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XIX.

Ein Jahr war seit dem Tage verstrichen, da Heinz von seinem Vater die Warnung vor der Untugend seines Stammes empfangen hatte. Und Hans Tillmann war nicht gestorben. Er arbeitete unverdrossen auf den Äckern des Lorbauers. Aber eines war doch anders geworden. Der ergraute Mann, den die Nachbarn als den Knecht des Lorbauers kannten, war der freieste Mann des Hilbliger Eilands. Seitdem ihm das Licht aufgegangen war über sein früheres Leben, war er in der Verteidigung seiner innern Freiheit ebenso hartnäckig wie früher in der Verfolgung seiner Ziele. Manchmal noch kam die Arbeitswut über ihn, aber aus andern Gründen als früher. Potz Wetter, wie 358 emsig! dachten die Leute um ihn herum und lachten in sich hinein, wenn sie den Mann so «fausten» sahen. Andere dachten, es sei etwas «lätz» mit ihm. Jedes erklärte sich den Eifer auf seine Weise. Am nächsten kam der Wahrheit die Lorbäuerin. Die sagte sich: Er will Buße tun. In ihren Augen war ein Totschlag mit ein paar Jährlein Zuchthaus noch lange nicht gesühnt. Ganz auf den Grund seiner Seele blickte aber niemand. Wenn Hans Tillmann mit Axt und Karst umging, daß Halm und Stiel krachten, so wollte er damit gewissermaßen das Gelüsten nach seinem frühern selbstsüchtigen Leben kurz und klein schlagen. Arbeiten, ja, das wollte er, bis zum letzten Atemzug, aber nicht für sich, auch nicht für seine Kinder, denen er mit seinem Zeit- und Kraftgeiz nur Unglück gebracht. Der Unternehmergeist sollte seiner Seele fernbleiben. Nur eine den Tag wohl ausfüllende Knechtesarbeit wollte er tun, um geringen Lohn und zum Nutzen des Bauers, bei dem er seinen Frieden gefunden hatte, und etwas von dem, was ihm seine verstorbene Lebensgefährtin so liebenswert gemacht hatte. O dieses Feiertägliche, das aus jedem Wort und Sang, ja auch aus dem Arbeiten seiner Frau geklungen und das er nie hatte an sich herankommen lassen — Herrgott! Wenn er das wieder zu hören bekäme! Zuweilen war’s ihm, als läge der goldlautere Klang in der stillen Sommerluft über ihm. Dann hielt er in der Arbeit inne, stützte sich auf den Stiel des Werkzeugs und lauschte. Er ahnte etwas 359 von Lebensglück und meinte, das müßte man allen verkündigen, die im Erwerbseifer sich selbst zu Tode quälten und andere — ja, auch alle andern quälten. Es kann schließlich doch keiner mehr als seinen Magen voll essen, und es wäre genug da, daß jeder sich satt essen könnte. Wozu noch Künste ersinnen, die dem Übersättigten das Erbrechen ersparen?

Wie er nun eines Abends die Sense gewetzt hatte und über das blanke Eisen hinweg studierte, glitt ein Schatten neben dem seinigen auf die frisch duftende Mahd. Hans Tillmann sah sich um. Da stand seines Sohnes Freund, der Advokat Bernhard Bär, bei ihm.

«Für die paar Kuehli des Lorbauers dürfte das wohl langen,» sagte der unerwartete Gast. «Hätten Sie nicht Zeit zu einem Abendschoppen?»

Was sollte nun das? Diese Stadtmenschen hatten doch auch gar keinen Begriff...

«Ich habe etwas auf dem Herzen, Herr Tillmann.»

«Den ‹Herrn› dürfen Sie nun für sich behalten.»

Bär lachte. — Nach kurzem Gespräch fand sich Hans Tillmann wieder allein, mit einem Herzen voll Unruhe. Bis jetzt hatte ihm dieser Advokat noch nie angenehme Kunde gebracht. In einer Stunde sollten sie sich treffen im Wirtshause zu Rauchwil. — Ob am Ende doch etwas mit Heinz nicht in Ordnung war? Schon all die letzten Tage hatte Vater Tillmann sich mit der Frage gequält, ob sein Sohn die Warnung in den Wind geschlagen habe.

360 Aber es kam ganz was anderes.

«Herr Tillmann, Herr Tillmann,» hub der Advokat an, nachdem er die Gläser auf dem Laubentisch vollgeschenkt und durch Anstoßen seinen Gast zum Trinken eingeladen, «es gibt Aufgaben, die nur einer lösen kann, der — nun, wie soll ich sagen? — von niemandem abhängig ist und den Mut hat — öööh...»

«Sie wollen sagen, der nichts mehr zu verlieren hat, nicht wahr?»

Berni Bär blickte befreit auf Tillmann. «Nun ja,» sagte er, «man kann’s auch so ausdrücken.»

«Sagen Sie mir vorerst nur: Hat’s etwas mit meinem Sohn gegeben?»

«Nein. Es hat gar nichts mit Ihrem Sohn zu tun. Der studiert ja, soviel ich weiß, in Basel.»

«Stimmt.»

«Nun gut. Unsere Sache spielt im Oberland, im obern Ruhsetal.»

Hans Tillmann horchte auf.

«Wie Sie wissen, werden dort große Kraftwerke angelegt, Bäche zu Seen gestaut, Stollen gesprengt und so weiter. Kurz, es ist ein kolossales Unternehmen, bei dem Tausende von Arbeitern beschäftigt werden. Es ist zwar erst in den Anfängen; aber schon die Anfänge lassen erkennen, daß da eine schamlose Ausbeutung der Arbeiter einreißen wird. Man wird überall Italiener anstellen und damit die Löhne drücken. Wir sind bereits mehrmals dringend aufgefordert worden, einzuschreiten.»

361 «Wer ‹wir›?»

«Unsere Parteileitung.»

«Wissen Sie, wer hinter der Unternehmung steht?»

Bär zwinkerte mit den Augen. «Das ist’s ja, was mir die Idee gegeben hat, mich an Sie zu wenden.»

«Ja, was soll denn ich dabei?»

«Was Sie dabei sollen? Sehen Sie, den Arbeitern muß geholfen werden. Wir dürfen es nicht dulden, daß sie von einer Gesellschaft ausgepreßt, versklavt und geschunden werden, die keinen andern Zweck kennt als die Steigerung ihrer Dividenden. Aber die Sache muß mit Vorsicht und Energie angefaßt werden. Wie es scheint, gibt es da droben niemanden, der die Führung mit Sachkenntnis und kühlem Mut übernehmen würde. Wir haben uns den Kopf zerbrochen, bis mir plötzlich einfiel,...»

«Daß da in der Lorhalde einer sei, der nichts mehr zu verlieren hat und seinen Buckel getrost hinhalten könnte.»

«Nicht den Buckel, Herr Tillmann. Wir suchen einen, der Herz hat für die Arbeiter und einen Kopf, der imstande ist, ein paar Zäune einzurennen. Spaß beiseite. Sie kennen die Verhältnisse und Gepflogenheiten bei solchen Unternehmungen. Sie kennen diese Unternehmer. Geben Sie zu, daß das eine Aufgabe wäre, ein Vertrauensposten, für den sich weit und breit niemand besser eignet als Sie.»

«Das möchte ich nicht ohne weiteres zugeben.»

362 «Doch doch!»

«Sehen Sie, junger Freund, ich habe mir nun einmal vorgenommen, den Rest meines Lebens in der Stille zuzubringen. Ich habe genug vom Streit mit den Menschen. In der Einsamkeit habe ich meinen Frieden gefunden, und den gebe ich nicht wohlfeil. Meinen Kindern habe ich Leids genug zugefügt. Ich will nicht neues Ungemach auf sie laden. Will’s Gott, kann ich meine Tage in Verborgenheit und Frieden beschließen.»

«Das alles verstehe ich sehr gut. Es hat seine Berechtigung, solange darob niemand zu kurz kommt. Aber denken Sie an die Hunderte von Arbeitern, an ihre Familien, an die Tausende von Existenzen, welche der gewissenlosen kapitalistischen Ausbeutung schutzlos preisgegeben sind! Wie anders, mit wieviel größerer Genugtuung würden Sie einst Ihre Tage beschließen, wenn Sie sich sagen dürften, Ihre grausamen Erfahrungen, Ihre Menschen­kenntnis, Ihre Gaben, Ihr Herz haben der Not von Tausenden einen Damm gebaut! Just weil Sie gegen sich selbst unerbittlich gewesen sind, haben Sie ein besonderes Recht, mitzureden.»

So ging das Gespräch hin und her, bis der Abgang des letzten Zuges nach der Stadt den Advokaten zwang, abzubrechen. Sie gingen noch ein Stück Weges zusammen. Dann riß sich Berni Bär los, weil ihm der andere zu langsam schritt. Hans Tillmann wandte sich um, vergaß dann aber das Weitergehen. Wie ein 363 Meilenstein stand er am Wegrand, sog an seiner Pfeife und starrte in die laue Sommernacht. — Seine Freiheit hatte er sich gewahrt. Der Advokat, der unter dem Schild einer edlen Tat an seine Rachsucht appelliert hatte, war ohne Zusage abgezogen. Darüber glomm eine freudige Genugtuung in Tillmanns Brust. Unwillkürlich lauschte er nach dem Klang, der in der letzten Zeit ihn so oft getröstet. Der Nachhall aus dem Leben seines Weibes, der in Ewigkeit nicht verklingen konnte, sollte ihm aus den schweigenden schwarzen Waldsäumen, aus den Wiesen, vom Sternenhimmel herunter mit süßem Beifall antworten. Er war auch wirklich da, klang leise leise, aber er vermochte nicht durchzudringen durch den schütternden Ruf des Harsthornes, das aus den Felsgründen des Ruhsetales an seine Seele drang. Ein Seufzen klang aus dem Brausen der Bergbäche, ein Wehklagen im Rauschen des Tales, ein dumpfes Knurren im Donnerrollen der Lawinen. Er kannte den Unterton der großen scharrenden knarrenden Arbeitssinfonie. Und wenn er so zurückdachte an die Zeit seiner großen Werktage, die zugleich die Zeit seiner großen Hoffnungen gewesen, dann flammte blitzartig auch die Erinnerung an alles auf, was jener Zeit gefolgt war, und der Haß begann ihn zu würgen... Sollte er nicht doch?... «Nein, nein, ich will nicht noch einmal hindurch, ich will nicht!»

Hans Tillmann schritt der Lorhalde zu. Als die schwarze Masse des Giebels vor ihm aus dem Boden 364 heraufstieg, blieb er abermals stehen. Sollte er. Hans Tillmann, dessen Tatkraft und eiserner Wille zum Guten einst so mancher Faulpelz gefürchtet, wirklich in diesem bäuerlich duftenden Grabhügel auf immer verschwinden, während die Not von tausend Menschen nach ihm, der sich geächtet wähnte, schrie? — Er konnte nicht unter das Dach, bevor er einen Entschluß gefaßt. Und er kam, der Entschluß. — Zum Agitator eignete er sich nicht; aber raten konnte er immerhin. Das vertrug sich mit dem Nachhall seiner Lebensgefährtin, und was damit völlig im Einklang stand und schon den ganzen Abend ihm durch den Kopf gegangen: als Warner und Wächter hinter seinen Sohn treten — das durfte er. Das war es, warum er dem Advokaten nicht mit einem scharfen nein geantwortet. — Ob Bär von der Liebe seines Sohnes wußte? — War das vielleicht der Grund, warum er sich nicht an Heinz heranmachte? Oder wußte er noch gar nicht, daß Heinz nach Zwischenflüh kommen sollte?

*  *  *

In der Felsenwildnis oberhalb Zwischenflüh lagerte eine kleine Gesellschaft. Zwischen mächtigen Granitblöcken, in deren Spalten sich schlangenartig die roten Wurzeln zerzauster Kiefern eingruben, dehnte sich eine saftig grüne Mulde voll glühender Hahnenfußkugeln. Ringsherum bauschten sich blühende Alpenrosen­stauden. Ein wolkenlos blauer Himmel wölbte sich über dem 365 leise rauschenden Tale. Auf den Bergkämmen blinkten silberne Schneebänder, in schattigen Gründen schäumende Bäche. Ein sprudelnder Quell warf seine Funken aus dem Gestrüpp, als frohlockte er über das holdselige Bild, das er in seinem Spiegel auffing. Mit ihren rosigen, wohlgepflegten Händen tauchte Lilian Merle einen kleinen Suppenkessel in die kalte Flut. Einige Schritte hinter ihr kniete glühenden Angesichts Antoinette und warf dürres Gezweige in das knisternde Herdfeuer. Im Schatten einer geduckten Kieferkrone breitete Frau Dorothea auf buntem Schal allerhand verführerischen Proviant aus. Ihre raschen anmutigen Bewegungen standen in einem gewissen Gegensatz zu ihren silbernen Haaren. Marcel Delierre, der seiner Frau ein Bündel dürren Holzes zugetragen hatte, stand jetzt eben am äußersten Rand einer gegen das Tal vorspringenden Platte und spähte nach seinem Werkplatz hinunter. Prächtig hob sich seine schlanke Gestalt vor dem fernen blauen Hintergrund ab. In der grellen Sonne schien sein abgeschossener bauschiger Sammetanzug wie mattes Gold. Das wetterbraune energische Antlitz mit den befehlenden Augen war überschattet von einer blauen baskischen Mütze. Man konnte den Mann nur mit Wohlgefallen betrachten. Auch Antoinette, die ihn täglich vor Augen hatte, ließ ihre Blicke mit einer gewissen Genugtuung nach ihm hinübergleiten, weil ihr die Bewunderung nicht entging, die Mama und Lilian ihm zollten.

366 Die Gesellschaft hatte ihre Mahlzeit beendet. Antoinette warf, aus ihrem Korbe schöpfend, jedem noch eine Aprikose zu, wobei sich Marcel hintenüber legen mußte, um das süße Geschoß, das über seinen Kopf weg flog, aufzufangen. Man sprach davon, daß Herr von Guldwang Ende der Woche kommen sollte, um über den Sonntag in Zwischenflüh zu bleiben.

«Aber es trifft sich schlecht,» meinte Frau Dorothea. «Kommt Papa erst Samstag abends herauf, so wird er kaum Lust haben, schon am Sonntag wieder mit uns hinunter­zufahren nach Maienschachen.»

«Was wollt ihr dort?» Marcel, der sich lang hingestreckt hatte, hob kaum den Kopf, als er dies fragte.

«Ei, zu Heinz Tillmann,» erinnerte ihn seine Frau, «in seine Probepredigt.»

«Ach ja, richtig. Das hätt’ ich beinah vergessen.»

«Warum kann er eigentlich nicht hier in Zwischenflüh selbst predigen?» fragte Lilian.

«Weil das scheint’s nicht üblich ist,» belehrte sie Frau Dorothea, «es ist nicht Brauch, Kandidaten zu Probepredigten herzuberufen.»

«Ich bin wirklich gespannt, wie das ausfallen wird,» wandte sich Lilian gegen den Ingenieur, «er ist enragierter Sozialist.»

«Heinz enragierter Sozialist?» Antoinette lachte gereizt, als sie dies sagte. Und auch die übrigen schienen erstaunt.

«Ich kann’s euch versichern,» sagte Lilian. «Mit 367 meinen eigenen Ohren habe ich propos von ihm gehört, die sehr kommunistisch klangen.»

Nun wollte man bestimmt wissen, was Heinz gesagt habe; aber Lilian konnte das kurze Gespräch, das sie damals mit ihm auf der Gartenterrasse von Pfarrer Jeanmaire gehalten, nicht wiedergeben. Sie versicherte nur immer von neuem, es habe sehr sozialistisch geklungen. Antoinette und ihre Mutter schienen ihr nicht recht Glauben zu schenken, worüber Lilian in sichtliches Mißvergnügen geriet.

«Nun,» meinte Frau von Guldwang, «so sehr verwunderlich wäre es schließlich nicht. Es scheint ja bei manchen jungen Theologen Mode zu werden. Von vielen Irrwegen, die ihnen offen stehen, ist es einer. Möchte nur wissen, was Jesus selbst zu dieser modernen Liebhaberei sagen würde.»

«Das kann ich mir schon denken.» sagte Marcel, der platt auf dem Rücken lag und in den blauen Himmel hinauflachte, daß ihm der Leib wackelte.

Die drei Damen horchten auf. «Nun?» forschte Antoinette, verwundert, daß ihr Mann überhaupt auf eine derartige Frage einging. Aber Marcel antwortete nicht. Er blies das Räuchlein seiner Zigarette steil in die Luft.

«Allons!» rief Antoinette. «Heraus mit der Sprache!» Und als auch diese Aufforderung erfolglos blieb, warf sie einen Kieferzapfen nach Marcels Zigarette, ohne sie zu treffen. Erst als nun auch die Schwiegermama in den Widerspenstigen drang, antwortete er: «Ei nun. 368 ohne Zweifel würde er sagen: ‹Herr, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.›»

Den Damen schien diese Anwendung des Kreuzeswortes sehr unangebracht, und sie lehnten sie zurechtweisend ab, worauf Marcel sich aufrichtete und fortfuhr: «Nu, was denn sonst? Ist etwa dieser sozialistische Eifer der Herren Pfarrer nicht lächerlich? Da meinen die guten Herren, die von Handel und Wandel gar keinen Begriff haben, sie müßten dem Treiben der Sozialisten ihre religiöse Sanktion geben, obschon diese nicht den geringsten Wert darauf legen. Es ist genau so, als wenn der Geißbub da droben am Galmersee zu uns sagen würde: ich billige eure Idee, die Wasserkraft des Sees auszubeuten. — Brauche ich denn seine Genehmigung? — Jodelt er vor Freude über mein Werk, nun gut, so mag er jodeln. Ich würde aber auch getrost fortfahren, wenn er darob flennte und fluchte.»

Lilian lachte beifällig. Die beiden andern Damen aber brachten durch ihr Stillschweigen Marcel wieder zum Verstummen.

Bald darauf kam Elvezio, der kleine Tessinerjunge, der bei Delierre Botendienste leistete, über die Blöcke hereingeklettert, um den Picknickkorb herunterzuholen. Das war für den Ingenieur das Signal zur Arbeit.

«Ja, glauben Sie wirklich, daß Heinz zu denen gehöre?» fragte er beim Aufbruch Lilian. «Dann müßte man sich’s doch wohl überlegen, ob er hierher gehört.»

369 «Es wird am besten sein, Sie überzeugen sich selbst.»

Antoinette hatte schon eine beipflichtende Bemerkung auf der Zunge; aber da war etwas in ihr, was sie hinderte, unbefangen mitzureden. Durch den kräftigeren Händedruck, mit dem sie sich von ihrem an seine nicht gefahrlose Arbeit gehenden Manne verabschiedete, suchte sie ihm mitzuteilen, was ihr Herz bewegte. Auch ihre tiefernsten Augen schienen Marcel zu gerechter Überlegung aufzufordern. — Ach, daß sie im Abstieg den gewohnten Plauderton wiedergefunden hätte! — Statt dessen ließ sie Lilian mit der Mutter vorangehen und hielt sich mehr denn sonst mit Blumenpflücken auf.

*  *  *

Durch die hohen Bogenfenster des uralten Gotteshauses zu Maienschachen fielen die Strahlen eines blauen Sommersonntags. Scheinwerfern gleich beleuchteten sie manches graue Haupt, manch Röslein, das auf schneeweißem Linnen die frisch atmende Brust eines lebensfreudigen Mägdleins schmückte. Blonde Locken vergoldeten sie, selbst auf die Runzeln sorgenvoller Stirnen malten sie einen Freudenschein, ob es auch hinter der Stirnwand tiefdunkel sein mochte. Das alles durfte man von der Kanzel aus sehen. Von dort aus durften auch die in Erwartung gespannten Gesichter Antoinettes und ihrer Mutter gesehen werden. Marcel Delierre freilich hatte sich dem Blick von der Kanzel zu entziehen gesucht; er wußte aus Erfahrung, daß ihn 370 hier, im geschlossenen Raum, der Schlaf gleich einem gewappneten Mann überfallen werde. Da er aber keinen passenden Platz gefunden, hatte er sich mitten unter die Bauern gesetzt. Mochte man ihn einschlummern sehen, er hatte sich seiner gesunden Müdigkeit nicht zu schämen. Droben aber, schattseits neben der Orgel, durch das vorragende Schnitzwerk ihres Gehäuses halb verdeckt, wartete einer auf die Predigt, der nicht gesehen sein wollte. Der war des Wachbleibens sicher; aber niemand brauchte es zu sehen, wenn Rührung ihm allenfalls die Lider röten sollte. Einmal während des Einläutens erhob er sich und blickte mit dem Auge eines pirschenden Jägers ins Frauenschiff hinunter. Eine Zorneswells lief durch die Furchen seines Antlitzes. Da saß wieder einmal jemand im vollen Sonnenlicht vorne an, auf einem Platz und Rang, auf den er den ersten Anspruch gehabt hätte. Hans Tillmann kämpfte den alten Groll nieder und redete sich zu, daß nun ein neuer Gedanke sein Leben beherrsche.

Würde mit lebensfroher Jugend verbindend, betrat Heinz Tillmann im schwarzen Talar die Kanzel. Jetzt einmal durchzuckte des Vaters und des Sohnes Kopf ein und derselbe Gedanke: «Wenn die Mutter diesen Augenblick erlebt hätte!» — Nie hätte sich Hans Tillmann träumen lassen, daß es ihm so tief ins Innerste greifen würde, die ersten Worte von seines Sohnes Lippen durch die Kirche hallen zu hören. Wie ein Heroldsruf klang sein apostolischer Gruß an die Gemeinde. 371 Am liebsten hätte der Vater darauf geantwortet: «Vergib mir, daß ich solange dir im Weg gestanden habe.»

Die Predigt ward mit Kraft und Wärme, ja man möchte sagen: mit Lust vorgetragen — Heinz Tillmann trug sie einer großen Gemeinde von Menschen vor, die alle aus des Lebens Mühsal heraus nach Erbauung sich sehnten; und doch sprach er eigentlich nur zu einem einzigen Menschen darin. Zu einer schönen, edlen Seele sprach er mit der Wärme, wie sie nur in der beginnenden Vermählung gleich­gerichteter Herzen entsteht. Jedes bezog die Worte auf sich und wunderte sich über den warmen Anschlag. Und niemand außer einem einzigen Zuhörer ahnte, daß er in dem berückenden Gebäude dieser Predigt einen seltsamen Umbau vor sich hatte. Heinz Tillmann hatte seiner Probepredigt die Geschichte von David und Goliath zugrunde gelegt. Die Worte Davids hatten es ihm angetan: «Du kommst zu mir mit Schwert, Spieß und Schild; ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaoth.» Der junge Pfarrer, der schon so tief in die Welt geblickt, hatte den Mammonismus in die Gestalt Goliaths gekleidet und eine Programmrede voll jugendlichen Feuers ausgearbeitet. Sie war nicht das Erzeugnis weniger Stunden. Schon seit seiner Rückkehr aus Amerika hatte er in seinen Gedankengängen daran gebaut, und er wußte auf dem Weg nach Maienschachen, daß er ein gewichtig Werk in sich trug, welches seine Wirkung nicht verfehlen, ja 372 vielleicht mehr noch zu reden geben würde, als sein Überfall im Armenhause zu Prankenau. In freudiger Zuversicht sah er gestern abend noch dem großen Tag entgegen. Da fand er im Pfarrhause zu Maienschachen einen Brief, dessen Schriftzüge ihn um die Ruhe brachten. Noch überlegte er einen Augenblick, ob er den Brief nicht erst nach dem Gottesdienst öffnen sollte. Es war ihm, als könnte er Unheil bergen. Aber er hielt die Geduldsprobe nicht aus. Als die Frau des beurlaubten Ortsgeistlichen ihren Gast schon im Schlafe wähnte, vernahm sie plötzlich in seinem Zimmer wieder Schritte — Schritte — Schritte. Das Treten währte länger als ihr Widerstand gegen den Schlaf.

Wieder und wieder hatte Heinz den Brief gelesen, ihn weggeworfen, wieder aufgehoben, ihn mit dem Gedanken: du meinst nicht was göttlich ist, sondern was menschlich ist, zerknüllt und weggeschleudert. Dann aber war ihm vorgekommen, als sähe er Antoinettes zürnende, bittende Augen — oh diese unvergleichlichen, aus denen von jeher etwas nach ihm geschrien wie aus tiefer Not. Und etwas schrie in ihm selber. Ich muß ihr folgen, ich muß mit ihr gehen. Er glättete den Brief wieder. Er preßte ihn an die Lippen und flüsterte: «Ich folge dir.»

Der Brief war eine Warnung, eine aus Liebe geborene. Heinz kam zur Einsicht, daß es um seine Berufung nach Zwischenflüh geschehen sei, wenn er diese Davids-Predigt hielt. So etwas ertrugen die kaum, die 373 augenblicklich dort zu befehlen hatten. Und damit drohte gerade das in sich zusammen­zusinken, was den schönsten Glanz in seine Hoffnungen gebracht. Sollte er aber nicht tapfer sein und bei dem bleiben, was im Laufe der Jahre sich in ihm zu zwingender Überzeugung verdichtet hatte? Heinz tastete in Erinnerungen zurück. Ihm war, als müßte er da nach einem festen Griff suchen, nach einer Kraft, einer Stimme, die ihm befahl, den geraden Weg einzuschlagen, einem Auge, das ihn zwang, seinem Ziele treu zu bleiben. Er wußte, das alles war da; aber eine andere Kraft zwang ihn zu umgehen, wonach sein Besseres verlangte. Er hörte eine Stimme, aber es war nicht die nachklingende seiner Mutter, sondern die melodisch tiefe seiner Freundin. Und wenn er auf einen Blick hoffte, so traf ihn der bittende der schönsten Augen, die er je gesehen. — Heinz wußte: jetzt war der Augenblick gekommen, den um Hilfe anzurufen, der Herzen lenkt wie Wasserbäche; aber des jungen Priesters Knie wollten sich nicht biegen. Heinz war sich noch nicht bewußt, daß solche Qual vor Gott offen liegt und von sich aus zu ihm schreit — ohne Zunge; aber er erfuhr es, und das war das Erlebnis jener Nacht im Pfarrhaus zu Maienschachen. Als ob ein Stein vom Himmel fiele und das Dach durchschlüge, so schoß des Vaters Wort plötzlich in seine Seele: Nimm dich in acht vor dem Tillmann. Jetzt verstand er den Sinn der Warnung, die er bisher zu verstehen sich hartnäckig gewehrt. Da lag vor ihm das 374 Wesen seines Stammes, wie es wuchs und wucherte vom Vater zum Sohn, wenn ihm nicht das Winzermesser in den Weg trat. Ein Wundergefühl durchschauerte ihn. Er war erlöst. Es kam ihm zum Bewußtsein: das war ein Gotteserlebnis. Und da war auch die Kraft wieder in ihm, die er andern Tags von der Kanzel konnte ausströmen lassen.

Kaum aber hatte sich der Kämpfer zur Ruhe gelegt, so beugte sich etwas über ihn und überschattete das Geisteserlebnis: die Erwägung der sichtbaren Vorgänge, die ihm bevorstanden. Er sah die schöne Warnerin zu seinen Füßen sitzen, wartend auf das, was er ihr geben sollte. Konnte er diesem edlen Weibe den Rücken kehren und Pfeile auf seinen Bogen legen, welche sie zum Tode verwunden mußten?

Nun standen die beiden Überlegungen scheinbar gleich stark vor Heinz, und die Qual griff ihm tiefer und grausamer in die Rippen denn zuvor. Da tat er, was unreife Menschen tun, er suchte einen Mittelweg, und war erstaunt, daß er den erst jetzt sah, und weil ihm das so überraschend kam, so meinte er, noch Größeres zu erleben. Die Entdeckung des Ausweges war ihm erst recht Erlösung, und niemand sagte ihm, daß ein Schlupfloch kein Kreuz ist und daß nur im Kreuze das Heil liegt.

Nur einen kleinen Schritt galt es zu tun, um vom Engern ins Weitere zu gelangen. Goliath konnte statt als das Sinnbild des Mammonismus einfach allgemeiner 375 als die Macht des Bösen hingestellt werden. Da taten sich viele Gedankengänge auf. Heinz folgte ihnen leichten Schrittes, und als ihn am Morgen die Glocken aufriefen, ging er zur Kirche wie einer, der aus dem Vollen schenken kann. Ob er’s nun zielbewußt tat oder nicht, er redete zu der einen Menschenseele, die ihm erschlossen war und hinter der alles andere ihm zurücktrat. Und dieser Strom von Herz zu Herzen erwärmte alles, was in seinen Bereich kam, also daß die ganze Gemeinde staunte ob der Macht des Wortes, das da geredet ward.

Unter lautem Orgelgetöne verließen die aus Andacht Erwachenden die Kirche. Einige gab es, die wollten auch jetzt noch nicht gesehen sein, darum warteten sie, bis der Schwarm sich verlaufen hatte. Als die Stiegenbretter unter Hans Tillmanns schweren Tritten knarrten, ächzten diejenigen der gegenüber­liegenden, sonnseitigen Treppe unter den glatten Sohlen des Bankiers Ryter. In großem Staunen standen sich an der Kirchentüre die beiden einen Augenblick gegenüber. — Was mochte nun dieser Finanzmann hier gesucht haben? — Hans Tillmann konnte es nur ahnen. Dieweil er der Welt Lauf so ziemlich kannte, hatte er sich die seltsame Erscheinung bald erklärt. Im obern Ruhsetal arbeitete neben dem mittelländischen auch oberländisches Kapital, denn auf diese Weise pflegt man Unternehmungen solcher Art zum Anwachsen im heimischen Boden zu bringen. Freilich paßte diese Sorte von Menschen wunderlich zu 376 den Guldwangs; das fühlte sogar Hans Tillmann; aber, sagte er sich wegwerfend, schöne Seelen finden sich. — Denen, die am großen Werk des Ruhsetals beteiligt waren, konnte die Wahl des Pfarrers nicht gleichgültig sein, darum verließen selbst Leute wie Ryter ihren Klubsessel, um einmal die harte Kirchenbank zu kosten. Hätte Heinz diesen Zuhörer erkannt, so wäre ihn die erste Reue über den Umbau seiner Predigt angekommen.

Als Vater Tillmann um die Ecke des Friedhofes bog, begierig seinem Sohn die Hand zu drücken, sah er Heinz, immer noch im Talar, von den Guldwangs umgeben und sichtlich bewundert. Einen Augenblick verwirrte ihn aufbrodelnder Groll. Dann aber raffte er sich auf und schritt aufrecht und sicher der Dorfgasse zu. Und wie er’s erhofft, so wirkte sein Erscheinen. Auf seinem Antlitz stand deutlich geschrieben: mir gehört er, nicht euch. Die Prankenauer verließen Heinz, der sich nun in freudigster Überraschung seinem Vater zuwandte. Er begrüßte ihn mit um so größerer Seelenruhe, als er soeben — mit Rücksicht auf die Pfarrfrau — eine Einladung Frau Dorotheas zum Mittagessen im «Wilden Mann» abgelehnt hatte. Vater und Sohn setzten sich in bester Stimmung im Pfarrhause zu Tisch und verlebten ein paar ungetrübte Stunden, da Hans Tillmann selbst es diesmal nicht über sich gebracht hätte, seines Sohnes großen Tag mit abermaligen Warnungen zu stören. «Schon der Mutter selig zulieb,» dachte er.

377 Drunten, im «Wilden Mann», traf man sich mit dem von Bern kommenden Herrn Fernand von Guldwang. Nach der Table d’hôte gesellte sich auf einen Augenblick Herr Ryter zu Papa. «Schade,» sagte er, so daß es die Damen und Marcel hören konnten, «Sie hätten den jungen Pfarrer hören sollen. Den dürfen wir der Gemeinde Zwischenflüh ruhig empfehlen. Nur wollen wir hoffen, daß er nicht etwa seinen Vater mitbringe, sonst möchte ich für nichts garantieren.»


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