Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Freveltannli

Ob auch Bäume zu reden verstehen? — Die deutlichste Antwort auf diese Frage hat mir eine mächtige Rottanne gegeben, welche vor einigen Jahren noch sich graziös in die malerische Silhouette meiner lieben alten Stadt Bern fügte. Sie stand auf einer jener kleinen Terrassen, die wie Bollwerke bürgerlicher Behäbigkeit zwischen Matte und Junkerngasse ansteigen. Der frei gewachsene, schlanke Tannenbaum überragte sogar die Dachrinne des hohen alten Patrizierhauses und berührte mit den Spitzen seiner großen Äste beinahe die Fenster des ersten Stockwerkes, wo der Besitzer des Hauses sein stilles und zurückgezogenes Leben führte. Man hatte sich an diese Tanne gewöhnt; sie gehörte so gut zum Stadtbild, wie irgend einer der spitzen Türme, welche die gleichmäßigen Häuserreihen da und dort unterbrechen. Eines Tages aber war die Tanne spurlos verschwunden, das helle Sonnenlicht spiegelte sich ungehindert in den hohen Fenstern des Blankschen Hauses. Und das kam so:

Herr Gideon Blank hatte als ein kostbares, aber nicht immer leicht zu ertragendes Erbe seiner strengen 139 Eltern ein ungewöhnlich empfindliches Gewissen überkommen, das durch pedantische Erziehung noch geschärft wurde.

An einem schönen Sommerabend sah Vater Blank sein Söhnchen auf der Terrasse mit einem Schäufelchen und der alten grünen Gießkanne hantieren. Auf die Frage, was er denn da treibe, zeigte der Kleine mit leuchtenden Augen auf ein zierliches Tannenbäumchen, das er soeben nahe an der Terrassen­brüstung gepflanzt hatte.

«So so,» fragte der Vater mit spaßhaft ernstem Gesichte, «wo hast du das erfrevelt?» Gideon, der über den Begriff des Waldfrevels noch nie einen Augenblick nachgedacht, erzählte dem Vater treuherzig, wo er sich an diesem Nachmittag herumgetrieben und das Tännlein ausgegraben habe. Der Vater dachte, es werde dieser Pflanze ergehen wie zahllosen andern, welche der Kleine schon in sein Gärtlein versetzt, und die alle nach wenigen Tagen ihr kurzes Dasein beschlossen, weil sie ohne Wurzeln eingepflanzt oder schon erstorben waren, bevor sie ins neue Erdreich kamen. Eine halbe Stunde später dachten weder Vater noch Sohn weiter an das kleine Tannenbäumchen, desto mehr aber Trineli, die alte Störnähterin, die am offenen Fenster des Erdgeschoßes ihre Flickarbeit besorgte. Dieses Weiblein hegte für den kleinen Gideon zärtliche Freundschaft und fühlte sich zu dessen Erziehung mitberufen. Ihr kam der gewissenhafte Papa Blank, von 140 dem Gideons Schulkameraden sagten: «Den wollte ich aber nicht zum Vater haben, so einen Tüpfler», noch allzu lax vor. Sie fand, Papa Blank hätte den Anlaß benützen sollen zu einer eindrücklichen Aufklärung über die Sünde des Waldfrevels. Aus ihrer am Längenberg verlebten Jugendzeit waren ihr allerlei Geschichten erinnerlich, bei denen Waldfrevel eine Rolle gespielt und mitunter schwere Folgen nach sich gezogen hatte. Frevel ist Frevel, dachte sie, und darüber mußte der liebe Junge aufgeklärt werden. Sobald er zu ihr ins Zimmer kam, hieß sie ihn zu sich hersitzen, sie wolle ihm eine schöne Geschichte erzählen. Und diese Geschichte fing damit an, daß ein junger Bauer ihrer Heimatgemeinde einmal einen Baum gestohlen und in seinen Garten gepflanzt habe. Dieser Baum sei dann zu schrecklicher Größe ausgewachsen und habe eitel Unfrieden in das Haus gebracht. «U z’gueterletscht het er si du dranne ghäicht, ja gwüß wäger.»

Gideönchen hatte, wie immer, wenn ihm Trineli ihre Geschichten aus dem Leben erzählte, mit großen Augen aufmerksam zugehört, und das Schicksal des armen Bauern hatte auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht. Da jedoch Trineli es unterlassen hatte, die Nutzanwendung ihrer Geschichte beizufügen, fühlte sich der Knabe in keiner Weise beunruhigt. Fürs erste war ihm der Gedanke, sich selbst zu hängen, in den wenigen Jahren seines Erdenwallens wirklich noch nie näher getreten, und sodann war ihm die Zukunft seines 141 winzigen Tannenbäumchens ebenso gleichgültig wie diejenige der vielen anderen Pflanzen, die er auf der Terrasse hatte verwelken lassen. — Aber etwas war in seinem zarten, empfänglichen Herzen hängen geblieben, woran weder er, noch die pädagogische Erzählerin im Entferntesten gedacht. Das waren die einzelnen Bilder der Erzählung, welche das alte Fraueli mit jener unauslöschlichen Anschaulichkeit gemalt hatte, wie sie nur dem urwüchsigen Erzähler aus dem Volke zu Gebote steht, der nichts von Kunst noch Berechnung weiß. Wie mit Widerhaken hafteten die einzelnen Momente der Geschichte vom Bauer, der sich gehängt, in der Seele des Knaben. Und während draußen auf der Terrasse ohne gärtnerische Nachhilfe das kleine Tännlein in Sonnenschein und Regen wuchs und gedieh, so trieb die Erinnerung an jene Erzählung in klein Gideons Gedächtnis Wurzeln, und ohne daß er sich dessen je bewußt ward, setzte sich in seiner Seele die Empfindung fest, daß das schreckliche Ende des Bauers eine innerlich notwendige Folge des jugendlichen Fehltrittes gewesen sei.

Die Jahre verrannen, das Studentenleben führte Gideon Blank aus dem elterlichen Hause in die weite Welt. Und als er, ein wackerer junger Mann, wiederkehrte, fand er zu Hause alles im alten. Nur Trineli kam nicht mehr auf die Stör, sie hatte ihre Tage im Dienstenspital beschlossen. In das ehemals so sonnige Zimmer, wo einst die alte Erzählerin um die Erziehung 142 ihres Lieblings sich bemüht, warf zur Mittagszeit der Tannenbaum am Rande der Terrasse einen schlanken, zackigen Schatten. Der Baum gereichte dem kleinen Gärtchen zur Zierde und bildete zum Vergnügen der Familie Blank ein Absteigequartier für die vielen Vögel, die vor ihren Fenstern ihr Futter zu holen pflegten. Gideon fand übrigens immer weniger Zeit, der Terrasse seine Aufmerksamkeit zu schenken. Tagsüber saß er als ein um seiner Genauigkeit willen hoch geschätzter Beamter hinter dem Schaltergitter einer Bank. Höchstens noch an schönen Sommerabenden überließ er sich in dem kleinen Garten wohlverdienter Ruhe. In vollen Zügen genoß er noch während einer Reihe von Jahren die Haus­genossenschaft seiner Eltern. Dann schlossen auch diese ihre Augen, und Gideon Blank saß mit den ersten grauen Haaren allein im Schatten seines Tannenbaumes. Oft dünkte ihn, seines Lebens Sonne sei mit den Eltern entschwunden. Grau und öde wölbte sich’s über ihm. Er verstand nicht, seine Blicke in die Ferne zu richten und sich neues Licht zu suchen. Immer mehr kehrte er bei sich selber ein und begann in der Tiefe seiner eigenen Seele nach dem Quell aller Unfreundlichkeit des Lebens zu suchen. Bei allem, was Gideon Blank an sich und andern erlebte, interessierte ihn am meisten das «warum?» Es wurde ihm zur zwingenden Gewohnheit, überall der Schuld nachzuspüren, und wenn ihm etwas eine wirkliche Genugtuung gewähren konnte, so war es das 143 augenscheinliche Klarlegen des inneren Zusammenhanges der Geschehnisse. Das legte ihm auch sein Beruf nahe. Kam irgendwo in der Finanzwelt eine Veruntreuung vor, so ließ sich ja meist sehr leicht rückwärts verfolgen, wie da die Geldgier allmählich das Gewissen überwunden hatte.

Wie nun dieses Sinnen und Grübeln in dem einsamen Manne einen dunkeln Schatten verbreitete und ihn zu einem echten Sonderling zu machen drohte, so geriet draußen vor den Fenstern das kleine Gärtlein immer mehr unter den breiten Schatten der mächtig wachsenden Tanne. Es gediehen darin nur noch Pflanzen, die der Sonne wenig bedurften. Aber auch die Wohnung hatte unter dem wachsenden Schatten viel von ihrer früheren Freundlichkeit eingebüßt. Das war aber alles so allmählich gekommen, daß Herr Gideon und die übrigen Bewohner des Hauses sich dieses Wandels kaum bewußt geworden waren. Erst als der Gärtner, der des Nachbars Terrasse besorgte, einmal von seiner Leiter herunter Herrn Gideon die Bemerkung über die trennende Schranke hinwarf, die Tanne sei doch eigentlich im Verhältnis zu dem kleinen Garten zu groß und verwehre der Sonne den Zutritt in die Gärten auch der Nachbarn, fiel es dem alternden Herrn auf das Herz, daß der Baum, der einst seine Freude gewesen, nun den Leuten lästig werde. Das war ihm sehr unangenehm. Er fand die Welt schon traurig genug und war, so viel an ihm lag, redlich bestrebt, seinen Mitmenschen 144 das Leben nicht noch schwerer zu machen. Von jenem Tage an war ihm die Tanne ein beständiger Vorwurf. Jetzt kam es ihm auf einmal selber vor, als sähe er von seinen Fenstern aus nichts als die melancholische dunkelgrüne Masse der Fichtenkrone. Mit Unbehagen sah er den langen Schatten des Baumes morgens im Garten des Nachbars zur Rechten und abends auf der Terrasse des Nachbars zur Linken. Und wenn in der Nacht der Wind die schlanke Tanne in majestätischer Bewegung hin und her bog, so kam es ihm vor, als zeigten die langen Äste wie menschliche Arme nach seinen Fenstern, nach ihm selber. Und in einer ruhelosen Nacht wurden ihm auf einmal die Erzählungen seiner alten Jugendfreundin wieder lebendig. Der Bauer, der seinen Waldfrevel mit einem traurigen Ende gebüßt, stieg aus der Vergessenheit herauf und verließ seine Gedankenwelt nicht mehr. — Waldfrevel! — War nicht die Tanne vor seinem Fenster der Gegenstand und der immer unheimlicher werdende Zeuge seines eigenen Waldfrevels? Ach, lächerlich! versuchte er sich zuzureden. Aber jetzt merkte er, daß sein Recht­schaffenheits­bewußtsein ihm keine Nachsicht mehr zuließ. Ja, auf dem Baume konnte kein Segen ruhen. Unrecht Gut gedeiht nicht. Hier gedieh es, gedieh zu einem drohenden Ankläger. Ach, daß doch der Baum in jungen Jahren zugrunde gegangen wäre! Jetzt konnte ihn eines Tages der Sturm auf das Haus werfen, in die Gärten der Nachbarn oder gar über die Terrasse hinunter. Er konnte 145 im Sturze ein Menschenleben vernichten. So jagten sich in Herrn Gideons Kopf die quälenden Gedanken, und er beschloß, dem Ankläger vor dem Fenster ein Ende zu machen. Dieser Entschluß war bald gereift; aber als der alte Herr am Morgen in sein Gärtlein sich begab, stellte sich eine neue Sorge ein: Wie sollte der Baum zu Fall gebracht werden, ohne in der Nachbarschaft Schaden anzurichten? Der Stamm war ja dreimal länger als der ganze Garten des Herrn Gideon. Man riet ihm, die Tanne stückweise abbrechen zu lassen, wie ein Haus abgebrochen wird. Das war der einzige Ausweg, aber er befriedigte den Besitzer nicht. Wie leicht konnte auch bei dieser gefährlichen Arbeit ein Unglück geschehen! Dem geplagten Manne war, als müßte sich nun ein Schicksal erfüllen, eine Schuld gesühnt werden. Um letzteres war es ihm nun vor allem anderen zu tun. Aber er wollte die Sühne nicht einem blinden Zufall überlassen, sondern sie, wenn irgend möglich, auf dem Rechtswege herbeiführen. Ja, der Rechtsspruch, der die Lösung aller Ungereimtheit in sich schließt, der sollte Herrn Blank den Himmel wieder blank fegen, ihm die zerknitterte Gemütsruhe wieder glatt streichen. Wie wohl würde ihm dann wieder sein!

Das Schreckliche war nun nur, daß dieser Weg sogar in der Urheimat der Freiheit und der Volksrechte nicht ohne Beistand eines Fachmannes begangen werden kann. Es konnte somit Herrn Gideon nicht erspart bleiben, seinen Kummer einem patentierten Führer auf 146 dem Rechtswege anzuvertrauen. Und davon wollte ihn wiederum das Gefühl abschrecken, daß diesem Kummer in den Augen eines andern Menschen doch etwas Lächerliches anhafte. Und Gefahr laufen, daß solch ein Rechtsmensch ihn vielleicht geduldig anhören, dann aber abends an irgend einem Stammtische dem Spott seiner Kollegen preisgeben könnte... nein, das nun doch nicht!

Schon hatte er auf eine Befreiung durch den Rechtsweg beinahe verzichtet, da rauschte in einer schlaflosen Nacht der Wind wieder so mächtig in der Tanne, daß sich Herr Blank verpflichtet fühlte, auch den letzten Anspruch auf Selbstschonung preiszugeben. Das Reinlichkeits­bedürfnis seiner Seele zwang ihn dazu, und so zog er einen ihm seit der Jugendzeit befreundeten Gerichts­präsidenten ins Vertrauen. Dem ward über der Erzählung seines Jugendkameraden ganz seltsam zu Mute. Nicht viel fehlte, so wäre ihm laut entwischt: «Ich hätte wahrhaftig nicht geglaubt, daß solche Menschen noch vorkämen.» — War das nun zum Lachen oder... sollte man nicht eher den Hut abnehmen vor solch unversehrtem Gewissen? — Zwischen Rührung und Heiterkeit schwankend, studierte er über den Zwicker, der in so unendlich viel menschliche Verkommenheit schon hineingespiegelt, das klare gute Antlitz des Herrn Gideon. Dann sagte er: «Darüber können Sie sich ruhig schlafen legen, guter Freund. Dieses ‹Verbrechen› kann ja gar nicht geahndet werden. Wenn es überhaupt eines wäre, so wär’s zehnmal verjährt.»

147 Neues Erstaunen ergriff den Richter, als er bemerkte, daß sein Spruch den Besucher, statt ihn zu entlasten, noch mehr verdüsterte.

Herr Gideon schien die Fasern des Fußbodens zu mustern. Zehnmal verjährt! So sann er. Das Verbrechen kann nicht mehr geahndet werden...

«Ich will es aber geahndet haben,» sagte er plötzlich fast heftigen Tones.

Der Gerichtspräsident lächelte. Auch er verfiel einen Augenblick ins Nachsinnen. Schlägt das nun in die Aufgabe des Arztes, fragte er sich, oder in die des Pfarrers? — Voraussichtlich vermag keiner von beiden ihm zu helfen, am wenigsten aber der Richter.

«Wissen Sie was,» entschied er endlich, «in diesem Fall dürfte der Theologe der beste Berater sein. — Der schilt die sündge Seele aus. Und das ist doch wohl, wonach Sie verlangt.» Mit einem etwas erzwungenen Lachen suchte der Jurist der verlegenen Stimmung ein Ende zu machen. Als Herr Gideon mit diesem unbefriedigenden Trost abgezogen war, schritt der Herr Gerichtspräsident eine ganze Weile zwischen seinen aktenbeladenen Tischen auf und ab. — «Ja, ja,» so schloß er seine Gedankenreihen, «so weit haben wir’s gebracht, daß wir gleich an den Psychiater denken, wenn uns einmal solch unverrostetes Gewissen begegnet. Und helfen können wir braven Leuten allesamt nicht. — Eigentlich ist’s ja gut so; aber woher wir den Mut nehmen, zu tun, als vermöchten wir etwas 148 zum Heil der Menschen — das versteh’ ich wahrhaftig nicht.»

Trotz dieser demütigenden Erkenntnis setzte der Gerichtspräsident seinen Weg leichteren Herzens fort als Herr Gideon Blank. Hatte es überhaupt einen Sinn, sich einem Theologen anzuvertrauen? Ihm brauchte doch niemand ins Gewissen zu reden. Dennoch — es sollte jetzt nichts unversucht bleiben, was dem Geplagten zur Entlastung verhelfen konnte, und so begab sich Herr Gideon an die Herrengasse zu einem silberhaarigen Pfarrherrn. Der hörte ihn geduldig und mit Teilnahme an. Dann legte er ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm, blickte ihm in die Augen und fragte: «Lieber Freund, ist dies das einzige Unrecht, das Sie in Ihrem Leben getan und nicht abgebüßt haben?»

Herr Gideon war durch die Frage sehr überrascht und versank in tiefes Sinnen, aus welchem der Pfarrer ihn erst nach längerer Pause, seine vorige Frage ergänzend, aufstörte: «Sind Sie sicher, daß Sie es nie an der richtigen Liebe fehlen ließen, ohne das wieder gut gemacht zu haben? — Haben Sie jedes böse Wort, das Ihrer Zunge entronnen ist, zurückgenommen?»

Herrn Gideon ward ob diesen Fragen plötzlich zu Mute, als würfe er, durch eine steile finstere Felsenklus ansteigend, einen Blick in die tief unter ihm liegende Ebene seines in strenger Tugendhaftigkeit verbrachten Lebens. — Ja freilich, wie hätte er leugnen können, daß er es oft an Liebe hatte fehlen lassen, daß 149 er manches Wort leichten Sinnes gesprochen, mit dem er andere verwundet, und daß die Beleidigten längst gestorben, daß also der ungesühnten Sünden in seinem Leben genug waren? Im Herzen getroffen, gab er es dem Pfarrherrn ohne Umschweife zu.

«Sehn Sie,» sagte der Pfarrer, «wie dankbar Sie Ihrer Tanne sein müssen! Die hat Ihnen nun die Augen aufgetan über unsre menschliche Gerechtigkeit. Und mehr noch! Die Tanne läßt Sie erkennen, wie froh wir sein dürfen darüber, daß das Meer der unverbüßten Sünden, das über unsern Häuptern zusammenschlägt, abgetan ist durch den, der um unsrer Sünden willen sich ans Kreuz schlagen ließ. Niemand hat Ihnen das wohl deutlicher gesagt als Ihre Tanne. — Nun gehn Sie ruhig heim, lassen Sie den Baum fällen und schenken Sie das Holz den Armen!»

Mit diesem Rate war Herrn Gideon eine neue Welt aufgegangen. Ja wahrlich, sein kleiner Waldfrevel, der sein Gewissen dermaßen aufgepeitscht, dünkte ihn, wenn er auf sein langes, in Ehren zugebrachtes Leben zurückblickte, noch das kleinste Unrecht. Welch entsetzliches Defizit an Liebe enthüllte sich vor ihm, wenn er nach alter Gewohnheit, aber in neuem Lichte, Kritik an sich selber übte! Und wohin hätte ihn solche Rückschau treiben müssen, wenn er alledem gegenüber ein solches Sühnebedürfnis empfunden hätte, wie gegenüber dem Waldfrevel? Nein, auf dem Rechtsweg ist nicht alles zu erreichen. In seinem stille werdenden Herzen fing der 150 alte Herr an, den Tod des Erlösers der Menschheit zu preisen.

Die Tanne verschenkte Herr Gideon, wie sie war und wo sie stand, einer kinderreichen Familie an der Matte, unter der einzigen Bedingung, daß sie so bald wie möglich von seiner Terrasse verschwinde. Er hatte nun auch den Mut gefunden, die Verhütung eines Unglücks dem lieben Gott anzuvertrauen, und machte tags darauf einen Ausflug an den Thunersee. Spät abends kehrte er zurück, um zu vernehmen, daß die Tanne von der Terrasse verschwunden sei, «me heig nid gwüßt wie». — Ja die Mätteler! — Am andern Morgen aber lachte Herrn Gideon, als er die Augen aufschlug, die helle Sonne bis ins Bett hinein und erfüllte seine Wohnung mit einem Lichte, das er seit Jahren nicht mehr gekannt hatte.



 << zurück weiter >>