Bertha von Suttner
Die Waffen nieder!
Bertha von Suttner

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Erstes Buch.

1859.

Mit siebzehn Jahren war ich ein recht überspanntes Ding. Das könnte ich wohl heute nicht mehr wissen, wenn die aufbewahrten Tagebuchblätter nicht wären. Aber darin haben die längst verflüchtigten Schwärmereien, die niemals wieder gedachten Gedanken, die nie wieder gefühlten Gefühle sich verewigt, und so kann ich jetzt beurteilen, was für exaltierte Ideen in dem dummen, hübschen Kopfe steckten. Auch dieses Hübschsein, von dem mein Spiegel nicht mehr viel zu erzählen weiß, wird mir durch alte Porträts verbürgt. Ich kann mir denken, welch beneidetes Geschöpf die jugendliche, als schön gepriesene, von allem Luxus umgebene Komteß Martha Althaus gewesen sein mochte. Die sonderbaren – in rotem Umschlag gehefteten – Tagebuchblätter jedoch deuten mehr auf Melancholie, als auf Freude am Leben. Die Frage ist nun die: war ich wirklich so töricht, die Vorteile meiner Lage nicht zu erkennen, oder nur so schwärmerisch zu glauben, daß allein melancholische Empfindungen erhaben und wert seien, in poetischer Prosa ausgedrückt und als solche in die roten Hefte eingetragen zu werden? Mein Los schien mich nicht zu befriedigen, denn da steht's geschrieben:

»Oh, Jeanne d'Arc – du himmelsbegnadete Heldenjungfrau, könnt' ich sein wie du! Die Oriflamme schwingen, meinen König krönen und dann, sterben – für das Vaterland, das teure.«

Zur Verwirklichung dieser bescheidenen Lebensansprüche bot sich mir keine Gelegenheit. Auch im Zirkus von einem Löwen als christliche Märtyrerin zerrissen zu werden – ein anderer (laut Eintragung vom 19. September 1853) von mir beneideter Beruf – war mir nicht zugänglich, und so hatte ich offenbar unter dem Bewußtsein zu leiden, daß die großen Taten, nach welchen meine Seele dürstete, ewig ungeschehen bleiben müßten, daß mein Leben – im Grunde genommen – ein verfehltes war. Ach, warum war ich nicht als Knabe zur Welt gekommen! (auch ein in dem roten Heft gegen das Schicksal oft vorgebrachter, fruchtloser Vorwurf) – da hätte ich doch Erhabenes erstreben und leisten können. Vom weiblichen Heldentum bietet die Geschichte nur wenig Beispiele. Wie selten kommen wir dazu, die Gracchen zu Söhnen zu haben, oder unsere Männer zu den Weinsberger Toren hinauszutragen, oder uns von säbelschwingenden Magyaren zuschreien zu lassen: »Es lebe Maria Theresia, unser König!« Aber wenn man ein Mann ist, da braucht man ja nur das Schwert umzugürten und hinauszustürzen, um Ruhm und Lorbeer zu erringen – sich einen Thron zu erobern – wie Cromwell, ein Weltreich – wie Bonaparte! Ich erinnere mich, daß der höchste Begriff menschlicher Größe mir in kriegerischem Heldentum verkörpert schien. Für Gelehrte, Dichter, Länderentdecker hatte ich wohl einige Hochachtung, aber eigentliche Bewunderung flößten mir nur die Schlachtengewinner ein. Das waren ja die vorzüglichen Träger der Geschichte, die Lenker der Länderschicksale; die waren doch an Wichtigkeit, an Erhabenheit – an Göttlichkeit beinahe – über alles andere Volk so erhaben, wie Alpen- und Himalayagipfel über Gräser und Blümlein des Tales.

Aus alledem brauche ich nicht zu schließen, daß ich eine Heldennatur besaß. Die Sache lag einfach so: ich war begeisterungsfähig und leidenschaftlich; da habe ich mich natürlich für dasjenige leidenschaftlich begeistert, was mir von meinen Lehrbüchern und von meiner Umgebung am höchsten angepriesen wurde.

Mein Vater war General in der österreichischen Armee und hatte unter »Vater Radetzky«, den er abgöttisch verehrte, in Custozza gefochten. Was mußte ich da immer für Feldzugsanekdoten hören! Der gute Papa war so stolz auf seine Kriegserlebnisse und sprach mit solcher Genugtuung von den »mitgemachten Kampagnen«, daß mir unwillkürlich um jeden Mann leid war, der keine ähnlichen Erinnerungen besitzt. Welch eine Zurücksetzung doch für das weibliche Geschlecht, daß es von dieser großartigsten Betätigung des menschlichen Ehr- und Pflichtgefühls ausgeschlossen ist! ... Wenn mir je etwas von den Bestrebungen der Frauen nach Gleichberechtigung zu Ohren kam – doch davon hörte man in meiner Jugend nur wenig und gewöhnlich in verspottendem und verdammendem Tone – so begriff ich die Emanzipationswünsche nur nach einer Richtung: die Frauen sollten auch das Recht haben, bewaffnet in den Krieg zu ziehen. Ach, wie schön las sich's in der Geschichte von einer Semiramis oder Katharina II.: »sie führte mit diesem oder jenem Nachbarstaate Krieg – sie eroberte dieses oder jenes Land ...«

Überhaupt, die Geschichte! die ist, so wie sie der Jugend gelehrt wird, die Hauptquelle der Kriegsbewunderung. Da prägt sich schon dem Kindersinne ein, daß der Herr der Heerscharen unaufhörlich Schlachten anordnet; daß diese sozusagen das Vehikel sind, auf welchem die Völkergeschicke durch die Zeiten fortrollen; daß sie die Erfüllung eines unausweichlichen Naturgesetzes sind und von Zeit zu Zeit immer kommen müssen, wie Meeresstürme und Erdbeben; daß wohl Schrecken und Greuel damit verbunden sind, letztere aber voll aufgewogen werden: für die Gesamtheit durch die Wichtigkeit der Resultate, für den einzelnen durch den dabei zu erreichenden Ruhmesglanz, oder doch durch das Bewußtsein der erhabensten Pflichterfüllung. Gibt es denn einen schöneren Tod, als den auf dem Felde der Ehre – eine edlere Unsterblichkeit, als die des Helden? Das blies geht klar und einhellig aus allen Lehr- und Lesebüchern »für den Schulgebrauch« hervor, wo nebst der eigentlichen Geschichte, die nur als eine lange Kette von Kriegsereignissen dargestellt wird, auch die verschiedenen Erzählungen und Gedichte immer nur von heldenmütigen Waffentaten zu berichten wissen. Das gehört so zum patriotischen Erziehungssystem. Da aus jedem Schüler ein Vaterlandsverteidiger herangebildet werden soll, so muß doch schon des Kindes Begeisterung für diese seine erste Bürgerpflicht geweckt werden; man muß seinen Geist abhärten gegen den natürlichen Abscheu, den die Schrecken des Krieges hervorrufen könnten, indem man von den furchtbarsten Blutbädern und Metzeleien, wie von etwas ganz Gewöhnlichem, Notwendigem, so unbefangen als möglich erzählt, dabei nur allein Nachdruck auf die ideale Seite dieses alten Völkerbrauches legend – und auf diese Art gelingt es, ein kampfmutiges und kriegslustiges Geschlecht zu bilden.

Die Mädchen – welche zwar nicht ins Feld ziehen sollen – werden aus denselben Büchern unterrichtet, die auf die Soldatenzüchtung der Knaben angelegt sind, und so entsteht bei der weiblichen Jugend dieselbe Auffassung, die sich in Neid, nicht mittun zu dürfen, und in Bewunderung für den Militärstand auflöst. Was uns zarten Jungfräulein, die wir doch in allem übrigen zu Sanftmut und Milde ermahnt werden, für Schauderbilder aus allen Schlachten der Erde, von den biblischen und makedonischen und punischen bis zu den dreißigjährigen und napoleonischen Kriegen vorgeführt werden, wie wir da die Städte brennen und die Einwohner »über die Klinge springen« und die Besiegten schinden sehen – das ist ein wahres Vergnügen. ... Natürlich wird durch diese Aufhäufung und Wiederholung der Greuel das Verständnis, daß es Greuel sind, abgestumpft; alles, was in die Rubrik Krieg gehört, wird nicht mehr vom Standpunkte der Menschlichkeit betrachtet – und erhält eine ganz besondere, mystisch-historisch-politische Weihe. Es muß sein – es ist die Quelle der höchsten Würden und Ehren – das sehen die Mädchen ganz gut ein: haben sie doch die kriegsverherrlichenden Gedichte und Tiraden auch auswendig lernen müssen. Und so entstehen die spartanischen Mütter und die »Fahnenmütter« und die zahlreichen, dem Offizierkorps gespendeten Kotillonorden während der »Damenwahl«.

Ich bin nicht, wie so viele meiner Standesgenossinnen, im Kloster, sondern unter der Leitung von Gouvernanten und Lehrern im Vaterhause erzogen worden. Meine Mutter verlor ich früh. Mutterstelle an uns Kindern – ich hatte noch drei jüngere Geschwister – vertrat unsere Tante, eine alte Stiftsdame. Wir verbrachten die Wintermonate in Wien, den Sommer auf einem Familiengute in Niederösterreich.

Meinen Erzieherinnen und Lehrern habe ich viel Freude gemacht, dessen erinnere ich mich –, denn ich war eine fleißige, mit gutem Gedächtnis begabte, und namentlich ehrgeizige Schülerin. Da ich meinen Ehrgeiz, wie schon bemerkt nicht damit befriedigen konnte, als Heldenjungfrau Schlachten zu gewinnen, so begnügte ich mich damit, in den Lektionen gute Zensuren davonzutragen und durch meinen Lerneifer der Umgebung Bewunderung abzuzwingen. In der französischen und englischen Sprache brachte ich es nahezu zur Vollkommenheit; von Erd- und Himmelskunde, von Naturgeschichte und Physik machte ich mir so viel zu eigen, als mir in dem Programm einer Mädchenerziehung überhaupt zugänglich war; aber von dem Gegenstand »Geschichte« lernte ich noch mehr, als von mir gefordert wurde. Aus der Bibliothek meines Vaters holte ich mir dickbändige Historienwerke hervor, in welchen ich in meinen Mußestunden studierte. Ich glaubte mich jedesmal um ein Stück gescheiter geworden, wenn ich ein Ereignis, einen Namen, ein Datum aus vergangenen Zeiten meinem Gedächtnis neu einverleibt hatte. Gegen Klavierspielerei – welche doch auch im Erziehungsplan aufgezeichnet stand – habe ich mich standhaft zur Wehr gesetzt. Ich besaß weder Talent noch Lust zur Musik und fühlte, daß mir darin keine Ehrgeizbefriedigung winkte. Ich bat solange und inständig, mir die kostbare Zeit, die ich an meine anderen Studien wenden wollte, nicht für das aussichtslose Geklimper zu kürzen, daß mich mein guter Vater von der musikalischen Fronarbeit freisprach. Zum großen Leidwesen der Tante, welche meinte, ohne Klavierspiel gäbe es keine eigentliche Bildung mehr.

Am 10. März 1857 feierte ich meinen siebzehnten Geburtstag. »Schon siebzehn« lautet unter jenem Datum die Eintragung ins Tagebuch. Dieses »schon« ist ein Poem. Es steht kein Kommentar daneben, aber vermutlich wollte ich damit sagen: »und noch nichts für die Unsterblichkeit getan«. Diese roten Hefte leisten mir heute, da ich meine Lebenserinnerungen aufzeichnen will, gar gute Dienste. Sie ermöglichen mir, die vergangenen Ereignisse, welche nur als verschwommene Umrißbilder im Gedächtnis haften geblieben, bis in die kleinsten Einzelheiten zu schildern, und ganze längst vergessene Gedankenfolgen oder längst verklungene Gespräche wörtlich wiederzugeben.

Im nächstfolgenden Fasching sollte ich in die Gesellschaft eingeführt werden. Diese Aussicht entzückte mich aber nicht so außerordentlich, wie dies gewöhnlich bei jungen Mädchen der Fall ist. Mein Sinn strebte nach Höherem als nach Ballsaaltriumphen. Wonach ich strebte? Diese Frage hätte ich mir wohl selber nicht beantworten können. Vermutlich nach Liebe ... doch das wußte ich nicht. Alle diese glühenden Sehnsuchts- und Ehrgeizträume, welche im Jünglings- und Jungfrauenalter die Menschenherzen schwellen, und welche unter allerlei Formen – Wissensdurst, Reiselust, Tatendrang – sich verwirklichen wollen, sind doch zumeist nur die unbewußten Bestrebungen des erwachenden verliebten Triebes.

In diesem Sommer wurde meiner Tante ein Kurgebrauch in Marienbad verordnet. Sie fand es für gut, mich mitzunehmen. Obgleich meine offizielle Einführung in die sogenannte Welt erst in der kommenden Winterszeit stattfinden sollte, so wurde mir doch gestattet, einige kleine Kurhausbälle mitzumachen; – gleichsam als Vorübung im Tanzen und Konversieren, damit ich in meiner ersten Faschingssaison nicht gar zu schüchtern und ungelenk auftreten möge.

Doch was geschah auf der ersten »Reunion«, die ich besuchte? Ein großes, sterbliches Verlieben. Natürlich war's ein Husarenleutnant. Die im Saale anwesenden Zivilisten schienen mir neben den Militärs wie Maikäfer neben Schmetterlingen. Und unter den anwesenden Uniformträgern waren die Husaren jedenfalls die glänzendsten; unter den Husaren schließlich war Graf Arno Dotzky der blendendste. Über sechs Fuß groß, schwarzes Kraushaar, aufgezwirbeltes Schnurbärtchen, weißglitzernde Zähne, dunkle Augen, welche so durchdringend und zärtlich schauen konnten – kurz, auf seine Frage: »Haben Sie den Kotillon noch frei, Gräfin?« fühlte ich, daß es noch andere, ebenso erhebende Triumphe geben kann, wie das Bannerschwingen der Jungfrau von Orleans, oder das Szepterschwingen der großen Katharina. Und er, der Zweiundzwanzigjährige, hat wohl ähnliches empfunden, als er mit dem hübschesten Mädchen des Balles (nach dreißig Jahren kann man schon so etwas konstatieren) im Walzertakt durch den Saal flog; da dachte er wohl auch: Dich besitzen Du süßes Ding, das wöge alle Marschallstäbe auf.

»Aber Martha – aber Martha!« brummte die Tante, als ich atemlos auf meinen Sessel an ihrer Seite zurückfiel, ihr mit den schwingenden Tüllwolken meines Kleides um den Kopf wirbelnd.

»O pardon, pardon, Tanti!« bat ich und setzte mich zurecht. »Ich kann nichts dafür ...«

»Davon ist auch nicht die Rede – mein Vorwurf galt deinem Benehmen mit diesem Husaren – du darfst dich beim Tanzen nicht so anschmiegen ... und schaut man denn einem Herrn so in die Augen?«

Ich errötete tief. Hatte ich etwas Unmädchenhaftes verbrochen? Mochte der Unvergleichliche etwa eine schlechte Meinung von mir gefaßt haben? ...

Von diesen bangen Zweifeln wurde ich noch im Verlauf des Balles befreit, denn während des Souperwalzers flüsterte der Unvergleichliche mir zu:

»Hören Sie mich an – ich kann nicht anders.– Sie müssen es erfahren – heute noch: ich liebe Sie.«

Das klang ein bißchen anders angenehm als Johannas famose »Stimmen« ... Aber so im Weitertanzen konnte ich doch nichts antworten. Das mochte er einsehen, denn jetzt hielt er inne. Wir standen in einer leeren Ecke des Saales und konnten die Unterhaltung unbelauscht fortführen:

»Sprechen Sie, Gräfin, was habe ich zu hoffen?«

»Ich verstehe Sie nicht,« log ich.

»Glauben Sie vielleicht nicht an ›Liebe auf den ersten Blick‹? Bis jetzt hielt ich es selber für eine Fabel, aber heute habe ich die Wahrheit davon erprobt.«

Wie mir das Herz klopfte! Aber ich schwieg.

»Ich stürze mich kopfüber in mein Schicksal,« fuhr er fort ... »Sie oder keine! Entscheiden Sie über mein Glück oder über meinen Tod ... denn ohne Sie kann und will ich nicht leben ... Wollen Sie die Meine werden?«

Auf eine so direkte Frage mußte ich doch etwas erwidern. Ich suchte nach einer recht diplomatischen Phrase, die – ohne jegliche Hoffnung abzuschneiden – meiner Würde nichts vergäbe, brachte aber weiter nichts hervor als ein zitternd gehauchtes »Ja«.

»So darf ich morgen bei Ihrer Tante um Ihre Hand anhalten und dem Grafen Althaus schreiben?«

Wieder »ja« – diesmal schon etwas fester.

»O, ich Glücklicher! Also auch auf den ersten Blick? – Du liebst mich?« Jetzt antwortete ich nur mit den Augen – doch diese, glaub' ich, sprachen das allerdeutlichste »Ja«.

* * *

An meinem achtzehnten Geburtstage wurde ich getraut, nachdem ich zuvor in die »Welt« eingeführt und der Kaiserin »als Braut« vorgestellt worden war. Nach unserer Hochzeit unternahmen wir eine Italienreise. Zu diesem Zweck hatte Arno einen längeren Urlaub genommen. Von einem Austritt aus dem Militärdienste war niemals die Rede gewesen. Zwar besaßen wir beide ziemlich ansehnliches Vermögen – aber mein Mann liebte seinen Stand und ich mit ihm. Ich war stolz auf meinen schmucken Husarenoffizier und sah mit Befriedigung der Zeit entgegen, da er zum Rittmeister – zum Obersten – und einst zum Generalgouverneur vorrücken würde ... Wer weiß, vielleicht sollte er als großer Feldherr in der vaterländischen Ruhmesgeschichte glänzen ...

Daß die roten Hefte gerade in der seligen Brautzeit und während der Flitterwochen eine Lücke aufweisen, tut mir jetzt sehr leid. Verflogen, verweht, in Nichts verflattert wären die Wonnen jener Tage freilich ebenso, wenn ich sie auch eingetragen hätte, aber wenigstens wäre ein Abglanz davon zwischen den Blättern festgebannt. Aber nein: für meinen Gram und meine Schmerzen fand ich nicht genug Klagen, Gedankenstriche und Ausrufungszeichen; die jammervollen Dinge mußten der Mit- und Nachwelt sorgfältig vorgeheult werden, aber die schönen Stunden, die habe ich schweigend genossen. – Ich war nicht stolz auf mein Glücklichsein und gab es daher niemand – nicht einmal mir selber im Tagebuche – kund und zu wissen! Nur das Leiden und Sehnen empfand ich als eine Art Verdienst, daher das viele Großtun damit. Wie doch diese roten Hefte alle meine traurigen Lagen getreulich spiegeln, während zu frohen Zeiten die Blätter ganz unbeschrieben blieben. Zu dumm! Das ist, als sammelte einer während eines Spazierganges – um Andenken daran nach Hause zu bringen – als sammelte er von den Dingen, die er auf dem Wege findet, nur das Häßliche; als füllte er seine Botanisierbüchse nur mit Dornen, Disteln, Würmern, Kröten, und ließe alle Blumen und Falter weg.

Dennoch, ich erinnere mich: es war eine herrliche Zeit. Eine Art Feenmärchentraum. Ich hatte ja alles, was ein junges Frauenherz nur begehren kann: Liebe, Reichtum, Rang, Vermögen – und das meiste so neu, so überraschend, so staunenerregend! Wir liebten uns wahnsinnig, mein Arno und ich, mit dem ganzen Feuer unserer lebensstrotzenden, schönheitssicheren Jugend. Und zufällig war mein glänzender Husar nebenbei ein braver, herzensguter, edeldenkender Junge, mit weltmännischer Bildung und heiterem Humor (er hätte ja ebenso gut – was bot der Marienbader Ball für eine Bürgschaft dagegen? – ein böser und ein roher Mensch sein können) und zufällig war auch ich ein leidlich gescheites und gemütliches Ding (er hätte auf besagtem Balle ebenso gut in ein launenhaftes hübsches Gänschen sich verlieben können); so kam es denn, daß wir vollkommen glücklich waren und daß infolgedessen das rotgebundene Lamento-Hauptbuch lange Zeit leer blieb.

Halt: hier finde ich eine fröhliche Eintragung – Verzückungen über die neue Mutterwürde. Am ersten Januar 1859 (war das ein Neujahrsgeschenk!) ward uns ein Söhnchen geboren. Natürlich erweckte dieses Ereignis so sehr unser Staunen und unsern Stolz, als wären mir das erste Paar, dem so was passierte. Daher wohl auch die Wiederaufnahme des Tagebuchs. Von dieser Merkwürdigkeit, von dieser meiner Wichtigkeit mußte die Nachwelt doch unterrichtet werden. Ferner ist das Thema »junge Mutter« so vorzüglich kunst- und literaturfähig. Dasselbe gehört zu den bestbesungenen und fleißig bemalten Vorwürfen; dabei läßt sich so gut mystisch und heilig gerührt und pathetisch, naiv und lieblich – kurz ungeheuer poetisch gestimmt sein. Zur Pflege dieser Stimmung tragen ja (so wie die Schulbücher zur Pflege der Kriegsbewunderung) alle möglichen Gedichtsammlungen, illustrierte Journale, Gemäldegalerien und landläufige Entzückungsphrasen unter der Rubrik »Mutterliebe«, »Mutterglück«, »Mutterstolz« nach Kräften bei. Was zunächst der Heldenanbetung (siehe Carlyles hero-worship) im Vergötterungsfach Höchstes geleistet wird, das leisten die Leute in baby-worship. Natürlich blieb hierin auch ich nicht zurück. Mein kleiner herziger Ruru war mir das wichtigste Weltwunder. Ach, mein Sohn – mein erwachsener herrlicher Rudolf – was ich für dich empfinde, dagegen verblaßt jene kindische Babybestaunung – dagegen ist jene blinde, affenmäßige, jungmütterliche Freßliebe so nichtig, wie ein Wickelkind ja selber gegen einen entfalteten Menschen nichtig ist ...

Auch der junge Vater war nicht wenig stolz auf seinen Nachfolger und baute die schönsten Zukunftspläne auf ihn. »Was wird er werden?« Diese eben noch nicht sehr dringende Frage wurde des öfteren über Rurus Wiege vorgelegt, und immer einstimmig entschieden: Soldat. Manchmal erwachte ein schwacher Protest von seiten der Mutter: »Wie aber, wenn er im Kriege verunglückt?« »Ach bah« ward dieser Einwurf weggeräumt – »es stirbt ja doch jeder nur dort und dann, wie es ihm bestimmt ist.« Ruru würde ja auch nicht der einzige bleiben; von den folgenden Söhnen mochte in Gottes Namen einer zum Diplomaten, ein anderer zum Landwirt, ein dritter zum Geistlichen erzogen werden, aber der älteste, der mußte seines Vaters und Großvaters Beruf – den schönsten Beruf von allen – erwählen, der mußte Soldat werden.

Und dabei ist's geblieben. Ruru wurde schon mit zwei Monaten von uns zum Gefreiten befördert. Werden doch alle Kronprinzen gleich nach der Geburt zu Regimentsinhabern ernannt, warum sollten wir unsern Kleinen nicht auch mit einem imaginären Rang schmücken? Das war uns ein Hauptspaß, dieses Soldatenspielen mit einem Baby. Arno salutierte, so oft sein Bub auf den Armen der Amme ins Zimmer gebracht wurde. Letztere nannten wir die Marketenderin, und was bei dieser das Fouragemagazin hieß, lasse ich erraten; Rurus Geschrei ward Alarmsignal geheißen, und was »Ruru sitzt auf dem Exerzierplatz« bedeutete, lasse ich abermals erraten sein.

Am 1. April, als am dritten Monatstage seiner Geburt (nur die Jahrestage zu feiern hätte zu gar zu seltenen Festen Anlaß gegeben), rückte Ruru vom Gefreiten zum Korporal vor. An jenem Tage geschah aber auch etwas Düsteres; etwas, was mir das Herz schwer machte und mich veranlaßte, es in den roten Heften auszuschütten.

Schon längere Zeit war am politischen Horizont der gewisse »schwarze Punkt« sichtbar, über dessen mögliches Anwachsen von allen Zeitungen und allen Salongesprächen die lebhaftesten Kommentare geliefert wurden. Ich hatte bis jetzt nicht darauf geachtet. Wenn mein Mann und mein Vater und deren militärische Freunde auch öfters vor mir gesagt hatten: »Mit Italien setzt es nächstens etwas ab«, so war das an meinem Verständnis abgeprallt. Mich um Politik zu kümmern, hatte ich gerade Zeit und Lust! Da mochte um mich herum noch so eifrig über das Verhältnis Sardiniens zu Österreich, oder über das Verhalten Napoleons III. debattiert werden, dessen Hilfe Cavour durch die Teilnahme am Krimkriege sich zugesichert hatte: da mochte man immerhin von der Spannung reden, welche zwischen uns und den italienischen Nachbarn durch diese Allianz hervorgerufen worden – das beachtete ich nicht. Aber an jenem 1. April sagte mir mein Mann allen Ernstes:

»Weißt du, Schatz – es wird bald losgehen.«

»Was wird losgehen, mein Liebling!«

»Der Krieg mit Sardinien.«

Ich erschrak. »Um Gotteswillen – das wäre furchtbar! Und mußt du mit?« »Hoffentlich.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Hoffentlich fort von Weib und Kind?«

»Wenn die Pflicht ruft ...«

»Dann kann man sich fügen. Aber hoffen – das heißt also wünschen, daß einem solch bittere Pflicht erwachse –«

»Bitter? So ein frischer, fröhlicher Krieg muß ja was Herrliches sein. Du bist eine Soldatenfrau – vergiß das nicht –«

Ich fiel ihm um den Hals ...

»O du mein lieber Mann, sei ruhig: ich kann auch tapfer sein ... Wie oft habe ich's den Helden und Heldinnen der Geschichte nachempfunden, welch erhebendes Gefühl es sein muß, in den Kampf zu ziehen. Dürfte ich nur mit – an deiner Seite fechten, fallen oder siegen!«

»Brav gesprochen, mein Weibchen! – aber Unsinn. Dein Platz ist hier an der Wiege des Kleinen, in dem auch ein Vaterlandsverteidiger groß gezogen werden soll. Dein Platz ist an unserem häuslichen Herd. Um diesen zu schützen und vor feindlichem Überfall zu wahren, um unserem Heim und unseren Frauen den Frieden zu erhalten, ziehen mir Männer ja in den Krieg.«

Ich weiß nicht, warum mir diese Worte, welche ich in ähnlicher Fassung doch schon oft zustimmend gehört und gelesen hatte, diesmal einigermaßen als »Phrase« klangen ... Es war ja kein bedrohter Herd da, keine Barbarenhorden standen vor den Toren – einfach politische Spannung zwischen zwei Kabinetten ... Wenn also mein Mann begeistert in den Krieg ziehen wollte, so war es doch nicht so sehr das dringende Bedürfnis, Weib und Kind und Vaterland zu schützen, als vielmehr die Lust an dem abenteuerlichen, Abwechslung bietenden Hinausmarschieren – der Drang nach Auszeichnung – Beförderung ... Nun ja, Ehrgeiz ist es – schloß ich diesen Gedankengang – schöner berechtigter Ehrgeiz, Lust an tapferer Pflichterfüllung!

Es war schön von ihm, daß er sich freute, wenn er zu Felde ziehen mußte; aber noch war ja nichts entschieden. Vielleicht würde der Krieg gar nicht ausbrechen, und selbst für den Fall, daß man sich schlage, Wer weiß, ob gerade Arno wegkommandiert würde – es geht ja doch nicht immer die ganze Armee vor den Feind. Nein, dieses so herrliche, abgerundete Glück, welches mir das Schicksal zurecht gezimmert hatte, konnte doch dieses selbe Schicksal nicht so roh zertrümmern. – O Arno, mein vielgeliebter Mann – dich in Gefahr zu wissen, es wäre entsetzlich! ... Solche und ähnliche Ergüsse füllen die in jenen Tagen beschriebenen Tagebuchblätter.

Von da ab sind die roten Hefte eine Zeitlang voll Kannegießerei: Louis Napoleon ist ein Intrigant ... Österreich kann nicht lange zuschauen ... es kommt zum Kriege ... Sardinien wird sich vor der Übermacht fürchten und nachgeben ... Der Friede bleibt erhalten ... Meine Wünsche – trotz aller theoretischen Bewunderung vergangener Schlachten – waren natürlich inbrünstig nach Erhaltung des Friedens gerichtet, doch der Wunsch meines Gatten rief offenbar die andere Alternative herbei. Er sagte es nicht grad' heraus, aber Nachrichten über die Vergrößerung des »schwarzen Punktes« teilte er immer leuchtenden Auges mit; die hier und da, leider immer spärlicher werdenden Friedensaussichten hingegen konstatierte er stets mit einer gewissen Niedergeschlagenheit.

Mein Vater war auch ganz Feuer und Flamme für den Krieg. Die Besiegung der Piemontesen würde ja nur ein Kinderspiel sein, und zur Bekräftigung dieser Behauptung regneten wieder die Radetzky-Anekdoten. Ich hörte von dem drohenden Feldzug immer nur vom strategischen Standpunkt sprechen, nämlich ein Hin- und Herwägen der Chancen, wie und wo der Feind geschlagen würde und die Vorteile, welche »uns« daraus erwachsen mußten. Der menschliche Standpunkt – nämlich daß, ob verloren oder gewonnen, jede Schlacht unzählige Blut- und Tränenopfer fordert, – kam gar nicht in Betracht. Die hier in Frage stehenden Interessen würden als so sehr über alle Einzelschicksale erhaben dargestellt, daß ich mich der Kleinlichkeit meiner Auffassung schämte, wenn mir bisweilen der Gedanke aufstieg: »Ach, was frommt den armen Toten, was den armen Verkrüppelten, was den armen Witwen der Sieg?« Doch bald stellten sich als Antwort auf diese verzagten Fragen wieder die alten Schulbuchdithyramben ein: Ersatz für alles bietet der Ruhm. Doch wie, wenn der Feind siegte? Diese Frage ließ ich einmal im Kreise meiner militärischen Freunde laut werden – wurde aber schmählich niedergezischt. Das bloße Erwähnen von der Möglichkeit eines Schattens eines Zweifels ist schon antipatriotisch. Im voraus seiner Unüberwindlichkeit sicher sein, gehört mit zu den Soldatenpflichten. Also gewissermaßen auch zu den Pflichten einer loyalen Leutnantsfrau.

Das Regiment meines Mannes lag in Wien. Von unserer Wohnung hatte man die Aussicht auf den Prater, und wenn man da ans Fenster trat, wehte es sommerlich verheißend herein. Es war ein wundervoller Frühling. Die Luft war lau und veilchenduftend, und zeitiger als in anderen Jahren sproßte das junge Laub hervor. Auf die im kommenden Monat bevorstehenden großen Praterfahrten freute ich mich unbändig. Wir hatten uns zu diesem Zweck ein kokettes »Zeugel« angeschafft, nämlich einen Kutschierwagen mit einem Viererzug von ungarischen Judern. Schon jetzt, in diesen herrlichen Apriltagen, fuhren wir beinahe täglich in den Prateralleen spazieren, aber das war nur ein Vorkosten des eigentlichen Maigenusses. Ach, wenn nur bis dahin nicht etwa der Krieg ausbräche! ...

»Na, Gott sei Dank – jetzt hat die Unentschiedenheit ein Ende!« – rief mein Mann, als er am Morgen des neunzehnten April vom Exerzieren nach Hause kam. »Das Ultimatum ist gestellt.«

Ich erschrak. »Wie – was – was heißt das?«

»Das heißt, das letzte Wort der diplomatischen Verhandlungen, welches der Kriegserklärung vorausgeht, ist gesprochen. Unser Ultimatum an Sardinien fordert, daß Sardinien entwaffne – was dieses natürlich bleiben läßt, und wir marschieren über die Grenze.«

»Großer Gott! – Vielleicht aber entwaffnen sie?«

»Nun dann wäre der Streit auch beigelegt und es bleibt Frieden.«

Ich fiel auf die Knie – ich konnte nicht anders. Lautlos und dennoch heftig wie ein Schrei, schwang sich aus meiner Seele die Bitte zum Himmel: »Frieden, Frieden!« Arno hob mich auf: »Du närrisches Kind!«

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und fing zu weinen an. Es war kein Schmerzensausbruch, denn noch war ja das Unglück nicht entschieden – aber die Nachricht hatte mich so erschüttert, daß meine Nerven zitterten und diesen Tränensturz verursachten.

»Martha, Martha, du wirft mich böse machen,« schau Arno. »Bist du denn mein braves Soldatenweiblein? Vergissest du, daß du Generalstochter, Oberleutnantsfrau und« – schloß er lächelnd – »Korporalsmutter bist?«

»Nein, nein, mein Arno ... Ich begreife mich selber nicht ... Das war nur so ein Anfall... ich bin ja doch selber für militärischen Ruhm begeistert ... aber ich weiß nicht – vorhin, als du sagtest, alles hänge von einem Worte ab, das jetzt gesprochen werden soll – ein Ja oder Nein auf das sogenannte Ultimatum – und dieses Ja oder Nein solle entscheiden, ob Tausende bluten und sterben sollen – sterben in diesen sonnigen, seligen Frühlingstagen – da war mir, als müßte das Friedenswort fallen und ich konnte nicht anders als betend niederknien –«

»Um dem lieben Gott die Sachlage mitzuteilen, du Herzensnärrchen?«

Die Hausglocke ertönte. Schnell trocknete ich meine Tränen. Wer konnte das sein – so früh?

Es war mein, Vater. Er kam heftig hereingestürzt.

»Nun Kinder,« rief er atemlos, indem er sich in einen Lehnsessel warf. »Wißt ihr schon die große Nachricht – das Ultimatum ...«

»Soeben habe ichs meiner Frau erzählt ...«

»Sag' Papa, was meinst du,« fragte ich bange, »wird der Krieg dadurch abgewendet?«

»Ich wüßte nicht, daß ein Ultimatum jemals einen Krieg abgewendet hätte. Vernünftig wäre es wohl von diesem italienischen Jammerpack, wenn es nachgeben würde und sich keinem neuen Novara aussetzte ... Ach, wäre der gute Vater Radetzky nicht voriges Jahr gestorben, ich glaube, er hätte, trotz seiner neunzig Jahre, sich noch einmal an die Spitze seines Heeres gestellt und ich wäre, bei Gott, auch wieder mitmarschiert ... Wir zwei haben's ja schon gezeigt, wie man mit dem welschen Gesindel fertig wird. Sie haben aber noch nichts genug daran, die Katzelmacher – sie wollen eine zweite Lektion haben! Auch recht: unser lombardisch-venetianisches Königreich wird sich durch das piemontesische Gebiet ganz schön vergrößern lassen – ich sehe schon den Einzug unserer Truppen in Turin.«

»Aber Papa, du sprichst ja, als wäre der Krieg schon erklärt und als wärst du darüber froh. Doch wie, wenn Arno mitgehen muß?« Es standen mir schon wieder die Tränen in den Augen.

»Das wird er auch – der beneidenswerte Junge.«

»Aber meine Angst – die Gefahr –«

»Ach was, Gefahr! Man kommt vom Kriege auch nach Hause, wie Figura zeigt. Ich habe mehr als eine Kampagne mitgemacht. Gott sei Dank, bin auch mehr als einmal verwundet worden – und bin doch am Leben weil es mir eben bestimmt war, am Leben zu bleiben.«

Die alte fatalistische Redensart! Dieselbe, welche für Rurus künftige Berufswahl hatte herhalten müssen und die mir auch jetzt wieder als ein Stück Weisheit einleuchtete.

»Wenn etwa mein Regiment nicht beordert werden sollte –« begann Arno.

»Ach ja«, unterbrach ich freudig, »das ist auch noch eine Hoffnung.«

»Dann lasse ich mich versetzen, wenn möglich –«

»Es wird schon möglich sein«, versicherte mein Vater, »Heß bekommt den Oberbefehl und der ist mein guter Freund.«

Das Herz zitterte mir, aber dennoch konnte ich nicht anders, als diese beiden Männer bewundern. Mit welch fröhlichem Gleichmut sie von einem kommenden Feldzug sprachen, als handelte es sich um einen geplanten Spaziergang. Mein tapferer Arno wollte sogar – auch wenn ihn die Pflicht nicht riefe – freiwillig vor den Feind ziehen, und mein großdenkender Vater fand das ganz einfach und natürlich. Ich raffte mich auf. Fort mit meinem kindischen, weibischen Bangen! Jetzt galt es, mich dieser meiner Lieben würdig zu zeigen, das Herz über alle egoistischen Befürchtungen erheben und nur dem schönen Bewußtsein Raum geben: Mein Gatte ist mein Held.

Ich sprang auf und hielt ihm die Hände hin:

»Arno, ich bin stolz auf dich!«

Er zog meine Hände an seine Lippen; dann an den Vater gewendet, mit freudestrahlender Miene: »Das Mädel hast du gut erzogen, Schwiegervater!«

* * *

Abgelehnt! Das Ultimatum abgelehnt! So geschehen in Turin am 26. April. Die Würfel gefallen – der Krieg »ausgebrochen!« Seit einer Woche war ich auf die Katastrophe gefaßt, dennoch versetzte mir deren Eintreffen einen derben Schlag. Schluchzend warf ich mich auf das Sofa, den Kopf in die Kissen verbergend als mir Arno diese Nachricht brachte.

Er setzte sich an meine Seite und tröstete mich sanft.

»Mein Liebling, Mut – Fassung! Es ist ja nicht so schlimm ... in kurzer Zeit kehren wir als Sieger heim ... Dann werden wir zwei doppelt glücklich sein. Weine nicht so, es zerreißt mir das Herz ... fast bereue ich, daß ich mich engagiert habe, auf jeden Fall mitzugehen ... doch nein, bedenke: wenn meine Kameraden hinaus müssen, mit welchem Recht dürfte ich da zu Hause bleiben? Du selber müßtest dich meiner schämen ... Einmal muß ich ja die Feuertaufe erhalten – ehe das geschehen, fühle ich mich gar nicht recht als Mann und als Soldat. Denk' nur, wie schön – wenn ich zurückkomme – mit einem dritten Stern am Kragen – vielleicht mit einem Kreuz auf der Brust.«

Ich lehnte meinen Kopf an seine Achsel und weinte da weiter. Wie klein ich doch wieder dachte: Sterne und Kreuze erschienen mir in diesem Augenblick als so schaler Flitter ... Nicht zehn Großkreuze auf dieser teuern Brust konnten einen Ersatz bieten für die grause Möglichkeit, daß eine Kugel sie zerschmettere ...

Arno küßte mir die Stirn, schob mich sanft beiseite und stand auf: »Ich muß jetzt fortgehen, liebes Kind – zu meinem Obersten. Weine Dich aus ... wenn ich wiederkomme, hoffe ich, dich standhaft und heiter zu finden – ich brauche das, um nicht von trüben Ahnungen beschlichen zu werden. Jetzt, in so entscheidender Zeit, wird doch meine eigene kleine Frau nichts tun, mir den Mut zu benehmen, meine Tatenlust zu dämpfen? Adieu, mein Schatz.« Und er ging.

Ich raffte mich auf. Seine letzten Worte klangen mir noch im Ohre nach. Ja offenbar: meine Pflicht war nun die, seinen Mut und seine Tatenlust – nicht nur nicht zu dämpfen, sondern nach Möglichkeit zu heben. Das ist ja die einzige Art, wie wir Frauen unseren Patriotismus betätigen können, wie wir des Ruhmes teilhaftig werden dürfen, den unsere Männer auf den Schlachtfeldern sich holen ... »Schlacht–felder« – sonderbar, wie dieses Wort jetzt plötzlich in zwei grundverschiedenen Bedeutungen mir vor den Sinn trat. Halb in der altgewohnten, historischen, pathetischen, höchste Bewunderung erregenden Bedeutung, halb in dem Ekelschauer der blutigen, brutalen Silbe »Schlacht« ... Ja, geschlachtet würden sie auf dem Felde daliegen, die armen hinausgetriebenen Menschen – mit offenen, roten Wunden – und unter ihnen vielleicht ... Mit einem laut ausgestoßenen Schrei dachte ich diesen Gedanken aus.

Meine Jungfer, Betti, kam erschrocken hereingerannt. Sie hatte mich schreien gehört.

»Um Gottes willen, Frau Gräfin, was ist geschehen?« fragte sie zitternd.

Ich blickte das Mädchen an: auch sie hatte rotgeweinte Augen. Ich erriet, sie wußte schon die Nachricht, und ihr Geliebter war Soldat. Mir war's, als müßte ich die Unglücksschwester an mein Herz drücken

»Es ist nichts, mein Kind,« sagte ich weich ... »Die fortziehen, kommen ja wieder zurück –«

»Ach, gräfliche Gnaden, nicht alle,« antwortete sie, von neuem in Tränen ausbrechend.

Jetzt trat meine Tante bei mir ein und Betti entfernte sich.

»Ich bin gekommen, dir Trost zu sprechen, Martha,« sagte die alte Frau, mich umarmend, »und dir in dieser Prüfung Ergebung zu predigen.«

»Also weißt du?« –

»Die ganze Stadt weiß es ... Es herrscht großer Jubel, dieser Krieg ist sehr populär.«

»Jubel, Tante Marie?«

»Nun ja, bei solchen, die kein geliebtes Familienglied mitziehen sehen. Daß du traurig sein wirst, konnte ich mir denken, und darum bin ich hierher geeilt. Dein Papa wird auch gleich kommen; aber nicht um zu trösten, sondern zu gratulieren: er ist ganz außer sich vor Freude, daß es losgeht, und betrachtet es als eine herrliche Chance für Arno, daß er mittun kann. Im Grunde hat er ja auch recht ... für einen Soldaten gibt's auch nichts besseres als den Krieg. So mußt auch du die Sache betrachten, liebes Kind – Berufserfüllung geht doch allem voran. Was sein muß –«

»Ja, du hast recht, Tante, was sein muß – das Unabänderliche –

»Das von Gott gewollte« – schaltete Tante Marie bekräftigend ein.

»Muß man mit Fassung und Ergebung ertragen.«

»Brav, Martha. Es kommt ja doch alles so, wie es von der weisen und allgütigen Vorsehung in unabänderlichem Ratschluß vorher bestimmt ist. Die Sterbestunde eines jeden, die steht schon von der Stunde seiner Geburt an geschrieben. Und wir wollen für unsere lieben Sieger so viel und inbrünstig beten –«

Ich hielt mich nicht dabei auf, den Widerspruch, der in diesen beiden Annahmen liegt: daß der Tod zugleich bestimmt und durch Gebete abzuwenden sein könne, näher zu erörtern. Ich war mir selbst nicht klar darüber, und hatte von meiner ganzen Erziehung her das vage Bewußtsein, daß man an so heilige Dinge nicht mit Vernunftfragen herantreten dürfe. Hätte ich gar der Tante gegenüber solche Skrupel laut werden lassen, so würde sie das arg verletzt haben. Nichts konnte sie mehr beleidigen, als wenn man über gewisse Dinge rationelle Zweifel anstellte. »Nicht darüber nachdenken« ist allen Mysterien gegenüber Anstandsgebot. Wie es die Hofsitte verbietet, an einen König Fragen zu richten, so ist es auch eine Art lästerlichen Etikettenbruchs, wenn man an einem Dogma herum forschen und prüfen will. »Nicht darüber nachdenken« ist übrigens ein sehr leicht erfüllbares Gebot, und bei diesem Anlaß fügte ich mich bereitwillig darein; ich fing daher mit der Tante keinen Streit an, sondern klammerte mich im Gegenteil an den Trost, der in dem Hinweis auf das Beten lag. Ja während der ganzen Abwesenheit meines Gatten wollte ich so inbrünstig um des Himmels Schutz flehen, daß dieser alle Kugeln im Fluge von Arno abwenden werde ... Abwenden? – Wohin? Auf die Brust eines anderen, für den doch wahrscheinlich auch gebetet wird? ... Und was war mir im physikalischen Lehrkurs demonstriert worden, von den genau zu berechnenden, unfehlbaren Wirkungen der Stoffe und ihrer Bewegung? ... Wieder ein Zweifel? Fort damit.

»Ja, Tante,« sagte ich laut, um diese in meinen Geist sich kreuzenden Widersprüche abzubrechen, »ja, wir wollen fleißig beten und Gott wird uns erhören: Arno bleibt unversehrt.«

»Siehst du, siehst du, Kind, wie in schweren Stunden die Seele doch zu der Religion flüchtet ... Vielleicht schickt dir der liebe Gott die Prüfung, damit du deine sonstige Lauheit ablegst.«

Das wollte mir wieder nicht recht einleuchten, daß die ganze, noch aus dem Krimkriege herstammende Verstimmung zwischen Österreich und Sardinien, die ganzen Verhandlungen, die Aufstellung des Ultimatums und die Ablehnung desselben nur von Gott veranstaltet worden wären um meinen lauen Sinn zu erwärmen.

Aber auch diesen Zweifel auszudrücken wäre unanständig gewesen. Sobald jemand den »lieben Gott« in den Mund genommen, gibt das dem daran geknüpften Ausspruch eine gewisse salbungsvolle Immunität. Was die vorgeworfene Lauheit anbelangt, so hatte dieser Vorwurf einige Begründung. Tante Marias Religiosität kam aus tiefstem Herzen, während ich mehr äußerlich fromm war. Mein Vater war in dieser Beziehung völlig indifferent, ebenso mein Gatte, also hatte ich weder von dem einen noch dem anderen Anregung zu besonderem Glaubenseifer erhalten. Mich in die kirchlichen Lehren mit Begeisterung zu vertiefen, hatte ich auch niemals vermocht, da ich dieselben überhaupt nur mit Anwendung des »Nichtdarübernachdenken« Prinzips unangefochten lassen konnte. Ich ging wohl allsonntäglich zur Messe und alljährlich zur Beichte; auch war ich bei diesen Zeremonien voll Ehrfurcht und Andacht; aber das ganze war doch mehr oder minder eine Art standesmäßiger Etikettenbeobachtung; ich erfüllte die religiösen Anstandspflichten mit derselben Korrektheit, wie ich auf dem Kammerball die Figuren der Lanciers ausführte und die Hofreverenz machte, wenn die Kaiserin den Saal betrat. Unser Schloßkaplan in Niederösterreich und der Nuntius in Wien konnten mir nichts vorwerfen, aber die von der Tante vorgebrachte Beschuldigung war wohl berechtigt.

»Ja, mein Kind,« fuhr sie fort, »im Glück und im Wohlsein vergessen die Leute leicht ihren Heiland – wenn aber Krankheit oder Todesgefahr über uns und, mehr noch, über unsere Lieben hereinbricht, wenn wir niedergeschlagen und in Kümmernis sind –«

In diesem Tone wäre es noch lange fortgegangen, aber da wurde die Türe aufgerissen und mein Vater stürzte herein:

»Hurra, jetzt geht's los!« lautete seine Begrüßung. »Sie wollen Prügel haben, die Katzelmacher? So sollen sie Prügel haben – sollen sie haben!«

Das war nun eine aufgeregte Zeit. Der Krieg ist ausgebrochen. Man vergißt, daß es zwei Haufen Menschen sind, die miteinander raufen gehen, und faßt das Ereignis so auf, als wäre es ein erhabenes, waltendes Drittes, dessen »Ausbruch« die beiden Haufen zum Raufen zwingt. Die ganze Verantwortung fällt auf diese außerhalb des Einzelwillens liegende Macht, welche ihrerseits nur die Erfüllung der bestimmten Völkerschicksale herbeigeführt. Das ist so die dunkle und ehrfürchtige Auffassung, welche die meisten Menschen vom Kriege haben und welche auch die meine war. Von einer Revolte meines Gefühls gegen das Kriegführen überhaupt war keine Rede; nur darunter litt ich, daß mein geliebter Mann hinauszuziehen hätte in die Gefahr, und ich in Einsamkeit und Bangen zurückzubleiben. Ich kramte alle meine alten Eindrücke aus der Zeit der Geschichtsstudien hervor, um mich an dem Bewußtsein zu stärken und zu begeistern, daß die höchste Menschenpflicht es war, die meinen Teuren abberief, und daß ihm hierdurch die Möglichkeit geboten würde, sich mit Ruhm und Ehren zu bedecken. Jetzt lebte ich ja mitten drin in einer Geschichtsepoche: das war auch ein eigentümlich erhebender Gedanke. Weil von Herodot und Tacitus an bis zu den modernen Historikern herab die Kriege stets als die wichtigsten und folgenschwersten Ereignisse dargestellt worden, so meinte ich, daß auch gegenwärtig ein solches – künftigen Geschichtsschreibern als Abschnittsüberschrift dienendes Weltereignis im Gange war.

Diese gehobene, wichtigkeitsüberströmende Stimmung war übrigens die allgemein herrschende. Man sprach von nichts anderem in den Salons und auf den Gassen; las von nichts anderem in den Zeitungen, betete für nichts anderes in den Kirchen: wo man hinkam, überall dieselben aufgeregten Gesichter und die gleichen lebhaften Besprechungen der Kriegseventualitäten. Alles übrige, was sonst das Interesse der Leute wach hält: Theater, Geschäfte, Kunst – das wurde jetzt als ganz nebensächlich betrachtet. Es war einem zu Mute, als hätte man gar kein Recht, an etwas anderes zu denken, während dieser große Weltschicksalsauftritt sich abspielte. Und die verschiedenen Armeebefehle mit den bekannten siegesbewußten und ruhmverheißenden Phrasen; und die unter klingendem Spiel und wehenden Standarten abmarschierenden Truppen; und die in loyalstem und patriotisch glühendstem Tone gehauenen Leitartikel und öffentlichen Reden; dieser ewige Appell an Tugend, Ehre, Pflicht, Mut, Aufopferung; diese sich gegenseitig gemachten Versicherungen, daß man die bekannt unüberwindlichste, tapferste, zu hoher Machtausdehnung bestimmte, beste und edelste Nation sei! alles dies verbreitet eine heroische Atmosphäre, welche die ganze Bevölkerung mit Stolz erfüllt und in jedem einzelnen die Meinung hervorruft, er sei ein großer Bürger einer großen Zeit.

Schlechte Eigenschaften, als da sind: Eroberungsgier, Rauflust, Haß, Grausamkeit, Tücke – werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege sich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim »Feind«. Dessen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgesehen von der politischen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges, sowie abgesehen von den daraus unzweifelhaft erwachsenden patriotischen Vorteilen, ist die Besiegung des Gegners ein moralisches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung ... Diese Italiener – welches faule, falsche, sinnliche, leichtsinnige, eitle Volk! Und dieser Louis Napoleon – welcher Ausbund von Ehrsucht und Intrigengeist! Als sein am 29. April publiziertes Kriegsmanifest erschien, mit dem Motto: »Freies Italien bis zum Adriatischen Meer« – rief das einen Sturm der Entrüstung bei uns hervor! Ich erlaubte mir eine schwache Bemerkung, daß dies eigentlich eine uneigennützige und schöne Idee sei, welche für italienische Patrioten begeisternd wirken müsse; aber ich ward schnell zum Schweigen gebracht. An dem Dogma »Louis Napoleon ist ein Bösewicht«, durfte, solange er »der Feind« war, nicht gerüttelt werden; alles, was von ihm ausging, war von vornherein »bösewichterisch«. Noch ein leiser Zweifel stieg in mir auf. In allen geschichtlichen Kriegsberichten hatte ich die Sympathie und die Bewunderung der Erzähler immer für diejenige Partei ausgedrückt gefunden, welche einem fremden Joche sich entringen wollte und welche für die Freiheit kämpfte. Zwar wußte ich mir weder über den Begriff »Joch« noch über den so überschwenglich besungenen Begriff »Freiheit« einen rechten Bescheid zu geben, aber so viel schien mir doch klar: die Jochabschüttelungs- und Freiheitsbestrebung lag diesmal nicht auf österreichischer, sondern auf italienischer Seite. Aber auch für diese schüchtern gedachten und noch schüchterner ausgedrückten Skrupel wurde ich niedergedonnert. Da hatte ich Unselige wieder an einem sakrosankten Grundsatz gerührt, nämlich daß unsere Regierung – d. h. diejenige, unter welcher man zufällig geboren worden – niemals ein Joch, sondern nur einen Segen abgeben könne; daß die von »uns« sich losreißen Wollenden nicht Freiheitskämpen, sondern einfach Rebellen sind, und daß überhaupt und unter allen Umständen »wir« allemal und überall in unserem vollen Rechte sind.

In den ersten Maitagen – es waren kalte, regnerische Tage zum Glück; sonniges, lenzfrohes Wetter hätte einen noch schmerzlicheren Kontrast bewirkt – marschierte das Regiment ab, welchem Arno sich hatte zuteilen lassen. Um sieben Uhr früh ... ach, die vorhergehende Nacht ... war das eine fürchterliche Nacht! Wäre der Teure auch nur auf eine gefahrlose Geschäftsreise gegangen, die Trennung hätte mich unsäglich traurig gemacht – Scheiden tut ja so weh – aber in den Krieg! Dem Feuerregen der feindlichen Geschütze entgegen! ... Warum konnte ich in jener Nacht bei dem Worte Krieg durchaus nicht mehr dessen erhabene, historische Bedeutung erfassen, sondern nur sein toddrohendes Grausen?

Arno war eingeschlafen. Ruhig atmend, mit heiterem Gesichtsausdruck lag er da. Ich hatte eine frische Kerze angezündet und hinter einen Schirm gestellt: ich konnte heute nicht im Finstern bleiben. Vom Schlafen war ja für mich ohnehin keine Rede – in dieser letzten Nacht. Da mußte ich ihm wenigstens die ganze Zeit ins liebe Gesicht schauen. In einen Schlafrock gehüllt, lag ich auf unserem Bette; den Ellbogen auf das Kissen, das Kinn in die Handfläche gestützt, blickte ich auf den Schlummernden herab und weinte still ... »Wie lieb – wie lieb ich dich habe, mein Einziger – und du gehst fort von mir ... Warum ist das Schicksal so grausam? Wie werde ich leben ohne dich? Daß du mir nur bald wiederkehrst! O Gott, mein guter Gott, mein barmherziger Vater dort oben – laß ihn bald zurückkommen – ihn und alle ... Laß es bald Frieden sein! ... Warum kann es denn nicht immer Frieden sein? ... Wir waren so glücklich ... zu glücklich wohl ... es darf ja auf Erden kein vollkommenes Glück geben ... O Seligkeit – wenn er unversehrt heimkehrt und dann wieder so an meiner Seite liegt und für den kommenden Morgen kein Abschied droht ... Wie er ruhig schläft – o du mein tapferer Schatz! Aber wie wirst du dort schlafen? Da gibt es kein weiches Bett für dich – da mußt du auf harter, nasser Erde liegen ... vielleicht in einem Graben – hilflos – verwundet ...« Bei diesem Gedanken konnte ich nicht anders, als mir eine klaffende Säbelhiebwunde auf seiner Stirn vorstellen, von der das Blut herabsickert, oder ein Kugelloch in seiner Brust ... und ein heißer Mitleidsschmerz ergriff mich. Wie gerne hätte ich meine Arme um ihn geschlungen und ihn geküßt, aber ich durfte ihn nicht wecken; er brauchte diesen stärkenden Schlaf. Nur noch sechs Stunden ... tick – tack – tick – tack: unbarmherzig schnell und sicher geht die Zeit jedem Ziele entgegen. Dieses gleichgültige Tick – Tack tat mir weh. Auch das Licht brannte ebenso gleichgültig hinter seinem Schirm, wie diese Uhr mit ihrem blöden regungslosen Bronze-Amor tickte ... Begriffen denn all diese Dinge nicht, daß dies die letzte Nacht war? Die tränenden Lider fielen mir zu, das Bewußtsein schwand allmählich, und den Kopf auf das Kissen sinken lassend, schlief ich dennoch selber ein. Aber immer nur auf kurze Zeit. Kaum verlor sich mein Sinn in die Nebel eines formlosen Traumes, so krampfte mein Herz sich plötzlich zusammen und ich erwachte durch einen heftigen Schlag desselben, mit dem gleichen Angstgefühle, wie wenn man durch Hilferuf oder Feuerlärm geweckt wird ... »Abschied, Abschied!« hieß der Alarm. Als ich zum zehnten oder zwölftenmal so aus dem Schlummer auffuhr, war es Tag und die Kerze flackerte noch. Man klopfte an der Tür.

»Sechs Uhr, Herr Oberleutnant,« meldete die Ordonnanz, welche Befehl erhalten hatte, rechtzeitig zu wecken.

Arno richtete sich auf ... Jetzt also war die Stunde gekommen – jetzt würde es gesprochen werden, dieses jammer-jammervolle Wort »Lebewohl«.

Es war ausgemacht worden, daß ich ihn nicht zur Bahn begleiten würde. Die eine Viertelstunde mehr oder weniger des Beisammenseins – auf die kam es nicht mehr an. Und das Leid der letzten Losreißung, das wollte ich nicht vor fremden Leuten bloßlegen; ich wollte allein in meinem Zimmer sein, wenn der Abschiedskuß getauscht worden, um mich auf den Boden werfen – um schreien, laut schreien zu können.

Arno kleidete sich rasch an. Dabei sprach er allerlei Tröstliches auf mich ein:

»Wacker, Martha! In längstens zwei Monaten ist die Geschichte vorbei und ich bin wieder da ... Zum Kuckuck – von tausend Kugeln trifft nur eine und die muß nicht gerade mich treffen ... Es sind andere auch schon aus dem Krieg zurückgekommen: sieh' deinen Papa. Einmal muß es doch sein. Du hast doch keinen Husarenoffizier in der Idee geheiratet, sein Handwerk sei Hyazinthenzucht? Ich werde dir oft schreiben, so oft als möglich, und dir berichten, wie frisch und fröhlich die ganze Kampagne vor sich geht. Wenn mir was Schlimmes bestimmt wäre, so könnte ich mich nicht so wohlgemut fühlen ... einen Orden geh' ich mir holen, weiter nichts ... Gib nur hier recht acht auf dich selber und auf unseren Ruru – der wenn ich avanciere, auch wieder um einen Grad vorrücken darf. Grüß ihn von mir ... ich will den Abschied von gestern abend nicht noch wiederholen ... Dem wird's einmal ein Vergnügen sein, wenn ihm sein Vater erzählt, daß er im Jahre 59 bei den großen italienischen Siegen dabei gewesen« ...

Ich hörte ihm gierig zu. Dieses zuversichtliche Geplauder tat mir wohl. Er ging ja gern und lustig fort – mein Schmerz war also ein egoistischer, daher ein unberechtigter – dieser Gedanke würde mir die Kraft geben, ihn zu überwinden.

Wieder klopfte es an der Tür.

»Es ist schon Zeit, Herr Oberleutnant.«

»Bin schon fertig – komme gleich.« Er breitete die Arme aus: »Also jetzt, Martha, mein Weib, mein Lieb –«

Schon lag ich an seiner Brust. Reden konnte ich nicht. Das Wort Lebewohl wollte nicht über die Lippen – ich fühlte, daß ich bei Äußerung dieses Wortes zusammenbrechen mußte, und die Ruhe, den Frohmut seiner Abfahrt durfte ich ja nicht vergällen. Den Ausbruch meines Schmerzes sparte ich mir – wie eine Art Belohnung – auf das Alleinsein auf.

Nunmehr aber sprach er es, das herzzerreißende Wort:

»Leb' wohl, mein Alles, leb' wohl!« und drückte innig seinen Mund auf den meinen.

Wir konnten uns aus dieser Umarmung gar nicht losreißen – war es doch die letzte! Da plötzlich fühle ich, wie seine Lippen beben, seine Brust sich krampfhaft hebt ... und – mich freilassend, bedeckt er sein Gesicht mit beiden Händen und schluchzte laut auf.

Das war zu viel für mich. Ich glaubte wahnsinnig zu werden.

»Arno, Arno,« rief ich ihn umklammernd: »Bleib, Bleib!« Ich wußte, daß ich unmögliches verlangte, doch rief ich hartnäckig: »Bleib, bleib!«

»Herr Oberleutnant,« kam es von draußen, »schon höchste Zeit«.

Noch einen Kuß – den allerletzten – und er stürzte hinaus.

* * *

Charpie zupfen, Zeitungsberichte lesen, auf einer Landkarte Stecknadelfähnchen aufstecken, um den Bewegungen der beiden Heere zu folgen und daraus Schachaufgaben, in der Fassung von »Österreich zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt« zu lösen trachten; in der Kirche fleißig um Schutz für seine Lieben und um den Sieg der vaterländischen Waffen beten; von nichts anderem reden als von den vom Kriegsschauplatz eingetroffenen Nachrichten: – das war es, was meine und die Existenz meiner Verwandten- und Bekanntenkeise nunmehr ausfüllte. Das Leben mit allen seinen übrigen Interessen schien für die Dauer des Feldzuges sozusagen in der Schwebe; alles bis auf die Frage »wie und wann wird der Krieg enden?« war der Wichtigkeit, ja beinahe der Wirklichkeit beraubt. Man aß, man trank, man las, man besorgte seine Geschäfte; aber das alles »galt« eigentlich nicht –nur eins war von vollgewichtiger Gültigkeit: die Telegramme aus Italien.

Meine größten Lichtblicke waren selbstverständlich die Nachrichten, welche ich von Arno selber erhielt. Diese waren sehr kurz gefaßt – das Briefschreiben ist niemals seine starke Seite gewesen –; aber sie brachten mir doch das beglückendste Zeugnis; noch am Leben – unverwundet. Sehr regelmäßig konnten diese Briefe und Depeschen freilich nicht eintreffen, denn oft waren die Verbindungen abgebrochen, oder – wenn es irgendwo zur Aktion kam – der Feldpostdienst aufgehoben.

Wenn so einige Tage vergangen waren, ohne daß ich von Arno gehört, und es wurde eine Verlustliste veröffentlicht – mit welchem Bangen las ich da nicht die Namen durch! ... Es ist so spannend, wie für den Losbesitzer das Durchsehen der Gewinnummern einer Ziehungsliste, aber in umgekehrtem Sinne: was man da sucht, wohl wissend, daß man (Gott sei Dank) die Wahrscheinlichkeit gegen sich hat, ist der Haupttreffer des Unglücks ...

Das erstemal, als ich die Namen der Gefallenen durchgelesen – ich war eben seit vier Tagen ohne Nachricht – und sah, daß der Name »Arno Dotzky« nicht darunter war, da faltete ich die Hände und sprach mit lauter Stimme: »Mein Gott, ich danke dir!« Kaum aber waren die Worte geäußert, so klang es mir wie ein schriller Mißton daraus nach. Ich nahm das Blatt wieder zur Hand und betrachtete zum zweitenmal die Namenreihe. Also weil Adolf Schmidt und Karl Müller und viele andere – aber nicht Arno Dotzky – geblieben waren, hatte ich Gott gedankt? Derselbe Dank wäre dann berechtigterweise von dem Herzen derer zum Himmel aufgestiegen, welche für Schmidt und Müller zittern, wenn sie statt dieser den Namen »Dotzky« gelesen hätten? Und warum sollte gerade mein Dank dem Himmel genehmer sein als jener? Ja – das war der schrille Mißton meines Stoßgebetes gewesen: die Anmaßung und die Selbstsucht, die darin lag, zu glauben, Dotzky sei mir zu lieb verschont geblieben, und Gott zu danken, daß nicht ich, sondern nur Schmidts Mutter und Müllers Braut und fünfzig andere über dieser Liste weinend zusammenbrechen ...

Am selben Tag erhielt ich wieder von Arno einen Brief:

»Gestern gab's einen tüchtigen Kampf. Leider – leider eine Niederlage. Aber tröste dich, meine geliebte Martha, die nächste Schlacht bringt uns den Sieg. Es war dies meine erste große Affäre. Ich stand mitten in dichtem Kugelregen – ein eigenes Gefühl ... das erzähle ich mündlich – es ist doch furchtbar: die armen Kerle, die da um einen herum fallen und die man liegen lassen muß, trotz ihres kläglichen Wimmerns – » c'est la guerre!« Auf baldiges Wiedersehen, mein Herz. Wenn wir einmal in Turin die Friedensbedingungen diktieren, dann kommst du mir nachgereist. Tante Marie wird indessen so gut sein, über unseren kleinen Korporal zu wachen.«

Wenn der Empfang solcher Briefe die Sonnenblicke meines Daseins abgab – die schwärzesten Schatten desselben waren meine Nächte. Wenn ich da aus selig vergessendem Traume erwachte und mir die entsetzliche Wirklichkeit mit ihrer entsetzlichen Möglichkeit vor das Bewußtsein trat, so erfaßte mich schier unerträgliches Leid und ich konnte stundenlang nicht wieder einschlafen. Die Idee war nicht los zu werden, daß Arno vielleicht in diesem Augenblick stöhnend und sterbend in einem Graben lag – nach einem Tropfen Wasser lechzend – sehnsüchtig nach mir rufend ... Nur damit konnte ich mich allmählich beruhigen, daß ich mir mit aller Gewalt die Szene seiner Rückkunft vor die Einbildung rief. Die war ja ebenso wahrscheinlich – sogar viel wahrscheinlicher, als das verlassene Sterben – und da malte ich mir denn aus, wie er ins Zimmer hereinstürmte und ich an sein Herz flöge – wie ich ihn dann zu Rurus Wiege führte und wie glücklich und froh wir dann wieder sein könnten ...

Mein Vater war sehr niedergeschlagen. Es kam eine schlimme Nachricht nach der anderen. Zuerst Montebello, dann Magenta. Nicht er allein – ganz Wien war niedergeschlagen. Man hatte zu Anfang so zuversichtlich gehofft, daß ununterbrochene Siegesbotschaften Anlaß zu Häuserbeflaggung und Te deum Absingen geben würden; statt dessen wehten die Fahnen und sangen die Priester in Turin ... Dort hieß es jetzt: »Herr Gott, wir loben dich, daß du uns geholfen hast, die bösen Tedeschi zu schlagen.«

»Meinst du nicht, Papa,« frug ich, »daß, wenn noch eine Niederlage für uns käme, dann Frieden geschlossen würde? In diesem Falle könnte ich wünschen, daß –«

»Schämst du, dich nicht, so etwas zu sagen? Lieber soll es ein siebenjähriger – soll es ein dreißigjähriger Krieg werden, nur sollen schließlich unsere Waffen siegen und wir die Friedensbedingungen diktieren. Wozu geht man in den Krieg, doch nicht dazu, daß er baldmöglichst aus sei – sonst könnte man von vornherein zu Hause bleiben.«

»Das wäre wohl das beste,« seufzte ich.

»Was ihr Weibervolk doch feige seid! Selbst du – die du so gute Grundsätze von Vaterlandsliebe und Ehrgefühl erhalten – bist jetzt ganz verzagt und schätzest deine persönliche Ruhe höher als die Wohlfahrt und den Ruhm des Landes.«

»Ja – wenn ich meinen Arno nicht gar so lieb hätte!«

»Gattenliebe – Familienliebe – das ist alles recht schön ... aber es soll erst in zweiter Linie kommen.«

»Soll es?« ...

* * *

Die Verlustliste hatte schon mehrere Namen von Offizieren gebracht, die ich persönlich gekannt hatte. Unter anderen des Sohnes – des einzigen einer alten Dame, für die ich eine große Verehrung empfand.

An jenem Tage wollte ich die Ärmste aufsuchen. Es war mir ein peinlicher, schwerer Gang. Trösten konnte ich sie doch nicht – höchstens mitweinen. Aber es war eine Liebespflicht – und so machte ich mich denn auf den Weg.

Vor der Wohnung der Frau v. Ullsmann angelangt, zögerte ich lange, ehe ich die Glocke zog. Das letztemal, daß ich hierher gekommen, war es zu einer lustigen kleinen Tanzunterhaltung gewesen. Die liebenswürdlge alte Hausfrau war damals selber voller Lustigkeit. »Martha«, hatte sie mir im Laufe des Abends gesagt, »wir sind die beiden beneidenswertesten Frauen Wiens: Du hast den hübschesten Mann und ich den trefflichsten Sohn.« – Und heute? Da besaß ich wohl noch meinen Mann ... Wer weiß? Die Bomben und Granaten flogen ja dort unablässig; die letzte Minute konnte mich zur Witwe gemacht haben ... Und ich fing vor der Tür zu weinen an. – Das war die richtige Verfassung für solch traurigen Besuch. Ich klingelte, niemand kam. Ich klingelte ein zweites Mal. Wieder nichts.

Da streckte jemand aus einer anderen Flurtür den Kopf heraus: »Sie läuten umsonst, Fräulein – die Wohnung ist leer.« »Wie? Ist Frau v. Ullsmann fortgezogen?« »Vor drei Tagen in die Irrenanstalt überführt worden.« Und der Kopf war hinter der zufallenden Tür wieder verschwunden.

Ein paar Minuten blieb ich regungslos auf demselben Flecke stehen und vor meinem inneren Auge spielten sich die Szenen ab, die hier stattgefunden haben mochten. Bis zu welchem Grade mußte die arme Frau gelitten haben, bis daß ihr Schmerz in Wahnsinn ausbrach!

»Und da wollte mein Vater, daß der Krieg dreißig Jahre währte – für das Wohl des Landes ... wie viele solcher Mütter mußten da noch im Lande verzweifeln?«

Aufs tiefste erschüttert ging ich die Treppe herab. Ich beschloß, noch einen anderen Besuch bei einer befreundeten jungen Frau abzustatten, deren Gatte gleich auf dem Kriegsschauplatz war.

Mein Weg führte mich durch die Herrengasse an dem Gebäude – das sogenannte Landhaus – vorbei, wo der »patriotische Hilfsverein« seine Bureaus untergebracht hatte. Damals gab es noch keine Genfer Konvention, kein »Rotes Kreuz«, und als Vorbote jener humanen Institutionen hatte sich dieser Hilfsverein gebildet, dessen Aufgabe es war, allerlei Spenden in Geld, Wäsche, Charpie, Verbandzeug usw. für die armen Verwundeten in Empfang zu nehmen und nach dem Kriegsschauplatz zu befördern. Von allen Seiten kamen die Gaben reichlich geflossen; ganze Magazine mußten zur Aufnahme derselben dienen; und kaum waren die verschiedenen Vorräte verpackt und fortgeschickt, da türmten sich wieder neue auf.

Ich trat ein; es drängte mich, die Summe, die ich in meiner Geldbörse trug, dem Komitee zu überreichen. Vielleicht konnte dieselbe einem leidenden Soldaten Hilfe und Rettung bringen – und dessen Mutter vor Wahnsinn bewahren.

Ich kannte den Präsidenten. »Ist Fürst ll anwesend?« fragte ich den Portier.

Die Verlustliste hatte schon mehrere Namen von Offizieren gebracht, die ich persönlich gekannt hatte. Unter anderen des Sohnes – des einzigen – einer alten Dame, für die ich eine große Verehrung empfand.

»Im Augenblick nicht. Nur der Vizepräsident, Baron Suttner, ist oben.«

Er zeigte mir den Weg nach dem Lokale, wo die Geldspenden abgegeben wurden. Ich mußte durch mehrere Säle gehen, wo auf langen Tischen die Pakets aneinandergereiht lagen. Stöße von Wäschestücken, Zigarren, Tabak – und namentlich Berge von Charpie ... Mir schauderte. Wie viel Wunden mußten da bluten, um mit soviel gezupfter Leinwand bedeckt zu werden? »Und da wollte mein Vater,« dachte ich wieder, »daß zum Wohle des Landes der Krieg noch dreißig Jahre dauere? Wie viel Söhne des Landes müßten da noch ihren Wunden erliegen?« Der Baron nahm meine Gabe dankend in Empfang und erteilte mir auf meine verschiedenen Fragen über die Wirksamkeit des Vereins bereitwilligst Auskunft. Es war erfreulich und tröstlich zu hören, wieviel des Guten da geschah. Soeben kam der Postbote mit eingelaufenen Briefen herein und meldete, daß zwei Schubkarren voll Sendungen aus den Provinzen abzugeben seien. Ich setzte mich auf ein im Hintergrund des Zimmers stehendes Sofa, um das Hereintragen der Pakete abzuwarten. Dieselben wurden jedoch in einem anderen Raume abgegeben. Jetzt trat ein sehr alter Herr herein, dem man an der Haltung den einstigen Militär ansah.

»Erlauben Sie, Herr Baron,« sagte er, indem er seine Brieftasche hervorzog und sich auf einen neben dem Tisch stehenden Sessel niederließ, »erlauben Sie, daß auch ich mein kleines Scherflein zu Ihrem schönen Werk beitrage.« Er reichte eine Hundertgulden-Note hin. »Ich betrachte Sie alle, die Sie das organisiert haben, als wahre Engel ... Sehen Sie, ich bin selber ein alter Soldat (Feldmarschall-Leutnant X. schaltete er, sich vorstellend, ein) und kann es beurteilen, was für eine enorme Wohltat den armen Kerlen geschieht, die sich dort schlagen ... Ich habe die Feldzüge von anno 9 und 13 mitgemacht – da hat's noch keine »patriotischen Hilfsvereine« gegeben; da hat man den Verwundeten keine Kisten voll Verbandzeug und Charpie nachgeschickt. – Wie viele mußten da, wenn die Vorräte der Feldscherer erschöpft waren, jämmerlich verbluten, die durch eine Sendung, wie diese hier, hätten gerettet werden können! Das ist eine segensreiche Arbeit – die Eure – Ihr guten edlen Menschen – Ihr wißt gar nicht, Ihr wißt gar nicht, wieviel Gutes Ihr da tut!« Und dem alten Manne fielen zwei große Tränen auf den weißen Schnurrbart herab.

Draußen erhob sich ein Lärm von Schritten und Stimmen. Beide Flügel der Eingangstür wurden aufgerissen und ein Gardist meldete:

»Ihre Majestät die Kaiserin.«

Der Vizepräsident eilte zur Tür hinaus, um die hohe Besucherin, wie geziemend, am Fuße der Treppe zu empfangen, doch sie war schon im Nebensaal angelangt.

Ich schaute von meinem verborgenen Plätzchen mit Bewunderung nach der jugendlichen Monarchin, die mir im einfachen Straßenkleide beinahe noch lieblicher erschien, als in den Prunkroben der Hoffeste.

»Ich bin gekommen«, sagte sie zu Herrn v. Suttner, »weil ich heute früh einen Brief des Kaisers vom Kriegsschauplatz erhalten habe, worin er mir schreibt, wie nützlich und willkommen die Gaben des »patriotischen Hilfsvereins« sich erweisen – und da wollte ich selbst Einsicht nehmen ... und das Komitee von der Anerkennung des Kaisers in Kenntnis setzen.«

Hierauf ließ sie sich von allen Einzelheiten der Vereinstätigkeit unterrichten und betrachtete eingehend die verschiedenen aufgestapelten Gegenstände.

»Sehen Sie nur, Gräfin,« sagte sie zu der sie begleitenden Oberhofmeisterin, indem sie ein Wäschestück zur Hand nahm, »wie gut diese Leinwand ist – und wie hübsch genäht.«

Dann bat sie den Vizepräsidenten, sie noch in die anderen Räume zu geleiten und verließ an seiner Seite den Saal. Sie sprach mit sichtlicher Zufriedenheit zu ihm und ich hörte sie noch sagen: »Es ist ein schönes, patriotisches Unternehmen, welches den armen Soldaten –«

Den Rest verstand ich nicht mehr. »Arme Soldaten –« das Wort klang mir noch lange nach, sie hatte es so mitleidsvoll betont. Ja wohl, arm, und je mehr man tat, ihnen Trost und Hilfe zu senden, desto besser. Aber wie – flog es mir durch den Kopf – wenn man sie gar nicht hinschicken würde in all den Jammer, die armen Leute: wäre das nicht noch viel besser?«

Ich verscheuchte diesen Gedanken ... es muß ja sein – es muß ja sein. Andere Entschuldigung gibt es für die Greuel des Kriegführens keine, als die das Wörtlein »muß« enthält.

Nun ging ich wieder meiner Wege. Die Freundin, die ich besuchen wollte, wohnte ganz nahe vom »Landhaus« – auf dem Kohlmarkt. Im Vorübergehen trat ich in eine Buch- und Kunsthandlung, um eine neue Karte Oberitaliens zu kaufen; die unsere war von den fähnchengekrönten Stecknadeln schon ganz durchlöchert. Außer mir waren noch mehrere Kunden anwesend. Alle verlangten nach Karten, Schematismen und dergleichen. Nun kam die Reihe an mich.

»Auch ein Kriegsschauplatz gefällig?« fragte der Buchhändler.

»Sie haben es erraten.«

»Das ist nicht schwer. Es wird ja beinahe nichts anderes gekauft.«

Er holte das Gewünschte herbei, und wahrend er die Rolle für mich in ein Papier schlug, sagte er zu einem neben mir stehenden Herrn:

»Sehen Sie, Herr Professor, jetzt geht es jenen schlecht, welche belletristische oder wissenschaftliche Werke schreiben, oder verlegen – es fragt kein Mensch danach. So lange der Krieg währt, interessiert sich niemand für das geistige Leben. Das ist für Schriftsteller und Buchhändler eine schlimme Zeit.«

»Und eine schlimme Zeit für die Nation,« entgegnete der Professor, »bei welcher solche Interesselosigkeit natürlich geistigen Niedergang zur Folge hat.«

Und da wollte mein Vater – dachte ich zum drittenmal – daß zum Wohle des Landes dreißig Jahre lang ...« »So gehen Ihre Geschäfte schlecht?« mischte ich mich jetzt laut in die Unterhaltung.

»Nur meine? Alle, fast alle, meine Gnädige,« antwortete der Buchhändler. »Mit Ausnahme der Armeelieferanten gibt es keinen Geschäftsmann, dem der Krieg nicht unberechenbaren Schaden brächte. Alles stockt: die Arbeit in den Fabriken, die Arbeit auf den Feldern, unzählige Menschen werden verdienst- und brotlos. Die Papiere fallen, das Agio steigt, alle Unternehmungslust versiegt, zahlreiche Firmen müssen Bankrott erklären – kurz es ist ein Elend – ein Elend!« »Und da wollte mein Vater –.« wiederholte ich im stillen, während ich den Laden verließ.

* * *

Meine Freundin fand ich zu Hause.

Gräfin Lori Griesbach war in mehr als einer Hinsicht meine Schicksalsgenossin, Generalstochter, wie ich, kurze Zeit an einen Offizier verheiratet, wie ich, und – wie ich – Strohwitwe. In einem übertrumpfte sie mich: sie hatte nicht nur ihren Mann, sondern auch noch zwei Brüder im Krieg. Aber Lori war keine ängstliche Natur; sie war vollkommen überzeugt, daß ihre Lieben unter dem besonderen Schutze eines von ihr sehr verehrten Heiligen standen, und sie rechnete zuversichtlich auf deren Wiederkehr.

Sie empfing mich mit offenen Armen.

»Ach, grüß' dich Gott, Martha – das ist wunderhübsch von dir, daß du mich aufsuchst. – Aber du siehst gar so bleich und gedrückt aus ... doch keine schlimme Nachricht vom Kriegsschauplatze?«

»Nein, Gott sei Dank. Aber das Ganze ist doch so traurig –«

»Ja so – du meinst die Niederlage? Da mußt du dir nichts daraus machen, die nächsten Berichte können einen Sieg vermelden.«

»Siegen oder besiegt werden – der Krieg an und für sich ist schon schrecklich ... Wäre es nicht besser, wenn es gar keinen solchen gäbe?«

»Wozu wäre denn da das Militär da?«

»Ja, wozu?« Ich sann nach. »Dann gäb' es keins.«

»Was du für Unsinn sprichst! Das wäre eine schöne Existenz – lauter Zivilisten – mir schaudert! Das ist zum Glück unmöglich.«

»Unmöglich? Du mußt recht haben. Ich will es glauben – sonst könnte ich nicht fassen, daß es nicht schon längst geschehen.«

»Was geschehen?«

»Die Abschaffung des Krieges. Doch nein: ebensogut könnte ich sagen, man solle das Erdbeben abschaffen ...«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Was mich anbelangt, so bin ich froh, daß dieser Krieg ausgebrochen, weil ich hoffe, daß sich mein Ludwig auszeichnen wird. Auch für meine Brüder ist es eine gute Sache. Das Avencement ging schon so langsam von statten, jetzt haben sie doch eine Chance –«

»Hast du kürzlich Nachricht erhalten,« unterbrach ich. »Sind die deinen alle heil?«

»Eigentlich schon ziemlich lange nicht. Aber du weißt, wie der Postverkehr oft unterbrochen ist, und wenn man von einem heißen Marsch- oder Schlachttag so recht müde geworden, hat man auch nicht viel Lust zum Schreiben. Ich bin ganz ruhig. Sowohl Ludwig als auch meine Brüder tragen geweihte Amulette – Mama hat sie ihnen selber umgehängt« ...

»Wie stellst du dir denn einen Krieg vor, Lori, wo in beiden Heeren jeder Mann ein Amulett trüge? Wenn da die Kugeln hin und her fliegen, werden sie sich harmlos in die Wolken zurückziehen?«

»Ich versteh' dich nicht. Du bist so lau im Glauben. Das klagt mir öfters deine Tante Marie.«

»Warum beantwortest du meine Frage nicht?«

»Weil in ihr ein Spott auf eine Sache liegt, die mir heilig ist«

»Spott? Nicht doch ... Einfach eine vernünftige Erwägung.«

»Du weißt doch, daß es Sünde ist, der eigenen Vernunft die Kraft zuzutrauen, in Dingen urteilen zu wollen, die über sie erhaben sind.«

»Ich schweige schon, Lori. Du kannst recht haben: das Nachdenken und Grübeln taugt nicht ... Seit einiger Zeit steigen mir so allerlei Zweifel an meinen ältesten Überzeugungen auf, und ich empfinde dabei nur Qual. Wenn ich die Überzeugung verlöre, daß es unbedingt notwendig und gut war, diesen Krieg zu beginnen, so könnte ich jenen nicht verzeihen, welche –«

»Du meinst Louis Napoleon? Das ist freilich ein Intrigant.«

»Ob dieser oder andere – ich wollte unerschüttert glauben, daß es überhaupt keine Menschen waren, die den Krieg veranlaßt haben, sondern, daß er von selber »ausgebrochen« – ausgebrochen wie das Nervenfieber, wie das Vesuvfeuer –«

»Wie du exaltiert bist, mein Schatz. Laß uns doch vernünftig reden. Also hör' mich an. In kurzem wird die Kampagne ein Ende haben und unsere beiden Männer kommen als Rittmeister zurück ... Ich werde den meinen dann zu bewegen trachten, daß er einen vier- oder sechswöchentlichen Urlaub nehme, um mit mir ins Bad zu reisen. Es wird ihm gut tun nach seinen ausgestandenen Strapazen und auch mir, nach der ausgestandenen Hitze, Langeweile und Bangigkeit. Denn du mußt nicht glauben, daß ich gar keine Angst habe ... Es könnte doch Gottes Wille sein, daß einer meiner Lieben den Soldatentod finde – und wenn es auch ein schöner, beneidenswerter Tod ist ... auf dem Felde der Ehre ... für Kaiser und Vaterland –«

»Du sprichst ja wie der erste beste Armeebefehl.«

»Es wäre doch schrecklich ... die arme Mama, wenn Gustav oder Karl etwas zustoßen würde ... Reden wir nicht davon! Also, um uns von all dem Schreck zu erholen, gilt es, eine amüsante Badesaison durchmachen ... Am liebsten in Karlsbad – dort bin ich einmal als Mädchen gewesen und habe mich göttlich unterhalten.«

»Und ich war in Marienbad ... Dort habe ich Arno kennen gelernt ... Aber warum sitzen wir so müßig da? Haft du nicht etwas Leinwand zur Hand, daß wir Charpie zupfen? Ich war heute im Patriotischen Hilfsverein und da kam – rate wer?«

Hier wurden wir unterbrochen. Ein Diener brachte einen Brief herein.

»Von Gustav!« rief Lori freudig, indem sie das Siegel brach.

Nachdem sie ein paar Zeilen gelesen, stieß sie einen Schrei aus; das Blatt entfiel ihren Händen und sie warf sich an meinen Hals.

»Lori – mein armes Herz, was ist's?« fragte ich tief ergriffen – »dein Mann? ...«

»O Gott, o Gott«, stöhnte sie. »Lies selber ...«

Ich hob das Blatt vom Boden auf und begann zu lesen. Ich kann den Wortlaut genau wiedergeben, denn in der Folge habe ich den Brief von Lori mir erbeten, um dessen Inhalt in mein Tagebuch übertragen.

»Lies laut,« bat sie – ich habe nicht zu Ende lesen können.«

Ich tat nach ihrem Wunsche.

»Liebste Schwester! Gestern hatten wir eine heiße Schlacht – das wird eine große Verlustliste geben. Damit du – damit unsere arme Mutter nicht aus dieser das Unglück erfährt und damit du sie langsam vorbereiten könntest (sag', er sei schwer verwundet), schreibe ich dir lieber gleich, daß zu den für das Vaterland gefallenen Kriegern auch unser tapferer Bruder Karl zählt.« Ich unterbrach mich, um die Freundin zu umarmen.

»Bis dahin war ich gekommen,« sagte sie leise.

Mit tränenerstickter Stimme las ich weiter.

»Dein Mann ist unversehrt und so auch ich. Hätte die feindliche Kugel doch lieber mich getroffen: ich beneide Karl um seinen Heldentod – er fiel zu Anfang der Schlacht, und weiß nicht, daß diese wieder – verloren ist. Das ist gar zu bitter. Ich habe ihn fallen gesehen, denn wir ritten nebeneinander. Ich sprang gleich ab, um ihn aufzuheben – nur noch einen Blick und er war tot. Die Kugel muß ihm durch Herz oder Lungen gedrungen sein! es war ein schnelles, schmerzloses Ende. Wie viele andere mußten stundenlang leiden und mitten im Toben der Schlacht hilflos daliegen, bis sie der Tod erlöste. Das war ein mörderischer Tag – mehr als tausend Leichen – Freund und Feind – bedeckten die Walstatt. Ich habe unter den Toten so manches liebe, bekannte Gesicht erkannt – das ist unter anderen, auch der arme – (hier mußte die Seite umgewendet werden), der arme Arno Dotzky –« Ich fiel ohnmächtig zu Boden.

* * *

»Jetzt ist alles aus, Martha: Solferino hat entschieden: wir sind geschlagen.«

Mit diesen Worten kam mein Vater eines Morgens auf das Gartenplätzchen geeilt, wo ich unter den Schatten einer Lindengruppe saß.

Ich war mit meinem kleinen Rudolf in mein Mädchenheim zurückgekehrt. Acht Tage nach dem großen Schlage, der mich getroffen, übersiedelte meine Familie nach Grumitz, unserem Landsitz in Niederösterreich, und ich mit ihr. Allein hätte ich ja verzweifeln müssen. Jetzt waren sie wieder alle um mich, wie vor meiner Verheiratung: mein Vater, Tante Marie, mein kleiner Bruder und meine zwei aufblühenden Schwestern. Sie alle taten, was sie nur konnten, meinen Kummer zu lindern und behandelten mich mit einer Art Hochachtung, die mir wohltat. In meinem traurigen Schicksal lag für sie offenbar eine gewisse Weihe, etwas, was mich über meine Umgebung erhob – selbst eine Gattung Verdienst. Neben dem Blute, das die Soldaten auf dem Altar des Vaterlandes vergießen, bilden ja die am selben Altar vergossenen Tränen der beraubten Soldatenmütter, Frauen und Bräute die nächste heilige Libation. So war es auch ein leises Stolzgefühl – ein Bewußtsein, daß es sozusagen eine militärische Würde vorstellt, einen geliebten Mann auf dem Felde der Ehre verloren zu haben, welches mir meinen Schmerz am besten tragen half. Und ich war ja nicht die einzige. Wie viele, viele im ganzen Land trauerten jetzt um ihre in italienischer Erde ruhenden Lieben ...

Nähere Einzelheiten über Arnos Ende sind mir damals nicht bekannt geworden; man hatte ihn tot aufgefunden, agnosziert, begraben, das war alles, was ich wußte. Sein letzter Gedanke war gewiß zu mir und zu unserem kleinen Liebling geflogen, und sein Trost im letzten Augenblick muß das Bewußtsein gewesen sein: Ich habe meine Pflicht – mehr als meine Pflicht getan.

»Wir sind geschlagen,« wiederholte mein Vater düster, indem er sich neben mich auf die Gartenbank setzte.

»Also wurden die Geopferten umsonst geopfert,« seufzte ich

»Die Geopferten sind zu beneiden, weil sie von der Schmach nichts wissen, die uns getroffen hat. Aber mir werden uns schon noch aufraffen, wenn auch jetzt – wie es heißt – Friede geschlossen werden soll –«

»Ah, Gott geb's!« unterbrach ich »Für mich Arme freilich zu spät ... aber so werden doch tausend andere verschont.«

»Du denkst immer nur an dich und an die einzelnen Menschen. Aber in dieser Frage handelt es sich um Österreich.«

»Und besteht dieses nicht aus lauter einzelnen Menschen?«

»Mein Kind, ein Reich, ein Staat lebt ein längeres und wichtigeres Leben als die Individuen. Diese schwinden, Generation um Generation, und das Reich entfaltet sich weiter; wächst zu Ruhm, Größe und Macht, oder sinkt und schrumpft zusammen und verschwindet, wenn es sich von anderen Reichen besiegen läßt. Darum ist das wichtigste und höchste, was jeder einzelne erstreben muß und wofür er jederzeit gern sterben soll, die Existenz, die Größe, die Wohlfahrt des Reiches.«

Diese Worte prägte ich mir ein, um sie am selben Tag in den roten Heften zu notieren. Sie schienen mir so kräftig und bündig dasjenige auszudrücken, was ich in meiner Lernzeit aus den Geschichtsbüchern herausgefühlt hatte, und was mir in der letzten Zeit – seit Arnos Abmarsch – durch Angst und Mitleid aus dem Bewußtsein verdrängt worden war. Daran wollte ich mich wieder so fest wie möglich klammern, um in der Idee Trost und Erhebung zu finden, daß mein Liebster um einer großen Sache Willen gefallen, daß mein Unglück selber ein Bestandteil dieser großen Sache war.

Tante Marie hatte wieder andere Trostgründe zur Hand. »Weine nicht, liebes Kind,« pflegte sie zu sagen, wenn sie mich in Trauer versunken fand. »Sei nicht so selbstsüchtig, denjenigen zu beklagen, dem es jetzt so wohl geht. Er ist unter den Seligen und sieht segnend auf dich herab. Noch ein paar schnell verflossene Erdenjahre und du findest ihn wieder in seiner vollen Glorie. Für die, welche auf dem Schlachtfeld bleiben, bereitet der Himmel seine schönsten Wohnungen... Glücklich solche, die in dem Augenblick abberufen werden, wo sie eine heilige Pflicht erfüllen. Dem sterbenden Märtyrer steht der sterbende Soldat an Verdienst am nächsten.«

»Ich soll mich also freuen, daß Arno –«

»Freuen: nein – das wäre zu viel verlangt. Aber dein Schicksal mit demütiger Ergebung tragen. Es ist eine Prüfung, die dir der Himmel schickt und aus der du geläutert und im Glauben gestärkt hervorgehen wirst.«

»Also damit ich geprüft und geläutert werde, mußte Arno –«

»Nicht deshalb – doch wer kann, wer darf die verschlungenen Wege bei Vorsehung ergründen wollen? Ich sicher nicht.«

Obwohl mir gegen Tante Mariens Tröstungen immer derlei Einwendungen entschlüpften, so gab ich mich im Grund der Seele doch gern der mystischen Auffassung hin, daß mein Verklärter jetzt im Himmel den Lohn seines Opfertodes genießt, und daß sein Andenken unter den Menschen mit der unvergänglichen Glorie der Heldenhaftigkeit geschmückt ist.

Wie erhebend – wenngleich schmerzlich – hatte die große Trauerzeremonie auf mich gewirkt, welcher ich, am Tage vor unserer Abreise, im Stephansdom beigewohnt. Es war ein De profundis für unsere auf fremder Erde gefallenen und dort begrabenen Krieger. In der Mitte der Kirche war ein hoher Katafalk aufgestellt, von Hunderten brennender Wachslichter umgeben und mit militärischen Emblemen – Fahnen, Waffen – geschmückt. Vom Chor herab klang das rührend gesungene Requiem, und die Anwesenden – meist schwarzgekleidete Frauen – weinten fast alle laut. Und jede weinte nicht nur um den einen, den sie verloren, sondern um alle anderen, die denselben Tod gefunden: sie hatten ja alle zusammen, die armen, tapferen Waffenbrüder, für uns alle, das heißt für ihr Land, für die Ehre der Nation ihr junges Leben hingegeben. Und die lebenden Soldaten, die dieser Feier beiwohnten – sämtliche in Wien zurückgebliebenen Generäle und Offiziere waren da, und mehrere Kompagnien Mannschaft füllten den Hintergrund – diese alle waren gewärtig und bereit, ihren gefallenen Kameraden zu folgen ohne Zaudern, ohne Murren, ohne Furcht ... Ja, mit den Weihrauchwolken, mit dem Geläute und den Orgeltönen, mit den in einem gemeinsamen Schmerz vergossenen Tränen stieg da sicherlich ein wohlgefälliges Opfer zum Himmel auf und der Herr der Heerscharen mußte seinen Segen träufeln auf jene, denen dieser Katafalk errichtet war...

So dachte ich damals. Wenigstens sind dies die Worte, mit welchen die roten Hefte die Trauerfeier beschreiben.

Ungefähr vierzehn Tage später als die Nachricht von der Niederlage bei Solferino, kam die Nachricht von der Unterzeichnung der Friedenspräliminarien in Villafranca. Mein Vater gab sich alle mögliche Mühe, mir zu erklären, daß es aus politischen Gründen zwingend notwendig war, diesen Frieden zu schließen; worauf ich versicherte, daß es mir auf jeden Fall erfreulich schien, wenn das böse Kämpfen und Sterben ein Ende fand; aber der gute Papa ließ es sich nicht nehmen, mir entschuldigende Auseinandersetzungen zu unterbreiten:

»Du mußt nicht glauben, daß wir Angst haben ... Wenn es auch den Anschein hat, als machten wir Konzessionen, wir vergeben unserer Würde nichts und wissen schon, was wir tun. Wenn es sich um uns allein handelte, so hätten wir wegen dieses kleinen Schachs in Solferino die Partie nicht aufgegeben. O nein, noch lange nicht. Wir brauchten nur noch ein Armeekorps hinunter zu schicken, und der Feind müßte Mailand schnell wieder räumen... Aber weißt du, Martha, es handelt sich um andere allgemeine Interessen und Prinzipien. Wir verzichten jetzt darauf, uns weiter zu schlagen, um die anderen bedrohten italienischen Fürstentümer zu bewahren, welche der sardinische Räuberhauptmann samt seinem französischen Henkersbeistand auch gern überfallen wollte. Gegen Modena, Toskana – wo, wie du weißt, mit unserem Kaiserhaus verwandte Dynastien regieren – ja sogar gegen Rom, gegen den Papst wollen sie ziehen – die Vandalen. Wenn wir nun vorläufig die Lombardei hergeben, so erhalten wir uns damit Venetien und können die süditalienischen Staaten und dem heiligen Stuhl unsere Stütze gewähren. Du siehst also ein, daß wir aus rein politischen Gründen und im Interesse des europäischen Gleichgewichts –«

»Ja, Vater,« unterbrach ich, »ich sehe es ein. Ach hätten diese Gründe doch schon vor Magenta gewaltet!« fügte ich bitter seufzend hinzu. Dann, um abzulenken, zeigte ich auf ein Bücherpaket, das heute aus Wien eingetroffen war.

»Schau' her: der Buchhändler schickt uns verschiedene Sachen zur Ansicht. Darunter ein eben erschienenes Werk eines englischen Naturforschers, eines gewissen Darwin: The Origin of Species – und er macht uns aufmerksam, daß dies besonders interessant sei und geeignet, epochemachend zu wirken.«

»Er soll mich auslassen, der gute Mann. Wer soll sich in einer so wichtigen Zeit, wie die gegenwärtige, für derlei Lappalien interessieren? Was kann denn in einem Buch über Tier- und Pflanzenarten Epochemachendes für uns Menschen enthalten sein? Ja, die Konföderation der italienischen Staaten, die Hegemonie Österreichs im deutschen Bunde: das sind weittragende Dinge; die werden noch lange in der Geschichte bestehen, wenn von diesem englischen Buch kein Mensch mehr etwas wissen wird. Merk dir das.« Ich habe es mir gemerkt.


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