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XX.

Ein Sieger, doch zwiespältigen Herzens, war Heinz Tillmann über den Bolgen hinein marschiert, nachdem ihn die Gemeinde Zwischenflüh auf mannigfache Empfehlung hin zu ihrem Seelsorger gewählt hatte. Drunten in Bern, an der Hochschule, schüttelten sie die Köpfe. Wozu vergrub sich ein so hochbegabter Mann in der einsamsten Berggemeinde? Ist er lungenkrank? — «Nein,» versicherte ein graues Haupt. «Er geht auf vierzig Tage in die Wüste, um hernach in großer Kraft wieder unter die Menschen zu kommen. — Hoffen wir’s!»

Ein Paradies auf Erden dünkte den jungen Pfarrer sein Amt. Nie konnte das Tal einen glücklicheren Wanderer gesehen haben. In schöner Freundschaft erblühte der Verkehr zwischen dem Pfarrhaus und dem Ehepaar 378 Delierre, das nun in einem gemieteten Hause eigenen Haushalt führte. Antoinette nahm an allen Amtsgeschäften des Gemeindehirten teil. Sie kannte das ganze Völklein von Zwischenflüh, von der Ruhseschlucht bis zu den obersten Alphütten, sie kannte eine große Zahl von Arbeitern, und ihre Winke waren nach kurzer Zeit dem Pfarrer unentbehrlich. Selbst in seinen Predigten lebte Antoinettes große liebreiche Seele. Auch Marcel war zufrieden. Er verstand sich mit dem so anders gearteten Schulkameraden besser als er es je gedacht hatte. Er, dem einst nur die exakten Wissenschaften imponiert, lernte durch Heinz nach und nach einsehen, daß auch die idealen Gedanken ihren sehr praktischen Wert haben. Er glaubte sogar zu bemerken, daß der Pfarrer einen guten Einfluß auf die Arbeiter gewonnen habe, und faßte deshalb ein festes Vertrauen zu ihm.

Daß der Wirkungskreis für seine frische Kraft zu gering war, merkte Heinz Tillmann kaum. Der schöne Sommer brachte viele Fremde in das Tal. Alltäglich rollten Kutschen voll erholungs­bedürftiger Menschen über den Sillernpaß, und manchen Wanderer aus der Stadt begleitete der Bergpfarrer pickelbewehrt über Fels und Gletscher. Das Leben in der Alpenluft kräftigte den großgewachsenen Mann so, daß er allen Besuchern als ein Bild strotzender Gesundheit in Erinnerung blieb.

Als nun aber die Ferienzeit zur Neige ging und die Straße stiller wurde, kam Heinz das Mißverhältnis zwischen seiner jugendlichen Tatkraft und der Berufsaufgabe 379 zum Bewußtsein. Wie sollte das im Winter werden? — In manchem Scherzwort war er von Studienkameraden und Bergbauern gefragt worden, wann die Pfarrfrau einziehen werde. Der Gedanke an einen richtigen Haushalt drängte sich ihm immer deutlicher auf. Heinz wich ihm aus, so oft er nur konnte, denn nun ward er es inne, daß er seine Freiheit eingebüßt hatte. In seinem Wirken und Denken lebte Antoinette. Er hielt es für unmöglich, daß eine andere Lebensgefährtin ihm irgendwie ersetzen könnte, was diese mit seinem Wesen schon so innig verwachsene Seele ihm war. In nüchternen Augenblicken erkannte er die Notwendigkeit eines Losreißens. Er mußte die Flucht ergreifen, wenn er mit seinem Gewissen ins Reine kommen wollte. Schon hatte er ihr die Mission geopfert, die er an den Arbeitern zu haben glaubte. Um ihres friedlichen Einvernehmens mit Marcel willen hatte er das preisgegeben; er wollte sie nicht unglücklich machen. Wie er seine erste Predigt umgebaut, so orientierte er nun sein ganzes Wirken, und der Erfolg der allgemeinen Zufriedenheit täuschte ihn eine Zeitlang hinweg über die innere Zerrissenheit. Aber so bleiben konnte es nicht. Der äußerlich riesenstarke Heinz Tillmann fühlte seine Widerstandskraft schwinden. Er besaß nicht einmal mehr die Kraft zur Flucht. Wie sollte er einen Rücktritt vor der Gemeinde begründen? Und er wollte ja auch gar nicht fliehen. Er mußte anderswie sich zu befreien trachten.

380 In langen bangen Wochen, während welcher Antoinette ihm die Kümmernis aus den Augen gelesen, reifte in ihm der Entschluß, bei ihr selbst die Befreiung zu suchen. Ihrem edlen Herzen traute er das Größte zu. Sie mußte ihn verstehen. Er dachte sich seinen Plan aus, ohne zu merken, daß auch darin schon etwas anderes ihm Wegleitung gab als nüchterne Wahrheit. Auf einsamer Gratwanderung womöglich, zwischen Himmel und Erde, wollte er Antoinette die Beichte ablegen, sie bitten, mit eigener strenger Hand den Bann aufzuheben. Schon das Spiel seiner vorauseilenden Einbildungs­kräfte schuf ihm Erleichterung. Über den selten begangenen Nordgrat auf den Gertenstock führen wollte er Antoinette. Dann würden sie sich südwärts wenden über die wilde Zackenfirst des Gertengrates nach dem Sillernhorn. Zu einem Nebo werden sollte ihm diese firnumgürtete Felsenzinne. Da wollte er mit ihr hinüberschauen in das Land einer reinen heiligen Freundschaft, an die keine Begierde rühren durfte. Auf ewig würden sie sich da das Wort geben, getrennte Wege zum höchsten Ziel einzuschlagen. Bei Gott! schwur sich Heinz, ich habe es nie anders gemeint, und ich will das Schönste, was mir auf Erden geworden, nicht durch ein Unrecht beflecken.

Derlei Gedanken spann Pfarrer Tillmann, alles andere darob vergessend, als er eines Abends, von entlegenen Hütten heimkehrend, an der Kantine des Barackendorfes vorüberschritt. Wie es seine Gewohnheit 381 war, rief er einen freundlichen Gruß in die Schar der müde um die Hütte herum hockenden Arbeiter. Da fiel sein Blick auf einen, der mitten unter ihnen nachdenklich sein Räuchlein aus der Pfeife blies. Diese kantigen Schultern, die Wölbung des Rückens, der breite Trotzkopf und der struppige Bart! — In zehn Schritten war Heinz neben dem neu Aufgetauchten. «Vater! wie kommst du hierher? Seit wann bist du da?»

Ein Lächeln in den Augen, hatte sich Hans Tillmann erhoben. «Gelt!» sagte er nur. Dann folgte er dem Sohne stillschweigend zur Straße.

«Hast du auf mich gewartet?»

«Nicht einmal.»

«Ja, aber... du kommst doch zu mir?»

«Auch.»

«Auch? — Zu wem denn sonst noch?»

Jetzt log Vater Tillmann, mit einer Hand- und Kopfgeberde nach den Arbeitern weisend.

Heinz staunte.

«Wie soll ich sagen?» erklärte der Alte. «Mit dem Herzen bin ich zu denen da gekommen, für dich behalte ich wenigstens ein Auge frei.»

Heinz forschte überrascht in des Vaters Zügen. — Seine Gratwanderung flitzte ihm durch den Kopf, und es war ihm, als hörte er eine Stimme aus seinem eigenen Dunkel heraus, die wiederholte unablässig: «Gottgesandt, gottgesandt.»

382 Da stand eine wirkliche, nüchterne, erlösende Kraft in Mannsgestalt neben ihm. Der Nebo-Traum war verflogen.

Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Heinz hatte eine Frage auf der Zunge nach dem Sinn des seltsamen Satzes von Herz und Auge. Aber er schob etwas anderes dazwischen: «Wo hast du deine Sachen? — Du kommst zu mir, Vater.»

«Eigentlich wollte ich draußen bleiben,» log Hans Tillmann weiter, «bei den Arbeitern. Ich will dir nicht zur Last fallen. Man sieht es vielleicht nicht gern, wenn ich bei dir wohne. — Aber weil du so oft gesagt hast, ich solle dann einmal zu dir ziehen, wenn...»

«Wo hast du dein Gepäck?»

«Es ist noch bei der Postablage.»

«Also, gut.»

Als sie nun nach dem Abendbrot auf der dämmerigen Laube des Pfarrhauses saßen, drang Heinz in seinen Vater um Aufschluß. Der wollte um keinen Preis mit dem wahren Grund seines Kommens herausrücken. Es kam ihm jetzt klein und lächerlich vor, daß er dem Sohne unlautere Absichten zugetraut hatte. Bevor er mit eigenen Augen etwas Tadelnswertes wahrgenommen, wollte er darüber keinen Ton von sich geben. So begann er denn vom andern zu reden und erzählte Heinz von Berni Bärs Besuch.

«Vater,» sagte Heinz. «Daß du’s ein für allemal weißt: Ich lasse dich nicht mehr unter meinem Dach 383 weg. Ich will dich da haben. Eine Heimat sollst du bei mir finden. Aber von dem andern laß mir um Gottes willen die Hand.»

Hans Tillmann lächelte leise. «Gelt,» antwortete er, «das wär’ dir wohl unangenehm, wenn ich den armen Teufeln da draußen ein wenig mit Rat an die Hand ginge?»

Das Dunkel hinderte Heinz, den forschenden Blick seines Vaters zu sehen, und doch fühlte er ihn. — «Unangenehm!... ja, es wär’ mir unangenehm, nicht weil ich den Arbeitern ihr Bestes mißgönnte; aber es würde ganz krumm ausgelegt, wenn du dich in ihre Angelegenheiten mischtest. Es ist nämlich eine Lohnbewegung im Gang. Von Bern aus ist geguselt worden. Und wenn man nun gerade gleichzeitig mit dieser Treiberei dein Hiersein entdeckt, so könnte sehr leicht der Verdacht entstehen, du seiest der Aufwiegler.»

Hans Tillmann legte begütigend seine schwere Hand auf des Sohnes Arm. «Sei nur ruhig, Heinz. Wenn ich überzeugt wäre, daß mit den paar Rappen höhern Lohnes einem Menschen wahrhaft geholfen wäre, du würdest mich mit keinem Mittel hindern, dafür zu kämpfen. Aber ich habe Lebens zuviel hinter mir, um noch an das Glück zu glauben. Nein, ich werde dir das nicht zuleide tun. Will mich still halten und den Leuten fern bleiben. Da hast du meine Hand drauf.»

*  *  *

384 Im Morgengrauen klirrten auf den Granitblöcken des Gertengrates Pickelzwingen. Schuhnägel kreischten leise. Zwei Gestalten stiegen schweigsam in dichtem Nebel von Stufe zu Stufe, die eine bepackt, groß, mächtig, die andere schlank und elastisch. Stundenlang währte der langsame Aufstieg, ohne daß ein anderes Geräusch laut geworden wäre als das Klirren der Pickel. Einmal nur drang aus dem grauen Geröll das Schnarren eines Schneehuhns, ein andermal aus ferner Tiefe das dumpfe Krachen eines Eisbruches. Auch das Rauschen des Tales war zurückgeblieben, verschollen. Es herrschte das große Schweigen der Höhe.

Aber nicht bloß die feierliche Stille der Umgebung und die Notwendigkeit auf ihre Füße zu achten benahmen den Wanderern das Wort. Beide wußten, daß sie einer großen Stunde entgegengingen, die sie herbeigesehnt und nun doch fürchteten. Ihre Herzen arbeiteten schwer, ihre Gedanken eilten durch dunkle Strecken zurück und voraus, wie die Bergdohlen, die zu ihren Seiten über den nebelerfüllten Abgründen kreisten. Unablässig verfolgte Heinz des Vaters Wort, daß er sich durch nichts hindern ließe, den Arbeitern kämpfend beizustehen. Dem Vater stand die eigene Überzeugung im Wege. Ihn aber, Heinz, was hinderte ihn, Wort zu halten und dem treu zu bleiben, was er sich und im Stillen seinen Mitmenschen gelobt? Es war ihm, als stiege er mit jeder Felsstufe, die sein Fuß überwand, tiefer hinein in die Erkenntnis, daß er sich losreißen 385 müsse von Antoinette. Welchen Schmerz diese hinter ihm her trug, ahnte er nicht.

Die Dämmerung lichtete sich. Die Nebel ballten sich in der Tiefe zu wolligen Strömen und Strängen. Die Schatten der Schluchten gingen aus dem Blauschwarzen in tiefes Violett über, die Felshänge jenseits der Kalten Ruhse röteten sich leise, und die zwischen den niederwärts sich verzweigenden Gräten eingebetteten Gletscherzungen schimmerten wie mattes Gold. Der Himmel begann zu blauen. Die Sterne erloschen, und auf einmal standen rings herum die Felsgipfel kupferrot. Eine Fülle von Farbentönen, die in Ewigkeit keines Menschen Zunge benennen wird, hauchte die starren Wände an und floß wie ein seliges Wohlbehagen über die Firnen. Mit dem dumpfen Brüllen ihrer tausendjährigen grünschillernden Kehlen jauchzten die Gletscher der aufgehenden Sonne zu. Feuersprühendes Glatteis klirrte von den aufatmenden Platten los und verklingelte niederrieselnd im Widerhall frohlockender Wasserstürze. Und über das Gipfelheer breitete sich die weltferne Gottesstille.

Staunend betraten die Wanderer den Firnkamm, der sie bis jetzt vom Tage geschieden. Senkrecht zu ihren Füßen lag das breitgerissene Ruhsetal. Heinz Tillmann war tief ergriffen. Bergandacht legte sich auf seine Seele. Aber nun erst drohten ihm in Bangnis und Wonne die Pulse zu sterben, als er gewahr wurde, welches Wunder ihm die Sonne in seiner Begleiterin enthüllt 386 hatte. Welch ein Weib war sie doch, seine Freundin und Leidensgefährtin, wie sie, in der scharfen Morgenluft erglüht, mit wogender Brust dastand, das edle Haupt in Entzücken gehoben. Wie herrlich hob sich der Wuchs ihrer Gestalt von den harten Felstrümmern, auf denen sie sieghaft sich reckte!

Beiden waren ob der Schönheit des Augenblickes die trüben Gedanken verflogen. Aber Heinz hörte, als er Antoinette den Labetrunk aus seiner Feldflasche reichte, ein Raunen: «Du bist ein verlorener Mann.»

«Nein,» schwur er sich, «bei meiner Seele Seligkeit und all dieser Gottes­offenbarung nein, ich will und werde nicht unterliegen.» Mit grimmer Wucht faßte er den Pickel zum Weitermarsch. Er wollte ihr den Vortritt lassen, um sie beim Passieren der wächtenbewehrten Firnschneide unter den Augen zu haben; aber sie wies ihn voran. Er gab nach. Doch mußte sie sich’s angesichts der trügerischen Wächten gefallen lassen, daß er sich mit ihr ans Seil band. Es bedurfte weniger Worte; die Augen einigten sich auf die Losung: beide zum Leben oder beide in den Tod. Und so stapften sie zwischen Himmel und Erde — zwischen Freude und Qual — dem Gipfel entgegen. Der Gang erforderte alle Aufmerksamkeit. Das war die Gratwanderung, wie sie beiden oft vorgeschwebt hatte. Wieder und wieder riefen sie sich das ins Bewußtsein, um die Seligkeit solch symbolischen Tuns voll auszukosten. Den Schatten aber, welcher der willkürlichen Erfüllung des Traumes folgte, 387 trotz Sonnenglast und Herbstesklarheit, vermochten sie nicht zu verscheuchen. Dankbar begrüßten sie den Schlagschatten des Sillernhorns, der sich nach einer halben Stunde über ihren luftigen Pfad legte. Drohend wuchs der schattseits vereiste Felskegel vor ihnen in des Himmels Bläue. Beide kannten seine Risse, seine Bänder und Griffe, so daß der Aufstieg wiederum der Worte wenig erforderte. Ein Kamin, dessen untere Öffnung in gähnende Leere mündete, legte der Kletter­kameradschaft der beiden die letzte Prüfung auf. Dann konnten sie sich zur Gipfelrast zwischen die Blöcke der hohen Kanzel setzen und ihre Augen sich weiden lassen am weithin sich dehnenden Heere der Gipfel und Kämme. Sie gaben sich Mühe, von Zacken und Firnen zu reden, die sie in solcher Deutlichkeit wie heute noch nie gesehen zu haben meinten, und wußte doch jedes, daß das andere dieses Ausweichen durchschaute und des andern Feigheit zur Entschuldigung für die eigene nahm.

Der Proviant war verzehrt. Man blickte, staunte und träumte, und die Herzen klopften ihnen zuweilen, daß sie glaubten, es müßten darob Steinchen und Sand ins Rieseln geraten. Antoinette saß aufrecht in der Wohlanständigkeit, die ihr in Fleisch und Blut lag. Heinz hatte sich in eine Felskehle hingelegt und stocherte mit seinem Sackmesser in einer Steinritze herum. Ohne aufzusehen, fing er mit leise bebender Stimme an: «Antoinette, nun haben wir endlich die Distanz von Gaffern und Lauschern gewonnen, die uns nottat. — 388 Jetzt kann ich’s Ihnen bekennen: Ich muß einen andern Weg einschlagen, wenn ich auch in meines Lebens Bergwanderung den Gipfel erreichen soll. Ich habe doch eigentlich etwas anderes gewollt. Die nach uns schreien, kommen nicht zu ihrem Recht, wenn wir... wenn wir uns nicht trennen. Es ist bitter; aber mir scheint, Gott habe es nicht gewollt, daß...»

Heinz brach ab. Eine rasche Bewegung Antoinettes zwang ihn, hinzusehen. Sie hatte ihr Taschentuch aus den Falten des Kleides gesucht. Auch jetzt noch saß sie in königlicher Haltung da und blickte erhobenen Hauptes in die Ferne; aber die Tränen liefen unaufhaltsam über ihre ringenden Züge. Wenn er’s noch nicht gewußt hätte, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, Antoinette liebte ihn.

«Wir wollen uns aufmachen,» sagte Heinz, «wollen tapfer sein und...»

«Ja,» unterbrach ihn Antoinette, «wir wollen tapfer sein. Aber sagen Sie nicht, Gott habe es so gefügt. — Nein, es war nicht Gott. Ich bin’s, Heinz, meine Torheit. Mein Kleinglaube hat mich irregeführt. Weil Sie Ihrem Vater das Opfer des Berufs brachten, glaubte ich damals, meinen Eltern ein gleiches bringen zu müssen, ein Opfer, das nie und nimmer hätte geschehen sollen.»

«Ich habe Sie irregeführt und werde das zeitlebens büßen.»

«Nein, Heinz, sagen Sie das nicht! Sie erwürgen 389 mich damit. Ach Gott, ach Gott, ist’s nicht genug an meiner eigenen Last?»

«Ihr Opfer wurde reinen Herzens gebracht.»

«Sie sollten eher sagen: in frommer Torheit. — Oder ich würde besser tun, noch aufrichtiger zu bekennen: ich habe es gar nicht gebracht, das Opfer. Ich habe nur gehandelt, als hätte ich’s gebracht.»

In tiefster Verwirrung starrte Heinz auf Antoinette. Als hätte er selber gar nichts mehr zu sagen, so fühlte er zwei Mächte in sich ringen. Mit dem Sturme glühender Leidenschaft drängte es ihn, sich auf die Gefährtin zu werfen und sie an sein Herz zu reißen. Aber noch bändigte ihn die vornehme Haltung Antoinettes. Sie mochte etwas fühlen von dem Ansturm, der ihn bedrohte. Abweisend, fast zornig, begegnete ihr Blick dem seinigen; aber nicht Sieg, sondern heißes Ringen verriet er.

Heinz hatte auf einen Augenblick Besinnung gewonnen. Wie in einem Krampf klammerte sich seine rechte Hand in das scharfkantige Gestein, so daß seine vom Klettern geritzten Finger ihn schmerzten. Die letzte Widerstandskraft sammelnd, versuchte er’s noch einmal mit seinem Entschluß: «Noch ist es nicht zu spät, Antoinette, von uns zu werfen, was unserem Leben die Lauterkeit genommen hat.»

Da schoß sie auf. Ein heiß schmerzlicher Laut entrang sich ihrer Kehle. Das edle Haupt in den Nacken werfend, trat sie einen Schritt vor, hart an den Abgrund. 390 Als wollte sie die Flut des hellen Sonnenlichts, die durchsichtige Luft in sich saugen. — «Ja, barmherziger Gott, ja.» seufzte sie tief auf, «lauter sein! Das ist’s ja.» — Sie schien zu wanken.

Ein schauerlicher Gedanke riß Heinz auf. In einem Sprung stand er an ihrer Seite und faßte mit derber Faust in die Falten ihres Kleides. In rascher Wendung riß Antoinette sich los. Seinen angstvollen Blick beantwortete sie mit einem stolzen Lächeln, als wollte sie sagen: Was traust du mir zu!

Dann aber ließ sie es geschehen, daß Heinz sie in die Arme zog, sie umschlang, wie ein Kind, das er dem Tod entrissen, und sie mit Inbrunst küßte.

«Heinz, Heinz, was tun Sie!» wehrte sie unter Tränen. Aber ihr Halt war gebrochen.

Über der Bergwelt brütete die Stille des Mittags. Die Gletscher und Schneerinnen flimmerten. Aber den beiden Wanderern war etwas erloschen. Bald legte sich ihnen eine seltsame Windstille ums Herz, bald flackerte Leidenschaft in ihrer Seele auf. Als sie zum Abstieg sich rüsteten, war es Heinz, als hätte der Himmel sich überzogen, und doch wölbte er sich in lichter Bläue über ihnen. Heinz wußte, was diese Täuschung bedeutete. Er war an seines Kameraden Weib verloren, war für seinen Beruf, um den er so viel gelitten, verloren. — Als er sich oben im Schlunde des Kamins verstemmte und das Seil, an dem sie hinunterkletterte, bremsend durch die Hände gleiten ließ, beschlich ihn einen Augenblick 391 der Wunsch, sie möchte ausgleiten, dann wäre es um sie beide geschehen, und alles weitere Unheil wäre abgeschnitten. Aber er wußte ganz genau, daß ihm weder Hände noch Füße versagen würden, daß er sie hielte, ob er’s wollte oder nicht. Und seine Augen konnten nicht mehr lassen von der anmutigen Gestalt, jetzt am allerwenigsten, wo ihr herrliches Ebenmaß in allen Bewegungen zur Geltung kam. Sie kletterte nicht mühselig und anstandslos wie eine Hüttenbummlerin.

Immer deutlicher trat es vor ihn, daß er nimmermehr von ihr lassen konnte. Zuweilen wurde ihm schwarz vor den Augen. Daß doch ein Stein sich seiner erbarmte, ihn erschlüge, daß er in ihren Armen sterben könnte! Je näher der Talgrund ihnen entgegenrückte, desto furchtbarer erschien ihm alles Kommende. Was sollte er noch da unten? — Bis heute hatte er sich zurechtgeredet, wenn ihm seine Liebe zu Antoinette zu einem Hemmnis für seine soziale Mission an den Arbeitern werden sollte, so würde er schlechthin den Kampf gegen die Sünde aufnehmen und das Evangelium von der Erlösung verkündigen. — Und nun? — Wie sollte er den Vorkämpfer wider die Sünde spielen? Wie ein kreuzlahmer Hund, der mit zwei Pfoten seinen siechen Leib zur Futterschüssel schleppt, kam er sich vor.

Ohne ein Wort zu verlieren, überquerten sie den Gertengletscher. Schweigsam trotteten sie an der Klubhütte auf dem Achsnollen vorüber.

Mitten auf der einsamen, mutz abgeweideten Nollenalp 392 hielt Antoinette an. Sie zupfte ihren Anzug zurecht und steckte sich die glänzend schwarzen Haare besser auf. Herrlich anzuschauen, lehnte sie einen Augenblick in natürlicher Anmut an einen Felsblock. Da las sie Heinz die Zerstörung seines Friedens vom verdüsterten Gesicht. Teilnahme erglomm in ihren lieben Augen und begann sein Gemüt aufzuhellen. Er vermochte nicht, wie er gewollt, den Blick von ihr abzuwenden.

«Heinz,» sagte sie plötzlich, «nicht verzagen! Wir wollen dem, der unsre Herzen füreinander schuf, vertrauen. Er wird uns unsern Weg finden lassen. Sollten wir’s nicht fertig bringen, in Freundschaft nebeneinander herzugehen?»

Aufs neue betört, zog Heinz sie abermals an sich und küßte sie in Verehrung auf die Stirne, und da er sie in seinen Armen fühlte, konnte er’s nicht lassen und küßte sie auch auf Mund und Wangen. Nun riß sie sich los und sagte: «Laß Heinz, jetzt erst beginnt der schwierige Teil unsrer Gratwanderung. Auf Seillänge Distanz genommen, mit straffem Seil!»

Das müd-ungläubige Lächeln, mit dem Heinz die Parole beantwortete, brachte ihr Antlitz in zornige Glut. «Heinz!» rief sie und bedeutete ihm vor ihr her zu gehen. Nach ein paar Schritten wandte er sich zögernd um:

«Soll ich dich allein gehen lassen und über die Achsenalp heimkehren?»

«Wähle, welchen Weg du willst!» trotzte sie, «ich 393 werde mit dir ins Dorf gehen. Ich wüßte nicht, wem wir die Stirne nicht bieten sollten.»

Klein sind die Fensterchen an den schwarzbraunen Häusern des Ruhsetals und mit mancherlei Maienstöcklein verdeckt. Aber kleine Fenster, böse Mäuler. — Als Peter Gandegger den Pfarrer und des Ingenieurs Frau mit Pickel und Seil vorüberwandern sah, sagte er zu seiner Frau: «Die hei eppen wohl denen Murmellen vorem Ynschlafen no ds Paradies uf Ärden verchündiget.»

Sonst aber hatte niemand acht auf die Heimkehrenden. War diesen auf dem Abstieg nicht aufgefallen, daß zur gewohnten Stunde die Sprengschüsse ausgeblieben, so fiel es ihnen jetzt ein, da sie beim Wirtshaus und an andern Stellen die Arbeiter in großer Menge herumstehen sahen. Und doch liefen erst die Spitzen der Nachmittags­schatten über die schäumende Ruhse.

Gegenüber dem Wirtshaus hockte eine lange Reihe von einheimischen Arbeitern in trotzigem Nichtstun auf der Kirchhofmauer, während draußen, gegen das Barackendorf hin, die Italiener, in Gruppen stehend, heftig aufeinander einredeten. Es sah unheimlich aus. Heinz und Antoinette durchrieselte ein seltsamer Schauer. Ihren Worten weit voraus, hatten sich ihre Blicke verständigt: Jetzt, sagten sie, ist der Augenblick da. Wie oft doch hatten sie zusammen über die Not der Arbeiter gesprochen! Wie schön hatten sie sich im Entschluß verstanden, gemeinsam für die Rechte der Armen einzustehen! 394 War denn nicht gerade das der Grund, auf dem ihre Herzen einander so nahe gerückt waren? — Und doch schwindelte beiden ob dem Gedanken, daß sie nun ihren idealen Zielen näher gehen sollten. Unklar, was sie in den nächsten Stunden tun sollten, trennten sie sich, um vorerst ihren ermüdeten Gliedern Ruhe zu schaffen.

Lieblich und einladend wie immer lachten die wettergebeizten Holzwände und der weißgetünchte Unterbau des Pfarrhauses den Gemeindehirten an. Die kleinen Fenster mit ihren Nelkenstöcken hießen den Heimkehrenden willkommen, und doch traf ihn aus ihrem tiefen Dunkel etwas wie der strafende Blick eines frommen Mütterleins.

In wirren Gedanken betrat Heinz sein Haus. Er warf den Rucksack auf den Küchentisch und fragte die alte Köchin nach dem Vater.

«Sie haben ihn heut mittag geholt, und seitdem ist er nicht wieder heimgekommen.»

«Wer?»

«Die Arbeiter.»

Heinz erschrack. «Was ist denn los?» Er wartete keine Antwort ab, sondern lief, wie er war, in seinen Lodenkleidern und Gamaschen gegen das Barackenlager hinaus, wo die Arbeiter in großer Menge müßig herumstanden. Halbwegs dorthin begegnete er dem Vater. Ohne ein Wort zu verlieren, gingen sie beide ins Pfarrhaus zurück. Erst dort stellte Heinz den Alten zur Rede: 395 «Vater, du hast mir doch versprochen, dich nicht in die Angelegenheiten der Unternehmung zu mengen.»

«Wohl hab’ ich,» antwortete Hans Tillmann mit derbem Lachen. «Und nachgelaufen bin ich ihnen auch nicht. Aber, hol’s der Kuckuck! Sie haben mich gefunden. Hier herausgeholt haben sie mich, als ob ich ihnen was schuldig wäre.»

Die Hände in den Rocktaschen, stand Tillmann in der Laube und blickte mit Kopfschütteln talwärts in die Ferne.

«Eigentlich,» fuhr er fort, «müßtest du zufrieden sein mit mir, denn ich habe die Leute zur Vernunft gemahnt. Aber die Welt ist verschroben. Es ist einmal so — hab’s doch schon mehrmals erfahren — wenn mal die Atmosphäre geladen ist, dann kann’s hineinblasen in welcher Richtung es sei, das Wetter bricht los und schlägt ein, wo es will. Sagst du ihnen nein, so verstehen sie ja, sagst du ja, so hören sie nein. — Ich kann nichts dafür.»

Mißtrauisch hielt Heinz den Blick auf seines Vaters Gesicht gerichtet. Hans Tillmann fühlte das. «Glaub’ mir’s oder glaub’ mir’s nicht, Heinz, von der Leber weg hab’ ich draußen bei den Baracken zu ihnen geredet. Aber probier’s selber, wenn’s einmal so weit ist. Heute mittag hat die Unternehmung die Lohnerhöhung abgelehnt. Darauf ist die Nachmittags­schicht ausgeblieben. Die Rollbahnwagen haben sie umgeworfen und die Schmiedefeuer ausgehen lassen.»

396 «Aber was wollten sie von dir, Vater?»

«Daß ich ihnen recht gebe. Da hab’ ich gesagt, was ich denke: ‹Kein verruchterer Wahn als der, die Menschen durch mehr Geld glücklicher machen zu wollen!›»

Ein erstaunter Blick seines Sohnes traf den Graukopf. «Ja,» fuhr er fort und ballte beide Fäuste, «das ist so, das hab’ ich am eigenen Leib erfahren. Glücklich ist der Gute, und durch alles Geld der Welt ist kein Übelwollender gut zu machen. Nicht die Armen allein müssen erlöst werden, Heinz, sondern vor allem die Vermögenden — von ihrer Geldgier. Durch die Erlösung der Reichen allein ist dem Proletariat zu helfen.»

«Und das hast du ihnen gesagt?» Heinz lächelte.

«Ja, das hab ich.»

«Und was haben sie darauf geantwortet?»

«Bravo gebrüllt haben sie. Und dann hab ich weiter geredet: ‹Erlöst wird aber einer nicht dadurch, daß man ihn gewaltsam verhindert, seiner Gier zu frönen, sondern durch freiwilliges Begnügen.›»

Immer mehr weiteten sich Heinzens Augen in Staunen.

«Und das sag’ ich jetzt dir, Heinz», erklärte der Alte, «damit du verstehst, wie ich’s meine: frei macht nur der, welcher auf des Himmels Herrlichkeit verzichtete, um in Bettelarmut unter den Menschen zu leben und ihnen zu zeigen, wer glücklich ist. Aber das ertrugen sie nicht, sie haben ihn umgebracht und werden 397 ihn doch nicht los. — Gelt, Bub, das wundert dich, so was von deinem bösen Alten zu hören? Aber weißt, ein Leben wie das meine bringt schon einen Steifnackigen herum.»

«Ja, aber und nun? — Was werden sie nun tun?»

«Ei, was werden sie! Die sind nicht gescheiter als die hunderttausend andern. Fortfahren werden sie. Ihren Kopf durchsetzen werden sie und den Mord fortsetzen. Und wenn sie alt sind, wird manchem der Daumen in die Hand fallen. Jeder neu in die Welt Tretende fängt wieder von vorne an. Für die Allgemeinheit fällt aus eines jeden Leben nur ein Sandkörnlein ab, aus jeder Generation eine Staubschicht. Tausend Jahre Schöpfergeduld braucht’s für eine Steinlage. Aber einmal wächst es schon zur Kreuzblume hinauf. Nur wird das Ganze anders aussehen, als die Weltverbesserer es sich vorstellen. Baumeister wähnen sie zu sein und sind nur Gerüstpfuscher. Das Blut der Opfer ihres Größenwahns rinnt ihnen über die ungeschickten Hände.»

Selten noch hatte Heinz seinen Vater so gesprächig gesehen. Vor Jahren, in der Känelmatt, war Redseligkeit bei Hans Tillmann gewöhnlich ein schlechtes Zeichen gewesen; heute aber war sie nicht durch Alkohol geweckt. Er sprach wie Einer, der in verborgener Tiefe einen Schatz entdeckt hat, von dem er nicht länger schweigen kann. Über dem Nachsinnen vergaß Heinz das Antworten und brachte damit auch den Alten zum Schweigen. Lange noch saßen die beiden in der finstern 398 Laube, wo man nichts mehr hörte als das ferne Tosen der Ruhse, die unterhalb des Dorfes mit ihren eisigen Wassermassen in eine Felsenkluft niederdonnert.

*  *  *

Antoinette hatte bei der Heimkehr ihre Wohnung leer gefunden. Das war freilich nichts Ungewohntes. Marcel pflegte später heimzukommen. Hätten sich jetzt auch das alltägliche Rollen der Schotterzüge, der Widerhall der Sprengschüsse, das hundertfältige Klirren der Pickel, das Scharren der Schaufeln in das Rauschen der Sturzbäche gemischt, so hätte Antoinette trotz der Störung ihrer Herzensruhe sich der Erfrischung ihrer müden Glieder hingeben und der Ruhe pflegen können. Aber die fiebernde Stille, welche sich um das Dorf gelagert hatte, schreckte sie auf. Mit brennenden Füßen lief sie in den groben Bergschuhen nach der Baustelle hinaus, wo Marcel in den letzten Tagen meist gearbeitet hatte. Aber dort lag alles verlassen. Frau Deliere näherte sich einem Trupp Arbeiter, um sie zu fragen, ob sie ihren Mann nirgends gesehen hätten. Es ward ihr aber weder Gruß noch Antwort zuteil. Nur höhnische und erbitterte Gesichter begegneten ihr. Sie, deren Liebreiz und Frauenwürde sonst jeden Mund und jede Türe öffneten, fühlte sich plötzlich inmitten dieser Arbeiter, denen sie doch viel Gutes getan, vollkommen fremd, ja beinahe geächtet. In dieses Unbehagen 399 drängte sich nun auch noch die törichte Empfindung, als spräche aus den wetterbraunen Gesichtern eine Verachtung, die nicht bloß der geängstigten Gattin des Betriebs­direktors galt, sondern der schönen Frau, die heute mit dem Pfarrer in die Berge hinauf geklettert war. Rascher noch als sie gekommen, kehrte sie ins Dorf zurück, wo sie endlich vernahm, daß Marcel nach der Arbeitsstelle im «Boden» hinunter gegangen sei, um von dort nach Bern zu telegraphieren. Es ging das Gerücht, unterhalb Zwischenflüh sei der Draht zerschnitten worden. Das klang sehr unbehaglich. Was sollte sie nun tun? — Seitdem die Eltern und Lilian in die Stadt zurückgekehrt waren, hatte Antoinette außer ihrem Mann und dem Pfarrer niemanden um sich, dem sie sich anvertrauen konnte. Heinz aufzusuchen hätte sie jetzt um keinen Preis über sich gebracht. Gestern noch würde sie ohne Besinnen bei ihm Hilfe gesucht haben. Jetzt war es unmöglich geworden, trotzdem sie wußte, daß der leiseste Wink genügt hätte, um den Pfarrer stundenweit nach Marcel laufen zu machen. Ja, sie war gewiß, daß er ihr für einen solchen Auftrag Dank gewußt hätte. Es blieb Antoinette nichts übrig, als in ihrer Wohnung das Weitere abzuwarten. Wie so ganz anders sah es nun plötzlich in ihrem Herzen aus! Der Gedanke, daß Marcel ein Leid geschehen könnte, die Aussicht, daß zum mindesten ein Sturm im Heraufziehen sei, der das Unternehmen und ihres Hauses Existenz bedrohte, erzeugte in ihr 400 eine Ernüchterung voll tiefsten Unbehagens. Als könnte sie es dadurch los werden, warf sie die Sportkleider von sich. Was sie vor einer Stunde sich noch versagt, die Erfrischung ihrer müde gelaufenen Glieder, holte sie nun umständlich nach. Dann setzte sie sich an das Fenster des einfach getäferten, niedrigen Zimmers und spähte, so gut die Dämmerung es noch zuließ, nach der Straße, welche ihr Mann heraufkommen mußte. Das war so die Situation, in der sie zur Zeit ihres regelmäßigen einsamen Lebens mit einer Art mystischer Wollust den Gedanken an Gott und das ewige Leben nachgegangen war. Sie tat es auch heute, aber nun ward sie erst recht gewahr, wie innig diese Träumereien ihr verwachsen waren mit dem Fühlen für ihren geistigen Führer und Begleiter. Dem wollte und mußte sie abschwören. Antoinette wußte, von wo allein sie Befreiung zu erhoffen hatte. Beten wollte sie — um gütige Beschirmung ihres Mannes in der drohenden Gefahr, beten um ein reines Herz, das sie dem Heimkehrenden zur Erquickung entgegenbringen dürfte, beten um Vergebung für ihren Irrgang, beten um Aufhebung des Unheils, das sie in dem Manne angerichtet, der als ein Priester Gottes vor allen andern eines heiligen, unverdorbenen Herzens bedurfte. Dieser Tempelschändung wollte sie nimmer schuldig sein. — Nein, das mußte in Ordnung kommen. Ihn ins Verderben zu reißen, hatte sie ihn — zu lieb.

Kaum witterte die Ringende einen Hauch der Befreiung, 401 so zog es sie wieder in das Dunkel ihrer Qual hinunter.

Endlich vernahm man Schritte schwerer Bergschuhe. Antoinette beugte sich aus dem Fenster. Er war es. Kein Zweifel. Gott sei Dank! Die herum­schlendernden Arbeiter hatten sich verzogen, so daß Marcel die Dorfgasse leer fand und unbelästigt die Haustür erreichte, wo ihn seine Frau mit Ausrufen der Erleichterung empfing. Daß sie ihn trotzdem nicht küßte, wie sie es doch sonst bei seiner Heimkehr von längerem Ausgang zu tun pflegte, fiel ihm nicht auf, weil die Aufregung des Tages ihm noch zu tief in den Nerven saß. Bei dem Imbiß, der seiner unter der heimeligen Petrolhängelampe des Speisezimmers wartete, leistete Antoinette ihrem Manne Gesellschaft. Trotz ihrer Müdigkeit verlangte sie teilnehmend Auskunft über die Auflehnung der Arbeiter. Marcel erwartete nichts anderes von ihr. Daß Antoinette neben der Teilnahme an seinen Sorgen noch das Bedürfnis leiten könnte, ihn von Fragen nach dem Verlauf ihrer für eine Frau verwegenen Kletterfahrt abzulenken, kam ihm nicht in den Sinn. Das andere stand nun doch allzusehr im Vordergrunde.

Nach der kurzen Mahlzeit drehte Marcel seinen Stuhl seitwärts, stützte den linken Ellbogen auf den Eßtisch und steckte sich eine Zigarrette an. Düster vor sich hinblickend, blies er die Rauchringel in den dämmerigen Raum. Dann richtete er sich plötzlich hoch auf:

402 «Antoinette, du könntest uns in der Sache einen wertvollen Dienst leisten.»

Antoinette blickte überrascht auf.

«Weißt du, wer offenbar der böse Geist unserer Arbeiterschaft ist? — Der alte Tillmann.»

«Du glaubst?»

«Kein Zweifel. — Bis vor wenigen Tagen war das Verhältnis zu den Arbeitern das beste, das man sich denken kann. Auch nicht das leiseste Anzeichen von Unzufriedenheit. Seitdem der alte Strolch da ist, mottet es überall.»

«Und du glaubst wirklich, er sei es, der...?»

«Was hat der Kerl hier zu tun?»

«Heinz hat ihn zu sich genommen. Das war ja schon lange sein Wunsch.»

«Tatsache ist, daß der Alte mit den Arbeitern verkehrt. Und heute war er in den Baracken. Eine Rede gehalten hat er dort.»

Antoinette sann vor sich hin. «Daß der Mensch nicht von uns lassen kann!» sagte sie halblaut. «Es ist, als ob er uns sein Leben lang auf den Fersen folgen müßte.»

«Er ist eben doch eine Verbrechernatur.»

«Aber, sag mir. Lieber, wie denkst du dir, daß ich euch dienlich sein könnte?»

«Nun, du weißt, mit Polizeigewalt wegschaffen können wir ja den Aufwiegler nicht. Es wäre auch nicht klug. Aber Heinz ließe vielleicht mit sich reden. 403 Wenn irgendwer ihn dazu bringt, den Alten wegzuschicken, so bist du’s. — Willst du’s versuchen?»

Antoinette lehnte sich mit einem Seufzer zurück. — Ihr Blick streifte durch das Fenster die Dorfgasse, in deren Abzweigung der steinerne Unterbau des Pfarrhauses im Mondschein schimmerte. — In ihren Augen war freilich Hans Tillmann immer noch der rohe Geselle, an dessen Händen das Blut ihres Oheims klebte, der Mann, welcher die Herrlichkeit von Prankenau zugrunde gerichtet, der brutale Mensch, der von seinem Sohn das Opfer des Berufes gefordert. Nein, sie hatte für ihn nichts übrig. — Aber ins Pfarrhaus ging sie trotzdem nicht.

Marcel drängte nicht; doch fühlte Antoinette, daß er von ihr den gewünschten Dienst bestimmt erwartete.

«Es ist doch wohl besser, du sprechest selbst mit Heinz; aber ich will ihn rufen lassen und dir beistehen,» schlug sie vor.

«Warum nun auf einmal wagst du nicht mehr, unter vier Augen mit deinem Freunde zu reden, da du mir damit einen wichtigen Dienst leisten könntest?» — Antoinette schien etwas Mißtrauisches in ihres Mannes Augen zu flackern, das sie bis jetzt noch nie bemerkt hatte.

«Gut», sagte sie, «dir zulieb will ich’s versuchen.»

«Ich will dir nicht allzu Schweres zumuten. Aber ich meine, von dir würde Heinz die Sache leichter annehmen können. Gehst du nicht, so werde ich selbst mit 404 ihm reden. Dann aber im Stil des Ultimatums. Ich werde ihn kurz und klar vor die Probe aufrichtiger Freundschaft stellen.»

«Ich will’s versuchen,» antwortete Antoinette. «Bring ich ihn nicht dazu, so kannst du immer noch selbst an seine Freundschaft appellieren.»

«Es wäre sehr lieb von dir. — Aber... es eilt. — Magst du jetzt noch? — Bist du nicht zu müde?»

«Ich bin müde, das ist wahr. Aber ich will’s lieber jetzt noch wagen.»

Marcel nahm Antoinettes Kopf zwischen die Hände und küßte sie auf Stirn und Augen. — Diese Augen waren es ja doch, diese wundervollen, welche von Heinz das Opfer verlangen würden. — Dann ging er, um einen Boten ins Pfarrhaus zu senden, und zog sich auf sein Zimmer zurück, indes Antoinette in fieberiger Aufregung den Tisch abräumte.

Ihr drohte das Herz stillzustehen, als nach kaum einer Viertelstunde die hölzerne Treppe unter schweren Mannstritten ächzte. Man hatte Heinz, der im ersten Schlafe lag, rütteln und ihm in die Ohren schreien müssen, daß ihn des Ingenieurs Gattin sofort zu sprechen wünsche, so laut, daß es sein leicht schlafender Vater viel eher gehört hatte, als Heinz. Mit der ganzen Müdigkeit des heimgekehrten Bergsteigers in den ungelenken Gliedern war er hinaufgestapft. Bange Neugier schnürte dem Aufgeschreckten die Kehle und ließ ihn das Versagen seiner Leibeskräfte doppelt empfinden. 405 Aber nun war er wach, ganz, und trat gespannten Blickes in das Speisezimmer. Mußte er sich vor seinem Jugendfreunde rechtfertigen oder Antoinette in Schutz nehmen gegen ihn oder...? Er fand sie allein. In einem Hauskleid, das auch die Umrisse ihrer Gestalt völlig verbarg, stand sie im schwachen Schein der Hängelampe.

Marcel hielt im anstoßenden Zimmer einen Augenblick den Atem an. Die Unterredung begann sehr leise. Er hörte, daß seine Frau den Herberufenen mit einer ihm neuen Bestimmtheit zum Sitzen aufforderte. Nach dem Schall der Stimmen zu schließen, kehrte Antoinette der Wand gegen Marcels Zimmer den Rücken. Sie sprach fast allein, ausgiebig und leise. Nach und nach nahm sie den Tonfall dringenden Bittens an. Heinz schien nicht zu antworten, denn nach jeder Pause vernahm Marcel immer wieder die Stimme seiner Frau. — Endlich schien auch Heinz zu reden. Er sagte etwas von unbegründetem Verdacht, von Irrtum. Die folgenden Sätze Antoinettes beantwortete er nach und nach mit einer gewissen Energie. «Es fällt mir nicht leicht», hörte Marcel ihn sagen, «ich habe lange genug an der Schmach getragen, daß ich meinem Vater nicht Heim noch Obdach zu bieten vermochte.» Dann wieder: «Er ist aber nicht mehr wie ehedem. Was er mir genommen, steht er im Begriff, mir mit reichen Zinsen wiederzugeben.»

Antoinette hub wieder zu bitten an. Endlich ward 406 ein Stuhl gerückt. Heinz schien näher zu kommen. Deutlich vernehmbar sagte er: «So versuch ich’s dir zulieb und in der Gewißheit, daß die nächsten Tage schon den Irrtum Marcels an den Tag bringen werden.» — «Dir zulieb,» hatte er gesagt. Waren sie nun schon auf du und du miteinander?

Die jäh ausbrechende Eifersucht verwürgend, ging Marcel lauten Schrittes zur Türe und trat im Korridor dem zur Treppe schreitenden Pfarrer in den Weg.

«Willst du mir die Bitte erfüllen?» fragte er mit erzwungener Ruhe.

«In der Erwartung», antwortete Heinz, «daß du meinem Vater Gerechtigkeit widerfahren lässest, sobald du klar siehst.»

«Das werde ich auch», versicherte Marcel, «aber ich glaube, das Opfer einer Täuschung seist eher du als ich. Ich habe deinen Vater mit eigenen Augen bei den Baracken gesehen, und ich habe den Beifall gehört, den er erntete.»

«Er hat sie zur Ruhe gemahnt.»

Marcel lachte häßlich auf. Aber um der Sache willen versagte er sich die höhnische Widerrede, die ihm auf der Zunge schwebte.

«Sie scheinen freilich meinen Vater nicht verstanden zu haben,» ergänzte Heinz.

«Aber sag mir doch: Wie kommt überhaupt dein Vater dazu, in die Sache hineinzureden?»

407 «Die Leute haben ihn aus dem Pfarrhaus geholt, weil sie ihn für einen der ihrigen hielten.»

«Das ist sonderbar, bei dem Mißtrauen, das sonst die Leute beherrscht.»

«Ich weiß es nicht. Vielleicht hat ihnen jemand geraten, meinen Vater beizuziehen, weil er sich in solchen Sachen auskennt. Mag sein, daß der eine oder andere Arbeiter ihn von früher her kannte.»

«Dann versteh’ ich’s erst recht nicht. Dein Vater war doch selber Unternehmer.»

«Ja, das war er. Das ist’s vielleicht gerade. Die Leute kennen sein Schicksal. Des Lebens Mühsal hat ihren Fingerabdruck auf seiner Stirn zurückgelassen. Das weckt ihr Vertrauen. Und sein bißchen Italienisch, das gerade so schön langt zu einem gründlichen Mißverstehen...»

Marcel lachte. «Also nicht wahr. Lassen wir’s nun auch auf einen Irrtum meinerseits ankommen!»

Darauf reichten sie sich die Hand, und Heinz verließ das Haus. Marcel fühlte sich verpflichtet, seiner Frau den geleisteten Dienst durch irgend eine Zärtlichkeit zu verdanken: aber da war etwas in ihm, das ihn hinderte. Antoinette schien es zu fühlen, und so begaben sie sich schweigsamer als sonst zur Ruhe.

*  *  *

Andern Tages schritten zwei Männer das Ruhsetal hinunter. Da die Poststraße schon im vollen Sonnenlicht 408 lag, hatten sie den alten vernachlässigten Saumpfad schattenhalb eingeschlagen, der es streckenweise nicht anders erlaubte, als daß die Wanderer hintereinander gingen. Das war den beiden gerade recht, denn sie hatten das Herz voll und mochten doch gegeneinander den Mund nicht aufmachen. Wohl anderthalb Stunden waren sie schon unterwegs und hatten beide kaum etwas anderes vernommen als das Brausen der Ruhse und dann und wann das Bimmeln einer Treichel, da sahen sie jenseits einen Einspänner die Sillernstraße hinanschnecken. Der Kutscher ging langen Schrittes hinter dem Chaislein her und ließ das Pferd ruhig in den gewohnten Karrgeleisen gehen, während der Fahrgast scheinbar eingeduselt ins blaue Polster hingegossen lag.

Da blieb Vater Tillmann, der voranging, stehn und blickte auf Heinz, der ihm den Rucksack trug, als wollte er ihn fragen: «Siehst du den da drüben?»

Froh über den Anlaß, endlich ein Wort reden zu können, sagte der junge Pfarrer, nachdem er das Wägelchen scharf ins Auge gefaßt: «Wenn das nicht Berni Bär ist...!»

«Er ist’s», bestätigte der Vater. Was er weiter brummte, ging für Heinz im Rauschen des Flusses unter. Hans Tillmann sagte es auch mehr zu sich selbst: «Wenn der Teufel etwas anzettelt, so ist schon dafür gesorgt, daß es grad ganz krumm wird. — Nun werden sie mir droben erst recht nicht mehr glauben.»

409 Es schien, als wollte er Heinz anreden, denn er tat einen Schritt näher zu ihm; aber plötzlich wandte er sich wieder um und schritt kräftiger aus denn zuvor.

Als sie sich der Stelle näherten, wo der alte Saumweg mit der Straße zusammen in eine Felsenklamm schlüpft, in der das Tosen des Flusses erst recht alles Reden zu eitlem Bemühen macht, blieben beide, wie verabredet stehen, der Alte, weil er sich jetzt doch noch etwas vom Herzen reden wollte, der Pfarrer, weil er dem Vater sagen mußte, daß ihm Amtspflichten umzukehren geböten. «Also, Vater,» sagte er, «wenn der Sturm sich gelegt hat, hole ich dich wieder herauf, und unterdessen...» Er hielt plötzlich inne. Der Vater hatte ihn derb an der Brust gefaßt und blickte ihm starr ins Gesicht. «Daß du’s weißt», sagte er, «wenn sie dann kommen und sagen, ich sei von Bern hinauf geschickt worden: Der Bär ist bei mir gewesen und hat mich dafür haben wollen, aber ich hab’ es ihm abgeschlagen. Den Arbeitern helfen wollt’ ich schon, aber nicht so. Diese sogenannten Führer trotten allesamt hinter der Mammonshure her und sind um kein Haar besser als die verpönten Kapitalisten. Die Rollen tauschen wollen sie nur, und dafür bin ich nicht zu haben. — Aber darum handelt sich’s jetzt nicht.» Derber noch faßte des Alten Faust in Heinzens Rock, als er fortfuhr und in Kraft der Stimme mit dem zürnenden Fluß wetteiferte: «Heinz, Bub! du bist nun wohl in Amt und Ehren, aber du bist nicht mehr der, der seinen 410 Vater aus der Schmach holte. — Betrüge dich nicht länger selbst. Nicht der Arbeiter wegen willst du mich weg haben, nicht um die Unternehmung zu sichern, sondern weil du selbst vor mir Ruhe haben willst. — Ich gehe. Will dir nicht im Wege stehen. Aber, vergiß nicht: Nach meines Nachbars Haus hab’ ich getrachtet und mußte in meinem Wahn zuletzt unschuldig Blut vergießen. Und jetzt, wo ich gebüßt und meinen Frieden gefunden habe, gehst du und trachtest nach deines Nächsten Weib und...»

«Vater!» Heinz suchte des Alten Hände von sich zu lösen; aber der ließ nicht ab, sondern fuhr zornglühend fort: «Und bist doch ein Priester Gottes. — Ich sag’ dir, kehr’ um, bevor’s zu spät ist. — Das ist mein letztes Wort an dich. — Denk dran!»

Hans Tillmann schnallte sich den Rucksack um und wandte sich zum Gehen.

«Aber Vater...»

«Denk an deine Mutter, Heinz!»

Das war sein letztes Wort, bevor er, rasch ausgreifend, in der Wölbung des Felsens verschwand.

Einen Augenblick besann sich Heinz, ob er dem Vater nachstürzen, ihn zur Umkehr bewegen sollte. Dann warf er sich, mit beiden Händen in den Haarschopf fassend, ins Gras. Aber Angst und Unruhe scheuchten ihn wieder auf. Wie ein Gehetzter lief er den Weg zurück.

Als er nach zwei Stunden hastigen Anstieges in 411 glühender Mittagszeit zum Dorfe hinauf kam, stand die Dorfgasse voll Menschen. Es däuchte Heinz, so viele Leute könne Zwischenflüh noch nie gesehen haben. Man wich ihm aus wie einer Amtsperson, die da etwas zu sagen hätte. Auch das Pfarrhaus war dicht umstanden. Der Gemeinde­präsident war da und redete ihn mit stockender Stimme an: «Der Tusig Gotts Willen, Herr Pfarrer. Grad jetzt sind sie mit ihm herunter gekommen.»

«Mit wem?»

«He, mit dem Oberingenieur, dem Delierre.»

«Was ist’s mit dem?»

«Erschlagen haben sie ihn.»

Heinz griff nach dem Treppengeländer. «Was?» keuchte er. «Ihr werdet mir doch nicht sagen...»

Nun redeten mehrere auf den Pfarrer ein. Aus dem Gewirr klang immer wieder heraus: «Wäret ihr nur da gewesen, es wär’ nicht geschehn.»

«Es ist Einer von Bern heraufgekommen, etwa vor einer Stunde. Aber es war schon zu spät. — Der ist grad wieder weiter gereist, dem Paß zu.»

«Aber so sagt mir doch um Gotteswillen, wieso und warum!»

Endlich kam der Gemeindepräsident wieder zum Wort: «Weiß nicht, wie das zuging. Aber heute morgen ist es wie ein Lauffeuer umgegangen, man habe Euren Vater fortgeschafft. Da hat’s angefangen zu rumoren draußen bei den Baracken. Und als der Herr 412 Delierre hinauf ging gegen den Galmiboden, haben sie ihm den Weg verlegt und verlangt, daß man den Vater Tillmann wieder herauf hole. Da ist er, scheint’s, böse geworden und hat ihnen gesagt, es gehe sie nichts an, sie sollen sich an die Arbeit machen, eher rede er nicht mit ihnen. Als er weiter ging, ist ihm der Haufe nachgelaufen. Immer die Italiener voran. Und neben der Straße her und vor ihm her sind sie gelaufen, haben gebrüllt und gedroht. Da ist er zuletzt stehen geblieben und hat einen Revolver aus der Tasche gezogen. Aber zum Schießen ist er nicht gekommen. Die Nächsten sind auseinander­gefahren. Einer ist rücklings gestolpert und hingefallen. Da haben sie von hinten Steine nach dem Herrn geworfen, ganz grobe. Und da ist’s geschehen.»

Heinz vergaß die Amtsgeschäfte, um deren willen er so eilig zurückgekehrt war. Er ließ die Leute stehn und rannte nach Delierres Wohnung. Man ließ den Pfarrer ohne weiteres eintreten. Behutsam stieg er die knarrende Treppe hinan. Lysolgeruch schlug ihm oben entgegen. Die Türe zum Schlafgemach war nur angelehnt. Heinz öffnete sie nur wenig und spähte, den Atem verhaltend, hinein. Den Verwundeten sah er nicht. Eben beugte sich der Arzt über ihn und entnahm einer Schale, die Antoinette ihm hinhielt, Wattepfropfen. Bett und Boden zeigten Blutspuren. All das nahm Heinz kaum bewußt in sich auf. Ihn bannte die Gestalt Antoinettes, die, in äußerster Spannung, einer 413 Marmorstatue gleich, dastand. Es war, als hätte das furchtbare des Augenblicks ihre Schönheit noch gehoben. Nichts an ihr schien zu leben als die großen Augen, die des Arztes Hantierung verfolgten. Das leise Knarren der Tür hatte sie auf eines Atemzugs Länge abgelenkt, und da hatte der Blick aus den dunkelblauen Sternen Heinz getroffen. Dann hatten sie sich zur Decke gerichtet, um ihn alsbald unter schmerzlichem Zucken wieder zu treffen, groß und starr. Keine Silbe ward laut, aber die Blicke schrien ihn an: Hilf mir, denn du bist mitschuldig an diesem Blute. Du hast mich den Weg zu Gott leiten wollen, nun bahne mir ihn!

Den Fuß in diesen Raum zu setzen, däuchte Heinz ein Frevel. Er wußte, welche Hilfe er Antoinette schuldete. Aber hier konnte er sie nicht leisten. In die Stille seiner Kammer trieb es ihn. Leise wandte er sich ab und stieg die Treppe hinunter. Es kam ihm vor, als schlösse das sonst so trauliche Pfarrhaus vor ihm Fenster und Türen. Wie einer, der, die Augen bedeckend, in einen Kampf sich stürzt, rannte er hinein, warf die Türe hinter sich ins Schloß. Mitten in seiner Stube, wo der Mutter Bild hing, fiel er auf die Knie. «Und du bist doch ein Priester Gottes!» schrie es aus ihm. «Mutter, Mutter, sieh mich nicht an!»

Heinz betete kein Wort; aber seine Seele lag mit der Not von dreißig harten Lebensjahren vor Gottes Thron hingeschüttet.

414 Als die Nacht hereinbrach, wurde an die Haustüre geklopft. Durch das offene Fenster hörte Heinz, wie eine Mannsstimme der Magd trocken mitteilte, Herr Delierre sei soeben gestorben, der Herr Pfarrer möchte hinauf gehen, um das Nötige mit der Familie abzureden.

Bald darauf gab Heinz dem Sigristen einen Brief an Frau Delierre. Dann sah man den Pfarrer ohne Bergausrüstung den Weg nach der Achsnollen-Hütte einschlagen.


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