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«Schweizerherz»

«Mutter! Mutter! Erschrick nicht! Ich bin’s.» Mit diesem Ruf trat ein junger Mann dicht neben eine Frauengestalt, die sich aus dem Fenster ihres Wohnzimmers beugte und wegen des Lärms auf der Straße nicht hören konnte, was hinter ihr im Hause vor sich ging. Frau Maibach fühlte jemand an ihrer Seite, dachte es wäre einer ihrer jugendlichen Kostgänger oder die Köchin und sagte mechanisch: «Jetzt hingegen kommen sie, glaub’ ich, doch.» Da sagte ihr aber eine Kraft aus dem Arm, der sich um ihre Schulter legte, was anderes. Auf schoß sie, und in einem jähen und doch unbeschreiblich süßen Schreck warf sich die schmächtige Frau in ihres ältesten Sohnes Arme. Des größten Meisters Pinsel vermöchte nicht auch nur einen blassen Widerschein dessen auf die Leinwand zu setzen, was aus den dunklen Augensternen der Mutter hervorbrach. Es war der Mutterliebe heißestes Erglühen im Angesicht der großen, heilig furchtbaren Stunde, die den Müttern ihr Liebstes aus den Armen nimmt und aus dem tiefsten Dunkel heraus zu ihnen sagt: «Gib her und vollende!» — Ja, die Stunde, welche dieser Frau ihren Ältesten nach schmerzlich langer Trennung auf eines Atemzugs Dauer wieder an das Herz legte, 274 heischte von ihr gleichzeitig das Opfer des geliebten Kindes. Und der sanften Glut ihrer Augen antwortete das himmelhoch lodernde Feuer in des Sohnes Augen. Das Vaterland rief — nicht in der hohlen Festphrase, die keine Saite mehr zum Schwingen bringt, sondern mit dem ehernen Drommetenklang der Wahrheit.

«Hänsli, mein Hänsli!» rief die Mutter, nachdem sie den ersten süßen Schreck überwunden hatte. Und sie küßte wieder und wieder die braun gebrannten Wangen. Zärtlich spielend glitten ihre schmalen Finger durch den welligen Haarschopf, zu dem sie hoch hinauf langen mußte. «Du bist ein wenig Spanier geworden. — Kommst du jetzt grad vom Bahnhof?»

«Auf dem kürzesten... das heißt, ob’s der kürzeste Weg war, weiß ich nicht einmal. Es hat sich in den neun Jahren hier so vieles verändert, und deine Wohnung mußte ich doch erst entdecken.»

«Gefällt sie dir?»

«Ja, sehr gut. Aber du könntest wohnen, wo du wolltest. Beim Müetti wird mir immer wohl sein.»

«Aber sag’, Liebster, willst du nicht etwas essen?»

«Gern, gern, und noch lieber etwas trinken. Diese Gluthitze in den Eisenbahnwagen...!»

«So komm, ich will dir drüben...»

Weiter kam die Mutter nicht. Das Getümmel auf der Straße, dessen Summen zum Brausen anschwoll, lockte den Sohn ans Fenster, und da aus diesem dumpfen Brausen auch schon der Marsch eines Trompeterkorps 275 aufklang, ließ Frau Maibach Flasche und Gläser stehen und trat zu Hans. Herrlich, das Herz erschütternd, brandeten die ehernen Tonwellen den Häuserreihen entlang. Die Abendsonne blitzte in hundert aufgesperrten Fensterflügeln, blitzte auf einem durch die gestaute Menschenmenge daherflutenden Strom von Bajonetten. Säbel warfen Funken in die staubige Gassendämmerung. Einer Flamme gleich flackerte die Fahne über dem dunkeln Gewoge. Lauter dröhnte die Marschmusik. Pferde tänzelten. Nach Fest sah es aus und war doch kein Fest und keine fahrige flatternde Feststimmung. In den Augen blinkte Stolz, und in jeder Kehle würgte heiliger Ernst.

«Aber, sag’ mir. Lieber,» hub jetzt Frau Maibach, ihre Stimme anstrengend, wieder an — und auf ihrer Stirne lauerte die Sorge — «haben sie dich denn willig ziehen lassen? — Hattest du eigentlich Befehl, heimzukehren?» — Hans schüttelte den Kopf. «Wie hätte mich ein Befehl erreichen sollen? — Unsereiner weiß sonst, was er zu tun hat.»

«Aber,» schrie die Mutter durch den Schall der Musik, «werden sie dir deine schöne Stelle freibehalten?» Der Rest ihrer Worte löste sich unter dem zum Donner anschwellenden Schall der Trommeln in nichts auf. Hans lachte und deutete mit der Hand, daß man nun besser tue, zu schweigen und zu schauen. Er hätte auch nicht reden können, denn ihn würgte etwas Merkwürdiges, Wundersames, als jetzt die Fahne seines an die Grenze 276 abrückenden Bataillons vorüberflammte und aller Leute Häupter sich entblößten. — Wie das zuversichtlich trappte in den schwerbepackten, festgefügten Reihen! Mit welcher Wucht floß der Strom dieser gleichgewordenen, zu einem einzigen Ganzen verschmolzenen Mannsgestalten? Wie Andacht lag’s in der Gasse. Kein übermütiger Zuruf, kein unzeitiger Jauchzer zerriß das Gleichmaß des Marsches.

Als der letzte Parkwagen vorbeigeknarrt war und die tausendköpfige Menge ordnungslos in der Gasse durcheinander­quirlte, trafen sich wieder die Blicke von Mutter und Sohn. In des Sohnes Augen war die Ungeduld eingekehrt. Zur leiblichen Erfrischung an den Tisch genötigt, wollte er sich gar nicht zu dem von der Mutter ersehnten Gespräche einfangen lassen. Immer wieder fragte er nach dem Kammerschlüssel, nach seiner Ausrüstung; er überlegte, was er im Zeughaus zu fassen, wann und wo er sich zu stellen habe. Erst durch eine lange Reihe von Fragen, die zur Hälfte unbeantwortet blieben, brachte Frau Maibach ihren Hans dazu, sich ein wenig ihr zu widmen. Wie er die Nachricht von der Mobilmachung vernommen, wann er aus Tanger abgereist, auf welchem Weg er hergekommen sei und was er unterwegs gesehen habe, wollte die gute Mama wissen. Daß Hans den Mobilmachungs­befehl gar nicht abgewartet, sondern, seinem Herzen gehorchend, heimgereist war, erfüllte die Mutter mehr mit Staunen als mit Befriedigung. Alle ihre Fragen gingen auf des 277 Sohnes Stellung in Marokko. Sie konnte nicht loskommen von dem Chef, von den Lebens­verhältnissen und den Aussichten, die sich ihrem Ältesten boten. Was Hans in zahllosen Briefen gemeldet und geschildert hatte, das sollte er nun mündlich nochmals mitteilen. Es kostete ihn wirklich nicht geringe Überwindung. Eines Mannes Herz war jetzt anderer Dinge voll. Tanger, das Handelshaus, die Plantagen, die Reisen ins Innere, die Chefs, die Kameradschaft und Freundschaft, und all das — es war ja bis heute das Wichtigste gewesen, hatte sein Leben und Streben vollauf in Anspruch genommen, und daß die Mutter, deren ganze Hoffnung auf den Erfolgen ihres ältesten Sohnes beruhten, danach fragte, war so verständlich, wie nur etwas in der Welt; aber jetzt — Gott im Himmel! — wer fragte nun nach alledem! Blaß und wie in ferne Vergangenheit gerückt lag es hinter dem jungen Mann. Aller Wahrscheinlich­keit nach kam nun überhaupt alles — alles ganz anders, eine neue Welt fing an, in der man sich zurechtfinden, für die man bereit stehen mußte. Entweder ging die Schweiz unversehrt in diese neue Welt über — und dafür mußte man alles und sich selbst einsetzen, ohne mit der Wimper zu zucken — oder sie ging in der Welterschütterung unter wie eine Scholle im Bergsturz, und dann fragte Hans Maibach dem Leben nichts mehr nach. Es gab dann nichts mehr, wofür es sich rechtfertigte, des Lebens Not und Leid zu tragen. Der wackere Bursche sann 278 überhaupt nicht lange über diese Weiterentwicklung nach. Die Stunde, da man als Soldat ins Feld ziehen konnte, hatte geschlagen. Das Größte, was ein Mann erleben konnte, brach an. Ein Flammenmeer dehnte sich über die Welt. Gedanken und Sinne lagen in ahnungsvollem Empfinden gefangen — in einer Betäubung vielleicht, aber in einer heroischen, die nur Großes, Erhabenes durchschimmern ließ.

«Hänschen! Mein Hänschen!» Frau Maibach streichelte ihres Sohnes Hand, maß seine kräftige Gestalt mit Stolz und Freude. Aber, als ob sie sich selbst ob einem unerlaubten Genuß ertappt hätte, fragte sie plötzlich wieder:

«Sag mir nur, Lieber...! — Versteh’ mich ja nicht falsch. Ich brauche dir doch nicht erst zu sagen, welche Freude mir’s macht, dich wieder hier zu sehen — und so gesund und munter. — Aber sag’ mir: Mußte es denn eigentlich sein, wenn du doch keinen Befehl hattest? — Wird dir das vorzeitige Abreisen auf eigene Faust nicht schaden?»

«Mutter!» — Fast ärgerlich war der Blick, der die Besorgte traf. — «Daran denkt jetzt niemand. Solche Fragen sind nur dem möglich, der immer in der Heimat, am Ofen hockt. Man sollte wahrhaftig glauben, um zu fühlen, was die schweizerische Heimat einem Schweizer ist, müsse man erst ein paar Jahre jenseits des Ozeans sein Brot essen. — Ich sage: Ein Hundsfott und des Schweizer­namens unwürdig ist, wer nicht nackend über 279 tausend Dornhecken heimläuft, wenn dem Vaterland auch nur der Schein einer Gefahr droht! — Aber ihr daheim, ihr lebt von einem Tag in den andern, mitten in der Herrlichkeit, als ob es anders gar nie werden könnte.»

Hans vergaß auf einmal Essen und Trinken. Feuer sprühte aus seinen Augen, und er wollte aufspringen. Die Mutter hielt ihn zurück, indem sie ihm über den Tisch die im Eifer weggerückten Teller wieder zuschob und mit unwiderstehlichen Blicken den lieben Jungen bat, ihren Leckerbissen Ehre anzutun.

Er aß, aber es kribbelte ihm in allen Gliedern. Wenn er auch heute nicht mehr ins Zeughaus hinaus laufen konnte, so wollte er doch wenigstens seine Uniform aus der Kammer herunter haben. In der Stadt herum, unter die Leute mußte er dann, etwas hören und seinem Herzen Luft machen.

Nur mit äußerster Anstrengung hielt er in der Gesellschaft der Mutter aus, wiewohl sie ihm doch, weiß Gott, sonst das Höchste auf Erden war. — Wie hatte er sich nach ihr gesehnt, wie oft in der Fremde geängstet, sie könnte dem Vater ins Grab folgen, ehe er mit dem letzten Erfolg krönte, was er für sie zu tun sich gelobt! Jetzt ward ihm bewußt, daß es noch weit mächtigere Kräfte gab als diese Liebe zu den Eltern. Wieder schnellte er auf, da nahten sich lärmende Schritte im Korridor. Die Türe flog auf, und herein stürzte sein dreizehn Jahre jüngerer Bruder und hinter ihm her die zwei Pensionärinnen, übersprudelnd vor 280 Plauderdrang. Was die nicht alles zu berichten hatten! Als läse man zehn Bulletins auf einmal, so kam’s über die Schwelle herein. Da — Stop! — Wer saß denn da bei Mama? Einen Augenblick stockte der Atem vor Staunen. Dann ein Geschrei, und die Brüder lagen sich in den Armen, während die Mutter Freudentränen auftupfte und die beiden Mädel Augen machten wie Rehlein an der Landstraße.

«Gehst du auch an die Grenze? — Wo mußt hin? — Gehst du heute noch? — Wann bist du heimgekommen?»

Die Augen des Gymnasiasten kugelten und sprühten vor Eifer. Die Mama lächelte darob. — Sie lächelte immer ob seinen Nachrichten, lächelte ob dem Militärrummel. — Beinah kam der Junge ins Stampfen. Das war dieses Lächeln, das ihn alltäglich ärgerte. Er fühlte: die Mama glaubte gar nicht an das Militär und jetzt auch gar nicht an den Krieg. Natürlich, Hansens Dienstbüchlein, die Marschbefehle, die Pflicht­ersatzsteuer und all die papiernen Geschichten nahm sie heilig ernst. Deretwegen konnte sie unter Umständen in eine heillose Angst geraten. Aber Dienst, Parade und Manöver, das alles war ihr ein Spiel. Man sah’s ihr ganz gut an. Und daß man eines Tages doch ausrücken, ein Gefecht mit dem Feinde bestehen und sogar sein Leben dabei einbüßen konnte, das gab’s für sie gar nicht. Sie machte ob all dem haargenau das gleiche Gesicht wie damals, als man mit einem Preußenhelm aus Pappe auf dem Lockenkopf Soldatlis spielte.

281 Die beiden Brüder fühlten es heute wieder so deutlich. Und weil sie aus Respekt und Liebe jede Trübung des Wiedersehens sorgfältig meiden wollten, waren sie sehr bald stillschweigend übereingekommen, sich hernach außer dem Hause Luft zu machen. Schicklicher Weise durften sie nicht jetzt schon davonlaufen. So setzte man sich hin, und Hans mußte von seiner Reise erzählen. Aber er kam damit nicht weit. Immer und immer wieder sprang das Gespräch auf den Krieg und die Mobilmachung über, so daß nun auch Mama ihren Teil stillen Ärgers davon hatte. Kaum daheim, wollte Hans wieder fort, und nun wurde das kurze Zusammensein gar noch mit diesem törichten Kriegsgeschrei verschwatzt.

Frau Maibach bat sich sehr bestimmt aus, den Abend mit Hans ungestört zubringen zu dürfen. Dafür ließ sie es geschehen, daß die beiden Söhne noch vor dem Abendessen einen Gang in die Stadt unternahmen. Hans wußte, wo er diejenigen vermutlich traf, durch die man etwas vernehmen würde. Fritz leuchtete vor Freude, sich mit dem weitgereisten Bruder an einen Biertisch setzen zu können. Von den alten Bekannten fand sich jedoch niemand ein. Öde und still blieb es im Kastanienschatten der sonst so belebten Terrasse. Alles, was gesunde Glieder hatte, war abmarschiert, und von den «Staatskrüppeln» machte sich gar mancher im Dienst hinter der Front nützlich. Hans brannte vor Ungeduld, in die Marschschuhe zu kommen. Man mußte sich ja schämen, hier müßig zu sitzen. Fritz verzappelte 282 beinahe. Wenn doch nur die dummen Schulen geschlossen und die ganze männliche Jugend in den Hilfsdienst gesteckt würde, als Pfadfinder oder sonstwie! «Du», sagte er, «es braucht nicht mehr viel und ich lauf einfach fort, den Truppen nach.»

«Das darfst du nicht, Fritz.» suchte der Ältere ihn zu beruhigen. «Dein Dienst ist bei Mama, hörst?»

«Ach ja, aber langweilig ist das. Und sie hat so gar keine Spur von patriotischer Begeisterung.»

«Weiß schon, weiß schon. Aber schau, sie wird nun noch manches zu tragen haben. — Wenn die Gute erst wüßte, daß ich wahrscheinlich meine Stelle in Tanger bereits verloren habe! Du darfst ihr nichts davon sagen, hörst? Ich bin nämlich sozusagen davongelaufen. Auf die allererste Alarmnachricht hin bin ich zum Chef gegangen und habe um Urlaub und Lohn gebeten. ‹Haben Sie Marschbefehl?› fragte er mich. ‹Nein,› sag ich; ‹aber es hält mich nicht mehr hier.› — ‹Aber so warten Sie doch erst ruhig den Mobilisations­befehl ab!› schnauzt er. ‹Wer wird denn ein Narr sein und alles im Stich lassen, bevor er dazu gezwungen wird?› — ‹Mögen Sie mich immer einen Narren schelten, Monsieur,› sag ich; ‹aber in meinen Augen ist ein Schuft, wer sein Vaterland im Stich läßt›.» — «Prosit!» warf Fritz dazwischen. «Dem hast du’s gut gegeben.»

«Aber den Blick hättest du sehen sollen, mit dem er mich daraufhin musterte. Eine ganze Weile wußte 283 ich nicht, ob er mir nicht noch an den Kragen wollte. Dann ging er plötzlich zu seinem Pult, blätterte in der Besoldungs­kontrolle nach und zahlte mir mein Guthaben aus.

Wie ich mich verabschieden will, sagt er: ‹Sie sind ein guter Patriot, Herr Maibach, aber ein Tor und ein schlechter Sohn. Sie können sich nicht darauf verlassen, daß man Ihnen die Stelle offen hält, die Sie so mutwillig verlassen und die man Ihnen um Ihrer Eltern willen eingeräumt hat.›

‹Den Toren steck’ ich ein,› hab’ ich ihm geantwortet; ‹aber ein guter Patriot ist der beste Sohn.› Und draußen war ich.»

«Bravo! Bravo!» sagte Fritz.

«Ja, nun weißt du, wie die Sache steht und worauf wir uns gefaßt machen müssen. Aber gelt, Fritz, wenn’s fehlen sollte — unsre Mutter soll es doch erfahren, daß gute Patrioten gute Söhne sind, he?»

«Ja, das soll sie,» stimmte Fritz begeistert ein, und sie stießen ihre Gläser so kräftig zusammen, daß dasjenige des ältern Bruders entzwei brach.

*  *  *

Früh schon am andern Morgen war Hans Maibach auf dem Wege zur Militärdirektion, um seine Marschroute zu holen. Dann ging’s in das Zeughaus zur Ergänzung seiner Ausrüstung. Es bedurfte vielen Laufens, geduldigen Wartens und Herumstehens in der 284 schwülen Augustluft, bis er endlich den letzten Stempel im Büchlein hatte. Aber das Mobil­machungs­fieber, der große Atem des «Ernstfalls» ließ einen all das Unangenehme leicht überwinden. Der Rest des Vormittags wurde zur Komplettierung dessen benützt, was der Soldat selber mitzubringen hat. So ward es ein unruhiger und wenig gemütlicher Halbtag. Die Mutter kam dabei nicht auf ihre Rechnung.

«Ach was!» sagte sie ärgerlich, als Hans erklärte, er werde auf dem Bahnhof sein Mittagessen nehmen, um nicht Umstände zu machen, «hat das nun wirklich solche Eile mit dem Einrücken? Einmal hinterdrein, wird es doch wohl auf ein paar weitere Stunden nicht ankommen.»

Hans lachte.

«Wann willst du essen?» fragte Frau Maibach.

«Aber laß doch, liebe Mama! Was willst du denn die ganze Hausordnung aus dem Geleise bringen!»

«Wann fährt der Zug?»

«Zwölf Uhr fünf schon.»

«Nu ja! Dann essen wir doch ein Viertel nach elf in aller Seelenruhe zusammen.»

«Aber...»

Frau Maibach war schon zur Türe hinaus. «Dem will ich schon zeigen, ob unsereins nicht auch mobil zu machen weiß,» sagte sie zur Köchin.

Beim Mittagessen fiel Fritz auf, daß das ihm so zuwidere Lächeln gänzlich aus der Mutter Gesicht verschwunden 285 war. Aha, dachte er, jetzt fängt sie an, daran zu glauben.

Frau Malbach war sehr still. Da sie schon am Abend auf ihre immer wiederholten ängstlichen Fragen nach der Zukunft und den spätern Aussichten ihres Ältesten gar keine Antwort bekommen hatte, forschte sie heute nicht mehr danach. Es war auch nicht nötig. Hans konnte alles, was sie quälte, von ihrem Gesicht ablesen. Das warf einen tiefen Schatten in seine Soldatenfreude. Er wich den Blicken seiner Mutter aus, wollte auch gar nicht mehr sehen, was zu übersehen doch ganz unmöglich war: daß das Äußere seiner lieben Mutter unzweideutig Spuren schwerer Sorgen zeigte.

Und als dann endlich beim Aufbruch ein Tränenstrom aus ihren Augen brach und sie kein Wort mehr herausbrachte, da würgte er mit Mannskraft alle Rührung nieder, zwang sich zu einem Lachen, das derb und tröstlich klingen sollte, aber im Unterton doch klirrte, als wäre auch hier ein Sprung im Glase, und warf der Mutter hin:

«Sei ruhig! Bin in Gottes Hut.
Er liebt ein treu Soldatenblut.»

Ihm kam Fritzens Begeisterung zuhilfe, der sich den Tornister aufgeschnallt hatte und behauptete, den trüge er über alle Berge. Nach hundert Schritten freilich kam der Knabe zur Erkenntnis, daß das Ding doch eigentlich anders eingerichtet sein sollte. So reißen 286 und drücken dürfte das Gepäck im Interesse der Gefechts­tüchtigkeit nicht.

Der Bahnhof mit seinem Staub und Gestürm lag hinter dem Füsilier, der nun nachdenklich am Wagenfenster saß und mit neuem Behagen das schöne Landschaftsbild in sich aufnahm. Freilich etwas war da gestört, draußen und drinnen. Draußen auf den Feldern bot die Ernte nicht das erhebende Bild festlich-froher Arbeit. Und drinnen, in seiner Brust heischte die Erinnerung an die in Verlegenheit und Sorgen zurückgelassene Mutter ernstes Besinnen. Es lag darin etwas wie Anklage, und damit mußte Hans ins Reine kommen.

Zehn Jahre war es nun, seitdem der Vater gestorben. Da war die Mutter mit Fritz in die Stadt übergesiedelt und hatte auch ihn, den Ältern, der bisher bei einem Lehrer in Pension gewesen, in den eigenen Haushalt zurückgenommen. Alles sparte sie sich ab, um, gemäß den Wünschen des Vaters, beide Söhne studieren zu lassen. Aber wie sie es drehte und wendete, die Mittel reichten dazu nicht aus, und die Verwandten, die offenbar befürchteten, beispringen zu müssen, drängten Frau Maibach von ihrem Vorhaben ab. Unauslöschlich blieb Hans das Bild des Kummers, das die gute Mutter darbot, als sie ihn — wenige Tage nach dem Maturitätsexamen — zu sich auf das Ruhbettlein zog, um ihm die Lage zu erklären. Daß ein Junge an einer Beichte beinah ersticken kann, das wußte er damals längst aus Erfahrung. Aber daß es auch Dinge gibt, 287 die ihren Kindern zu eröffnen, beinahe die Lebenskraft einer Mutter übersteigt, das war die schmerzvolle Offenbarung jener feierlich stillen Abendstunde.

«Mutter sag’,» so war er ihr zuhilfe gekommen, blindlings entschlossen, ihr jedes Opfer zu bringen, «Mutter, sag’, was hast du? Ist es wegen des Vaters?»

«Nein, Kind, wegen deiner Zukunft.»

«Ei, dann nur heraus damit! Mir bangt vor nichts.»

Das hatte ihnen beiden Luft gemacht. Und dann kam das mütterliche Geständnis. Schulden hatte die gute noch und wußte sich glatt nicht mehr zu helfen. Es hatte sie schon so hergenommen, daß auch ihres Leibes Kräfte zu versagen drohten. Als ob Gott ihm eine Hand auf die Augen gelegt hätte, war’s. Er sah nicht die Größe seines Opfers, sondern nur die Gelegenheit, eine Tat zu vollbringen — dazu noch an seiner Mutter! — Da war der Strom, das tiefe Wasser. — Hinein! Retten!

Kaum war dieser Entschluß gereift, so kamen auch die guten Einfälle. Wie flügge Vögelchen flatterten sie aus seinem Sohnesherzen heraus. Und immer wärmer ward ihm dabei. Der Reiz des Neuen, die Lust des Unternehmens gesellten sich zum Opfermut. Als man sich an jenem Abend zu Bett legte, war schon alles ausgemacht. Hans verzichtete einstweilen auf das Studium, um vorerst die Mutter zu retten, und dann wollte er’s auf seine Ehre nehmen, dem kleinen Fritz den Weg 288 des Vaters zu sichern. Jene Tage waren vergoldet durch das stolze Gefühl, ein großes und fruchtbringendes Opfer gebracht zu haben. Das vermochte schon eine ganze Menge von Widerwärtigkeiten aufzuwiegen. Nie zuvor war er so guter Dinge gewesen. Und als nun vollends durch die Bemühungen eines Herrn, der dieses Opfer zu würdigen wußte, Hans die Laufbahn in der Faktorei in Tanger sich auftat, da wußte er: alles selbstlose Streben findet seinen Lohn.

Alles ging gut, bis der Reiz der Neuheit verblaßt war. Dann kamen die harten Proben, die das Heimweh weckten. Eines Tages entdeckte Hans, daß er nicht immer auf Grund seiner braven Tat avancieren werde. Er sah sich zwischen Menschen, die skrupellos mit ihm in Wettbewerb traten. Sein humanistisch geschultes Empfinden verursachte ihm zwischen diesen rücksichtslosen Gewinnmenschen allerhand Leiden, die niemand mit ihm teilte. «Ich Tor!» gestand er sich in stillen Stunden, «was habe ich doch eigentlich preisgegeben!» Es währte nicht lange, so schien ihm, daheim, in der Schweiz, seien die Leute doch biederer. Und nachdem er ein paar Jahre lang beinahe mit Verachtung an die Heimat mit ihrer Enge, ihrer Spieß­bürgerlichkeit und aussichtslosen Armut gedacht, fing es auf einmal an, ihn wieder dorthin zu ziehen, in die traulichen Täler, über denen eben doch Berge — Hochwarten für eine freiheitsdurstige, mammonsfremde, aufrichtige Seele — wachten. Eine leise Ahnung ging dem Heimwehkranken 289 auf von dem innern Zusammenhang zwischen dem harten Boden der Schweiz und dem gesunden Sinn ihres Volkes. Jedes strebenden Menschen Auge sucht den Horizont, der die letzte Grenze seines Wirkens bedeutet. Draußen in der weiten Welt fliegen die Blicke flach über das Erdreich, das sie zu beherrschen suchen. In der engen Welt der Berge leitet sie das steil aufgerichtete Erdreich zum Himmel empor, so daß die Menschen nimmer vergessen können, von wannen ihnen die letzte Hilfe kommt. Immer haben sie es vor Augen, daß alles Leben Steigen oder Fallen ist und das glatte Fortrollen mit Täuschung endigt.

Was aber Hans zu tapferem Ausharren zwang, das waren die Nachrichten von seiner Mutter. Nicht daß sie ihn besonders drängte; aber er fühlte zwischen den Zeilen ihrer Briefe die Härte ihres Kampfes um das karge Brot der Witwe. Wenn diese schweigende Not in dunklen Nächten sich zu ihm auf das Bett setzte, dann vergaß er das eigene Leid und sprang am nüchternen Morgen mit tapferem Entschluß in die Arbeit. Das Bewußtsein, der Mutter Not zu tragen und zu mildern, durchleuchtete die trübsten Wolken. Immer heller ward dieses Licht, immer mutiger trug er seine Last, und schon begann er sich abzufinden, mit der Erkenntnis, daß ein wackerer Mann überall in der Welt eine Heimat sich schaffen könne, da wisperte ihm die Zeitung etwas von drohendem Ungewitter jenseits des Meeres. Und kaum hatte er’s vernommen, so stieg heiß 290 in seinem Herzen die alte Liebe empor. Als blickte ihn ein altes schönes Auge voll unergründlicher geheimnisvoller Liebe mahnend an, so war’s ihm auf einmal wieder — Tag und Nacht. Und jede kleinste Nachricht, welche die Gefahr bestätigte, brachte neue Glut in das seltsame Auge. Hans wußte schon: nur äußere Bande noch hielten ihn an der fremden goldgesättigten Erde fest. Da kam eines Morgens die Meldung vom Ausbruch des Völkerbrandes. Die letzten Seile zerrissen, und der Schweizer schwang den Wanderstab aus Arvenholz, der nach den lichten Höhen der Berge zeigte. «Ich komme, ich komme,» schrie jede Faser seines Herzens, und nur eine Sorge kannte er fortan: zu spät einzutreffen auf der Wahlstatt.

Diese Angst war nun wohl umsonst gewesen. Aber jeder Schritt offenbarte dem jungen Manne neue Gefahren. Kleinmut und häßlicher Selbstsucht war er in den aufgeregten Gassen der Vaterstadt begegnet. Um so nötiger fühlte er sich. Er wußte jetzt von draußen, was die Heimat war, und wenn die daheim es noch nicht gemerkt hatten, so wollte er’s ihnen zeigen und sagen.

Wieder und wieder sah er jetzt durch die Fenster des rollenden Wagens, wie sie mühselig mit Halbgespann die Ernte heimführten — fast nur Frauen. Die Jungmannschaft fehlte. Aber sie schafften unverdrossen. Hier drinnen aber, im Wagen, hörte er ringsum den Kleinmut das Wort führen, dumpf und bedrückt. Nur 291 wenn ab und zu einmal der Galgenhumor laut wurde, so erscholl ein dankbares Lachen.

Mehr und mehr aber nahm nun die Herrlichkeit der Heimat den braven Soldaten gefangen. Da waren sie ja wieder, die wundervollen Bergwände, die in purpurnen Kerben und sonnegesättigten Platten den Blick himmelan lenkten. Da lag — o Wunder Gottes — der liebe alte Thunersee. Scharfe Silbergräte schnitten den blauen Himmel. Im würzig duftenden, flimmernden Gebüsch längs der Bahnlinie blinkte der Schaum des Bergbaches, und wenn der Zug hielt, vernahm man das große Rauschen, das die Täler mit Ewigkeitspsalmen erfüllt. Immer schöner, immer erhabener wurden die Formen, immer mächtiger die Spuren der großen Gewalt. Und je mehr er davon sah, desto mehr freute Hans sich seiner eigenmächtigen Heimkehr.

Zum Überquellen kam sein heimatvolles Herz vollends, als der Zug um die Bergschneide von Hohten bog und der Blick in das gewaltigste aller Täler niedertauchte. Da erwacht in des Menschen Seele das Adlergefühl, das königliche Schweben in der Freiheit. Nirgends liegen des Menschen jämmerliche Not und seine Gottherrlichkeit in engerem Rahmen beisammen als hier, wo die Diamanten der Firnhäupter herniederblitzen in die kahlen Wände der lawinen­zerschmissenen Hirtendörflein. Und hier — mitten durch die via triumphalis der rohen Naturgewalt hat das starke Volk seinem Wohlfahrtswillen eine glatte Bahn gesprengt. Hier sind 292 Schöpferwille und Volkswille in königlicher Gebärde eins geworden.

«Und da soll keine fremde Hand dran rühren, so wahr wir noch Schweizer sind!» gelobte sich Hans Maibach in seligster Begeisterung. Die vermochte auch die Sonnenglut der staubigen Landstraße nicht zu versengen, als er nun in der Talsohle dem Hauptquartier seines Bataillons entgegen­marschierte. Zum Ersticken heiß brütete der Mittag in den unregelmäßigen Gassen der kleinen Walliserstadt. Aber der wackere Füsilier müßte nicht so manchen Sommer auf afrikanischer Erde zugebracht haben, hätte ihn das angefochten. Immerhin schob er das ungewohnte Käppi weit in den Nacken, und weil es auf dem spanisch-gewellten Lockenkopf reiten mußte, saß es auch noch ziemlich schief. Den Rockkragen trug Hans weit geöffnet, und an dem neuen Lederzeug, das ihm noch ganz ungewohnt war, mag nicht jedes Schnällchen haargenau an seinem Platz gesessen haben. Kurz, er machte den Eindruck eines etwas liederlichen Soldaten, wovon er keine Ahnung hatte. Darum konnte sich der Füsilier auch den Ausdruck des Mißfallens auf den Gesichtern der Offiziere nicht erklären, welche auf der Terrasse vor dem Hotel am Marktplatz ihren Mittagskaffee schlürften. Es waren die Herren von seiner Kompagnie. Wart nur, dachte er, bald werden sich diese Stirnen aufhellen, wenn man vernimmt, woher ich komme. Als er ihnen näher kam, stieg ein Oberleutnant die Stufen herab und winkte Hans heran. 293 Der Füsilier nahm das Gewehr bei Fuß und stellte sich stramm. Immerhin gönnte er dem Offizier einen schmalen Blick zwischen seinen spanischen Stiefelabsätzen hindurch auf das holperige Pflaster. In Erwartung einer Frage blieb Hans stumm. Oben am Tisch lachten die Offiziere.

«Melden!» sagte der Oberleutnant, mehr väterlich mahnend als barsch.

Armer Hans! Neun dienstlose Jahre lagen hinter ihm. Was sollte er melden? — So fing er denn an: «Herr Oberleutnant, ich komme aus...»

«Meldenn!» wiederholte nachdrücklich der Offizier.

Nach einigem Besinnen dämmerte in Hans endlich auf, was gemeint war, und er hub wieder an: «Füsilier Maibach meldet sich zur Kompagnie.»

Es folgten nun ein paar gegenseitig aufklärende Worte, worauf der Oberleutnant sich umwandte und seinen Kameraden zurief: «Aus Marokko kommt der Mensch.»

Da erhob sich der Hauptmann, und indem er neugierigen Blickes die Treppe herabstieg, erwachte bei ihm, wie bei Hans Maibach, eine Erinnerung. Hans erkannte in seinem Kompagniechef einen Zimmerkameraden aus der Rekrutenschule. Blitzschnell rollte in seiner Erinnerung das seitherige Geschehen sich ab, ein tiefes Mißbehagen weckend. — «Hauptmann ist der jetzt und mein Hauptmann, des Rößliwirts Bub, und ich mit meiner Maturität und all meinem einstigen militärischen 294 Feuer bin der Nachzügler in seiner Kompagnie!» So tönte es in des Soldaten Herz. Und es war so. Niemand hätte es übrigens leugnen können: des Rößliwirts Bub schien ein ganzer Mann zu sein, ein schöner Offizier. Ein Gesicht aus Bronze, klare, selbstbewußt blickende Augen, eine hochgereckte Gestalt. Er hatte sich famos herausgemacht in den neun Jahren. Wenn der inwendige Mensch dieser Erscheinung entsprach, so durfte sich die Kompagnie gratulieren.

«Sind Sie nicht der Maibach von Unterseen?»

«Zu Befehl, Herr Hauptmann.» — Hans schnarrte das in jenem Ton, den man unter Kameraden zum Spaß recht schnarren läßt. Ob der Hauptmann das herausfühlt? Lachte er. Und wie wird er darauf eingehen?

«Wo kommen Sie denn her?»

«Aus Marokko, Herr Hauptmann.»

«Aus Marokko? Und schon hier?»

«Gestern in Bern angekommen. Heute früh habe ich gefaßt und mittags konnte ich abfahren.»

«Alle Achtung! — Wann erhielten Sie denn den Marschbefehl?»

«Ich erhielt keinen, Herr Hauptmann.»

«Ja, wie kamen Sie denn dazu, einzurücken?» Maibachs Augen glühten auf, nicht in absichtlicher Zurechtweisung. Aber was konnte der Soldat dafür, daß sein Stolz in sprechenden Falten auf sein Gesicht trat, als er antwortete: «Mein Schweizerherz hat mir den Marschbefehl gegeben»!

295 Sie maßen sich gegenseitig mit hoch ausschauendem Blick. Daß der Offizier ihm den freien Entschluß zur Heimkehr nicht ohne weiteres zutraute, verdroß Hans ebensosehr, wie den Hauptmann der feine Stachel in der Antwort seines alten Kameraden. Wie sollte er diesem Füsilier und aufrechten Eidgenossen gegenüber die richtige Tonlage finden? Mit nachsichtigem Lächeln prüfte er den nicht ganz korrekten Anzug des Nachzüglers und sagte dann, zum Spaß einlenkend: «Gehn Sie jetzt ins Quartier und lassen Sie sich das Riemenzeug ordentlich anpassen — Schweizerherz! — Und dann...» Der Hauptmann deutete nach seinem kurzgeschorenen Kopf und machte dazu mit den Fingern die Bewegung der Schere.

Hans, in dessen Leibe die einst gelernten Bewegungen allmählich wieder erwachten, meldete sich ab und machte mit mehr gutem Willen als Gewandtheit kehrt, um das Quartier zu suchen.

«Was Schönes ist’s doch um die Schweizertreue,» sagte der Oberleutnant, und der Hauptmann antwortete etwas gezwungen: «Ja, das ist’s. Aber so ganz von selbst versteht sie sich doch nicht bei allen.»

Im Fourierbureau lautete das Urteil über Maibachs Patriotismus ebenso kurz, wie unmißverständlich: «Potz Donner — aus Marokko!» Wie auf Kommando hatten es Feldweibel und Fourier gleichzeitig gerufen. Aus dieser Leute Mund wirkte die Verwunderung nur wohltuend auf den Nachzügler. Von nun an 296 hieß er nur noch «der Marokkaner», nämlich bei tadelloser Führung. Passierte ihm was Ungeschicktes, so sprach man vom «Schweizerherz».

Die spanischen Locken waren gefallen. Und dennoch hielt mancher Kamerad den Maibach für einen Exoten. Sein eher bleiches Gesicht färbte sich immer mehr wie Bronze. Dazu hatte er die dunklen Augen seiner Mutter, und, was am meisten ausmachte, das waren die wulstigen Lippen, die nun in der Hochgebirgsluft auf den Schneefeldern sprangen und bluteten.

Der Hauptmann liebte verwegene Patrouillengänge, und auf diese nahm er den Marokkaner gern mit. Da ging nun Hans erst recht eine neue Welt auf. Was weiß der sich schonende Tourist vom Sternenschein auf dem Hochfirn, von den Farbenspielen der Dämmerung auf Zinnen und Gräten! Oft meinte Hans, wenn sie stundenlang in tiefem Schweigen firnauf stapften und nichts die Nacht durchbrach als das ferne Donnern eines stürzenden Seraks und die flimmernde Pracht des Sternenhimmels, er wisse in seiner Seele nicht mehr wohin mit den Eindrücken. Ob sie es ihm wohl ansähen, überlegte er zuweilen, daß er fast verrückt werde vor Heimatlieb’ und Schweizerwonne. Der Gedanke, daß dieser Besitz dem Schweizervolk gefährdet sei, entfachte in seiner Seele ein ganz besonderes Feuer.

Reden konnte man von diesen Dingen nicht, höchstens singen, und das taten sie mit seliger Lust, Offizier und Soldat, wenn sie irgendwo auf einer Felsenkanzel 297 saßen und die Füße in den blauen Abgrund hängen ließen. Da waren sie ungetrübt eins — als Eidgenossen.

In andern, nüchterneren Augenblicken bohrte in Maibachs Herzen immer noch die Mißstimmung, die zwischen ihm und dem Hauptmann lag. Hans war sich seines patriotischen Adels bewußt und konnte nicht die leiseste Äußerung einer Anerkennung dieser Tugend von seiten des Hauptmanns ertragen. Alles andere, jeden Tadel in militärischen Dingen nahm er hin, ohne daß es ihn Überwindung kostete. Aber an Liebe und Hingebung für die heilige Sache des Vaterlandes fühlte er sich jedem gewachsen. Hierin gilt kein Gradabzeichen. Der letzte Brotbäcker darf sich dicht neben den General stellen, und keiner hat das Recht den andern zu überschatten, keiner die Befugnis, dem andern ein Zeugnis auszustellen.

Dem grübelte eines Tages Hans im Abstieg von einem gefährlichen Grenzwalle nach, auf dessen Zinne der Hauptmann wieder einmal ahnungslos ihm wehgetan hatte. «He, ‹Schweizerherz›», hatte er zu ihm gesagt und ihm einen Klaps aufs Knie gegeben, «lohnt sich das bißchen Aufopferung nicht?» — Durfte der ihm von Aufopferung reden? — War das nicht eher sein Vorrecht? — Hans war unglücklich. Warum nur mochte er diesen Mann, der sich doch alle Mühe gab, ihm ein wohlwollender Vorgesetzter zu sein, nicht leiden? — Wie konnte es nur kommen, daß gerade dieses Wohlwollen ihm den harmlosen Menschen eigentlich 298 verhaßt machte? — War es deshalb, weil der Hauptmann mit dem als etwas Gegebenem, Fertigem gewissermaßen spielte, was Hans mit soviel Herzblut und schmerzend klarem Bewußtsein sich errungen?

Sie näherten sich dem Talboden, der, wenn man über die Felsblöcke hinweg sah, in glühender Luft zu zittern schien. Die Wegrinne, in der die Patrouille abstieg, glich einem mit gelblichem Sand und groben Steinen ausgelegten Backofen. Den Männern war, als hätten sie ihren letzten Tropfen ausgeschwitzt, und die Fußsohlen brannten, als gingen sie auf glühendem Rost. Ein platter Vorsprung über dem letzten jähen Bord lud zur Rast. Ein paar Lerchbäume warfen mildernden Schatten ins dürre Gras. Leuchtende Weidenrosen blühten zwischen kahlen Granitblöcken. Da streifte der Hauptmann sein Lederzeug und die Bluse ab und legte sich hin mit dem Wink, seinem Beispiele zu folgen. Im Nu lagen die drei Männer hingestreckt, in einer Reihe, so daß ihre Köpfe im Schatten des einen Lerchenstammes ruhten.

Hans, der am weitesten ostwärts lag, erwachte zuerst, da ihm der Schatten vom Gesicht glitt. Noch ließ er eine Weile seine Blicke träumend zwischen dem lichtgrünen Nadelgeäst in den tiefblauen Himmel tauchen, dann richtete er sich auf und blickte um sich. Eben zogen sich die Körper der Kameraden unwillkürlich zusammen, um sich dem wieder vollauf sie fallenden Sonnenlicht zu entziehen. Sie hatten die Mützen quer über die Augen gelegt.

299 Da — Gottes Barmherzigkeit! — schoß der Hauptmann mit wildem Schrei jäh in die Höhe. An seinem entblößten Halse hing eine Viper. Wütend sprang Hans über seinen erst erwachenden Nachbar hinweg — natürlich schon zu spät.

Das Tier war abgeschlenkert und verschwunden. Von rasendem Schmerz gepeinigt, rannte der Offizier hin und her, stampfte, wand sich und schrie dem verblüfft aufwachenden Mann an seiner Seite zu: «Ausbrennen! — Wer hat Feuer? — Macht Feuer! — Eine Zigarre oder einen Ast her — gleich was!» Sie wühlten in allen Taschen und Säcken. Nirgends mehr ein Streichholz! Weiter suchten sie. — Sie betasteten jeden Fleck ihrer Kleider, suchten in ihrer Verwirrung nach Branntwein, den man nur verbotenerweise auf sich tragen konnte. Nichts da!

«Aussaugen! Aussaugen!» rief Hans und trat an den Offizier heran. Da verspürte er, mit der Zunge über die Lippen fahrend, die Hautsprünge, die er vom Gletscherbrand her noch hatte. Er wandte sich gegen den andern Kameraden: «Hast du unverletzte Lippen?» — Aber auch der hatte seine Risse, und zudem schien ihm jede Lust zu der gefährlichen Hilfeleistung zu fehlen.

Nun hatte Hans Maibachs Stunde geschlagen. — Er hörte eine jammernde Stimme: «Hans, mein Kind, was tust du? — Denkst an mich?» Er sah die flehenden Augen seiner Mutter. Unwillkürlich schloß er die eigenen Augen, als er mit aller Kraft die Haut am Halse 300 seines Hauptmanns zusammenpreßte und das vergiftete Blut aus der Schwellung sog. Schon begann das Gift in dem Gebissenen zu wirken. Seine Energie schwand, er zitterte, wankte, sank auf einen Felsblock nieder. Wie ein Marder an seiner sterbenden Beute, so lag Hans Maibach auf dem Hingesunkenen. Als er merkte, daß die Lähmung über den Offizier kam und Krämpfe sein Gesicht zu verzerren begannen, rief er dem andern Soldaten zu: «Lauf ins Quartier! Hol Hilfe!»

Der lief, wie er in seinem Leben noch nie gelaufen war.

Die kurze Pause, die Hans Maibach in seinem grausigen Hilfswerk gemacht, hatte genügt, um ihm den brennenden Schmerz in seinen Lippen zum Bewußsein zu bringen. Unwillkürlich griff er mit der Hand daran, riß an den Lippen, um sie zu beschauen. — Schreckens­schauer durchrieselten ihn. Die Lippen waren zu unförmlichen Wülsten aufgequollen. Wie mit glühenden Zangen riß der Schmerz daran. Eiskalt überlief es den Tapfern.

«Nun habe ich mein Leben hinge...» Tränen kamen ihm in die Augen. «Arme Mutter! — Aber siehst du, jetzt konnte ich doch mein Leben...»

Tiefblau lachte der Himmel über der Stätte des Unglücks, und in der vollen Glut der Abendsonne standen jenseits des Tales die Firnhäupter, als die keuchende Rettungskolonne die beiden im Geröll Liegenden aufhob.

*  *  *

301 Wieder wogte eine neugierig wartende Menge vor dem Hause der Witwe Maibach. Man hörte das Gesumme schon lang; aber niemand stand am offenen Fenster. Frau Maibach saß wie in einem bangen Traum befangen am Bett ihres Ältesten und ließ ihre Augen hin und her schweifen zwischen dem schwer atmenden Kranken und dem in einem Lehnstuhl kauernden, nach Fassung tapfer ringenden Jüngsten.

Wenn der Kranke einen lichten Augenblick hatte, so wurde nur von den allernächst­liegenden Dingen gesprochen. «Willst du etwas trinken? — Darf ich dir die Kissen zurechtrücken?» und dergleichen Fragen wurden laut, sonst nichts. Der Kranke antwortete meist nur mit stummen Blicken. Mitunter suchte seine matte Hand diejenige der Mutter oder des Bruders.

Sie hatten sich nicht mehr verstanden, Mutter und Sohn.

«Wenn’s denn so ist,» hatte sie erklärt, «will ich ihn wenigstens bei mir haben.» Sie hatte den Verzichtschein unterschrieben und den hoffnungslos Kranken ins Haus genommen. Man hatte es an nichts fehlen lassen, um die beiden zu retten. Dank dem tapfern Eingreifen des Füsiliers Maibach war es gelungen, den Hauptmann wenigstens am Leben zu erhalten. Seine kräftige Natur ließ auf völlige Genesung hoffen. In Maibach aber hatte das Schlangengift einen mörderischen Gesellen gefunden an der Malaria, die zu Zeiten ihn wieder und wieder heimsuchte. Die Arzneien wurden 302 immer wieder zu Giften, und die natürliche Widerstandskraft erschöpfte sich im Laufe der Wochen.

Heute kehrte das Regiment von der Grenze heim. Tausende freuten sich dieser Heimkehr. Die Mutter aber des bravsten Mannes des Regiments war gebrochen. Sie war an der ihr unlösbaren Frage «wozu das alles?» hängen geblieben, und kein Freund und Tröster brachte sie davon los. Ihre Hoffnung und Stütze war zerschlagen — wozu? — Ein Opfer für die Erhaltung des Vaterlandes, hatte man ihr gesagt und ihr angedeutet, daß dieser Gedanke bei allem Herzeleid sie doch mit Stolz und Genugtuung erfüllen müßte.

Warum verteidigte man überhaupt die Länder? Gehörte denn nicht von Gott und Rechts wegen alles allen? — Darauf gab ihr niemand Bescheid. Sie sprach ja die Frage gar nicht aus. Und vor ihrem Herzeleid wagte sich niemand mit platonischen Erörterungen heraus. — Gott und Gotteswort? — Ja, was sagte ihr denn die heilige Schrift? Der Pfarrer hatte ihr einmal gesagt: «Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.» Das sei ihres Sohnes herrliche Wesens­verwandtschaft mit dem Erlöser der Menschheit. — Frau Maibach drang aber nicht in die Tiefe dieses Wortes. «Bin denn nicht ich ihm der Allernächste gewesen?» fragte sie und übersah, daß Hans ihr vor zehn Jahren schon ein Leben geopfert hatte. Hatte sie 303 das nicht erkannt, so konnte sie erst recht sein letztes Opfer nicht verstehen. Niemand hätte die arme Frau überzeugen können, daß ihr Sohn bei der Verteidigung des Landes, das ja nicht einmal angegriffen war, unentbehrlich gewesen sei. Noch immer spukte in ihr jenes Lächeln, das den Jüngsten so oft herausgefordert, nur hatte es sich in das entsetzliche falsche Lachen des Verbitterten umgewandelt. Bitter hatten es die Kameraden vom Regiment empfunden, wenn sie «Schweizerherz» besuchen kamen, am tiefsten der Hauptmann, der, selber noch krank, seinen Retter besuchte, so oft der Dienst es erlaubte. Ihnen allen begegnete, jeden mühsam zurechtgelegten Trostspruch zertrümmernd, der bitter spottende Zug auf dem Gesicht der Mutter.

Dieser und jener hatte es versucht, einen andern Maßstab ihr in die Hand zu legen durch den Hinweis auf die Mütter der kriegführenden Völker, welche Sohn um Sohn ins Grab legen mußten. «Die sind für ihr Vaterland gefallen,» pflegte Frau Maibach harten Tones zu sagen.

Und nun lag er da vor ihr, ihre Hoffnung und Stütze — rettungslos! Gramvoll und starr folgte sie den immer schwerer gehenden Atemzügen.

Ab und zu kam Fritz und schlang seine Arme um die tränenlose Mutter.

Auch er litt unsäglich. Starb nicht auch für ihn der ältere Bruder?

«Mutter, Mutter, sei doch nicht so!» sagte er 304 plötzlich. «Gönn’ ihm doch...!» Weiter kam er nicht.

Gönn’ ihm doch! Was wollte er damit? — Auf einmal begann ihr etwas aufzudämmern, ganz blaß erst, dann immer deutlicher. Was hätte sie Hans denn mißgönnt? — Sie wußte nun schon, was es war, ob sie’s auch sich noch nicht gestehen wollte: die Anerkennung seines Opfers für das Vaterland. Sie fühlte immer deutlicher, daß davon der Friede ihrer letzten gemeinsamen Stunde abhing. — Sollte sie ihm etwas vortäuschen, damit er selig einschlafen könnte, etwas, woran sie nicht glaubte? — Oder war sie am Ende doch im Unrecht? — Wenn sie’s noch einmal — in letzter Stunde — versuchte, sich auf des Sohnes Standpunkt zu stellen, den eigenen preiszugeben? Etwas mußte doch wohl ihm diesen Heldenmut gegeben haben, und das konnte kaum ein leerer Wahn sein. Aus einer bloßen jugendlichen Einbildung konnte doch keine so große Aufopferungs­fähigkeit entstanden sein.

Frau Maibach sann und suchte und rang. Redlich kämpfte sie sich durch zur Auffassung ihres geopferten Sohnes; da ging ihr ein Licht auf — über sich selbst. Klar erkannte sie die Selbstsucht ihres sich sträubenden Mutterherzens und begann hinzugeben, was ihr der Tod gewaltsam entreißen wollte. Und indem sie es hingab, ward sie auf einmal inne, daß sie es für andere gab — für das Vaterland. Sie fühlte, daß sie teilhaftig wurde der Opfertat ihres Sohnes.

305 Ihre Augen begannen sich zu feuchten, begannen erlösende Tränen zu spenden.

Der Kranke schlug die Augen auf und sah die Mutter weinen. Er winkte beide heran, Mutter und Bruder.

Beide knieten dicht am Bette nieder, um deutlich zu vernehmen, was er sagte.

«Gelt,» sagte Hans zu seinem Bruder, «es bleibt dabei, wer — sein Vaterland lieb hat, ist — ein — guter — Sohn.»

«Ja,» schluchzte die sehend gewordene Mutter und zog des Sterbenden Hand an die Lippen, «ein lieber, ein guter.»

«Weißt du, Mütterchen,» antwortete Hans, «nur wer es entbehren mußte, — weiß, was Vaterland — ist, warum man es — verteidigen — muß. — Seinen Brüdern — muß man’s erhalten — seinem Volk — denen, die es wissen, was — es ihnen ist, — und — auch denen, — die — es — nicht wissen. — Allen, die — Heimweh haben.»

Darauf blieb es lange still. Deutlicher drang die Unruhe der Straße herein. Man hörte von ferne Musik.

Der Kranke horchte auf. Er wollte höher gelegt sein. Als sie ihm zurechtgeholfen, sagte er mit Anstrengung: «Auch Er» — seine Augen wiesen nach dem an der Wand hängenden Bilde des Gekreuzigten — «ist gestorben für — alle — die Heimweh — haben.»

306 Erschöpft sank er in sich zusammen. Aber bald wieder horchte er auf. Trommelschlag drang durch das Fenster, und schon hörte man den Tritt der vorbei­marschierenden Kolonne. Das Trommeln schwoll mächtig an. Jedes andere Geräusch ging darin unter — auch das Röcheln des Sterbenden. Die Mutter wollte das Fenster schließen; aber er winkte ihr’s ab. Seine Blicke ruhten auf dem offenen Fensterflügel am Fußende des Bettes. Jetzt flammte in den leise klirrenden Scheiben das Spiegelbild der vorüber­flatternden Fahne — weiß und rot. Ein Leuchten lag auf dem zuckenden Gesicht.

Trapp — trapp — trapp — trapp ging’s drunten vorüber in ehern gefügten Reihen. Und im wieder anschwellenden, dröhnenden Trommelschall des zweiten Bataillons ging unter das Schluchzen einer Mutter und eines Bruders. — «Schweizerherz» hatte zu schlagen aufgehört.

Als es wieder ganz stille geworden, sagte Fritz, sich aufraffend: «Mutter, weil du es ihm geglaubt hast, sollst du es auch erleben, daß ein guter Sohn ist, wer sein Vaterland lieb hat.»



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