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Achtzehntes Kapitel.

Während Gérards Vater sich in dem Wirtshause in Blesmes in Ungeduld verzehrte, dachte Marius Laheyrard in Juvigny immer eifriger darüber nach, wie er sich an Frau Grandfief rächen konnte. Der unduldsame Dünkel dieser widerwärtigen Person, die sich zum obersten Sittenrichter in der Stadt auswarf, hatte Marius stets geärgert; er konnte ihr aber hauptsächlich den Ueberfall im Höllengrund und Helenens Abreise nicht verzeihen. Jeden Morgen, beim Erwachen, schwur er, die Stadt nicht zu verlassen, ohne den Hochmut dieser Dame gedemütigt zu haben. Um ihr unangenehm zu werden, begann er unterdessen, ihrer Tochter Georgine den Hof zu machen.

Seit dem Ball in Salvanches, wo Fräulein Grandfief eines seiner eigenartigen Sonette angenommen hatte, war es von Marius nicht unbemerkt geblieben, daß ihn die duckmäuserische kleine Person mit sehr günstigen Augen betrachtete. Ich weiß nicht, ob sie die feurigen vierzeiligen und die sonderbaren dreizeiligen Strophen des Dichters hinreichend zu schätzen wußte, aber ein junges Mädchen empfängt Gedichte, zu denen sie begeistert zu haben glaubt, stets mit großer Freude. Georgine hatte die Reime des jungen Laheyrard aufs sorgfältigste verschlossen und las sie im geheimen immer wieder, ohne gerade viel davon zu verstehen.

Der fröhliche Marius war aber auch gerade ein Liebhaber, wie er dieser Unschuld gefallen mußte.

Ein unermüdlicher Tänzer und Lebemann, mit blühendem Antlitz und dichtem, starkem Bart, mit kühnem Auge und gewandter Zunge, schien er Georginen ein eigentümlich verführerisches, unwiderstehliches Wesen zu sein. Von jeher haben wohlerzogene Mädchen einen besonderen Geschmack für Taugenichtse gehabt, und Fräulein Grandfief fand die Liebe des Dichters so schmackhaft wie eine verbotene Frucht. Sie begegnete Marius bei jedem Ausgang, und seit einiger Zeit fehlte er auch nie beim Hochamt in Sankt Stephan, wo er, in der Nähe ihres Platzes stehend, ihr feurige Liebesblicke zuwarf und sie dadurch in zwar strafbare, aber köstliche Zerstreuung stürzte. Sie empfand bei den kühnen Angriffen des jungen Mannes einen leichten Schauder, der aber den Reiz dieser heimlichen Huldigungen nur noch vermehrte. Seit jenem berühmten Frühstück hatte Marius keinen Fuß mehr in das Grandfiefsche Haus gesetzt; wenn aber Georgine an Mondscheinabenden in ihrem Fenster lag, sah sie ihn um die Einfriedigung von Salvanches herumschleichen, und sie sah ihn schon im Geist die Mauern erklettern und eine Strickleiter an ihrem Altane befestigen. Dann legte sie sich in kindischen Aengsten zu Bett, träumte von ihrem Verehrer und erhob sich ab und zu wieder, um mit bloßen Füßen zum Fenster zu laufen und zu sehen, ob er noch da sei und vielleicht unter einer der Platanen des nächtlich einsamen Spazierweges stehe ... Nach und nach fand Marius selbst Geschmack an dieser Liebelei, die er aus Prahlerei begonnen und in der Hoffnung, Frau Grandfief dadurch zu ärgern, fortgesetzt hatte. Die appetitliche Schönheit der niedlichen Kleinstädterin mit den blühenden, pfirsichfarbenen Wangen, den heuchlerisch gesenkten schwarzen Augen, den vollen, roten Lippen hatte manches, was diesen kräftigen jungen Mann, dessen Lebenslust erstaunlich von seinen düsteren, sehnsuchtsvollen Dichtungen abstach, anziehen konnte. Fast unmerklich erwärmte sich seine Einbildungskraft und sein erst so ruhiges Herz fühlte sich auch ergriffen; kurz, was zu Anfang ein Spiel gewesen war, wurde zum Schluß zwar keine große Leidenschaft – Marius war einer solchen nicht fähig –, aber eine sehr lebhafte und hinreichend ernste Neigung.

Die Zeit der Weinlese war gekommen. Das ist der Zeitpunkt, wo die Umgegend von Juvigny, die für gewöhnlich zu grau oder zu grün ist, plötzlich Farbentöne von einer wahrhaft südlichen Kraft und Ueppigkeit annimmt. In den Wäldern röten sich die Elsbeerbäume, die Buchen werden rotbraun und die Eichen lohfarben. Von weitem gleicht der Wald einem wogenden Meere mit dunklen, rötlichvioletten Wellen; aber besonders auf der Seite der Weinberge entfaltet sich vor den trunkenen Blicken eine glänzende, kunstvoll ineinander verschmolzene Farbenpracht. Ueber die weichen Wellenlinien der Hügel von Barrais breitet der Herbst seinen Mantel, der an die wunderbare Schöne der reichsten Gewebe des Orientes erinnert. Hier prangen die Reben in der ganzen Farbenskala von rot und gelb: leuchtendes Purpurrot, blasses Grün, rötlich schimmerndes Gold, die frische, rosige Farbe der Morgenröte fließen harmonisch und melodisch ineinander und machen den Eindruck einer magischen Symphonie. In der Tiefe vermittelt das silberne Laub der Weiden, in der Höhe der weißliche Duft des Horizontes sanft den Uebergang der lebhaften, warmen Farbentöne der Wälder und Weinberge zu dem satten Grün der Wiesen und dem tiefen Blau des Himmels. Der fast immer schöne Spätherbst erhöht den heiteren Charakter der Landschaft noch mehr; ganz Juvigny lebt herrlich und in Freuden. Der Weinstock ist der Hauptreichtum des Landes, und wenn der Herbst ein guter ist, so leert jeder Weinbergbesitzer einige alte, in der Tiefe des Kellers verborgene Flaschen zu Ehren der neuen Lese. Sobald der Morgen graut, ziehen Winzer und Winzerinnen truppweise singend durch die Straßen; den ganzen Tag sind die Wege von den mit Trauben beladenen Karren belebt, die Keltern öffnen ihre großen Thorwege und lassen trotz der in ihnen herrschenden Dunkelheit die riesigen, weitbauchigen Bütten und die rundlichen Wölbungen der an den Wänden aufgestapelten Fässer erkennen. Gegen Mittag machen sich auch die Frauen und jungen Mädchen nach den Weinbergen auf und mischen sich unter die Arbeiter; man bringt das Vesperbrot mit und verzehrt es, behaglich am Rand einer Wiese gelagert, im Freien; nachher geht man, wie die guten Unterthanen Grandgousiers, Vater Gargantuas (Rabelais). unter das Weidengebüsch und tanzt dort auf dem dichten Gras, »so fröhlich, daß es ein himmlischer Zeitvertreib war, zu sehen, wie sie sich ergötzten ...« Von allen Seiten riefen Gesang und Gelächter das Echo wach. Erst in der Dämmerung kehrte man mit dem letzten traubenbeladenen Karren in die Stadt zurück, wo das Tagewerk mit einem ebenso fröhlichen, wie reichlichen Mahl, bei dem auch der zwiebelfarbige Landwein nicht gespart wird und lautes Lachen ertönt, beschlossen wird. Es ist eine Zeit der Freiheit und lärmenden Fröhlichkeit, in der sich alle Rangesunterschiede verwischen und alle Zimperlichkeit beiseite geschoben wird. Der süße Weinduft, der den Keltern entströmt und die ganze Luft mit seinem Aroma erfüllt, regt noch mehr zu diesem Sichgehenlassen an.

Marius Laheyrard hütete sich wohl, bei diesen ländlichen Freudenfesten zu fehlen, um so mehr, als er hoffte, Fräulein Grandfief bei dieser Gelegenheit zu begegnen. Der Liebesgott schien ihm hold zu sein und eines schönen Nachmittags traf er in dem Weinberg eines seiner Freunde Georginen mit den Schwestern desselben, die den Taglöhnerinnen beim Traubenlesen halfen. Um das Glück voll zu machen, war sie auch noch allein gekommen; Frau Grandfief, durch Kopfschmerzen ans Haus gefesselt, hatte sich dazu verstanden, ihre Tochter einer Freundin anzuvertrauen. Das war für den Dichter ein unverhofft glückliches Ereignis, und es läßt sich denken, daß er es sich zu nutze machte. Man las Seite an Seite, man naschte von derselben Traube, man vesperte von dem gleichen Teller und benutzte bei den Rundtanzen die Gelegenheit, sich die Hand zu drücken. Als man des Abends in die Stadt zurückging, hielt der Besitzer des Weinberges Marius zum Abendessen zurück und ließ zu Ehren der Damen beim Nachtisch einige Flaschen Champagner bringen. Georgine, die den schäumenden Wein durchaus nicht verachtete, ließ sich überreden und trank ein ganzes Kelchglas auf einmal aus. Der Dichter machte auch keine Umstände, und als man vom Tisch aufstand, waren die Köpfe warm, die Zungen gelöst, und die Augen glänzten.

Georgine wurde von ihrer Kammerjungfer abgeholt und mußte gehen. Sie ging in ein anderes Zimmer, um ihren Mantel zu holen und sich fertig zumachen; in dem allgemeinen Durcheinander schlich der ausgelassene Marius, ohne viel zu überlegen, was er that, aus dem Eßzimmer und begann das junge Mädchen zu suchen. Er schlenderte ohne Ziel durch die nur halberleuchtete Flur, als er an der Treppe Fräulein Grandfief auf sich zukommen sah. Sie stieg fröhlich, ihren Strohhut in der Hand, die Treppe herauf und summte die Melodie eines Walzers vor sich hin. Noch nie war sie Marius so hübsch erschienen als jetzt, wie sie ohne Hut mit rosigen Wangen und lächelndem Mund, etwas hochgetragenem Näschen und blitzenden Augen auf ihn zukam. Wie gesagt, Marius hatte einen Spitz und auch Georgine selbst war etwas angeheitert; der Spaziergang, die leichte Erregung durch den in den Trauben genossenen Wein, das fröhliche Abendessen, all dies war ihr ein wenig zu Kopfe gestiegen. Sie sah so frisch und einnehmend aus, das Treppenhaus war so leer, daß es Marius war, als ob ihn ein unsichtbarer Kobold vorwärts treibe; ohne zu sprechen, faßte er beide Hände Georginens, die ihn anlächelte, und drückte einen Kuß auf die blühenden Lippen. Zuerst war sie ganz bestürzt; sei es nun aus Verwirrung, sei es Schrecken oder vielleicht auch, daß sie in diesem mutwilligen Kuß eine noch nie gekostete Süßigkeit fand, genug sie machte auch nicht die leiseste Bewegung, und Marius glaubte zu fühlen – die Dichter pflegen stets eitel zu sein –, daß Georginens Lippen vor den seinen nicht gerade flohen. Plötzlich stieß sie einen leichten Schrei aus, eine Thüre hatte sich geöffnet und Regina Lecomte, die zu den Winzerinnen gehörte, war auf der Schwelle erschienen. Fräulein Grandfief machte sich mit entrüsteter Miene frei und entfloh mit einem dunkelroten Gesicht, während Marius, von seinem Abenteuer entzückt und in der Erinnerung an den Kuß schwelgend, mit dem köstlichen Selbstgefühl, das ein leichter Rausch verleiht, die Treppe hinunterging und zu sich selbst sagte: »Angeführt, Frau Grandfief!« Georgine kehrte verwirrt und nachdenklich nach Salvanches zurück. Sie hatte eine sonderbare, beunruhigende Empfindung, in die sich sowohl Schrecken und Angst, als auch Vergnügen und Sehnsucht mischten. Als Marius' Lippen die ihren berührt, hatte es sie bald glühend heiß, bald eiskalt überlaufen und es war ihr so beklommen und so voll ums Herz gewesen, und – sie mußte es sich gestehen, obgleich sie darüber errötete – sie hätte gewünscht, daß dieser Kuß kein Ende nehme. Noch fühlte sie den Druck dieser kecken Lippen auf ihrem Munde. Doch bald wurde ihre unschuldige, fromme Seele von einer furchtbaren Angst erfaßt; es war eine Sünde, die sie soeben begangen hatte, und zwar mußte es eine schreckliche Sünde sein, da sie ein so aufregendes und doch so süßes Fieber zurückgelassen hatte! Helene Laheyrard, die so grausam bestraft und verurteilt worden war, hatte wahrscheinlich nichts Schlimmeres gethan! ... Und wenn diese abscheuliche Sünde als Strafe des Himmels für sie nun dieselben unheilvollen Folgen hätte wie für die Tochter des Schulrates! ... Diese wunderliche Angst durchschauerte sie von Kopf zu Fuß; sie konnte an nichts anderes mehr denken. Als sie in ihrem kleinen Zimmer allein war, verdoppelte sich ihre Furcht. Sie blickte einen Augenblick in den Spiegel, wandte aber rasch den Kopf ab, denn der Glanz ihrer Augen flößte ihr Schrecken ein. Soviel war sicher, es war etwas Neues und Schreckliches in ihr vorgegangen, sie hatte Fieber, sie fühlte ein unerklärliches Zittern. – »Ach mein Gott, mein Gott, was soll aus mir werden!« dachte sie, als sie ihr dunkles Köpfchen in die Kissen drückte, »und diese Regina mit ihrer bösen Zunge, die alles gesehen hat und alles erzählen wird! ... Morgen bin ich das Stadtgespräch.« – Sie schluchzte und jammerte ganz leise; sie schlief erst sehr spät ein und träumte die ganze Nacht von Helene Laheyrard.

Sobald sie erwacht war, eilte sie zu ihrem Spiegel. Als sie ihre umränderten Augen, ihre abgespannten Züge und ihre blassen Lippen sah, war sie nicht mehr im Zweifel. Es war gewiß, auch sie war verloren! Wie konnte sie es wagen, sich den strengen, forschenden Blicken ihrer Mutter zu zeigen? Und doch mußte sie sich zeigen, und zur Frühstückszeit ging sie zitternd hinab. Glücklicherweise war Frau Grandfief von den Vorbereitungen zu einer Wäsche sehr in Anspruch genommen und bemerkte die Veränderung in dem Aussehen ihrer Tochter nicht. Den ganzen Vormittag war Georgine schweigsam und ängstlich. So oft sie an einem Spiegel vorüberging, sah sie mit Schrecken ihr blasses Gesicht und ihre Furcht verdoppelte sich. Ihre Aufregung und ihre Traurigkeit entgingen dem Abbé Volland nicht, der nachmittags nach Salvanches kam. Der Geistliche hatte Georgine von ihrer Kindheit an gekannt und behandelte sie noch wie ein kleines Mädchen. Er war ein guter Beobachter und wunderte sich über die Veränderung, die mit diesem für gewöhnlich so blühenden und harmlosen Gesicht vorgegangen war. Er glaubte, Georgine gräme sich über die nicht zustande gekommene Heirat mit Gérard und vermutete, daß diese Enttäuschung sie mehr betrübe, als sie sagen wolle, und er beschloß deshalb, sich mit dem jungen Mädchen darüber auszusprechen. Als er sich von Frau Grandfief verabschiedete, sagte er zu Georginen: »Höre, ich habe mit dir über die Altardecke zu reden, welche die jungen Mädchen von der Rosenkranzkongregation für die Kapelle der heiligen Jungfrau sticken. Besuche mich morgen nach der Neunuhrmesse im Pfarrhaus.«

Fräulein Grandfiefs Angst wurde durch diese Einladung noch mehr gesteigert. Ohne Zweifel wußte der Geistliche schon von dem Ereignis, und sie bebte bei dem Gedanken an ein Verhör, dem er sie unterziehen könnte. Am anderen Morgen, nach einer schlechten Nacht, ergriff sie zitternd den schweren Thürklopfer am Pfarrhaus. Der Geistliche war eben nach Hause gekommen und ging in Erwartung des jungen Mädchens in seinem Studierzimmer auf und ab. Sobald er sie erblickte, schickte er seine alte Haushälterin hinaus, rückte mit der Gewandtheit eines Untersuchungsrichters seinen Lehnsessel gegen das Fenster, damit das volle Licht auf seine Besucherin falle, dann faßte er Georginen bei der Hand, ließ sie sich ihm gegenüber setzen und begann:

»Nun, mein liebes Kind, was gibt es Neues in Salvanches?«

»Nichts, Herr Pfarrer, Mama ist mit der Wäsche beschäftigt und Papa ist auf der Jagd.«

»Und du, was treibst du? Man sollte meinen, du langweilest dich, dein Gesicht wird schmal.«

Georgine zitterte und wurde noch blässer.

»Ich?« antwortete sie und schlug die Augen unter den Blicken des Geistlichen nieder; »aber ich habe gar nichts, ich versichere Sie.«

»Warum hast du denn ein so verstörtes Gesicht?...«

Der Abbé Volland betrachtete sie aufs neue über seine Brille hinweg und bemerkte, daß sie die Fassung verlor. »Ich sage dir,« fuhr er fort, »du hast dich sehr verändert und man macht nicht ohne Grund ein solches Gesicht. Komm, Kind, mache keine Winkelzüge, sondern erzähle mir deine kleinen Sorgen; du weißt ja, daß ich nicht streng bin wie deine Mutter, und daß du Vertrauen zu mir haben kannst.«

»Ach Herr Pfarrer,« rief Georgine, krampfhaft die Hände ringend, mit noch immer niedergeschlagenen Augen, »ich kann es nie wagen!«

»Ist es denn so was Bedeutendes?« fragte der Abbé mit ermutigendem Lächeln.

»Es ist mir nicht möglich, es zu sagen,« flüsterte Georgine; dann stotterte sie zitternd, von den Schrecken und Gewissensbissen, die sie fast erstickten, getrieben: »Herr Pfarrer, ich habe einen Fehltritt begangen!«

»Einen Fehltritt?« wiederholte der etwas verwirrte Abbé. Er betrachtete das fassungslose Gesicht Georginens und fuhr ernster fort: »Willst du, daß ich deine Beichte höre?«

»Ach,« erwiderte sie mit tragischem Ausdruck, »das ist unnötig... denn ich muß meiner Mutter doch gestehen, in welcher Lage ich bin.«

Der Geistliche fuhr auf und stieß seinen Lehnsessel zurück. »Um was handelt es sich denn, und was hast du gethan?«

»Ich glaube,« stöhnte das arme Kind, »ich fürchte, ich... daß ich bin... wie Helene Laheyrard.«

Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Der Abbé Volland sprang verblüfft auf. »Na,« brummte er, »was faselst du da? Hast du denn den Verstand verloren?... Komm, mein Kind, erkläre dich deutlicher und mit voller Offenheit... Was ist geschehen?... Fehler von der Art, wie der, auf den du anspielst, begeht man nicht durch den Gedanken... Man sündigt auf diese Weise nicht... nicht ganz allein.«

Der Geistliche wischte sich die Stirne ab, denn dieses kitzliche Verhör preßte ihm dicke Schweißtropfen aus.

»Ich war auch nicht allein,« antwortete Georgine; dann zerfloß sie in Thronen und wurde plötzlich mitteilsamer: »Ach, Herr Pfarrer, ich bin verloren!«

»Heilige Jungfrau!« rief der Pfarrer aus und schlug die Hände zusammen, »wer ist der Taugenichts, der verbrecherisch genug ist?...«

»Herr Marius Laheyrard.«

»Marius!... Auch das noch!... Es muß ein besonderes Verhängnis über dieser Familie walten!... Komm, unglückliches Kind, sage mir alles; hier ist jetzt nichts mehr zu verbergen. Wo ist es denn geschehen?«

»Auf der Treppe, bei Herrn Carrard,« schluchzte Georgine.

»Auf einer Treppe?... Schamlose Frechheit!« rief der Abbé verwirrt! »nun, was denn? Sprich!«

Und Stück für Stück entlockte er Fräulein Grandfief ihr harmloses Geständnis; wie ein Espenlaub zitternd, berichtete sie alles; wie ihr Marius, von ihr ermutigt, so angelegentlich den Hof gemacht, wie sie ihn in dem Weinberg getroffen und sich bei dem Nachtessen ein wenig berauscht habe, und endlich kam sie auch an den fürchterlichen Kuß auf den Mund, und das Vergnügen, das ihr derselbe bereitet hatte.

»Und dann?« grollte der entrüstete Abbé.

»Das ist alles,« flüsterte Georgine, die in Thränen und Scham fast verging.

Der Geistliche atmete tief erleichtert auf. »Du sagst mir doch die ganze Wahrheit?«

»Ach ja, Herr Pfarrer.«

Trotz des Schreckens, den er soeben gehabt hatte, konnte der Abbé nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Diese Unschuld überraschte ihn. Er schwieg und betrachtete den Aermel seiner Soutane. Endlich wandte er sich zu Georginen, die beschämt und weinend wartete, und sagte ernst: »Trockne deine Thränen und beruhige dich! Die Vorsehung ist barmherzig. Das, was du fürchtest, tritt nie beim erstenmal ein. Nur hüte dich, denn im Wiederholungsfalle kann ich dir für nichts stehen.«

Er erhob sich und begann auf und ab zu gehen, um einen Lachreiz zu unterdrücken, während Georgine ihre Wangen abtrocknete und etwas ruhiger wurde. »Diese Angelegenheit,« fuhr er fort, nachdem er dem jungen Mädchen eine kräftige Strafpredigt gehalten hatte, »ist darum nicht weniger beklagenswert, ich hoffe, daß dieser Thunichtgut Marius wenigstens über seine Streiche reinen Mund gehalten hat; ich werde ihm sofort den Kopf waschen, dann verhüten wir wenigstens dieses neue Aergernis.«

»Ja, aber es war jemand da, der uns gesehen hat,« lispelte Georgine demütig. Und dann erzählte sie von dem plötzlichen Erscheinen Reginas.

»Potztausend,« rief der Abbé, »das verdirbt alles!... Diese Nähterin ist eine Lästerzunge und hat ohne Zweifel schon geschwatzt... Jetzt bin ich gezwungen, mit deiner Mutter zu reden.«

Nun begann Georgine aufs neue so zu weinen, daß es das Herz des Abbés rührte, »Sei getrost,« sagte er, als er sie schon halb beruhigt entließ, »betrübe dich nicht, ich nehme alles auf mich und werde sorgen, daß du nicht gescholten wirst,« Noch an demselben Tage begab er sich nach Salvanches, nahm Frau Grandfief beiseite und erzählte ihr die ganze Sache. Schon bei den ersten Worten geriet die tugendsame Dame in wütenden Zorn gegen Marius und schwur, sie werde selbst seine Unverschämtheit bei Gericht anzeigen.

»Nur ruhig!« sagte der Abbé sanft, »in Georginens Interesse müssen wir im Gegenteil verhindern, daß diese unglückliche Geschichte unter die Leute kommt; leider wird es kaum mehr möglich sein, ganz darüber zu schweigen, denn der Auftritt hat einen Zeugen gehabt; Regina Lecomte, die Nähterin, hat alles gesehen.«

Diese Mitteilung fachte die Wut Frau Grandfiefs nur noch mehr an, »Nun,« rief sie, »das ist ein Grund weiter, die beleidigende Gewaltthat dieses Menschen der öffentlichen Beurteilung anheim zu geben, und Georginens Unschuld ins rechte Licht zu stellen.«

»Erlauben Sie,« sagte der Abbé, »man muß die Sachen nehmen, wie sie sind! Herr Laheyrard ist gewiß sehr schuldig, allein Georgine hat sich auch einige kleine Sünden vorzuwerfen; sie hat mir gestanden, daß sie nichts gethan habe, um diesen unbesonnenen jungen Menschen zu entmutigen, im Gegenteil...«

»Das ist nicht möglich,« versicherte Frau Grandfief, »meine Tochter ist zu gut erzogen worden...«

Der Abbé schüttelte den Kopf und berichtete alles, was ihm Georgine gebeichtet hatte. Frau Grandfief war fassungslos. »Wie unglücklich bin ich,« begann sie nach langem Schweigen, »Eine Tochter, der ich nur gute Grundsätze eingeflößt habe. Ich werde zum Gelächter der ganzen Stadt... Was ist zu thun, Herr Pfarrer?«

»Es würde ein Mittel geben, alles wieder gut zu machen,« wagte der Abbé zu sagen, »Georgine liebt Herrn Laheyrard... verheiraten Sie sie miteinander!«

Frau Grandfief fuhr auf; all ihr Stolz empörte sich in ihr, und sie erhob ein Zetergeschrei. »Niemals, niemals,« rief sie, »meine Tochter in eine solche Familie heiraten lassen, nach der skandalösen Geschichte mit Fräulein Laheyrard, ich würde mich zu Tode schämen.«

»Nun, Frau Grandfief,« entgegnete der Abbé, »wer sagt Ihnen denn, daß Helene schuldig ist? Was Sie soeben erfahren haben, müßte Sie doch ein wenig vorsichtiger stimmen. Georgine ist unschuldig und doch können morgen dieselben abgeschmackten Verleumdungen über sie verbreitet sein... Folgen Sie mir, lassen Sie brennen, was nicht zu retten ist, und schlagen Sie alles durch eine Heirat nieder.«

»Eher sperre ich meine Tochter in ein Kloster,« antwortete die unbeugsame Dame, deren ganzer Zorn sich nun gegen Georgine richtete, »sie ist ein entartetes Kind, und ich will sie strafen.«

»Sie ist durch die ausgestandene Angst genug bestraft,« warf der Abbé ein, »das beste wäre, einen Skandal zu vermeiden und als kluge Mutter zu handeln...«

»Eine solche Heirat eingehen, wahrend meine Tochter schon glänzende Anträge abgelehnt hat!... Nein es ist unmöglich!«

»Nun,« sagte der Abbé, während er seinen Hut nahm und sich zum Abschied verbeugte, »überlegen Sie noch einmal, erwägen Sie das Für und Gegen reiflich... Ich werde morgen wiederkommen und nach Ihnen sehen.«


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