Besitz des Großherzogtums gelegen; auch dem König Wilhelm III. lag nichts daran, und er hätte es gern für eine Summe in seine Privatkasse an Frankreich abgegeben. Da begannen nun geheime Verhandlungen zwischen dem König und dem französischen Kabinett. Recht so: Geheimnis ist ja der Kern aller Diplomatie. Die Völker dürfen von den Streitigkeiten nichts wissen – kommen diese erst zum Austrage, so haben sie das Recht, dafür zu bluten. Warum und wofür sie sich schlagen – das ist Nebensache.

Ende März erst macht der König die Nachricht offiziell und am selben Tage, als er sein Einverständnis nach Frankreich telegraphiert, wird der preußische Gesandte im Haag davon unterrichtet. Darauf beginnen Unterhandlungen mit Preußen. Dieses beruft sich auf die Garantie der Verträge von 1859, auf Grundlage deren das Königreich Holland bestand. Die öffentliche Meinung (wer ist das, die öffentliche Meinung? Wohl die Leitartikelschreiber?) in Preußen ist entrüstet, daß das alte deutsche Reichsland losgerissen werden soll; im norddeutschen Reichstag – am 1. April – werden über diesen Gegenstand feurige Interpellationen gestellt. Bismarck bleibt zwar über Luxemburg kalt, veranstaltet jedoch bei dieser Gelegenheit Rüstungen gegen Frankreich, was natürlich wieder französische Gegenrüstungen zur Folge hat. Ach, wie ich diese Melodie schon kenne! Damals zitterte ich sehr, daß ein neuer Brand in Europa ausbreche. An Schürern fehlte es nicht: in Paris Cassagnac und Emile de Girardin, in Berlin Menzel und Heinrich Leo. Ob denn solche Kriegshetzer nur eine entfernte Ahnung haben von der Riesenhaftigkeit ihres Verbrechertums? Ich glaube kaum. Um jene Zeit war es – ich habe das erst viele Jahre später erzählen gehört – das Professor Simon dem Kronprinzen Friedrich von Preußen gegenüber die schwebende Frage äußerte:

»Wenn Frankreich und Holland bereits abgeschlossen haben, so bedeutet das den Krieg.«

Worauf der Kronprinz mit heftiger Erregung und Bestürzung erwiderte: »Sie haben den Krieg nicht gesehen ... hätten Sie ihn gesehen, so würden Sie das Wort nicht so ruhig aussprechen ... Ich habe ihn gesehen und ich sage Ihnen, es ist die größte Pflicht, wenn es irgend möglich ist, den Krieg zu vermeiden.«

Und diesmal wurde er vermieden. In London trat eine Konferenz zusammen, welche am 11. Mai zu dem erwünschten friedlichen Resultate führte. Luxemburg ward als neutral erklärt und Preußen zog seine Truppen fort. Die Friedensfreunde atmeten auf, aber es gab Leute genug, welche sich über diese Wendung ärgerten. Nicht der Kaiser der Franzosen – dieser wünschte den Frieden – aber die französische »Kriegspartei«. Auch in Deutschland erhoben sich Stimmen, welche das Verhalten Preußens verurteilten: »Aufopferung eines Bollwerks», »Wie Furcht aussehende Nachgiebigkeit« und dergleichen mehr. – Auch jede Privatperson, welche auf den Rechtsspruch des Gerichtes hin auf irgendeinen Besitz verzichtet, zeigt solche Nachgiebigkeit – wäre es besser, sie beugte sich keinem Tribunal und schlüge mit den Fäusten drein? Was die Londoner Konferenz erreicht, das könnte in solchen strittigen Fragen immer erreicht werden, und den Staatenlenkern wäre jene Vermeidung immer möglich, die der nachmalige Friedrich III., Friedrich der Edle, die größte Pflicht genannt.

* * *

Im Mai begaben wir uns nach Paris, um die Ausstellung zu besuchen.

Ich hatte die Weltstadt noch nicht gesehen und war von der Pracht und dem Leben derselben ganz geblendet. Namentlich damals – das Kaiserreich stand auf seinem höchsten Glanzpunkte und sämtliche Kronenträger Europas hatten sich da zusammengefunden – namentlich damals bot Paris ein Bild fröhlichster und friedenssicherster Herrlichkeit. Nicht wie die Hauptstadt eines Landes, sondern wie die Hauptstadt der Internationalität erschien mir damals die – drei Jahre später von ihrem östlichen Nachbar bombardierte – Stadt. Alle Völker der Erde hatten sich in dem großen Champ de Mars-Palaste zu dem friedlichen – einzig nützlichen, weil schaffenden und nicht zerstörenden – Kampf des Wettbewerbs versammelt; so viel Kunstwerke und Gewerbewunder waren hier zusammengetragen, daß sich in jedem Beschauer der Stolz regen mußte, in so vorgeschrittener, immer noch weiteren Fortschritt versprechender Zeit zu leben: und neben diesem Stolz mußte natürlich auch der Vorsatz entstehen, den Gang solcher genußspendenden Kulturentwicklung nicht mehr durch brutales Vernichtungwüten zu hemmen. Diese hier als Gäste des Kaisers und der Kaiserin versammelten Könige, Fürsten und Diplomaten konnten doch bei all den ausgetauschten Höflichkeiten, Freundlichkeiten, Glückwünschen nicht daran denken, nächstens mit ihren Gastgebern oder untereinander Todesgeschosse zu tauschen? ... Nein: ich atmete auf. Dieses ganze blendende Ausstellungsfest schien mir die Bürgschaft, daß jetzt eine Aera von langen, langen Friedensjahren begonnen. Höchstens gegen einen Mongolenüberfall oder so etwas dergleichen konnten diese zivilisierten Leute noch das Schwert ziehen, aber gegeneinander? – das erlebten wir wohl nimmermehr. Was mich in dieser Auffassung bestärkte, war die Mitteilung, die mir über einen Lieblingsplan des Kaisers gemacht wurde: allgemeine Abrüstung. Ja, das stand bei Napoleon III. fest – ich habe es aus dem Munde seiner nächsten Verwandten und Vertrauten – : bei nächster passender Gelegenheit würde er sämtlichen europäischen Regierungen den Vorschlag unterbreiten, ihren Heeresstand auf ein Minimum herabzusetzen. Das ließ sich hören – das war wohl eine vernünftigere Idee als diejenige einer allgemeinen Heeresverstärkung. Damit wäre die bekannte Forderung Kants erfüllt, welche in Paragraph 3 der »Präliminar-Artikel zum ewigen Frieden« also formuliert ist:

»Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. Dieselben bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu scheinen, reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt (o prophetischer Weisenblick!) zu übertreffen, und indem durch die darauf gewendeten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursachen von Angriffskriegen, um diese Last los zu werden.«

Welche Regierung konnte einen Vorschlag, wie der Franzose ihn plante, ablehnen, ohne sich als eroberungssüchtig zu entlarven? Welches Volk würde gegen solche Ablehnung nicht revoltieren? Der Plan mußte gelingen.

Friedrich teilte meine Zuversicht nicht.

»Vor allem bezweifle ich,« sagte er, »daß Napoleon diesen Vorsatz auch aufrichtig hegt. Und wenn auch: der Druck der Kriegspartei würde ihn an der Ausführung hindern. Überhaupt werden die Throninhaber an der Betätigung solcher, aus der Schablone fallender großer Willensmeinungen von ihrer Umgebung immer gehindert. Zweitens läßt sich einem lebenden Wesen nicht so »mir nichts, dir nichts« befehlen, daß es aufhöre zu sein. Da setzt es sich zur Wehr.«

»Von welchem lebenden Wesen sprichst du.?«

»Von der Armee. Dieselbe ist ein Organismus und als solcher lebensentfaltungs- und selbsterhaltungskräftig. Gegenwärtig steht dieser Organismus gerade in seiner Blüte, und wie du siehst – das allgemeine Wehrsystem soll ja auch in anderen Ländern eingeführt werden – ist er eben im Begriffe, sich mächtig auszubreiten.« –

»Und dennoch willst du dagegen ankämpfen?«

»Ja, aber nicht, indem ich hintrete und ihm sage: Stirb, Ungeheuer! . denn auf das hin würde mir besagter Organismus kaum den Gefallen erweisen, sich tot hinzustrecken. Sondern ich kämpfe dagegen, indem ich für ein anderes, noch ganz schwach aufkeimendes Lebensgebilde eintrete, welches, indem es an Kraft und Ausdehnung zunimmt, das andere verdrängen soll. Daß ich in solchen naturwissenschaftlichen Metaphern spreche – daran bist du ursprünglich schuld, Martha. Du warst es, welche mich zuerst verleitete, die Werke der modernen Naturforscher zu studieren. Dadurch ist mir die Einsicht aufgegangen, daß auch die Erscheinungen des sozialen Lebens nur dann in ihrer Entstehung verstanden und in ihrem künftigen Verlauf vorausgesehen werden können, wenn man sie als unter dem Einfluß ewiger Gesetze stehend auffaßt. Davon haben die meisten Politiker und hohen Würdenträger keinen blauen Dunst – das löbliche Militär schon gar nicht. Vor einigen Jahren wäre es mir auch nicht in den Sinn gekommen.«

Wir wohnten im Grand-Hotel auf dem Boulevard des Capucines. Dasselbe war zumeist mit Engländern und Amerikanern gefüllt. Landsleute trafen wir nur wenige: der Österreicher ist nicht reiselustig. Wir suchten übrigens auch keinen Anschluß: meine Trauer war noch nicht abgelegt und wir hegten keinen Wunsch nach geselliger Unterhaltung. Meinen Sohn Rudolf hatte ich natürlich bei mir. Er war jetzt acht Jahre alt und ein wunderbar gescheites Männchen. Wir hatten einen jungen Engländer aufgenommen, der bei dem Kleinen halb Hofmeister-, halb Kindermädchenstelle vertrat.

Zu unseren langen Stationen im Ausstellungspalast, sowie auch unseren zahlreichen Ausflügen in die Umgebung, konnten wir den Rudi doch nicht immer mitnehmen und die Zeit des Lernens war ja auch schon für ihn gekommen.

Neu – neu – neu war mir diese ganze hier erschlossene Welt! All die von den vier Himmelsgegenden zusammengekommenen Menschen, von überall her die reichsten und vornehmsten; diese Feste, dieser Aufwand, dieses Gewimmel ...ich war förmlich betäubt davon. Aber so interessant und genußreich es mir auch war, diese überraschenden und überwältigenden Eindrücke in mich aufzunehmen, so sehnte ich mich im stillen doch wieder aus dem Getöse hinaus, nach irgendeinem abgelegenen, friedlichen Plätzchen, wo ich mit Friedrich und meinem Kinde – meinen Kindern, ich sah ja wieder Mutterfreuden entgegen – in ruhiger Zurückgezogenheit hätte leben können. Es ist doch sonderbar – ich finde es in den roten Heften öfters bestätigt –, wie in der Abgeschlossenheit die Sehnsucht nach Ereignissen und Taten, nach Erlebnissen und Vergnügungen entsteht und mitten in diesen wieder die Sehnsucht nach Einsamkeit und Ruhe.

Von der großen Welt hielten wir uns fern. Nur bei unserem Gesandten Metternich hatten wir einen Besuch abgestattet und dabei erwähnt, daß wir unserer Familientrauer wegen keine Einführung bei Hofe und in die Gesellschaft wünschten. Dagegen suchten wir die Bekanntschaft einiger hervorragender politischer und literarischer Persönlichkeiten; teils aus persönlichem Interesse und zu geistiger Anregung, teils im Hinblick auf Friedrichs »Dienst«. Trotz der geringen Hoffnungen, die er auf einen greifbaren Erfolg seiner Bestrebungen hatte, verlor er diese niemals aus dem Auge, und er setzte sich mit verschiedenen einflußreichen Personen in Verkehr, von welchen er Förderung seiner Sache, oder mindestens Auskunft über deren Stand erhalten konnte. Wir haben uns damals ein eigenes Büchelchen angelegt – wir nannten es »Friedenspolitik« – in welches sämtliche, auf diesen Gegenstand bezügliche Urkunden, Notizen, Artikel usw. abschriftlich eingetragen wurden. Auch die Geschichte der Friedensidee, soweit wir von derselben Kenntnis erlangten, haben wir da zu Protokoll gebracht. Daneben die Aussprüche verschiedener Philosophen, Dichter, Juristen und Schriftsteller über »Krieg und Frieden«. Es war bald zu einem stattlichen Bändchen herangewachsen und im Laufe der Zeit – ich habe diese Buchführung bis auf den heutigen Tag fortgesetzt – sind sogar mehrere Bändchen daraus geworden. Wenn man das mit den Bibliotheken vergleicht, die mit Werken strategischen Inhalts gefüllt sind, mit den ungezählten Tausenden von Bänden, welche Kriegsgeschichte, Kriegsstudium und Kriegsverherrlichung enthalten, mit den militärwissenschaftlichen und militärtechnischen Lehrbüchern und Leitfäden über Rekrutenabrichtung und Ballistik, mit den Schlachtenchroniken und Generalstabsberichten, Soldatenliedern und Kriegsgesängen: ja, dann freilich könnte einen der Vergleich mit den paar Heftchen Friedensliteratur kleinmütig machen – vorausgesetzt, daß man die Kraft und den Gehalt – namentlich den Zukunftsgehalt – eines Dinges nach dessen Ausdehnung bemessen wollte. Wenn man aber bedenkt, daß eine Samenkapsel in sich die virtuelle Möglichkeit birgt, einen Wald entstehen zu machen, der ganze, über weite Felder ausgedehnte Unkrautmassen verdrängen wird; – und ferner bedenkt, daß die Idee im Reiche des Geistes dasselbe ist, was das Samenkorn im Reiche der Pflanzen – dann braucht man um die Zukunft einer Idee nicht besorgt zu sein, weil sich bisher die Geschichte ihrer Entfaltung in einem kleinen Heftchen aufzeichnen läßt.

Ich will hier einige Stellen anführen, wie sie unser Friedensprotokoll im Jahre 1867 aufwies. Auf der ersten Seite stand ein gedrängter historischer Überblick:

Vierhundert Jahre vor Christus schrieb Aristophanes eine Komödie: »Der Frieden«, in welcher eine humanitäre Tendenz vertreten ist.

Die griechische – später nach Rom verpflanzte – Philosophie vertritt das Streben nach »menschlicher Einheit« – von Sokrates an, welcher sich »Weltbürger« nennt, bis zu Terenz, dem »nichts Menschliches fremd«, und zu Cicero, der die » caritas generis humani« als den höchsten Grad der Vollkommenheit hinstellt.

Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung erscheint Virgil und sein berühmtes 4. Hirtengedicht, welches der Welt den ewigen Frieden voraussagt, unter dem mythologischen Gewande des wiedererstandenen goldenen Zeitalters.

Im Mittelalter versuchten die Päpste öfters, sich als Schiedsrichter zwischen den Staaten einzusetzen, aber vergebens.

Im 15. Jahrhundert kam ein König auf die Idee, eine Friedensliga zu bilden. Es war dies Georg Podiebrad von Böhmen, der den Kämpfen von Kaiser und Papst ein Ende machen wollte: er wandte sich dieserhalb an Ludwig XI. von Frankreich, welcher auf diesen Vorschlag jedoch nicht einging.

Zum Schluß des 16. Jahrhunderts faßte König Heinrich IV. von Frankreich den Plan einer europäischen Staatenföderation. Nachdem er sein Land von den Schrecken der Religionskriege befreit, wollte er für alle Zukunft die Duldung und den Frieden gesichert sehen. Er wollte die sechzehn Staaten, welche Europa bildeten (Rußland und die Türkei zählten noch zu Asien), in einen Bund vereint wissen. Jeder dieser sechzehn Staaten hätte zwei Abgeordnete zu einem »europäischen Reichstag« zu schicken gehabt; diesem aus 32 Mitgliedern bestehenden Reichstag wäre die Aufgabe zugefallen, den religiösen Frieden zu gewährleisten und alle internationalen Konflikte zu schlichten. Wenn nur jeder Staat sich verpflichtete, den Entschlüssen des Reichstages sich unterzuordnen, so war damit jedes Element eines zukünftigen europäischen Krieges verschwunden. Der König teilte diesen Plan seinem Minister Sully mit, der denselben begeistert aufnahm und sofort mit den anderen Staaten zu verhandeln begann. Schon war Elisabeth von England, schon der Papst und Holland und mehrere andere gewonnen; nur das Haus Österreich würde Widerstand geleistet haben, weil ihm territoriale Konzessionen abgefordert worden wären, in die es nicht gebilligt hätte. Ein Feldzug wäre nötig gewesen, um diesen Widerstand zu brechen. Die Hauptarmee hätte Frankreich gestellt, welches von vornherein auf jede Gebietserweiterung verzichtete: einziger Zweck des Feldzugs und einzige dem Hause Österreich aufzulegende Friedensbedingung wäre der Beitritt zum Staatenbund gewesen. Schon waren die Vorbereitungen getroffen und Heinrich IV. wollte sich selber an die Spitze des Heeres stellen, als er am 13. Mai 1610 – unter der Mordwaffe eines wahnsinnigen Mönches fiel.

Keiner von seinen Nachfolgern und kein sonstiger Souverän hat diesen glorreichen Plan zur Erlangung des Völkerglückes wieder aufgenommen. Die Regenten und Politiker blieben dem alten Kriegsgeist treu; aber die Denker aller Länder ließen die Friedensidee nicht mehr fallen.

Im Jahre 1647 wird die Sekte der Quäker gebildet, deren Grundlage die Verdammung des Krieges bildet. Im selben Jahre veröffentlicht William Penn sein Werk über den zukünftigen Frieden Europas, in dem er sich auf den Plan Heinrichs IV. stützt. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts erscheint das berühmte Buch » La paix perpetuelle« von dem Abbé de St. Pierre. Gleichzeitig entwickelt denselben Plan ein Landgraf von Hessen und Leibniz schreibt einen günstigen Kommentar dazu.

Voltaire macht den Ausspruch: »Jeder europäische Krieg ist ein Bürgerkrieg.« Mirabeau, in der denkwürdigen Sitzung vom 25. August 1790, sagt folgende Worte:

Vielleicht ist der Augenblick nicht mehr entfernt, da die Freiheit, als unumschränkte Herrscherin der beiden Welten, den Wunsch der Philosophen erfüllen wird: die Menschheit von dem Verbrechen des Krieges zu befreien und den ewigen Frieden zu verkünden. Dann wird das Glück der Völker das einzige Ziel des Gesetzgebers sein, der einzige Ruhm der Nationen.

Im Jahre 1795 schreibt einer der größten Denker aller Zeit, Immanuel Kant, seine Abhandlung »Zum ewigen Frieden«. Der englische Publizist Bentham schließt sich den immer zunehmenden Reihen der Friedensvertreter – Fourrier, Saint-Simon u. a. – mit Begeisterung an; Beranger dichtet »Die heilige Allianz der Völker«; Lamartine » La Marseillaise de la Paix«. In Genf stiftete der Graf Cellon einen Friedensverein, in dessen Namen er mit allen europäischen Herrschern in propagandistische Korrespondenz tritt. Aus Amerika, Massachusetts, kommt der »gelehrte Grobschmied«, Elihu Burrilt, daher und streut seine »Oliven-Blätter« und seinen »Funken vom Amboß« in Millionen Exemplaren in die Welt und führt 1849 den Vorsitz in einer Versammlung der englischen Friedensfreunde. In dem Pariser Kongreß, welcher dem Krimkrieg ein Ende machte, hielt die Friedensidee ihren Einzug in der Diplomatie, indem dem Vertrage eine Klausel beigesetzt ward, welche bestimmt, daß die Mächte sich verpflichten, bei künftigen Konflikten sich vorangehenden Vermittelungen zu unterstellen. Diese Klausel enthält eine dem Prinzip des Schiedsgerichts dargebrachte Anerkennung, – befolgt wurde sie aber nicht.

Im Jahre 1863 schlug die französische Regierung den Mächten vor, einen Kongreß zu veranstalten, bei welchem die Grundlage zu allgemeiner Abrüstung und zu einverständlicher Verhütung künftiger Kriege gelegt werden sollte.

Recht spärlich sind die Eintragungen, die zu jener Zeit mein Protokoll füllten! Das ist später anders geworden. Sie beweisen aber, daß die Möglichkeit des Weltfriedens schon von altersher ins Auge gefaßt worden war. Nur vereinzelt, von großen Zwischenräumen getrennt, erhoben sich die Stimmen und verhallten – nicht nur unbeachtet, sondern zumeist auch ungehört. Mit allen Entdeckungen, allem Fortschritt, allem Wachstum geht's nicht anders:

Naht von ferne sich der Frühling,
Zwitschert's da und dort hervor,
Rückt er weiter in das Land ein,
Schmettert's laut im großen Chor.
So im weiten Kreis der Zeit
Flüstert's lang schon da und dort,
Kommt der richtige Moment,
Stimmen alle ein sofort.

(Märzrot.)

* * *

Und wieder nahte meine schwere Stunde.

Aber diesmal wie so anders, als zu jener Zeit, da Friedrich mich verlassen mußte – um des Augustenburgers willen. Diesmal war er an meiner Seite, auf des Gatten richtigem Posten: durch seine Gegenwart, durch seinen Mitschmerz der Gattin Leiden mildernd. Das Gefühl, ihn da zu haben, war mir ein so beruhigendes und glückliches, daß ich darüber das physische Ungemach beinah vergaß.

Ein Mädchen! Das war unseres stillen Wunsches Erfüllung. Die Freuden, die man an einem Sohne hat, die würde uns ja der kleine Rudolf bieten; jetzt konnten wir dazu auch noch diejenigen Freuden erleben, welche so ein aufblühendes Töchterchen seinen Eltern verschafft. Daß sie ein Ausbund von Schönheit, von Anmut, von Holdseligkeit sein würde, unsere kleine Sylvia, daran zweifelten wir keinen Augenblick.

Wie wir beide nun über der Wiege dieses Kindes selber kindisch wurden, was für süße Albernheiten wir da sprachen und trieben, das will ich gar nicht versuchen zu erzählen. Andere als verliebte Eltern verständen es doch nicht, und alle solche sind wohl selber grad' so toll gewesen.

Wie das Glück doch selbstisch macht! Es folgte jetzt eine Zeit für uns, in der wir glücklich alles andere – was nicht unser häuslicher Himmel war – gar zu sehr vergaßen. Die Schrecken der Cholerawoche nahmen in meinem Gedächtnis immer mehr die Gestalt eines entschwundenen bösen Traumes an, und auch Friedrichs Energie in Verfolgung seines Zieles ließ einigermaßen nach. Es war aber auch entmutigend: überall, wo man mit jenen Ideen anklopfte – Achselzucken, mitleidiges Lächeln, wo nicht gar Zurechtweisung. Die Welt will, wie es scheint – nicht nur betrogen, sondern auch unglücklich gemacht werden. Sowie man ihr Vorschläge unterbreiten will, das Elend und den Jammer fortzuschaffen, so heißt das »Utopie, kindischer Traum«, und sie will nichts hören.

Dennoch ließ Friedrich sein Ziel nicht gänzlich aus den Augen. Er vertiefte sich immer mehr in das Studium des Völkerrechts, setzte sich in brieflichen Verkehr mit Bluntschli und anderen Gelehrten dieses Zweiges. Gleichzeitig – und zwar mit mir in Gemeinschaft – betrieb er auch fleißig andere, namentlich naturwissenschaftliche Studien. Er plante, über den Gegenstand »Krieg und Frieden« ein größeres Werk zu schreiben. Doch ehe er sich an die Ausführung machte, wollte er durch lange und eingehende Forschungen sich dazu rüsten und schulen. »Ich bin zwar ein alter k. k. Oberst,« sagte er, »und die meisten meiner Alters- und Ranggenossen würden es verschmähen, sich mit Lernen abzugeben ... man hält sich gewöhnlich für unbändig gescheit, wenn man ein ältlicher Mann in Amt und Würden ist – ich selber vor einigen Jahren, hatte auch solchen Respekt vor meiner Person ... Nachdem sich mir aber plötzlich ein neuer Gesichtskreis aufgetan, nachdem ich einen Einblick in den modernen Geist gewann, da überkam mich das Bewußtsein meiner Unwissenheit ... Nun ja, von alledem, was jetzt auf allen Gebieten an neuer Erkenntnis gewonnen worden, davon hat man ja in meiner Jugend gar nichts – oder vielmehr das Gegenteil gelernt. Da muß ich jetzt – trotz der Silberfäden an den Schläfen – wieder von vorne anfangen.«

Den Winter nach Sylvias Geburt verbrachten wir in aller Stille in Wien. Im folgenden Frühjahr bereisten wir Italien. Weltkennenlernen gehörte ja auch zu unserem neuen Lebensprogramm. Frei und reich waren wir, nichts hinderte uns, es auszuführen. Kleine Kinder sind zwar auf Reisen ein wenig lästig, aber wenn man genügendes Personal von Bonnen und Wärterinnen mitführen kann, so läßt es sich schon machen. Ich hatte eine alte Dienerin zu mir genommen, welche einst meine und meiner Schwester Kindsfrau gewesen, dann einen Wirtschaftsbeamten geheiratet hatte und jetzt verwitwet war. Diese »Frau Anna« war meines vollstens Vertrauens würdig und in ihren Händen konnte ich meine kleine Sylvia mit voller Beruhigung zurücklassen, wenn wir – Friedrich und ich – auf mehrere Tage unser Hauptquartier verließen, um Ausflüge zu machen. Ebensogut war Rudolf bei Mr. Foster, seinem Hofmeister, aufgehoben. Doch geschah es häufig, daß wir den achtjährigen kleinen Mann mit uns nahmen. Schöne, schöne Zeiten! ... Schade, daß ich damals die roten Hefte so stark vernachlässigte. Gerade da hätte ich so viel des Schönen, Interessanten und Heiteren eintragen können; aber ich habe es unterlassen, und so sind mir die Einzelheiten jener Jahre meist aus dem Gedächtnis entschwunden: nur in großen Zügen kann ich mir noch ein Bild davon zurückrufen.

In das »Friedensprotokoll« fand ich Gelegenheit, eine erfreuliche Eintragung zu machen. Es war dies nämlich ein Zeitungsartikel, gezeichnet B. Desmoulins, worin der französischen Regierung der Vorschlag gemacht wird, sich an die Spitze der europäischen Staaten zu stellen, indem sie das Beispiel gäbe, abzurüsten.

»So wird sich Frankreich das Bündnis und die aufrichtige Freundschaft aller Staaten sichern, welche dann aufhören würden, sich vor Frankreich zu fürchten, dessen Mithilfe sie benötigten. So würde sich allgemeine Entwaffnung von selber einstellen, das Prinzip der Eroberung wäre auf immer aufgegeben und die Konföderation der Staaten würde ganz natürlich einen obersten Gerichtshof internationaler Gerechtigkeit bilden, welcher imstande sein wird, auf dem Weg des Schiedsrichteramtes alle Streitigkeiten zu schlichten, welche der Krieg niemals zu entscheiden vermocht. Indem es so handelte, würde Frankreich die einzige reelle und einzige dauerhafte Kraft – nämlich das Recht – auf seine Seite gebracht, und dem Menschengeschlecht auf ruhmreiche Weise eine neue Aera eröffnet haben.« (Opinion Nationale 25. Juli 1868.)

Beachtung hat dieser Artikel natürlich wieder nicht gefunden.

Im Winter 1868 bis 1869 kehrten wir nach Paris zurück und diesmal – auch von dieser Seite wollten wir das Leben kennen lernen – stürzten wir uns in die große Welt«.

Es war ein etwas ermüdendes, aber für einige Zeit doch recht genußreiches Treiben. Wir hatten – um ein Zuhause zu haben – uns ein kleines möbliertes Hotel im Viertel der Champs Elisées gemietet, wo wir unseren zahlreichen Bekannten, bei denen wir täglich zu irgendwelchen Festen geladen waren, auch manchmal »revanche« bieten konnten. Von unserem Gesandten beim Tuilerienhofe eingeführt, waren wir für den ganzen Winter zu den Montagen der Kaiserin vergeben; außerdem standen uns die Häuser sämtlicher Botschafter offen, sowie die Salons der Prinzessin Mathilde, der Herzogin von Mouchy, der Königin Isabella von Spanien und so weiter. Auch viele literarische Größen lernten wir kennen – den größten freilich nicht, denn dieser, ich meine Viktor Hugo, lebte in der Verbannung; doch sind wir Renan, Dumas, Vater und Sohn, Octave Feuillet, George Sand, Arsène Houssaye und einigen anderen begegnet. Bei dem Letztgenannten haben wir auch einen Maskenball mitgemacht. Wenn der Verfasser der » Grandes dames« in seinem prachtvollen kleinen Hotel der Avenue Friedland eines seiner venetianischen Feste gab, so war es Gewohnheit, daß daselbst die wirklich großen Damen unter dem Schutze der Maske sich in der Nähe die »kleinen Damen« – bekannte Schauspielerinnen u. dgl. – besahen, welche hier ihre Diamanten und ihren Witz funkeln ließen.

Wir waren auch sehr fleißige Theaterbesucher. Mindestens dreimal wöchentlich verbrachten wir die Abende entweder in der italienischen Oper, wo Adelina Patti – eben mit dem Marquis de Caux verlobt – die Zuhörerschaft entzückte, oder im Théâtre Français, oder auch in einem kleineren Boulevard-Theater, um Hortense Schneider als Großherzogin von Gerolstein oder andere Operetten- und Vaudeville-Berühmtheiten zu sehen.

Es ist doch sonderbar, wie, wenn man in diesen Wirbel des Glanzes und der Unterhaltungen gestürzt ist, wie einem diese kleine »große Welt« plötzlich so schrecklich wichtig vorkommt und die darin waltenden Gesetze von Eleganz und »chic« (damals hieß es noch »chic«) eine Art ganz ernsthaft genommener Pflichten auferlegen. Im Theater einen geringeren Platz einnehmen als eine Prozeniumsloge; in den Bois mit einem Wagen sich zeigen, dessen Gespann nicht tadellos wäre; auf den Hofball gehen, ohne eine von Worth »unterschriebene« 2000-Franken-Toilette zu tragen; sich zu Tische setzen ( Madame la baronne est servis ....) auch wenn man keine Gäste hat, ohne sich von dem würdevoll amtierenden maître d'hôtel und einigen Lakaien die feinsten Gerichte und edelsten Weine auftragen zu lassen: – das wären alles arge Verstöße.

Wie leicht – wie leicht geschieht es einem, wenn man von dem Räderwerk solcher Existenz erfaßt worden, daß man alle seine Gedanken und Gefühle auf dieses im Grunde gedanken- und gefühllose Treiben verwendet; daß man darüber vergißt, Anteil zu nehmen an dem Gang der wirklichen Welt draußen – ich meine das Universum – und an dem Bestande der eigenen Welt da drinnen – ich meine das häusliche Glück. Mir wäre es vielleicht so ergangen – aber davor schützte mich Friedrich. Er war nicht der Mann dazu, sich von dem Strudel der Pariser » haute vie« hinreißen und verschlingen zu lassen. Er vergaß über der Welt, in der wir uns bewegten, weder das Universum, noch unseren Herd. Ein paar Vormittagsstunden blieben uns nach wie vor der Lektüre und der Familie geweiht, und so brachten wir das größte Kunststück fertig, neben dem Vergnügen auch das Glück zu pflegen.

Für uns Österreicher hegte man in Paris viel Sympathie. Oft wurde in politischen Gesprächen auf eine » Revanche de Sadowa« angespielt, so gewiß, als müßte die uns vor zwei Jahren geschehene Unbill wieder gut gemacht werden. Als ob sich überhaupt derlei wieder gut machen ließe! Wenn Schläge nicht anders zu tilgen sind, als wieder durch Schläge – dann kann das Ding ja niemals aufhören. Gerade meinem Manne und mir, weil dieser beim Militär gewesen und den böhmischen Feldzug mitgemacht, gerade uns glaubten die Leute nichts Angenehmeres und Höflicheres sagen zu können, als eine hoffnungsvolle Anspielung auf die bevorstehende Sadowa-Rache, welche bereits als ein geschichtliches, das »europäische Gleichgewicht« sicherndes und durch politisch-diplomatische Vorkehrungen gesichertes Ereignis behandelt wurde. Eine bei nächster Gelegenheit den »Preußen« zu gebende Schlappe war eine völkerpädagogische Notwendigkeit. Die Sache würde nicht tragisch ausfallen ... nur so etwas den Übermut gewisser Leute dämpfen. Vielleicht genügte zu diesem Zwecke auch schon diese an der Wand hängende Peitsche: sollte der Übermütige etwa kecke Anwandlungen bekommen, so war er ja gewarnt, daß sie auf ihn heruntersausen werde – die Revanche de Sadowa.

Wir lehnten natürlich solche Tröstungen entschieden ab. Altes Unglück wird durch neues Unglück nicht verwischt, ebensowenig als altes Unrecht durch neues Unrecht getilgt werden kann. Wir versicherten, daß wir keinen anderen Wunsch hegten, als den nunmehrigen Frieden nicht mehr gebrochen zu sehen.

Dasselbe war – so behauptete er wenigstens – auch der Wunsch Napoleons III. Wir verkehrten so viel mit Personen, welche dem Kaiser ganz nahe standen, daß wir genügend Gelegenheit hatten, dessen politische Gesinnungen, wie er sie in vertraulichen Aussprüchen laut werden ließ, kennen zu lernen. Nicht nur, daß er den momentanen Frieden wünschte, er hegte den Plan, den Mächten allgemeine Abrüstung vorzuschlagen. Aber um dieses auszuführen, fühlte er sich augenblicklich nicht sicher genug im Innern des Landes. Eine große Unzufriedenheit kochte und gärte unter der Bevölkerung, und in der nächsten Nähe des Thrones gab es eine Partei, welche darzustellen bemüht war, daß dieser Thron nicht anders zu festigen wäre, als durch einen auswärtigen glücklichen Krieg; so eine kleine Triumphpromenade am Rhein, und der Glanz und Bestand der napoleonischen Dynastie wäre gesichert. »Il faut faire grand« meinten diese Ratgeber. Daß der Krieg, welcher im vorigen Jahre über die Luxemburger Frage in Aussicht stand, vereitelt worden, war jenen sehr unlieb; die beiderseitigen Rüstungen waren schon so schön gediehen, und jetzt wäre das Ding überstanden... Aber auf die Länge sei ein Kampf zwischen Frankreich und Preußen doch unvermeidlich... Unaufhörlich drang von solchen Dingen zu uns. Dergleichen ist man ja gewöhnt, in den Zeitungen anschlagen zu hören – so regelmäßig, wie die Brandung an der Küste. Dabei braucht man noch nicht an den Sturm zu denken; man lauscht ganz ruhig der Musikkapelle, die am Strande ihre lustigen Weisen spielt – die Brandung gibt nur einen leisen, unbeachteten Grundbaß dazu ab.

* * *

Das glänzende, von Vergnügungsmühen überbürdete Treiben erreichte seinen Höhepunkt in den Frühlingsmonaten. Da kamen noch die langen Boisfahrten in offenem Wagen, die verschiedenen Gemäldeausstellungen, Gartenfeste, Pferderennen, Picknickausflüge hinzu – und bei alledem nicht weniger Theater, nicht weniger Visiten, nicht weniger Diners und Soireen, als mitten im Winter. Wir begannen schon stark, uns nach Ruhe zu sehnen. Diese Art Leben hat eigentlich nur dann den wahren Reiz, wenn Koketterie- und Liebschaftsgeschichten damit verbunden sind. Mädchen, welche eine Partie suchen, Frauen, die sich den Hof machen lassen und Männer, die Abenteuer wünschen – für solche bietet jedes neue Fest, bei welchem man dem Gegenstand seiner Träume begegnen kann, ein lebhaftes Interesse – aber Friedrich und ich? ... Daß ich meinem Gatten unwandelbar treu war, daß ich mit keinem Blick einem anderen gestattete, sich mir mit verwegenen Hoffnungen zu nahen – das erzähle ich ohne jeglichen Tugendstolz. Es ist doch ganz selbstverständlich.

Ob ich unter anderen Verhältnissen auch all den Verlockungen widerstanden hätte, denen in solchem Vergnügungswirbel hübsche junge Frauen ausgesetzt sind – das kann ich ja nicht wissen; wenn man aber eine so tiefe und vollbeglückte Liebe im Herzen trägt, wie ich sie für meinen Friedrich empfand, da ist man auch gegen alle Gefahr gepanzert. Und was ihn anbelangt: war er mir treu? Ich kann nur so viel sagen: ich hab' es nie bezweifelt.

Als der Sommer ins Land gezogen kam, der »grand-prix« vorüber war und die verschiedenen Mitglieder der Gesellschaft Paris zu verlassen begannen – die einen nach Trouville und Dieppe, nach Biarritz und Vichy, die anderen nach Baden-Baden, die dritten auf ihre Schlösser – Prinzessin Mathilde nach St. Gratien, der Hof nach Compiègne – da wurden wir mit Aufforderungen, das gleiche Reiseziel zu wählen und mit Einladungen nach den Landsitzen bestürmt; aber wir waren durchaus nicht gesonnen, die eben durchgemachte Luxus- und Vergnügungskampagne des Winters auch noch ins Sommerliche zu übertragen.

Nach Grumitz wollte ich vorderhand nicht zurückkehren: ich fürchtete zu sehr das Wiedererwachen der schmerzlichen Erinnerungen; auch hätten wir dort – der vielen Verwandten und Nachbarschaften wegen – nicht die gewünschte Einsamkeit gefunden.

So wählten wir denn abermals als Aufenthaltsort einen stillen Winkel der Schweiz. Wir versprachen unseren Pariser Freunden, im nächsten Winter wiederzukommen, und traten vergnügt, wie ferienreisende Schüler, unsere Sommerfahrt an.

Was nun folgte, war wirklich eine Erholungszeit. Lange Spaziergänge, lange Lesestunden, lange Spielstunden mit den Kindern und keine Eintragungen in die roten Hefte – letzteres ein Zeichen von Sorglosigkeit und Seelenruhe.

Auch Europa schien damals so ziemlich sorgenlos und ruhig zu sein. Wenigstens sah man nirgends »schwarze Punkte«. Selbst von der berühmten Revance de Sadowa hörte man nichts mehr verlauten.

Den größten Verdruß, den ich damals empfand, der war mir durch die seit einem Jahr bei uns in Österreich eingeführte allgemeine Wehrpflicht bereitet. Daß mein Rudolf einst werde Soldat sein müssen – das konnte ich nicht fassen. Und da phantasieren die Leute von Freiheit!

»Ein Jahr ›Freiwilliger‹ – tröstete mich Friedrich – »das ist nicht viel.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Und wäre es nur ein Tag! Keinen Menschen sollte man zwingen können, ein bestimmtes Amt, das er vielleicht haßt, auch nur einen Tag zu bekleiden, denn an diesem Tag muß er das Gegenteil von dem, was er fühlt, zur Schau tragen, muß beschwören, das mit Freuden zu tun, was er verabscheut – kurz, er muß lügen – und meinen Sohn wollte ich vor allem zur Wahrhaftigkeit erziehen.«

»Dann hätte er um ein paar Hundert Jahre später geboren werden müssen, Liebste!« erwiderte Friedrich. »Ganz wahr kann nur ein freier Mann sein: und mit diesen beiden – Wahrheit und Freiheit – ist's noch schlecht bestellt in unseren Tagen, das wird mir – je mehr ich mich in mein Studium vertiefe – desto klarer.«

Jetzt, in unserer Weltabgeschiedenheit, hatte Friedrich zu seinen Arbeiten doppelte Muße und er oblag denselben mit wahrem Feuereifer.

So glücklich und zufrieden wir in der Einsamkeit lebten, so blieben wir doch bei dem Entschlusse, den folgenden Winter wieder in Paris zu verbringen. Diesmal aber nicht in der Absicht, uns zu belustigen, sondern um für unsere Lebensaufgabe einigermaßen praktisch zu wirken. Dabei hegten wir zwar nicht die Zuversicht, etwas zu erreichen – aber wenn einem auch nur die Möglichkeit des Schattens einer Chance geboten scheint, für eine Sache, die man als die edelste Sache der Welt erkannt hat, etwas leisten zu können, so empfindet man es als unabweisbare Pflicht, diese Chance zu versuchen.

Wir hatten nämlich, wenn wir in unseren traulichen Gesprächen die Pariser Erinnerungen rekapitulierten, auch jenes Planes des Kaisers Napoleon gedacht, der uns durch die Mitteilungen seiner Vertrauten zu Ohren gekommen – des Planes, den Mächten Abrüstung vorzuschlagen. Daran knüpften wir unsere Hoffnungen und unsere Projekte. Friedrichs Forschungen hatten ihm die Memoiren Sullys in die Hände gespielt, in welchem der Friedensplan Heinrichs IV. mit allen Einzelheiten verzeichnet stand. Davon wollten wir dem Kaiser der Franzosen eine Abschrift zukommen lassen; zugleich würden wir versuchen, durch unsere Verbindungen in Österreich und Preußen diese beiden Regierungen auf die Vorschläge der französischen Regierung vorzubereiten; ich konnte dies durch Minister Allerdings bewerkstelligen, und Friedrich besaß in Berlin einen Verwandten, der in einflußreicher, politischer Stellung und bei Hofe sehr gut angeschrieben war.

Im Dezember, als wir nach Paris übersiedeln wollten, wurden wir jedoch daran gehindert. Unser Schatz – unsere kleine Sylvia erkrankte. Das waren bange Stunden! ... Natürlich traten da Napoleon III. und Heinrich IV. in den Hintergrund: unser Kind im Sterben!

Aber es starb nicht. Nach zwei Wochen war alle Gefahr vorbei. Nur untersagte uns der Arzt, mit der Kleinen während der ärgsten Winterkälte zu reisen. Wir verschoben demnach unsere Abfahrt auf den Monat März.

Diese Krankheit und diese Genesung – die Gefahr und die Rettung – wie hatten die unsere Herzen erschüttert und dieselben – ich hätte dies nicht mehr für möglich gehalten – einander wieder näher gebracht! Gemeinschaftliches Zittern vor einem gräßlichen Unglück, welches man besonders wegen der Verzweiflung des andern fürchtet, und gemeinschaftlich geweinte Freudentränen, wenn dieses Unglück abgewendet, das vermag gar mächtig zwei Seelen in eine zu verschmelzen.


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